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Volume Nr. 30, 10.06.76

Full text: Plenarprotokoll (Public Domain) Issue1976, 7. Wahlperiode, Band II, 20.-45. Sitzung (Public Domain)

Abgeordnetenhaus von Berlin - 7. Wahlperiode 
30. Sitzung vom 10. Juni 1976 
1236 
Es Ist außerordentlich bedauerlich zu hören, daß die Ein 
richtung der sogenannten Grenzfallklinik immer noch unter 
so großen Schwierigkeiten steht. Es ist vielleicht tröstlich, 
daß wenigstens für die Kinder eine solche Einrichtung in 
Sicht ist. Wenn von der Schaffung der Fachkrankenschwe 
ster für Psychiatrie die Rede ist, ist das vielleicht ein Weg, 
um der Enge auf dem Personalsektor sowohl allgemein wie 
auch gerade für solche Spezialeinrichtungen, wo das Per 
sonalproblem besonders stark in den Vordergrund tritt, 
abzuhelfen. Ich meine, man muß -—- wenn man alles zusam 
menfaßt — sagen: Nach dem Bericht können wir feststel 
len, daß ein großes Stück des Weges bereits zurückgelegt 
wurde in den letzten Jahren, daß aber doch eine Reihe von 
dringenden Fragen noch der Lösung bedarf. Umso mehr 
fühle ich mich an dieser Stelle verpflichtet, all denen, die 
jetzt wirklich Jahre und Jahrzehnte unter zum Teil sehr 
schwierigen äußeren Umständen den Dienst am psychisch 
Kranken geleistet haben, hier den Dank des Hauses — zu 
mindest den Dank meiner Fraktion — auszusprechen. 
(Beifall bei der SPD) 
Für uns als SPD-Fraktion ergibt sich daraus — wie ich 
erklären möchte — folgende Konsequenz; Insgesamt ist der 
Bericht als positiv einzuschätzen, aber wir werden nicht 
umhin können, nach dieser Antwort weiterhin mit parla 
mentarischen Initiativen tätig zu werden. Wir werden aber 
auch alle Aktivitäten des Senats, die die Entwicklung einer 
modernen und endlich dann auch optimalen Psychiatrie in 
Berlin zum Ziele haben, nach Kräften unterstützen! 
(Beifall bei der SPD und der F.D.P.) 
Präsident Lorenz: Das Wort hat der Abgeordnete Dr. 
Hasenclever. 
Dr. Hasenclever (CDU): Herr Präsident! Meine Damen 
und Herren! Die Einstellung zu den psychisch Kranken ist 
eine der wesentlichen Herausforderungen nicht nur an uns 
als Vertreter der Bürgerschaft, sondern an die Gesellschaft 
schlechthin. Und nun haben wir hier die Möglichkeit, dar 
über zu sprechen und darüber nachzudenken, welches denn 
unsere Verantwortung ist, die Betreuung der psychisch 
Kranken über den gesundheitlichen Bereich hinaus einer 
besseren Lösung zuzuführen. Denn kein Bereich im Rahmen 
der gesundheitlichen Versorgung hat einen solchen Nach 
holbedarf und hat solche Lücken — wie Ihnen ja allen be 
kannt ist. Aber gleichzeitig müssen sich auch alle Bürger 
darüber im klaren sein, daß jeder einzelne von ihnen in die 
ser Frage eine Verantwortung zu tragen hat, weil ein Groß 
teil der seelischen Krankheiten und ihre Vorläufer, die Ver 
haltensstörungen, oder Auswirkungen von Veränderungen 
im seelischen Bereich auf das körperliche Geschehen, die wir 
als psychosomatische Störungen bezeichnen, im Grunde zu 
rückzuführen sind auf die zwischenmenschlichen Beziehun 
gen mit ihren vielen Konflikten. Und darum sind wir also 
über die gesundheitliche Versorgung hinaus verpflichtet, in 
allen Bereichen, ln denen es darum geht, um Menschen Vor 
sorge und Fürsorge zu tragen, von vornherein auf die Pro 
bleme der frühen Erkennung und geeigneten Behandlung 
schon von Störungen im Verhalten oder im seelischen Wohl 
befinden bis hin zur psychischen Erkrankung, Rücksicht zu 
nehmen. Hierzu gehören die Fragen der Erziehung, hierzu 
gehören die Probleme der Konflikte zwischen den Genera 
tionen und zwischen den Geschlechtern — etwa die Unzu 
friedenheit vieler Frauen über ihre Rolle in der Gesellschaft, 
aber es gehören auch dazu gerade die Schwierigkeiten der 
Jugend in einer sich rasch wandelnden Welt mit dem Ver 
lust von vielen traditionellen Werten, unter dem die Jugend 
heute viel stärker zu leiden hat als die ältere Generation 
unter dem, was vor 30 Jahren und davor ln unserem Land 
geschehen ist. 
Und auf der anderen Seite ist die ständige Erhöhung der 
Lebenserwartung naturgemäß damit verbunden, daß ein 
Abbau an Intellektuellen Qualitäten, aber auch ein Verlust 
an seelischen Möglichkeiten — von Fantasie, von Variabili 
tät — gegeben ist. Wir wissen alle, daß die Lage unserer 
Alten im Extremfall nicht nur von körperlichen Leiden be 
gleitet wird, sondern auch von Verhaltensstörungen und 
seelischen Krankheiten. 
Kurzum, wir sehen hier eine Fülle von Kausalketten, die 
