Abgeordnetenhaus von Berlin - 7. Wahlperiode
10. Sitzung vom 11. September 1975
250
Daten ihren Auftrag aber leider nicht erfüllen konnte. Dies
mal hoffen wir, daß die neue, auf Antrag der CDU ein
gesetzte Kommission ihre Aufgabe besser erfüllen kann.
Aber die Veröffentlichung des Gutachtens des Deutschen
Instituts für Wirtschaftsforschung — das ist jetzt doch
wohl allen deutlich geworden — zeigt, daß wir uns an
einem Scheideweg für die Zukunft unserer Stadt befinden.
Und die Entscheidungen, die Senat und Abgeordnetenhaus
jetzt treffen müssen, werden das Schicksal und die Ent
wicklung dieser Stadt ganz wesentlich beeinflussen. Der
Senat sagt, daß er die in dem Gutachten aufgezeigte Ent
wicklung ernst nimmt und die langfristigen Konsequenzen
sieht. Wir meinen, daß das sehr spät ist. Aber ich hoffe,
daß wir uns darüber einig sind: Wenn man den Dingen
ihren Lauf läßt, dann wird sich die Bevölkerung Berlins
aller Voraussicht nach in den nächsten Jahrzehnten immer
schneller vermindern. Und alle diejenigen — und solche
hat es ja auch gegeben —, die eine solche Entwicklung
sogar noch begrüßen, die tragen zu ihrer Beschleunigung
bei, und sie haben dann alle negativen Auswirkungen auch
ernsthaft mitzuverantworten.
(Beifall bei der CDU)
Natürlich ist eine bestimmte Bevölkerungszahl kein
isoliert zu betrachtendes Planungsdatum. Aber es besteht
für uns kein Zweifel, daß Zahl und Zusamensetzung der
Bevölkerung nicht nur den Umfang gesamtwirtschaftlicher
Leistungen bestimmen, Herr Regierender Bürgermeister,
sondern auch ganz allgemein die Bedeutung einer Groß
stadt. So ist Berlin zum Beispiel in den vergangenen zwan
zig Jahren als ein in sich überschaubares und zusammen
hängendes Ballungsgebiet als Teststadt für Marktunter
suchungen aller Art gewählt worden. Und die Ergebnisse
wurden dann für die Planung der Wirtschaft auch in
bezug auf andere Ballungsgebiete — etwa das Ruhrgebiet
oder den Rhein-Main-Raum — ausgewertet. So etwas
würde bei einem rapiden Bevölkerungsabfall nicht mehr
möglich sein. Dann wäre eben Berlin nicht mehr Beispiel,
an dem sich andere orientieren, und die Stadt hätte eine
weitere Funktion verloren.
Berlin ist heute noch nach Umsatz und Beschäftigungs
zahl die größte Industriestadt Deutschlands, man sagt
sogar zwischen Paris und Moskau. Nimmt man die progno
stizierte Bevölkerungszahl einfach hin, dann würde unsere
Stadt diese Position sehr bald verlieren. Auch ist Berlin
heute noch in der Bundesrepublik die Stadt mit dem größ
ten kulturellen Angebot, insbesondere auf dem Gebiet des
Theaters und der Musik. Es besteht aber für uns kein
Zweifel, daß bei rapide absinkender Bevölkerungszahl diese
Stellung auch nicht aufrechterhalten werden könnte. Denn
Theater, Oper, Konzertsäle und andere Veranstaltungen
können eben nur bei einer in diesem Umfang lebendigen
Großstadt bestehen, und der mit einem Bevölkerungsrück
gang verbundene Besucherausfall ist, wie die Vergangen
heit gezeigt hat, auch durch intensive Werbemaßnahmen
nicht aufzuholen.
Und nun, meine Damen und Herren: Berlin kann auch
hierbei nach unserer Überzeugung nicht mit München,
Hamburg, Düsseldorf oder Köln verglichen werden, weil
dort die Menschen aus der Umgebung, aus den Randge
bieten von den kulturellen Angeboten der Stadt Gebrauch
machen. Und es wurde hier richtig gesagt, daß leider die
Menschen um das freie Berlin herum davon nicht Gebrauch
machen können. Es ist überhaupt ein Trugschluß — ich
darf das hier noch einmal mit aller Deutlichkeit sagen,
denn es ist ja ln den Ausführungen des Regierenden Bür
germeisters und vor allem auch in den Ausführungen des
Kollegen Heß noch einmal wiederholt worden —, wenn ver
gleichend darauf hingewiesen wird, daß auch andere Groß
städte an Einwohnerzahl abnehmen. Ich habe da eine ganz
andere Auffassung als Sie, Herr Kollege Heß. In diesen
Städten ist nämlich der Rückgang der Bevölkerungszahlen
nicht alarmierend, weil die Münchner, die zum Beispiel
nach Grünwald oder Starnberg ziehen, oder die Hamburger,
die nach Pinneberg oder nach Jesteburg ziehen, eben der
Stadt erhalten bleiben und ihr nicht verlorengehen;
(Beifall bei der CDU)
sie bleiben dem wirtschaftlichen und dem kulturellen Leben
und auch dem Arbeitskräftepotential der Stadt erhalten,
wie die vielen Pendler immer wieder deutlich zeigen. Wer
aber aus Berlin wegzieht, der ist leider für diese Stadt
verloren. Und wenn wir erheblich an Bevölkerung abneh
men, so müssen wir davon ausgehen, daß auch das kultu
relle Angebot zurückgeht und die kulturelle Bedeutung
Berlins abnimmt.
