Abgeordnetenhaus von Berlin - 6. Wahlperiode
87. Sitzung vom 4. Dezember 1974
beratung ganze anderthalb Spalten gewidmet, über die sich
anbahnenden Entwicklungen wird überhaupt kein Wort
verloren. Das einzig Positive, was man zu diesem Bericht
sagen kann, wenn man einmal von der kostenlosen Ver
teilung von empfängnisregelnden Mitteln an sozial Bedürf
tige absieht — da ist Berlin ohne Zweifel beispielhaft für
die Bundesrepublik vorangegangen —, ist die Einräumung,
daß die Beratungseinrichtungen verbesserungsbedürftig
sind. Das ist etwas wenig! Uns sind aus verschiedenen
Anfragen die Wartezeiten für die Familienberatungsstellen
bekannt, und ich erinnere daran, daß sie vor einigen
Wochen noch bis zu sechs Monaten betrugen. Ich brauche
über die Zahl der Monate, die eine Schwangerschaft normal
währt, hier nichts weiter auszuführen.
Ich nehme an, daß Sie uns heute über die Arbeitsergeb
nisse der vier beteiligten Senatsressorts — also Familie,
Jugend und Sport, Gesundheit und Umweltschutz, Arbeit
und Soziales und Schulwesen —- eingehend berichten wer
den. Die vor uns beispielhaft aufgeführten Anregungen für
Verbesserungen sind ja gewiß von Ihnen bereits in konkrete
Vorschläge umgesetzt worden. Wir sind sehr interessiert
daran, Sie, Herr Senator, und Ihre Ausführungen zu hören.
(Beifall bei der F.D.P.)
Präsident Sickert: Das Wort zur Beantwortung der
Großen Anfrage hat Herr Senator Pätzold.
Pätzold, Senator für Gesundheit und Umweltschutz: Herr
Präsident! Meine Damen und Herren! Ich darf mich im
Namen des Senats bewußt darauf beschränken, die Große
Anfrage so zu beantworten, wie sie hier schriftlich vorge
legt worden ist.
Was die allgemeinen Ausführungen zur Begründung der
Großen Anfrage — jetzt hier mündlich vorgetragen —-
angeht, darf ich mich auf die kurze Feststellung beschrän
ken, daß der Senat in vollem Umfang mit diesen Aus
führungen und den politischen Wertungen, die vorgetragen
worden sind, übereinstimmt.
Zu 1: Der Senat hat nach ausführlichen Erörterungen
über die einzelnen Probleme, die sich bei Inkrafttreten der
Reform des § 218 StGB ergeben, eine Reihe von Maß
nahmen eingeleitet. So wurde im Juni 1974 eine Rundfrage
bei allen Krankenhäusern mit Gynäkologie-Abteilungen
durchgeführt, ob sie bereit sind, Schwangerschaftsabbrüche
nach Einführung der Fristenregelung vorzunehmen und ob
sie dafür das erforderliche Personal besitzen. Auf diese
Frage haben positiv geantwortet: Sämtliche öffentlichen
Krankenanstalten — also 9 —; alle freigemeinnützigen
Krankenanstalten mit Ausnahme der konfessionellen, das
sind 2; private Krankenanstalten: 10; insgesamt also
21 Krankenanstalten.
Unter Federführung der Gesundheitsverwaltung haben
Gespräche, an denen die Senatsverwaltungen für Arbeit
und Soziales sowie für Familie, Jugend und Sport beteiligt
waren, mit den in der Liga der freien Wohlfährtsverbände
zusammengefaßten Verbänden über die mit der Reform
im Zusammenhang stehenden Beratungsaufgaben stattge
funden. Ziel war eine Abstimmung über die Beratungs
inhalte und die für ermächtigte Beratungsstellen notwendige
Personelle Ausstattung. Dabei wurde auch die Notwendig
keit der Weiterbildung des mit solchen Aufgaben betrauten
Personals gesehen. Schon in diesem Jahr wurden mehrere
Seminare durchgeführt, etwa von der Pro Familia und von
der Senatsverwaltung für Gesundheit und Umweltschutz,
hm Ärzte und Sozialarbeiter auf die neuen Aufgaben vorzu
bereiten. Diese Maßnahmen müssen, wenn die Reform in
Kraft tritt, verstärkt durchgeführt werden.
Zu Frage la: Das Bundesministerium für Familie,
Jugend und Gesundheit hat sich zur Förderung und finan
ziellen Unterstützung von etwa 50 Modellberatungsstellen
Uh gesamten Bundesgebiet bereit erklärt. Die finanzielle
Unterstützung ist voraussichtlich bis Ende 1977 befristet.
