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Volume Nr. 10, 11.09.75

Full text: Plenarprotokoll (Public Domain) Issue1975, 7. Wahlperiode, Band I, 1.-19. Sitzung (Public Domain)

Abgeordnetenhaus von Berlin - 7. Wahlperiode 
10. Sitzung vom 11. September 1975 
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Daten ihren Auftrag aber leider nicht erfüllen konnte. Dies 
mal hoffen wir, daß die neue, auf Antrag der CDU ein 
gesetzte Kommission ihre Aufgabe besser erfüllen kann. 
Aber die Veröffentlichung des Gutachtens des Deutschen 
Instituts für Wirtschaftsforschung — das ist jetzt doch 
wohl allen deutlich geworden — zeigt, daß wir uns an 
einem Scheideweg für die Zukunft unserer Stadt befinden. 
Und die Entscheidungen, die Senat und Abgeordnetenhaus 
jetzt treffen müssen, werden das Schicksal und die Ent 
wicklung dieser Stadt ganz wesentlich beeinflussen. Der 
Senat sagt, daß er die in dem Gutachten aufgezeigte Ent 
wicklung ernst nimmt und die langfristigen Konsequenzen 
sieht. Wir meinen, daß das sehr spät ist. Aber ich hoffe, 
daß wir uns darüber einig sind: Wenn man den Dingen 
ihren Lauf läßt, dann wird sich die Bevölkerung Berlins 
aller Voraussicht nach in den nächsten Jahrzehnten immer 
schneller vermindern. Und alle diejenigen — und solche 
hat es ja auch gegeben —, die eine solche Entwicklung 
sogar noch begrüßen, die tragen zu ihrer Beschleunigung 
bei, und sie haben dann alle negativen Auswirkungen auch 
ernsthaft mitzuverantworten. 
(Beifall bei der CDU) 
Natürlich ist eine bestimmte Bevölkerungszahl kein 
isoliert zu betrachtendes Planungsdatum. Aber es besteht 
für uns kein Zweifel, daß Zahl und Zusamensetzung der 
Bevölkerung nicht nur den Umfang gesamtwirtschaftlicher 
Leistungen bestimmen, Herr Regierender Bürgermeister, 
sondern auch ganz allgemein die Bedeutung einer Groß 
stadt. So ist Berlin zum Beispiel in den vergangenen zwan 
zig Jahren als ein in sich überschaubares und zusammen 
hängendes Ballungsgebiet als Teststadt für Marktunter 
suchungen aller Art gewählt worden. Und die Ergebnisse 
wurden dann für die Planung der Wirtschaft auch in 
bezug auf andere Ballungsgebiete — etwa das Ruhrgebiet 
oder den Rhein-Main-Raum — ausgewertet. So etwas 
würde bei einem rapiden Bevölkerungsabfall nicht mehr 
möglich sein. Dann wäre eben Berlin nicht mehr Beispiel, 
an dem sich andere orientieren, und die Stadt hätte eine 
weitere Funktion verloren. 
Berlin ist heute noch nach Umsatz und Beschäftigungs 
zahl die größte Industriestadt Deutschlands, man sagt 
sogar zwischen Paris und Moskau. Nimmt man die progno 
stizierte Bevölkerungszahl einfach hin, dann würde unsere 
Stadt diese Position sehr bald verlieren. Auch ist Berlin 
heute noch in der Bundesrepublik die Stadt mit dem größ 
ten kulturellen Angebot, insbesondere auf dem Gebiet des 
Theaters und der Musik. Es besteht aber für uns kein 
Zweifel, daß bei rapide absinkender Bevölkerungszahl diese 
Stellung auch nicht aufrechterhalten werden könnte. Denn 
Theater, Oper, Konzertsäle und andere Veranstaltungen 
können eben nur bei einer in diesem Umfang lebendigen 
Großstadt bestehen, und der mit einem Bevölkerungsrück 
gang verbundene Besucherausfall ist, wie die Vergangen 
heit gezeigt hat, auch durch intensive Werbemaßnahmen 
nicht aufzuholen. 
Und nun, meine Damen und Herren: Berlin kann auch 
hierbei nach unserer Überzeugung nicht mit München, 
Hamburg, Düsseldorf oder Köln verglichen werden, weil 
dort die Menschen aus der Umgebung, aus den Randge 
bieten von den kulturellen Angeboten der Stadt Gebrauch 
machen. Und es wurde hier richtig gesagt, daß leider die 
Menschen um das freie Berlin herum davon nicht Gebrauch 
machen können. Es ist überhaupt ein Trugschluß — ich 
darf das hier noch einmal mit aller Deutlichkeit sagen, 
denn es ist ja ln den Ausführungen des Regierenden Bür 
germeisters und vor allem auch in den Ausführungen des 
Kollegen Heß noch einmal wiederholt worden —, wenn ver 
gleichend darauf hingewiesen wird, daß auch andere Groß 
städte an Einwohnerzahl abnehmen. Ich habe da eine ganz 
andere Auffassung als Sie, Herr Kollege Heß. In diesen 
Städten ist nämlich der Rückgang der Bevölkerungszahlen 
nicht alarmierend, weil die Münchner, die zum Beispiel 
