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Volume Nr. 81, 26.09.74

Full text: Plenarprotokoll (Public Domain) Issue1974/75, 6. Wahlperiode, Band IV, 66.-93. Sitzung (Public Domain)

Abgeordnetenhaus von Berlin - 6. Wahlperiode 
85. Sitzung vom 21. November 1974 
Deshalb unterstützen wir nicht die von mancher Seite - 
etwa auch von der F.D.P. - hier vorgebrachte Forderung, 
nahezu unbefristet, unbegrenzt, einfach der Nachfrage 
entsprechend, eine Vermehrung der Studienplätze vorzu 
nehmen: das erscheint uns weder finanziell noch politisch 
verantwortbar zu sein. 
Zusammenfassend darf ich noch folgendes feststellen: 
Schuld an dieser Misere ist doch wohl eine verfehlte Bil 
dungspolitik der letzten Jahre. Der Schrei nach immer 
mehr Abiturienten, das Bemühen der Länder um immer 
höhere Abiturientenquoten - Berlin ist in dieser Hinsicht ja 
besonders exemplarisch - und die Eröffnung immer weite 
rer Zugänge zum Hochschulstudium neben dem normalen 
Abitur ist doch, wie mir scheint und wie es die Bundes 
vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände in einer 
Schrift herausstellt, „Ausdruck eines einseitigen falschen 
Bildungsverständnisses“. Das Abitur, als die entscheidende 
Voraussetzung für bessere Berufs- und Lebenschancen 
und auch für persönliches Glück, wird zweifellos über 
bewertet. Die Bildungskatastrophe, vor der wir in dieser 
Zeit stehen, weist sich noch in der Tat als viel schlimmer 
aus als die Bildungskatastrophe, die von einigen Bildungs 
politikern und BildungsWissenschaftlern vor 10 Jahren 
verkündet wurde, als man glaubte, eine relativ zu geringe 
Zahl von Abiturienten zu haben. Hier wurden nach unserer 
Ansicht leichtfertig bei vielen jungen Leuten und deren 
Eltern Erwartungen, Hoffnungen und auch Ansprüche 
geweckt, die unserer Gesellschaft einfach nicht zu erfüllen 
vermag. 
Ein akademisches Proletariat steht vor der Tür. Ent 
täuschungen, Verzweiflungen und Aggressionen sind die 
Folge. Es ist ein nicht zu überbietender Irrsinn, aus den 
Deutschen ein Volk von Abiturienten oder Akademikern 
machen zu wollen. 
(Abg. Schmitz; Sehr richtig!) 
Neben der Schaffung besserer und gerechterer Zugangs 
verfahren zu den Hochschulen bedarf es nach unserer 
Meinung in erster Linie einer Verbesserung der Aufstiegs 
möglichkeiten außerhalb der Hochschulen und einer Auf 
wertung der beruflichen Weiterbildungsmaßnahmen, zu 
deren Verwirklichung Verwaltung, Wirtschaft und Indu 
strie in gleichem Maße aufgerufen sind, um neben die for 
malen Qualifikationsvoraussetzungen durch Schulab 
schlüsse, die man sicher auch verbessern muß und kann, 
eine stärkere Berücksichtigung individueller berufsbezoge 
ner Leistungen zu stellen. - Danke schön! 
(Beifall bei der CDU) 
Stellv. Präsident Lorenz: Das Wort hat der Abgeordnete 
Hasch. 
Rasch (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Damen und 
Herren! Ich möchte nicht an dieser Stelle in eine Schelte 
meiner Vorredner oder Bewertung der Beiträge eintreten, 
wie Sic das getan haben, Herr Kollege Padberg, indem Sie 
von meinem Beitrag als „kraus“ oder sonst irgendwie ko 
misch gesprochen haben. Ihr Beitrag ist nicht frei von 
Widersprüchlichkeit, denn einerseits fordern Sie eine Öff 
nung des Bildungssystems, um eben nicht nur das Abitur 
als Nadelöhr zu haben, aber andererseits tragen Sie alles 
dazu bei, daß diese Reform nicht stattfindet, das heißt eben 
auch, daß das Abitur, wie Sie selbst in Ihrem Beitrag 
sagten, das Nadelöhr bleibt. Nur ein Beispiel. 
Man kann Sie fast polemisch fragen, ob Sie schon einmal 
etwas von dem Begriff der „Chancengleichheit“ gehört 
haben, Herr Kollege Padberg, 
(Abg. Wronski: Gerechtigkeit ist besser!) 
~ und auch Gerechtigkeit. Jawohl, Herr Kollege, das 
schließt die Gleichheit der Chance mit ein, das heißt noch 
lange nicht Erfolgsgleichheit, 
(Zurufe von der CDU) 
damit wir gleich einmal diese Ecke wieder raushaben. 
Aber Chancengleichheit und -gerechtigkeit - dieses Wort 
übernehme ich gern - ist nach wie vor, Herr Kollege 
Wronski, dringend notwendig. 
