Abgeordnetenhaus von Berlin - 6. Wahlperiode
81. Sitzung vom 26. September 1974
Mit dem Haushalt 1975 und der nächsten mittelfristigen
Planung wird der Schlußstein gesetzt in der Abwicklung
des Regierungsprogramms dieses Senats; ich werde mir
erlauben, hierzu bei der Einbringung der Finanzplanung
einen finanzpolitischen Leistungsnachweis für die ablau
fende Wahlperiode zu erbringen.
Zugleich wird mit diesem Haushalt ein solides Fundament
gelegt zur Bewältigung der landes- und kommunalpoliti
schen Aufgaben der kommenden Wahlperiode.
Der Haushaltsentwurf enthält — um dies gleich vorweg
zu sagen — keine Sensationen. Er ist die sachgerechte Aus
sage einer finanziell gesicherten kontinuierlichen Landes
und Kommunalpolitik.
Die wirtschaftliche Entwicklung der jüngsten Vergan
genheit und die Erwartungen für die nächste Zukunft geben
Veranlassung, die öffentlichen Haushalte auch im Jahr
1975 in die weiterhin notwendigen Bemühungen um mehr
Stabilität einzupassen. Dabei ist zu berücksichtigen -— und
das macht die Anpassung zunehmend schwieriger —, daß
die wirtschaftlichen Probleme heute vielschichtiger sind
als vor Jahresfrist:
Damals — die Preisstabilität war das zentrale Pro
blem — bewirkten die von der Bundesregierung und der
Bundesbank getroffenen Maßnahmen deutliche positive An
sätze für eine Tendenzwende bei der Preisentwicklung. Die
Folgen der Energiekrise machten diese Ansätze in starkem
Maße zunichte. Heute zeichnet sich eine auf das Jahr ge
rechnete Steigerung der Lebenshaltungskosten zwischen
6 und 7 v. H. ab, so daß die Bemühungen um mehr Preis
stabilität unverändert fortgesetzt werden müssen, auch
wenn das zunehmend auf Schwierigkeiten stoßen sollte.
Denn inzwischen ist das Konjunkturbild erheblich differen
zierter als im vergangenen Herbst.
Es gibt einige Bereiche, die sich in ausgezeichneter Si
tuation befinden, z. B. die Stahlindustrie und die chemische
Industrie. Allerdings darf dabei nicht übersehen werden,
daß diese und andere Wirtschaftsbereiche noch voll die im
Export gebotenen Möglichkeiten nutzen und daß — nach
letzten Erkenntnissen jedenfalls — vielleicht auch die Ex
portchancen wahrzunehmen schwieriger werden wird. So
positiv verstärkte Ausfuhren auf der einen Seite zu werten
sind, denn sie sichern Beschäftigung und Einkommen, so
sollten auch die gegenläufigen Aspekte nicht übersehen
werden. Dazu gehört z. B., daß ständig wachsende De
visenreserven die heimische Inflation anheizen, daß das
Ungleichgewicht von Lieferungen und Bezügen bei uns und
unseren Partnern permanent Währungsfragen weltweit auf
werfen, daß sie vor allem aber Ausdruck einer übermäßigen
Inanspruchnahme unseres Produktionspotentials durch das
Ausland sind; eine solche Entwicklung erschwert die Mög
lichkeiten erheblich, dieses Potential für ausgewogene Re-
formmaßnahmen auf den verschiedensten Gebieten ohne
Inflationsgefahren in Anspruch zu nehmen. Neben diesem
fundamentalen Problem für die Durchsetzung einer Reform
politik im eigenen Lande hat jeder übermäßige Export die
speziell für den Finanzminister unangenehme Eigenschaft,
das Wachstum der Staatseinnahmen negativ zu beeinflus
sen, weil z. B. Ausfuhren keine Umsatzsteuer bringen.
Aber das ist eine Begleiterscheinung, die zeitweilig wohl
hingenommen werden muß; ich komme in einem anderen
Zusammenhang noch einmal darauf zurück. Schwerwiegen
der erscheint mir, daß andere wichtige Wirtschaftsbereiche
mit breiter Ausstrahlung auf das gesamtwirtschaftliche
Geschehen z. Z. tief im Konjunkturschatten stehen; ich
denke dabei z. B. an die Kraftfahrzeugindustrie und vor
allem an die Bauwirtschaft. In diesen Bereichen werden die
konjunkturbedingten Schwierigkeiten durch Strukturpro
bleme überlagert und noch verschärft. Das liegt u. a. daran,
daß der Verbraucher preisbewußter geworden ist, es liegt
mit an der allseits als notwendig anerkannten Hochzins
politik der Bundesbank und es liegt in einigen Bereichen
wohl auch an Fehleinschätzungen künftiger Entwick
lungen, z. B. im Wohnungsbau. Denn anders ist es nicht zu
erklären, wenn im Bundesgebiet z. Z. mehr als 300 000 Woh
nungen wegen zu hoher Mieten unvermietbar sind, obwohl
mietbilliger Wohnraum allenthalben gesucht wird. So not
wendig strukturelle Konsolidierungsprozesse auf der einen
Seite sein mögen, so unausweichlich sie derzeit in der
freien Marktwirtschaft zu sein scheinen, so bedrohlich sind
ihre abrupten Auswirkungen auf einzelne Branchen, ich er
wähnte schon die Bauwirtschaft.
