Abgeordnetenhaus von Berlin - 6. Wahlperiode
85. Sitzung vom 21. November 1974
Deshalb unterstützen wir nicht die von mancher Seite -
etwa auch von der F.D.P. - hier vorgebrachte Forderung,
nahezu unbefristet, unbegrenzt, einfach der Nachfrage
entsprechend, eine Vermehrung der Studienplätze vorzu
nehmen: das erscheint uns weder finanziell noch politisch
verantwortbar zu sein.
Zusammenfassend darf ich noch folgendes feststellen:
Schuld an dieser Misere ist doch wohl eine verfehlte Bil
dungspolitik der letzten Jahre. Der Schrei nach immer
mehr Abiturienten, das Bemühen der Länder um immer
höhere Abiturientenquoten - Berlin ist in dieser Hinsicht ja
besonders exemplarisch - und die Eröffnung immer weite
rer Zugänge zum Hochschulstudium neben dem normalen
Abitur ist doch, wie mir scheint und wie es die Bundes
vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände in einer
Schrift herausstellt, „Ausdruck eines einseitigen falschen
Bildungsverständnisses“. Das Abitur, als die entscheidende
Voraussetzung für bessere Berufs- und Lebenschancen
und auch für persönliches Glück, wird zweifellos über
bewertet. Die Bildungskatastrophe, vor der wir in dieser
Zeit stehen, weist sich noch in der Tat als viel schlimmer
aus als die Bildungskatastrophe, die von einigen Bildungs
politikern und BildungsWissenschaftlern vor 10 Jahren
verkündet wurde, als man glaubte, eine relativ zu geringe
Zahl von Abiturienten zu haben. Hier wurden nach unserer
Ansicht leichtfertig bei vielen jungen Leuten und deren
Eltern Erwartungen, Hoffnungen und auch Ansprüche
geweckt, die unserer Gesellschaft einfach nicht zu erfüllen
vermag.
Ein akademisches Proletariat steht vor der Tür. Ent
täuschungen, Verzweiflungen und Aggressionen sind die
Folge. Es ist ein nicht zu überbietender Irrsinn, aus den
Deutschen ein Volk von Abiturienten oder Akademikern
machen zu wollen.
(Abg. Schmitz; Sehr richtig!)
Neben der Schaffung besserer und gerechterer Zugangs
verfahren zu den Hochschulen bedarf es nach unserer
Meinung in erster Linie einer Verbesserung der Aufstiegs
möglichkeiten außerhalb der Hochschulen und einer Auf
wertung der beruflichen Weiterbildungsmaßnahmen, zu
deren Verwirklichung Verwaltung, Wirtschaft und Indu
strie in gleichem Maße aufgerufen sind, um neben die for
malen Qualifikationsvoraussetzungen durch Schulab
schlüsse, die man sicher auch verbessern muß und kann,
eine stärkere Berücksichtigung individueller berufsbezoge
ner Leistungen zu stellen. - Danke schön!
(Beifall bei der CDU)
Stellv. Präsident Lorenz: Das Wort hat der Abgeordnete
Hasch.
Rasch (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Ich möchte nicht an dieser Stelle in eine Schelte
meiner Vorredner oder Bewertung der Beiträge eintreten,
wie Sic das getan haben, Herr Kollege Padberg, indem Sie
von meinem Beitrag als „kraus“ oder sonst irgendwie ko
misch gesprochen haben. Ihr Beitrag ist nicht frei von
Widersprüchlichkeit, denn einerseits fordern Sie eine Öff
nung des Bildungssystems, um eben nicht nur das Abitur
als Nadelöhr zu haben, aber andererseits tragen Sie alles
dazu bei, daß diese Reform nicht stattfindet, das heißt eben
auch, daß das Abitur, wie Sie selbst in Ihrem Beitrag
sagten, das Nadelöhr bleibt. Nur ein Beispiel.
Man kann Sie fast polemisch fragen, ob Sie schon einmal
etwas von dem Begriff der „Chancengleichheit“ gehört
haben, Herr Kollege Padberg,
(Abg. Wronski: Gerechtigkeit ist besser!)
~ und auch Gerechtigkeit. Jawohl, Herr Kollege, das
schließt die Gleichheit der Chance mit ein, das heißt noch
lange nicht Erfolgsgleichheit,
(Zurufe von der CDU)
damit wir gleich einmal diese Ecke wieder raushaben.
Aber Chancengleichheit und -gerechtigkeit - dieses Wort
übernehme ich gern - ist nach wie vor, Herr Kollege
Wronski, dringend notwendig.
