Abgeordnetenhaus von Berlin - 7. Wahlperiode
28. Sitzung vom 20. Mai 1970
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Konflikte zwischen verschiedenen Nutzungsansprüchen mit
sich bringt, die Probleme der Bevölkerungsentwicklung im
Hinblick auf Zahl und auf Struktur, der Übergang von der
vorrangigen Befriedigung eines quantitativen Nachhol
bedarfs zur verstärkten Berücksichtigung statt gestalte
rischer Aspekte und schließlich die polyzentrische Stadt
struktur Berlins.
Was unsere erste Frage nach den Eckdaten der Stadt
entwicklungsplanung betrifft, so erfordern die sich ab
zeichnenden neuen Daten im Bereich der Bevölkerungs
prognose ein Umdenken beim Wohnungsbau. Der quanti
tative Bedarf ist geringer, als ursprünglich angenommen,
während die Anforderungen an Ausstattung und Lage der
Wohnungen — auch bei individuell sehr unterschiedlichen
Wünschen — insgesamt gestiegen sind. Dazu kommt die
Rolle des Wohnungsangebots als ein zentraler Faktor für
die Attraktivität Berlins, um hier Wohnende an die Stadt
zu binden und um die Zuzugsbereitschaft zu fördern.
Weite Innenstadtbereiche mit ihren Substandardwohnun
gen, mit ihrer Ausländerkonzentration, mit ihrer Ver-
slummung aufgrund von Fortzügen in andere Bezirke, mit
ihrer Überbelastung der Inftrastruktureinrichtungen dro
hen zu veröden, wenn wir kein Rezept dagegen finden. Und
schließlich können wir nicht die Augen davor verschließen,
daß verminderte gesamtwirtschaftliche Wachstumsraten
die Finanzierbarkeit von Wohnungsbauvorhaben beein
flussen. Man denke etwa nur an den Fortgang der Stadt
erneuerungsprogramme.
Was unsere zweite Frage nach Wohnungsneubau einer
seits und Sanierung bzw. Modernisierung andererseits be
trifft, so interessiert es meine Fraktion insbesondere, ob
Sanierung und Modernisierung tatsächlich als Rezept gegen
die Verödung der Xnnenstadtbereiche funktioniert, wie weit
es gelingt und gelingen kann, erhaltenswerte Bausubstanz
vor der Flächensanierung zu schützen, und wie der Senat
die Entkernung, Auflockerung und Durchgrünung von
Wohngebieten bewerkstelligen kann.
Besonders wichtig wird dabei ein sozial vertretbares
Mietpreisniveau sein. Beispiele aus Italien oder Frankreich
sollten uns warnen, wo überhöhte Mieten für modernisierte
Wohnungen in den Innenstädten schließlich zu Gettos für
Privilegierte führten, während die ursprüngliche Wohn
bevölkerung an den Stadtrand ausweichen mußte, bei er
heblichen sozialen und psychischen Folgekosten.
Eine mögliche Reduzierung des Neubauprogramms kann
sich positiv auf die Erhaltung von Grünbereichen und
Naherholungsflächen auswirken. Neubau ist dennoch
weiterhin erforderlich; und es sollte jedesmal genau geprüft
werden, ob der Verzicht auf Neubau unter übergeordneten
Gesichtspunkten, wie funktionsfähiger Wohnungsmarkt,
städtebauliche Gesamtkonzeption sowie Freizeit- und Er
holungswert der Stadt, gerechtfertigt sind oder nicht.
Was unsere dritte Frage nach den Kriterien zur Be
urteilung einzelner Wohnungsbauvorhaben betrifft, so ist
klar, daß eine Prioritätensetzung schon aus finanziellen
Erwägungen unumgänglich ist. Dazu kommen aber auch
gesellschaftspolitische Aspekte. Es gilt, entsprechend dem
allgemeinen Ziel der Wertgleichheit der Lebensbedingungen
in allen Bereichen Ungleichheiten in der WohnungsVersor
gung gezielt abzubauen und akute Wohnungsnotstände zu
beheben. Benachteiligte Gruppen, wie kinderreiche Fami
lien, Senioren, Behinderte, Studenten und andere in Aus
bildung Befindliche sollten besonders berücksichtigt wer
den. Zuwanderungswilligen Arbeitskräften sollte man
spezifische Angebote machen.
Wenn wir anläßlich dieser unserer Großen Anfrage eine
detaillierte Auskunft über die zeitlichen und finanziellen
Lurchführungsperspektiven der Wohnungsbauplanung be
kommen wollen, so ist uns natürlich bewußt, daß es dabei
nicht um eine starre Festlegung gehen kann, sondern daß
die Flexibilität der Planung — soweit notwendig — zu
erhalten ist, ja In einigen Bereichen sogar erst angestrebt
werden muß. Wohnungsbauplanung ist und bleibt ein
herausragender Bestandteil der Stadtentwicklungspolitik.