Und wir müssen auch damit rechnen, daß sich die Wirt
schaft — und zwar nicht nur die produzierende, sondern
auch Handel, Handwerk und Gewerbe — auf die vermin
derte Bevölkerungszahl einstellt. Man wird also hier nicht
mehr soviel investieren wie bisher, weil man ja nicht damit
rechnen kann, daß genügend Arbeitskräfte da sind, daß
genügend Konsumenten für Waren und Dienstleistungen
da sind, und insofern werden auch weniger Wohnungen
gebaut werden, weil man davon ausgeht, daß der Bedarf
sinkt. Und hier liegt die wirkliche Gefahr, weil sich hier
nämlich Ursache und Wirkung verkehren: Weil das kultu
relle Leben Berlins an Spannung verliert, weil sich hier
weniger reizvolle Arbeitsplätze finden lassen, weil dann
hier weniger Dienstleistungen angeboten werden, weil also
insgesamt dann hier „weniger los ist“ und das breite Welt
stadtspektrum sich immer mehr einengt — deshalb wird
Berlin immer weniger Ausstrahlungskraft haben und im
mer weniger Anziehungskraft entfalten. Und die Folge
davon wäre, daß weniger Leute es für erstrebenswert hiel
ten, hier nach Berlin zu kommen. Und das muß nach
unserer Auffassung für die Zukunft mit aller Kraft und
mit allen Mitteln verhindert werden.
(Beifall bei der CDU)
Weil Sie gesagt haben, es gebe niemand, der das be
jubelt: Immerhin muß ich sagen, daß das Problem sich
nicht damit lösen läßt, daß man sagt, man müsse den
„Mut zur kleinen Zahl" haben, wie das hier geschehen ist.
Wir brauchen nicht den Mut zu düsteren Prognosen, son
dern den Mut zum Handeln.
(Beifall bei der CDU)
Wir haben — das möchte ich einmal denen sagen, die so
argumentieren, und damit meine ich jetzt nicht den ge
samten Senat, das möchte ich betonen — nie viel von den
Plänen des Senats für das „Modell einer modernen Groß
stadt“ gehalten, aber wir würden es für verheerend halten,
wenn er sich künftig auf das „Modell einer modernen
Schrumpfstadt“ einrichten müßte.
(Beifall bei der CDU)
Eine Stadt von internationaler Bedeutung braucht nun
einmal eine bestimmte Größe. Sie kann sich — ich möchte
das einräumen — von einer Großstadt zu einer Millionen
stadt entwickeln, wie das bei München der Fall war, und
kann dabei ständig an Anziehungskraft und allgemeiner
Bedeutung gewinnen, selbst wenn sie dann noch nicht so
viele Einwohner hat wie West-Berlin heute. Aber eine Stadt
wie Berlin, die seit Jahrzenhten Millionenstadt ist und
ohnehin durch Krieg und Nachkriegsentwicklung viele Ein
wohner verloren hat, die kann nach unserer festen Über
zeugung nicht auf einen großen Teil ihrer Einwohnerzahl
als Folge einer langfristigen Entwicklung verzichten, ohne
dabei entscheidend an Bedeutung zu verlieren.
Natürlich ist auch die Frage der Struktur der Bevölke
rung bedeutsam. Die Prognose sagt eine Entwicklung vor
aus, die das Verhältnis von jungen und alten Menschen in
dieser Stadt wieder in eine natürlichere Relation bringt. Und
wir begrüßen eine solche Entwicklung. Aber ich warne vor
der Vorstellung, daß man so etwas „nur abzuwarten
brauche". Die Vorzeichen sehen leider anders aus. Die
Leitvorstellung des Senats vom Oktober 1972 für die Ber
liner Wirtschaftspolitik ging für 1980 noch von 937 400
Erwerbspersonen als erzielbar und wünscheswert aus. Das
DIW spricht heute nur noch von 873 000 und rechnet die
Abwanderungen nicht ein. Das sind 65 000 Erwerbsper
sonen weniger, meine Damen und Herren, und diese Ver
gleichszahl zeigt doch, daß hier Unsicherheit über die
Zukunft besteht.
Außerdem sind auch die Zahlen alarmierend, wenn man
die jüngsten Jahrgänge betrachtet. Während im Jahre 1972