Auf das Land Berlin sollen zwei der 50 Modellberatungs
stellen entfallen. Dem Senat wird in Kürze eine Vorlage
unterbreitet werden, die sich mit den zwei Modellvor
haben im Land Berlin konkret befaßt. Dabei wird es sich
um jeweils eine Einrichtung beim Bezirksamt Kreuzberg
von Berlin und bei der Pro FamUia —- Deutsche Gesellschaft
für Sexualberatung und Familienplanung e. V. — handeln.
Diese Einrichtungen sollen die für einen Schwangerschafts
abbruch erforderlichen medizinischen, psychologischen und
sozialen, gegebenenfalls auch juristischen Beratungsauf
gaben erfüllen. Mit diesen Modellen sollen Erfahrungen
gewonnen werden, insbesondere auch zu der Frage, ob und
welche darüber hinausgehenden Erweiterungen der Be
ratungskapazität gegebenenfalls erforderlich werden. Ein
zusätzliches Beratungsangebot würde natürlich personelle
und sächliche Auswirkungen haben. Im übrigen darf ich
zu der von Herrn Professor Schönherr aufgeworfenen Frage
nach dem Ausbau der Familienberatung sagen, daß erstens
dies Gegenstand der erwähnten Vorlage sein wird, zweitens
der Senat in den nächsten Wochen eine Vorlage über den
umfassenden weiteren Ausbau der Gesundheitsvor- und
-fürsorge unterbreiten wird. Dabei wird diese Frage in
einem breiteren Zusammenhang auch eine entscheidende
Rolle mit spielen.
Unter der hypothetischen Annahme, daß die gesetzlich
vorgeschriebenen Beratungen nach § 218 c Strafgesetzbuch,
Neufassung, nur in sogenannten „ermächtigten Beratungs
stellen“ und nicht auch durch freipraktizierende Ärzte er
folgten, würden bei einer angenommenen Zahl von 10 000
Schwangerschaftsabbrüchen bei etwa 200 Arbeitstagen
jährlich auf jeden Arbeitstag etwa 50 Beratungen in den
entsprechenden Beratungsstellen entfallen. Dieser Bedarf
würde aller Voraussicht nach durch die beiden Modell
beratungsstellen gedeckt werden können. Sobald der Ge
setzgeber das Strafrechtsreform-Ergänzungsgesetz, wonach
die Kosten für die Beratung zu und Durchführung von
Schwangerschaftsabbrüchen den Krankenkassen übertragen
werden sollen, beschlossen hat, wird der Senator für Ge
sundheit und Umweltschutz offiziell an die Krankenkassen
bzw. an die Kassenärztliche Vereinigung Berlin herantreten,
um entsprechende Verträge für die Honorierung der Lei
stunden (medizinische und soziale Beratungen) abzu
schließen, die von der Modellberatungsstelle des Landes
Berlin im Zusammenhang mit der Durchführung des ge
änderten § 218 Strafgesetzbuch erbracht werden sollen.
Zur Frage 1b: Fragen der Sexualerziehung und der
Familienplanung sind Themen der Rahmenpläne für Unter
richt und Erziehung in der Berliner Schule. Insbesondere ist
in allen 7. Klassen der Oberschulen die Behandlung von
Empfängnisverhütung, Schwangerschaftsabbruch und Ge
burtenregelung vorgesehen. Der Beirat für Sexualerziehung
ist zur Zeit damit beschäftigt, die Richtlinien für Sexual
erziehung und die Rahmenpläne zu überarbeiten, und er
wird dabei auch die geplante Reform des § 218 Strafgesetz
buch berücksichtigen. Hier darf ich anmerken, daß in Berlin
bereits 1959 die ersten Richtlinien über Sexualerziehung
für die Schulen in Kraft gesetzt worden sind, eine Maß
nahme, die später von fast allen anderen Bundesländern
nachvollzogen wurde.
Zur Frage 1c: Zur Unterstützung des Unterrichts über
Familienplanung wurde von der Berliner Arbeitsgemein
schaft für Hygiene und Gesundheit e.V. eine Broschüre
über Empfängnisverhütung entwickelt, die jedem Schüler
nach der Erarbeitung dieses Themas im Unterricht kosten
los zur Verfügung gestellt wird. Die Verteilung dieser Bro
schüre ist auch für die nächsten Jahre vorgesehen. Mit der
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in Köln ist
verabredet worden, daß 1975 ein Merkblatt für Lehrer
vorbereitet wird, das bei Inkrafttreten der neuen Bestim
mungen über den Abbruch von Schwangerschaften dem
Lehrer Hinweise für den Unterricht bietet.
Seitens der Senatsverwaltung für Gesundheit und Um
weltschutz wurden im Rahmen der Gesundheitserziehung
die folgenden Informationshilfen gegeben; Paktenblatt 6.73
— „Schwangerschaftsverhütung“—, Telefonansage Februar
1974 — „Wie sage ich es meinem Kind?“, Fernsehspot,
Produktion 1974, im November ausgestrahlt, „Familien
planung / Schwangerschaftsverhütung“, Ausgabe von Bro
schüren der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung
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