Ich habe mich gefreut über den Beitrag - nun bewerte
ich das doch - des Kollegen Papenfuß, da er von sehr viel
Sachlichkeit und Ruhe getragen war und er noch einmal
hier versucht hat, die Grundproblematik, in der wir hier
im Zusammenhang mit dem Numerus clausus stecken, dar
zustellen.
Ich möchte aber eingangs den Senat noch einmal fragen,
was ihn dazu geführt hat, die Ausbauziele, die Ausbauzah
len in Berlin zu reduzieren. War es die Erkenntnis des Se
nats, daß er in Berlin aufgrund des Bedarfs oder aufgrund
der finanziellen Situation, aufgrund einer eigenen politi
schen Entscheidung die Hochschulen nicht weiter über das
vorgegebene Maß ausbauen will, oder aber war es die deut
liche Auss.age des Bundes und der Länder: Liebes Land
Berlin! Deine utopistischen - will ich jetzt mal sagen -
Ausbauvorstellungen sind wir nicht mehr bereit mitzutra
gen; das heißt, wenn Du über 63 000 Studienplätze hinaus
gehst, bekommst Du von uns - aus unserem Finanztopf -
keine müde Mark mehr! - Was hat Sie also dazu bewogen,
diese Vorstellungen, die Sie im Hochschulentwicklungsplan
vorgetragen haben, uns hier vorzulegen? War es das eine
- waren es der Bund und die Länder, die nicht mitmachen
wollten - oder war es Ihre eigene politische Vorstellung,
geboren aus einer ganz bestimmten Beurteilung der hoch-
schulpolitischen oder gesamtpolitischen Situation ?
Und da sind wir auch bei der Frage, die der Herr Kollege
Papenfuß hier sehr ausführlich angesprochen hat, nämlich
der Frage: Woran soll sich der Ausbau der Hochschulen
in Berlin orientieren, an der Nachfrage oder an dem
Bedarf? Und wir sind - das habe ich vorhin schon ganz
deutlich gesagt - in der schwierigen Situation - und die
Kollegin Frau Dr. Besser hat ja diesen Unterschied noch
mal durch ihren Zwischenruf deutlich gemacht, und das hat
der Kollege Poponfuß ja auch aufgezeigt -, daß wir diesen
Unterschied faktisch in der Praxis nicht machen können
deswegen, weil wir nur die Nachfrage kennen und den Be
darf irgendwo am Himmel, vielleicht in manchem Bereich
etwas klarer, aber in anderen Bereichen überhaupt nicht
sehen können. Wir wissen nicht, wie groß der gesellschaft
liche Bedarf in den einzelnen Berufsfeldern ist.
Man kann da vielleicht - ich sage es noch einmal - ge
wisse Unterschiede machen annäherungsweise, wie man da
rankommt an die Zahlen; aber klare Aussagen können wir
nicht machen, ganz abgesehen von der verfassungsrecht
lichen Frage, wie weit wir über eine derartige Diskussion
und Steuerung in das verfassungsrechtlich verbriefte Recht
der freien Berufswahl und damit auch der freien Wahl der
Ausbildung eintreten. Dies ist ein Komplex, den ich hier
gar nicht anführen möchte, aber der steht ja - auch bei
dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Zusammen
hang mit dem numerus clausus - hintergründig ganz klar
vor unseren Augen. Das heißt, ich wiederhole hier noch
einmal, wir können zur Zeit nicht differenzieren zwischen
Nachfrage und Bedarf, jedenfalls nur außerordentlich
schwer. Insofern sind wir gezwungen - und das ist die
Crux, das gebe ich zu. weil ich diese Differenzierung an
sich gern haben möchte -, im Grunde genommen zunächst
einmal nach der Nachfrage zu gehen, es sei denn, wir
setzten einfach politische Fakten, wir setzten politische
Vorgaben, wir sagen aufgrund politischer Entscheidungen
- nicht aufgrund ganz bestimmter klarer Erkenntnisse, das
hat Plerr Kollege Papenfuß hier sehr deutlich gesagt die
und die Zahlen sollen nun noch erreicht werden. Dies ist
dann eine politische Entscheidung, und die muß getragen
werden, Herr Kollege Papenfuß, aber sie muß auch begrün
det werden. Und diese Begründung der politischen Ent
scheidung fehlt. Die fehlt schlicht im Hochschulentwick
lungsplan, die hat auch schlicht hier in den Ausführungen
des Herrn Senators für Wissenschaft und Kunst gefehlt,
und auch Sie, Herr Kollege Papenfuß, haben nur nach die
ser Problematik gefragt, auch Sie haben die politische
Entscheidung, die dem Hochschulentwicklungsplan zu
grunde liegt, hier nicht näher erläutert.
3117