Ich habe mich gefreut über den Beitrag - nun bewerte 
ich das doch - des Kollegen Papenfuß, da er von sehr viel 
Sachlichkeit und Ruhe getragen war und er noch einmal 
hier versucht hat, die Grundproblematik, in der wir hier 
im Zusammenhang mit dem Numerus clausus stecken, dar 
zustellen. 
Ich möchte aber eingangs den Senat noch einmal fragen, 
was ihn dazu geführt hat, die Ausbauziele, die Ausbauzah 
len in Berlin zu reduzieren. War es die Erkenntnis des Se 
nats, daß er in Berlin aufgrund des Bedarfs oder aufgrund 
der finanziellen Situation, aufgrund einer eigenen politi 
schen Entscheidung die Hochschulen nicht weiter über das 
vorgegebene Maß ausbauen will, oder aber war es die deut 
liche Auss.age des Bundes und der Länder: Liebes Land 
Berlin! Deine utopistischen - will ich jetzt mal sagen - 
Ausbauvorstellungen sind wir nicht mehr bereit mitzutra 
gen; das heißt, wenn Du über 63 000 Studienplätze hinaus 
gehst, bekommst Du von uns - aus unserem Finanztopf - 
keine müde Mark mehr! - Was hat Sie also dazu bewogen, 
diese Vorstellungen, die Sie im Hochschulentwicklungsplan 
vorgetragen haben, uns hier vorzulegen? War es das eine 
- waren es der Bund und die Länder, die nicht mitmachen 
wollten - oder war es Ihre eigene politische Vorstellung, 
geboren aus einer ganz bestimmten Beurteilung der hoch- 
schulpolitischen oder gesamtpolitischen Situation ? 
Und da sind wir auch bei der Frage, die der Herr Kollege 
Papenfuß hier sehr ausführlich angesprochen hat, nämlich 
der Frage: Woran soll sich der Ausbau der Hochschulen 
in Berlin orientieren, an der Nachfrage oder an dem 
Bedarf? Und wir sind - das habe ich vorhin schon ganz 
deutlich gesagt - in der schwierigen Situation - und die 
Kollegin Frau Dr. Besser hat ja diesen Unterschied noch 
mal durch ihren Zwischenruf deutlich gemacht, und das hat 
der Kollege Poponfuß ja auch aufgezeigt -, daß wir diesen 
Unterschied faktisch in der Praxis nicht machen können 
deswegen, weil wir nur die Nachfrage kennen und den Be 
darf irgendwo am Himmel, vielleicht in manchem Bereich 
etwas klarer, aber in anderen Bereichen überhaupt nicht 
sehen können. Wir wissen nicht, wie groß der gesellschaft 
liche Bedarf in den einzelnen Berufsfeldern ist. 
Man kann da vielleicht - ich sage es noch einmal - ge 
wisse Unterschiede machen annäherungsweise, wie man da 
rankommt an die Zahlen; aber klare Aussagen können wir 
nicht machen, ganz abgesehen von der verfassungsrecht 
lichen Frage, wie weit wir über eine derartige Diskussion 
und Steuerung in das verfassungsrechtlich verbriefte Recht 
der freien Berufswahl und damit auch der freien Wahl der 
Ausbildung eintreten. Dies ist ein Komplex, den ich hier 
gar nicht anführen möchte, aber der steht ja - auch bei 
dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Zusammen 
hang mit dem numerus clausus - hintergründig ganz klar 
vor unseren Augen. Das heißt, ich wiederhole hier noch 
einmal, wir können zur Zeit nicht differenzieren zwischen 
Nachfrage und Bedarf, jedenfalls nur außerordentlich 
schwer. Insofern sind wir gezwungen - und das ist die 
Crux, das gebe ich zu. weil ich diese Differenzierung an 
sich gern haben möchte -, im Grunde genommen zunächst 
einmal nach der Nachfrage zu gehen, es sei denn, wir 
setzten einfach politische Fakten, wir setzten politische 
Vorgaben, wir sagen aufgrund politischer Entscheidungen 
- nicht aufgrund ganz bestimmter klarer Erkenntnisse, das 
hat Plerr Kollege Papenfuß hier sehr deutlich gesagt die 
und die Zahlen sollen nun noch erreicht werden. Dies ist 
dann eine politische Entscheidung, und die muß getragen 
werden, Herr Kollege Papenfuß, aber sie muß auch begrün 
det werden. Und diese Begründung der politischen Ent 
scheidung fehlt. Die fehlt schlicht im Hochschulentwick 
lungsplan, die hat auch schlicht hier in den Ausführungen 
des Herrn Senators für Wissenschaft und Kunst gefehlt, 
und auch Sie, Herr Kollege Papenfuß, haben nur nach die 
ser Problematik gefragt, auch Sie haben die politische 
Entscheidung, die dem Hochschulentwicklungsplan zu 
grunde liegt, hier nicht näher erläutert. 
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