Die sich daraus für den Bestand von Arbeitsplätzen er
gebenden Fragen lösen sozialpolitische Probleme von er
heblicher Bedeutung aus, die ohne staatliche Hilfe für die
betroffenen Arbeitnehmer und ihre Familien nicht gelöst
werden können. Es gilt, um es kurz zu sagen, darauf zu
achten, daß ein an sich erforderlicher Anpassungsprozeß (an
einen allmählich geringer werdenden Bedarf) nicht zu
menschlichem Leid, zur Vernichtung wertvoller Substanz
und zu Unterkapazitäten führt, weil damit die realen Mög
lichkeiten der Zukunft begrenzt werden.
Eine derart „gespaltene Konjunktur“, wie ich sie hier in
groben Umrissen dargestellt habe, ist weder durch Maß
nahmen der Globalsteuerung noch mit Hilfe der öffentlichen
Haushalte entscheidend zu verändern. Hier müssen Wirt
schafts- und Finanzpolitik „auf Sicht“ gefahren werden mit
dem Ziel, wirtschaftliche Einbrüche zu vermeiden und —
was die öffentlichen Haushalte angeht — das Fundament
für ein zukünftiges gesundes Wirtschaftswachstum nicht
zu gefährden. Zu frühes Gegensteuern durch Ankurbelungs
maßnahmen auf breiter Front würde einen neuen Preisstoß
bringen. Deswegen ist Übereinstimmung mit der Bundes
regierung für den Senat gegeben, auf diesem Sektor eine
Politik des Augenmaßes zu betreiben und die Nerven nicht
zu verlieren.
Dies ist schon deshalb wichtig, weil wir als Folge des ver
änderten Verhaltens der erdölexportierenden Länder vor
einem tiefgreifenden Wandel im weltwirtschaftlichen Aus
gleich stehen; einer Entwicklung, von der Bundesfinanz
minister Apel in seiner Haushaltsrede zu Recht sagte, daß
wir die Tragweite der Veränderungen, die sich aus einer
Verdreifachung des Mineralölpreises ergeben, bisher weder
intellektuell noch ökonomisch bewältigt haben. Ich will es
hier so formulieren: Wir stehen am Anfang einer radi
kalen Umverteilung des Weltvermögens zu Lasten der
Industrienationen und zu Gunsten derer, die die Verfü
gungsgewalt über die Erdölquellen haben. Ich sage aus
drücklich: „Die die Verfügungsgewalt darüber haben“;
denn leider wird der arme Mann auf der Straße in den
OPEC-Staaten noch lange auf eigenen Wohlstand wohl
warten müssen.
Dieser Prozeß — wenn er anhält — wird auch tiefgrei
fende Auswirkungen auf die Finanzpolitik der öffentlichen
Hände in der Bundesrepublik Deutschland haben.
Die Anforderungen an die Stabilitätspolitik im kommen
den Jahr werden aber noch dadurch zusätzlich erhöht, daß
am 1. Januar 1975 die Steuerreform und der neue Familien
lastenausgleich in Kraft treten werden mit der Wirkung
einer Verbesserung der verfügbaren Einkommen in Höhe
von etwa 14 Mrd. DM. Dieser Betrag, der der öffentlichen
Hand fehlen und möglicherweise als zusätzliche private
Nachfrage auf den Markt stoßen wird, muß die Gebiets
körperschaften veranlassen, sparsame Zuwachsraten bei der
Bemessung ihrer Haushalte für 1975 vorzusehen.
Vor diesem Gesamthintergrund, den ich hier nur skizzen
haft aufzeigen wollte, ist der Beschluß des Finanzplanungs
rates zu sehen, die Steigerungsrate der öffentlichen Haus
halte für 1975 auf weniger als 10 v. H. zu begrenzen.
Gestatten Sie mir an dieser Stelle noch einige Sätze zu
einem Thema, das auch in die Betrachtung der gesamtwirt
schaftlichen Lage gehört: Mit Wirkung vom 17. Juli 1974
ist das Gesetz über das Konkursausfallgeld in Kraft ge
treten. Damit wird berechtigterweise der Arbeitnehmer in
seinen Ansprüchen im Konkursfalle vor dem Fiskus befrie
digt. Ich meine, daß die von mir vor einem Jahr an dieser
Stelle angeregte und inzwischen gesetzlich realisierte Bes
serstellung der Arbeitnehmer zur rechten Zeit gekommen
ist. Jeder Firmenzusammenbruch, aus welchem Grunde
auch immer er erfolgt, schafft für die wirtschaftlich
Schwächsten der Betroffenen, und dies sind nun mal die
Lohnabhängigen, besondere Probleme und Härten, die durch
2900