Wir bieten dem Senat mit unserer Großen Anfrage die
Gelegenheit, seine Vorstellungen dazu vor dem Parlament
offenzulegen. Und wir hoffen, daß der konstruktive Dialog
zwischen Regierung und Parlament zu vernünftigen Ziel
setzungen und zur Verwirklichung dieser Ziele führen wird.
Die SPD-Fraktion jedenfalls ist bereit, ihren Beitrag dazu
zu leisten.
(Beifall bei der SPD und der F.D.P.)
Präsident Lorenz: Das Wort zur Beantwortung hat Herr
Senator Ristock.
Kistock, Senator für Bau- und Wohnungswesen: Herr
Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich
danke Dinen, Herr Hauff, und ich danke der SPD-Frak
tion, daß sie mir die Möglichkeit gibt, vor diesem Hohen
Haus nach einem Jahr meiner Tätigkeit als Senator für
Bau- und Wohnungswesen zu dieser wichtigen Frage hier
Rede und Antwort zu stehen; und ich füge hinzu, daß ich,
als ich im vergangenen Jahr diese Aufgabe übernahm, eine
Situation vorfand, die vieles neu überlegen ließ, die zwar
die Frage der Kontinuität in den Vordergrund stellte, die
darüber hinaus aber auch Antworten erforderte, die der
veränderten Situation in vielen Bereichen Rechnung tragen
mußten. Kontinuität, das heißt, wir haben in dieser Stadt
eine große, fast ungeheure Leistung in den letzten Jahr
zehnten erbracht, indem wir vom Bedarf her an den Wie
deraufbau gingen und in dieser ersten Phase unserer
Nachkriegspolitik über 450 000 Wohnungen bauten für die
über 2 Millionen Menschen dieser Stadt, daß wir die Infra
struktur zu verbessern hatten, Schulen, Bäder, Kranken
häuser und vieles andere mehr; und wir hatten mit dem,
was wir an Flächen hatten, trotzdem sparsam umzugehen,
denn diese Stadt hat eine besondere geographisch-politische
Situation, von der ich zwar überzeugt bin, daß sie sich nach
Abschluß der Verträge entscheidend gebessert hat, aber
gewisse geographisch-politische Grundfakten lassen sich
auch durch Verträge nicht aufheben. Und es waren Fragen
zu stellen. Ich darf hier erst einmal allgemein und dann im
Detail die Fragen der SPD-Fraktion beantworten.
Ich darf eine persönliche Anmerkung zu Beginn machen,
weil sie, wie ich mir vorstellen kann, im weiteren Verlauf
der Debatte dann vor allen Dingen seitens der Opposition
eine Rolle spielen wird. Richtig ist, daß diese Darstellung,
die ich hier zusammenfassend bringe, dem einen oder ande
ren sehr plötzlich erscheint. Aber ich erinnere auch daran,
daß es gerade die Opposition war in einer Debatte kurz vor
Weihnachten, von der ich darauf hingewiesen wurde, daß
ich zwar Fragmente hier und dort vorgelegt hätte, aber
eine zusammenfassende Darstellung vermissen ließe. — Ich
muß Ihnen hier persönlich sagen, ich habe in vielen Teil
fragen nachforschen lassen und Untersuchungen vor
nehmen lassen — das hat Zeit gebraucht — und die Ergeb
nisse dieser Untersuchungen flössen ein in die Entschei
dung, die ich Ihnen hier heute unterbreite.
Vier Grundfragen an den Anfang gestellt: Wir hatten
zu prüfen die Frage: Ist Quantität in gleicher Weise ge
fragt oder müssen Qualitätsgesichtspunkte weit stärker in
den Vordergrund gestellt werden ? Das war die eine Frage
stellung. — Eine zweite Fragestellung, Finanzen: Die
finanzielle Ausstattung, der Rahmen, das Volumen in dem
und auf dessen Grundlage wir uns zu bewegen haben. Wie
ja schon vorweg gesagt, wir sind im Bereich der Förderung
im sozialen Wohnungsbau im Moment im Etat mit einer
Summe von 370 Mio DM drin. Das, was ich hier vortrage
und was Reduzierungen beinhaltet, bedeutet ein Förde
rungsvolumen von knapp unter einer Milliarde Mark im
Haushalt im Jahre 1980. — Und eine nächste Fragestellung,
die Frage des Bedarfs; Die Frage des Bedarfs war ebenfalls
abzuwägen, nicht abzuleiten von irgendeiner mystischen
Zahl. Städte leben, ob sie eine Million oder vier Millionen
oder drei oder anderthalb Millionen haben — dieses ist
für mich jedenfalls nicht die Grundfrage —, wenn sie in
sich, in ihrer Struktur gesund sind, und dafür haben sie zu
arbeiten. Insofern ist die Frage des Bedarfs rational zu
stellen, und Ich gebe zu, daß die Ergebnisse, die das
DIW-Gutachten gebracht hat, nicht unberücksichtigt blei
ben konnten, wenn ich auch hier hinzufüge, daß ich selbst