die Entstehung und Entwicklung vieler seelischer Krankhei 
ten ausmachen. Und obwohl das so ist, dürfen wir dabei 
nicht unseren Mut verlieren. Wir müssen uns klar sein, daß 
die moderne Medizin eine große Chance gibt, aus den frühe 
ren, weitgehend resignierenden Formen der Betreuung — 
nämlich der einfachen Verwahrung in einem weit vom 
Wohnbereich und von der Familie entlegenen Zentrum, in 
einer ganz undifferenzierten Weise ohne Trennung der ein 
zelnen Krankheitsbilder — herauszukommen und die Mög 
lichkeiten moderner Erkenntnisse und aktiver Maßnahmen 
einzusetzen. Wir haben diese Chance, wenn wir unseren 
guten Willen daransetzen, an dem ich nach den vorherigen 
Rednern ja nicht zweifeln darf. Und hierzu gehört die Über 
legung, daß die neuen Medikamente, die Psychopharmaka, 
es gestatten, durch eine sehr schnelle und sehr kurze Ein 
wirkungsmöglichkeit früher langfristige stationäre Betreu 
ungen zu verkürzen und den betreffenden Kranken so zu 
stabilisieren, daß er in eine ambulante Betreuung entlassen 
werden kann. 
Natürlich — und hier kommt schon ein möglicher Aus 
druck auf, der immer wieder zu Mißverständnissen führt, 
nämlich der Begriff der sogenannten „Drehtürpsychiatrie“ — 
natürlich beinhaltet die Chance der Verkürzung einer statio 
nären Behandlung, die frühzeitige Entlassung ln die ambu 
lante Betreuung oder gar in die Rehabilitation auch die 
Gefahr einer weiteren erneuten Verschlechterung, eines 
Rückfalls und der Rückkehr in die stationäre Behandlung. 
Aber diese Verflechtung sollte doch nicht mit dem Schlag 
wort „Drehtürpsychiatrie“ einfach herabgesetzt werden. Da 
unser gesamtes Bewußtsein viel stärker als bisher von ei 
nem Optimismus in die Therapie und von dem guten Willen 
und viel energischem Einsatzbewußtsein für die Rehabilita 
tion geprägt ist, dürfen wir nicht zweifeln, daß wir nach 
dem derzeitigen Engpaß der psychiatrischen Versorgung 
bestimmt im Lauf der Zeit zu wesentlich besseren Ergeb 
nissen kommen werden. 
Aber wir dürfen auch diesen Optimismus nicht so weit 
treiben, daß wir uns vermessen könnten zu meinen, wir 
Menschen würden diesen Bereich jemals ganz in den Griff 
bekommen. Alle unsere Bemühungen, die sozialen Konflikt 
probleme bessern zu helfen, scheitern an der Unzulänglich 
keit des menschlichen Charakters. Alle unsere Bemühungen 
zur Rehabilitation scheitern evtl, daran, daß wir nicht ge 
nügend Engagement in bestimmten Entscheidungsprozes 
sen erbringen können, um für die jungen Menschen, die be 
reit sind, in diese Berufe einzuströmen, den Beruf so attrak 
tiv zu machen, daß sie auch den dornenreichen Weg nach 
der Ausbildung in der Berufsausübung durchschreiten. Der 
Herr Kollege Bodin hat ja sehr mit Recht darauf hingewie 
sen, und der Senator hat es ebenfalls gesagt, daß es gilt, 
diese Berufe qualitativ in ihren Ausbildungschancen zu ver 
bessern, aber ich meine, darüber hinaus auch in ihrem So 
zialprestige anzuheben und die Arbeit In der Ausübung 
dieser Berufe auch durch entsprechende Stellenanhebungen 
und gehaltliche Verbesserungen zu erleichtern. Doch wir 
können mit Freude feststellen, daß ein Optimismus für die 
Zukunft sich auch deswegen rechtfertigt, weil über die mo 
dernen rein ärztlichen Betreuungsmöglichkeiten — etwa 
der Psychopharmaka oder der Psychotherapie — hinaus die 
Qualifizierung und Differenzierung medizinischer Fachbe 
rufe inzwischen in unserem Land so weit fortgeschritten 
ist, daß wir psychisch Kranken und geistig Behinderten eine 
Fülle von differenzierten Behandlungs- und Rehabilitations 
möglichkeiten anbieten können. Denken Sie an die neuge 
schaffenen Berufe der Logopäden, der Audiometrie, der Be 
schäftigungstherapie und möglicherweise auch einer Musik 
therapie. 
Aber wir müssen über diese quantitativen und qualitati 
ven Verbesserungen hinaus echte strukturelle Veränderun 
gen, evolutionäre und damit reformerische Veränderungen, 
ln der Art und ln der Methode in diesem Bereich nicht nur 
erwägen, sondern sie auch praktizieren. Und Ich stimme 
hier meinen Vorrednern voll namens der CDU-Fraktion zu, 
daß wir bereit sind, die ambulante Behandlungsmöglichkeit 
bei psychisch Kranken neben der Praxis der niedergelasse 
nen Ärzte mit zu verantworten und mit zu empfehlen, im 
Bereich des Krankenhauses und vor allen Dingen im Be 
reich des sozial-psychiatrischen Dienstes aus den gleichen
	        
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