nach Grünwald oder Starnberg ziehen, oder die Hamburger, 
die nach Pinneberg oder nach Jesteburg ziehen, eben der 
Stadt erhalten bleiben und ihr nicht verlorengehen; 
(Beifall bei der CDU) 
sie bleiben dem wirtschaftlichen und dem kulturellen Leben 
und auch dem Arbeitskräftepotential der Stadt erhalten, 
wie die vielen Pendler immer wieder deutlich zeigen. Wer 
aber aus Berlin wegzieht, der ist leider für diese Stadt 
verloren. Und wenn wir erheblich an Bevölkerung abneh 
men, so müssen wir davon ausgehen, daß auch das kultu 
relle Angebot zurückgeht und die kulturelle Bedeutung 
Berlins abnimmt. 
Und wir müssen auch damit rechnen, daß sich die Wirt 
schaft — und zwar nicht nur die produzierende, sondern 
auch Handel, Handwerk und Gewerbe — auf die vermin 
derte Bevölkerungszahl einstellt. Man wird also hier nicht 
mehr soviel investieren wie bisher, weil man ja nicht damit 
rechnen kann, daß genügend Arbeitskräfte da sind, daß 
genügend Konsumenten für Waren und Dienstleistungen 
da sind, und insofern werden auch weniger Wohnungen 
gebaut werden, weil man davon ausgeht, daß der Bedarf 
sinkt. Und hier liegt die wirkliche Gefahr, weil sich hier 
nämlich Ursache und Wirkung verkehren: Weil das kultu 
relle Leben Berlins an Spannung verliert, weil sich hier 
weniger reizvolle Arbeitsplätze finden lassen, weil dann 
hier weniger Dienstleistungen angeboten werden, weil also 
insgesamt dann hier „weniger los ist“ und das breite Welt 
stadtspektrum sich immer mehr einengt — deshalb wird 
Berlin immer weniger Ausstrahlungskraft haben und im 
mer weniger Anziehungskraft entfalten. Und die Folge 
davon wäre, daß weniger Leute es für erstrebenswert hiel 
ten, hier nach Berlin zu kommen. Und das muß nach 
unserer Auffassung für die Zukunft mit aller Kraft und 
mit allen Mitteln verhindert werden. 
(Beifall bei der CDU) 
Weil Sie gesagt haben, es gebe niemand, der das be 
jubelt: Immerhin muß ich sagen, daß das Problem sich 
nicht damit lösen läßt, daß man sagt, man müsse den 
„Mut zur kleinen Zahl" haben, wie das hier geschehen ist. 
Wir brauchen nicht den Mut zu düsteren Prognosen, son 
dern den Mut zum Handeln. 
(Beifall bei der CDU) 
Wir haben — das möchte ich einmal denen sagen, die so 
argumentieren, und damit meine ich jetzt nicht den ge 
samten Senat, das möchte ich betonen — nie viel von den 
Plänen des Senats für das „Modell einer modernen Groß 
stadt“ gehalten, aber wir würden es für verheerend halten, 
wenn er sich künftig auf das „Modell einer modernen 
Schrumpfstadt“ einrichten müßte. 
(Beifall bei der CDU) 
Eine Stadt von internationaler Bedeutung braucht nun 
einmal eine bestimmte Größe. Sie kann sich — ich möchte 
das einräumen — von einer Großstadt zu einer Millionen 
stadt entwickeln, wie das bei München der Fall war, und 
kann dabei ständig an Anziehungskraft und allgemeiner 
Bedeutung gewinnen, selbst wenn sie dann noch nicht so 
viele Einwohner hat wie West-Berlin heute. Aber eine Stadt 
wie Berlin, die seit Jahrzenhten Millionenstadt ist und 
ohnehin durch Krieg und Nachkriegsentwicklung viele Ein 
wohner verloren hat, die kann nach unserer festen Über 
zeugung nicht auf einen großen Teil ihrer Einwohnerzahl 
als Folge einer langfristigen Entwicklung verzichten, ohne 
dabei entscheidend an Bedeutung zu verlieren. 
Natürlich ist auch die Frage der Struktur der Bevölke 
rung bedeutsam. Die Prognose sagt eine Entwicklung vor 
aus, die das Verhältnis von jungen und alten Menschen in 
dieser Stadt wieder in eine natürlichere Relation bringt. Und 
wir begrüßen eine solche Entwicklung. Aber ich warne vor 
der Vorstellung, daß man so etwas „nur abzuwarten 
brauche". Die Vorzeichen sehen leider anders aus. Die 
Leitvorstellung des Senats vom Oktober 1972 für die Ber 
liner Wirtschaftspolitik ging für 1980 noch von 937 400 
Erwerbspersonen als erzielbar und wünscheswert aus. Das 
DIW spricht heute nur noch von 873 000 und rechnet die 
Abwanderungen nicht ein. Das sind 65 000 Erwerbsper 
sonen weniger, meine Damen und Herren, und diese Ver 
gleichszahl zeigt doch, daß hier Unsicherheit über die 
Zukunft besteht. 
Außerdem sind auch die Zahlen alarmierend, wenn man 
die jüngsten Jahrgänge betrachtet. Während im Jahre 1972
	        
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