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Volume Nr. 35, 23.09.76

Full text: Plenarprotokoll (Public Domain) Issue1976, 7. Wahlperiode, Band II, 20.-45. Sitzung (Public Domain)

Abgeordnetenhaus von Berlin - 7. Wahlperiode 
35. Sitzung vom 23. September 197G 
1461 
wörtliche Gemeinwesen aufgefordert ist, eine größtmögliche 
Offenheit und größtmöglichen Ideenreichtum zu entfalten. 
Letzterer läßt sich gerade im Bereich der selbstorganisier 
ten Jugedarbeit vielfach auffinden, jedoch — und deswegen 
diese kritische Einleitung — hat er nicht den Kredit, der 
ihm eigentlich zukäme. 
Die F.D.P. ist gegen die Ausklammerung des schweben 
den Problems, in welcher Weise die Jugendarbeit in den 
Jugendfreizeitheimen und andernorts auf ein vernünftiges 
und produktives Maß gebracht werden kann. Wir freuen 
uns über jede Initiative zugunsten der Jugend, besonders 
über solche, welche die Jugendlichen ernst nimmt oder 
sogar von den Jugendlichen selbst ausgeht. Daß da im 
einzelnen konzeptionelle oder organisatorische Unvoll 
kommenheit eine Rolle spielen mag oder mangelnde Kennt 
nis von behördlichen Regelungen, muß man als völlig 
untergeordnet ansehen, denn die Initiative, selber etwas 
für sich machen zu wollen, kann bei den Heranwachsenden 
nicht hoch genug eingeschätzt werden, als daß man nicht 
jedes Körnchen an Ideenreichtum dort herausdestillierte, 
förderte und unterstützte. Wir Liberale machen da keine 
Unterschiede, ob der Ideenreichtum von Jugendlichen ge 
tragen wird, die im politischen Spektrum auf der einen 
oder anderen oder auf einer dritten Seite angesiedelt sind. 
Das unterscheidet uns von Dogmatikern. 
Es darf nun auch nicht angehen, daß die häufige bezirk 
liche Erfolglosigkeit auf diesem Gebiet — und ich will es 
mir hier verkneifen, den einen oder anderen Jugenddezer 
nenten als Musterfall des Abwiegelns zu nennen — eben 
durch übermäßiges Mißtrauen gegenüber solchen, nicht so 
im Griff befindlichen Ideen kompenziert wird und diese 
dann noch mit Reglementierlust der Behörden erstickt 
werden. 
Es darf auch nicht sein, daß von außerbehördlichen Kon 
zepten gleich so viel Erfolg erwartet wird, daß ein ernst 
haftes Gespräch über die Förderung, Begleitung oder sogar 
Mitfinanzierung und Unterstützung, auch personeller Art, 
durch Jugendämter von vornherein als aussichtslos be 
zeichnet wird, denn so hinge man denjenigen Jugendlichen, 
die nach eigenen Möglichkeiten suchen, sich in unsere Ge 
sellschaft hineinzuleben, den Brotkorb zu hoch. 
Liberale Jugendpolitik zielt neben dem Ausgleich von 
Defiziten auf die Förderung der Entwicklung der nach 
wachsenden Generation zu selbstbewußten und selbstver 
antwortlichen Bürgern, aber nicht zu willenlosen Konsu 
menten oder zu entmutigten oder verbitterten Behörden 
objekten. Fachliche Beratung bei Jugendprojekten, deren 
Initiative außerhalb des Behördenspielraums liegen, sollte 
— wenn nicht ausdrücklich erbeten — behutsam und len 
kend gegeben werden, aber in jedem Falle sollte das An 
gebot dafür vorhanden sein. Es darf eben nicht passieren, 
daß beispielsweise von einem Sozialarbeiter bzw. einer klei 
nen Gruppe von bezirklichen Sozialarbeitern in einer Ge 
gend, wo Jugendarbeit sehr wichtig ist, wo es um sozial 
Deklassierte geht, Jugendarbeit zwar großartig angekün 
digt wird, diese dann aber nach außen unterbleibt und daß 
im nachhinein dann sogar festgestellt wird, sie sei über 
flüssig gewesen, obwohl gleichzeitig aber Unzufriedenheit 
darüber herrscht, daß in dieser Gegend gewisse asoziale 
Tendenzen nicht ab- sondern zugenommen hätten. Des 
wegen sind wir der Ansicht, daß jedes Jugendamt — egal 
in welchem Bezirk es sich befindet — gleichermaßen offen 
sein sollte für Ideen, die von guten Motiven getragen, wenn 
auch unvollkommen formuliert in die politische Landschaft 
gebracht werden. Wenn man von dieser Position ausgeht, 
dann werden Sie Verständnis dafür haben, daß wir zum 
Beispiel den Punkt 67 der Materialien zur Regierungserklä 
rung sehr ernst nehmen, der in seinem letzten Teil darauf 
abstellt, daß die selbstorganisierte Jugendarbeit ein beson 
deres Augenmerk des Senats verdient. Daß der Senat in 
dieser Richtung tätig ist, wird man vielerorts beobachten 
und konstatieren können. Das Problem ist nur der Kompe 
tenzstrang bis hinunter in die Bezirke, bis hin zur einzelnen 
Amtsfunktion, da gibt es viele Brüche, und insofern meinen 
wir, ist es wichtig, daß zum heutigen Zeitpunkt vom Senat 
