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Volume Nr. 26, 22.04.76

Full text: Plenarprotokoll (Public Domain) Issue1976, 7. Wahlperiode, Band II, 20.-45. Sitzung (Public Domain)

Abgeordnetenhaus von Berlin - 7. Wahlperiode 
26. Sitzung vom 22. April 197G 
1056 
Stellv, Präsident Baetge: Als erster Redner hat Herr 
Abgeordneter Matthes das Wort. 
Matthes (CDU): Herr Präsident! Meine Damen und Her 
ren! Wer so aufmerksam wie die Antragsteller Ihrer Rede 
zugehört hat, Herr Senator, der war am Anfang frohen 
Mutes. Wenn er aber Fazit zieht über die Antworten, die 
Sie zu allen unseren Fragen gegeben haben, dann gab es 
ein einziges Mal die Antwort „Ja, das haben wir getan“, 
nämlich zur letzten Frage 3 e); Sie haben die Eigenkapital 
ausstattung der Gewerbesiedlungs-Gesellschaft als eine 
Notwendigkeit erkannt und entsprechend eingeplant. Zu 
allen anderen Fragen haben Sie für unsere Begriffe das 
Problem nicht erkannt; im Gegenteil, Sie haben damit be 
gonnen, bei der Frage 1 a) uns Vorschriften zu verlesen, 
die alle kennen, die auch die betroffenen Betriebe kennen. 
Und Ihre Antwort lautete leider schlicht: Schuld sind 
immer die Betroffenen selbst! — Ich glaube, Herr Senator, 
so leicht kann man es sich angesichts der Zahlen, die die 
mittelständische Wirtschaft in Berlin leider zu verzeichnen 
hat, nicht machen. Wir hoffen, daß Ihre Projektgruppen 
leute, wenn diese, wie Sie sagen, einen langen Atem haben, 
dann auch die entsprechenden Erfahrungen machen. Hof 
fentlich hat die mittelständische Wirtschaft in Berlin auch 
so einen langen Atem, daß sie durchhält. Mag sein, daß 
dann vielleicht Ihre Leute auch zu den Zahlen kommen, die 
sich aus der Statistik und aus den Jahresberichten sehr 
leicht heute schon ablesen lassen. 
Herr Kollege Boehm hat in der Begründung unserer An 
frage einige dieser Zahlen genannt. Ich darf vielleicht hier 
noch ergänzen: Allein in den letzten vier Jahren sind in 
diesem Herzstück, wie ich es mal nennen darf, der mittel 
ständischen Wirtschaft in Berlin — immerhin ein Bereich, 
wenn man zum Beispiel die Grenze bei den Betrieben bis 
500 Beschäftigten ansetzt, bei dem allein 60% aller Er 
werbstätigen in solchen Betrieben im produzierenden Ge 
werbe tätig sind und der allein 65% des Berliner Brutto 
sozialprodukts erwirtschaftet — durch einen Aderlaß 
75 000 Erwerbstätige verlorengegangen. Von diesen 75 000 
Erwerbstätigen ln diesem Bereich der mittelständischen 
Wirtschaft sind aus Berlin fast 55 000 abgewandert, wie 
Sie ja selbst aus der Statistik nachlesen können, und 20 000 
zum Staat gegangen. Auch das ist das traurige Dilemma 
unserer wirtschaftlichen Situation in dieser Stadt, daß wie 
im Bund, und sogar überdurchschnittlich höher, sich die 
Staatsquote immer mehr erhöht zu Lasten der Quote des 
Anteils aus dem wirtschaftlichen Bereich. Wie groß die 
Hilfen aus Bonn werden müssen, wenn diese Entwicklung 
weitergeht, brauche ich Ihnen nicht vorzurechnen, das 
kann jeder an seiner eigenen Hand selbst abzählen. Dies 
alles ist eingebettet in eine allgemeine Rezession, die wir 
in den letzten Jahren erleben mußten. Schuld ist sicherlich 
auch — dazu gibt es unterschiedliche Auffassungen; wir 
haben da eine ganz spezielle — die sozial-liberale Wirt 
schaftspolitik dieser Bonner Regierung. Wie diese sozial 
liberale Wirtschaftspolitik oder die vorherige sozialdemo 
kratische in Berlin gewirkt hat, können Ihnen diese Zahlen 
der letzten vier Jahre verdeutlichen. Unter anderem hat 
dies zu der Konsequenz geführt, daß allein in den Jahren 
von 1970 bis 1974 — anderes statistisches Material steht 
mir leider nicht zur Verfügung — über 10 000 selbständige 
Gewerbetreibende in Berlin ihre Existenz verloren haben 
und ausgeschieden sind. Dies ist kein Geheimnis. Solche 
Zahlen sind immer in der wirtschaftspolitischen Debatte 
in Bonn genannt worden; für Berlin gelten sie ähnlich. Auf 
der anderen Seite ist der Anteil am Volkseinkommen aus 
Arbeitnehmertätigkeit überproportional stark gestiegen 
und der Anteil des Staates noch einmal fast doppelt so 
stark. Alles dies ging zu Lasten der Erwerbsfähigkeit 
mittelständischer und kleiner Betriebe. Das ist die Situation 
in Berlin. 
Diese Zahlen, die ich Ihnen hier angegeben habe, würden 
dem Vergleich in etwa mit dem Bund standhalten, weil sie 
fast im Niveau der Minusraten liegen, wie sie ja auch für 
die Bundesrepublik gelten. Nur zu leicht haben wir uns 
leider in der Vergangenheit bei den Antworten des Senats 
immer aufdrängen lassen, daß ja eigentlich ln Berlin die 