eine Bilanz gezogen wird. Diese Bilanz soll durch unsere 
Große Anfrage ermöglicht werden. — Ich danke Ihnen für 
Ihre Aufmerksamkeit bei diesen einleitenden Ausführungen. 
(Beifall bei der F.D.P. und der SPD) 
Stellv. Präsident Baetge: Das Wort zur Beantwortung 
hat Frau Senator Reichel. Bitte schön! 
Reichel, Senator für Familie, Jugend und Sport: Herr 
Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst einmal 
möchte ich vor der Beantwortung der vier Fragen einige 
allgemeine Bemerkungen machen, die, nicht nur aus der 
Berliner Sicht, zum besseren Verständnis des Begriffs 
„selbstorganisierte Jugendarbeit“ beitragen sollen. Denn 
über eines sind wir uns doch wahrscheinlich einig, daß 
nämlich selbstorganisierte Jugendarbeit noch kein Wert an 
sich ist, sondern die Inhalte hinterfragt werden müssen; 
und genau da kommt es dann ja oft zu Schwierigkeiten, 
mit denen wir uns auseinanderzusetzen haben. 
Es gibt viele Stufen der Selbstorganisation. So darf man 
zum Beispiel auch bei der Diskussion über Selbstorganisa 
tion nicht vergessen, daß die Jugendverbände auch Selbst 
organisationen sind, auch dann, wenn sie heute bereits 
weitgehend schon öffentliche Aufgaben im Sinne fast schon 
eines Wohlfahrtsverbandes mit übernommen haben. Diese 
Tatsache kann auch nicht die Opposition einer Reihe von 
Jugendgruppen gegen die sogenannte etablierte Jugend 
arbeit wegwischen, zu der sie dann auch die Jugendver 
bände zählen. Wirklich autonome Selbstorganisation oder 
Selbstverwaltung würde man allerdings wahrscheinlich nur 
dann haben, wenn diese Gruppierungen zum Beispiel auch 
von Zuwendungen unabhängig sind. Aber diese Form der 
Selbstverwaltung war von Ihnen sicherlich nicht gemeint. 
Wenn öffentliche Zuwendungen gegeben werden, so wird 
man den demokratischen Kontrollgremien nicht das Recht 
der Kontrolle über Zuwendungsempfänger und damit auch 
das Eingriffsrecht absprechen können. Selbstorganisierte 
Jugendarbeit wird sich also Interessenkonflikten stellen 
müssen, die sowohl durch demokratische Kontrollgremien 
oder Behörden ausgelöst werden können, als auch aus der 
Interessenlage anderer Zuwendungsberechtigter, die eben 
falls ihren Anspruch auf Geld anmelden. Wichig ist es da 
her, dafür zu sorgen, daß inhaltliche Konflikte auch inhalt 
lich angegangen, ausgetragen und möglichst auch gelöst 
werden. Sie dürfen weder umgangen, noch durch behörd 
liche oder administrative Eingriffe allein unterdrückt 
werden. 
Es gibt nun verschiedene Stufen der Selbstorganisation, 
die ich hier zunächst einmal nennen möchte: Die Selbst 
verwaltung, Selbstbestimmung, Programmautonomie, Mit 
bestimmung oder auch Mitverantwortung. Selbstorganisa 
tion, Selbstbestimmung und Mitbestimmung sind zweifel 
los keine Tugenden, die uns in die Wiege gelegt worden 
sind. Auch darauf haben Sie ja hingewiesen. Es handelt 
sich vielmehr um Fähigkeiten, die man im Zusammenleben 
und Zusammenwirken mit anderen Menschen erlernen muß, 
der selbstorganisierten Jugendarbeit muß also auch das 
Recht auf Fehler und das Recht auf Korrektur solcher 
Fehler zugesprochen werden. Junge Menschen benötigen 
dafür Einübungsmöglichkeiten oder — wie der Pädagoge 
sagen wird — Lemfelder. Solche Jugendzentren in Selbst 
verwaltung können für den jungen Menschen als Lern 
felder für Selbstorganisation, als von Kontrollen und Sank 
tionen entlasteter Erfahrungsraum, als Chance zur Auf 
hebung schichtenspezifischer Trennungen — weil in den 
meisten Fällen dort Schüler, Lehrlinge und Studenten Zu 
sammenarbeiten —, als Freiraum für Experimente, die 
selbst ausgedacht, selbst geplant, durchgeführt und auch 
überprüft werden können, als Ort, an dem neue Anregun 
gen für eine oft in Tradition festgefahrene und überan 
strengte Pädagogik gesammelt werden können, und als 
freies Angebot für alle, die Demokratisierung nicht nur als 
Begriff benutzen wollen, dienen. 
Dies sind zwar gute programmatische Erklärungen, aber 
das ist noch nicht die Wirklichkeit. Sie in die Tat umzu 
setzen, sie durchzusetzen, das bringt überhaupt erst die 
Probleme und deshalb wahrscheinlich auch die Große An 
frage. Zu berücksichtigen sind zum Beispiel unterschied 
liche Ausgangspunkte. Da gibt es die Forderung nach 
Jugendzentren dort, wo keine bestehen, die Forderung nach 
Räumen in bestehenden Zentren für selbstorganisierte 
Gruppen und die Forderung nach Selbstverwaltung für 
bestehende Zentren durch selbstorganisierte Gruppen.
	        
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