wirtschaftliche Situation im großen und ganzen in Ordnung 
sei, weil die abweichenden Quoten mal 1% mehr oder 
weniger von den Durchschnittsquoten des Bundes betragen. 
So leicht darf man es sich nicht machen. Wenn Berlin einst 
die größte Industriestadt nicht nur Deutschlands sondern 
Europas war, so hat Berlin heute diese Funktion verloren. 
Und diese Funktion hat es deshalb verloren, weil Berlin 
schon in der Pro-Kopf-Produktivität oder dem Pro- 
Kopf-Anteil des Bruttosozialprodukts gegenüber den ver 
gleichbaren Ballungsgebieten — wie den Städten Stuttgart, 
Köln oder München — weit zurückhinkt: während das 
Bruttosozialprodukt pro Kopf in Berlin bei etwa 16 000 DM 
liegt, haben wir dort Quoten pro Kopf, die bis zu 24 000 DM 
reichen. Wer dann bei seinen wirtschaftlichen Überlegun 
gen alle Quoten und Indikatoren der volkswirtschaftlichen 
Gesamtrechnung auf Bundesdurchschnittswerte bezieht, 
vergißt dabei, daß dort ein gemischtwirtschaftliches Gebiet 
mit ländlicher Struktur die entsprechenden Daten beein 
flußt, was Sie ja hoffentlich für Berlin in der Zukunft 
nicht wünschen wollen. 
Ich habe diese groben Daten einmal ganz kurz angeris 
sen, um Ihnen auch zugleich zu sagen, daß diese Situation 
ja nicht von ungefähr gekommen ist, sondern sie direkter 
Ausfluß einer bestimmten politischen Grundhaltung, wie 
sie in dieser Stadt geherrscht hat und was Wirtschafts 
politik hier war, ist. Diese Zahlen finden darin eine Erklä 
rung. Und die Klagen, die wir aus der mittelständischen 
Industrie kennen, haben hier deshalb ganz bewußt zu Fra 
gen geführt — wobei Sie übrigens, Herr Senator, am An 
fang dankenswerterweise den Ball aufgegriffen haben und 
selbst davon sprechen: Das tut not! — Dann aber in Ihren 
Antworten vom ersten bis zum letzten Punkt stellen Sie 
fest: Nichts erforderlich! Ist bekannt! Die Vorschriften 
sind da, sie reichen aus! — Warum eigentlich gibt es dann 
dieses Dilemma in den Verhältnissen unseres Herzstücks 
der Berliner mittelständischen Wirtschaft, im industriellen, 
im handwerklichen und vor allen Dingen auch im Dienst 
leistungsbereich? Warum haben wir es mit solchen Rück 
gängen bei den Zahlen zu tun? Die Antwort liegt auch, 
wie man das aus unserer Fragestellung ersehen kann, auf 
der Hand; und ich hoffe, Ihre Projektgruppe kommt bei 
ihrer langen Untersuchung irgendwann dahinter. Ich hoffe 
nur, die Berliner Wirtschaft hat einen langen Atem, damit 
sie das auch aushält. 
Diese entsprechenden Entwicklungen hängen damit zu 
sammen, daß es eben in Berlin keinen Gewerberaum für 
einen durch stadtplanerische Maßnahmen betroffenen Be 
trieb zu vergleichbaren Mietpreisen gibt. Natürlich haben 
wir ein großes Angebot von Gewerberäumen in Berlin, und 
es stehen eine ganze Menge solcher Räume leer, aber zu 
welchen Mietpreisen, das wissen Sie ja selbst, wenn Sie 
sich einmal informieren und in den Zeitungen nachschauen. 
Da hilft mir Ihre Antwort leider nicht, Herr Senator Lüder, 
daß dieses Problem nicht einer besonderen Beurteilung 
bedarf, weil der freie Markt dies allein anbietet. 
Sie haben am Anfang Ihrer Darstellung von sogenann 
ten mildtätigen Gefälligkeiten gesprochen. Ich habe nur 
das Gefühl, daß das, was Sie wollen und hier angestrebt 
haben, ein Übermaß an bürokratischer Kontrolle ist. Ich 
möchte dies nur deshalb so deutlich sagen — ich habe es 
vorhin in einem Zwischenruf versucht —, weil ich einfach 
davor warnen muß, allzuviel Vertrauensseligkeit in die 
Entscheidungsgewalt einer Bürokratie zu setzen. Und das, 
was wir hier in diesen Anfragen zum Grund der Proble 
matik gemacht haben, waren ja gerade die bürokratischen 
Schwierigkeiten, die es in dieser Stadt übrigens nicht ver 
hindert haben, daß eine Masse von Kapital und von Zins 
vergünstigungen zum Beispiel zu Feyl, einer Druckerei, 
gegangen sind, zum Kreisel gegangen sind, und zu welchen 
spektakulären Pleiteobjekten auch immer. Und in diesen 
ganzen Verfahren der Überprüfung der Kreditwürdigkeit 
dieser Projekte haben Sie sich sogar im Einzelfall viel, viel 
Zeit gelassen und sind nach einer langen, langen Studien 
erkenntnis doch auf den falschen Dampfer gesprungen. 
Ich habe die Befürchtung, wenn Ihre Bürokratie mit den 
mittelständischen Betrieben in Berlin weiter so verfährt 
wie bisher, daß es auch dort zu wenig erfreulichen Ent 
wicklungen in der Zukunft kommen wird. 
Gerade aus diesem Grund kann uns Ihre Antwort nicht 
befriedigen. Es ist in Berlin nach wie vor notwendig, d en
	        
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