Abgeordnetenhaus von Berlin - 6. Wahlperiode
75. Sitzung vom 20. Juni 1974
Bel der Entwicklung seines Konzepts ist der Senat von
folgenden Leitsätzen und Grundannahmen über das hinaus,
was ich bereits ausführen konnte, ausgegangen:
1. Die Bindungen West-Berlins zur Bundesrepublik
Deutschland werden weiter entwickelt.
2. Die Sicherung der Leistungsfähigkeit West-Berlins
erfordert eine hohe Leistungsfähigkeit aller drei Verkehrs
wege, also des Straßen-, Schienen- und Wasserwegs.
3. Das wirtschaftliche Wachstum setzt sich fort; der
Reiseverkehr nimmt weiter zu.
4. Der Austausch zwischen unserer Stadt und ihren tra
ditionellen Liefer- und Bezugsgebieten des geographischen
Umlands wird schrittweise weiter verstärkt.
In seinen Überlegungen hat der Senat auch mutmaßliche
verkehrspolitische Ziele und Planungen der DDR, soweit
sie offen erkennbar waren, sowie die Verkehrsbedürfnisse
anderer europäischer Staaten berücksichtigt.
Im Vordergrund der Fernverkehrskonzeption stehen
wegen ihrer überragenden Bedeutung die Transitwege nach
Westdeutschland. Doch haben auch der Wechselverkehr mit
der DDR und mit Ost-Berlin ebenso wie der Auslandver
kehr außerhalb der Transitwege nach Westdeutschland
eine, wie wir meinen, angemessene Berücksichtigung ge
funden. Der folgende überblick konzentriert sich auf die
wesentlichen Einzelheiten der verkehrspolitischen Vorstel
lungen des Senats.
Zum Straßenverkehr: Im Transitverkehr müssen die
Verkehrs Verbindungen unserer Stadt denen anderer ver
gleichbarer Bevölkerungs- und Wirtschaftszentren in
Europa angepaßt werden. Die Leistungsfähigkeit der Tran-
sitstraßen ist von ausschlaggebender Bedeutung für die
künftige Entwicklung der Stadt. Ein wichtiges Teilziel ist
auch die leichtere Erreichbarkeit der nahegelegenen Er
holungsgebiete in Westdeutschland. Im Wechselverkehr mit
der DDR und mit Ost-Berlin sind zusätzliche Übergangs
stellen wünschenwert. Nur so können Transportwege ver
kürzt und Reisezeiten vermindert werden. Zu einer Ver
besserung des Wechselverkehrs gehört auch eine groß
zügigere Zulassung des Pkw-Verkehrs im Rahmen der
Besuchsregelung. Im Auslandverkehr, der das Bundes
gebiet nicht berührt, sind schnelle und sichere Straßen nach
Skandinavien sowie nach Ost- und Südosteuropa notwen
dig.
Folgende Projekte stehen dabei im Vordergrund: Bau
einer Autobahn in den nordwestdeutschen Raum, die an die
im Bau befindliche Autobahn nach Rostock angebunden
wird; Verbesserung von Autobahnstrecken innerhalb der
DDR, insbesondere der Ausbau einzelner Autobahnknoten-
punkte; Verbesserung von Dienstleistungen auf den Tran-
sitstrecken wie Pannenhilfe, Abschleppdienst und sonstiger
Service innerhalb der DDR.
Dieser Katalog gibt mir auch Gelegenheit, auf eine
Anmerkung des Kollegen Baetge einzugehen, daß wir uns
noch immer nicht von unseren Autobahnausbauvorstellun
gen entfernt hätten. Nein, der Senat bekennt sich dazu, er
hat dazu keinen Abstand hergestellt; er will auf diesem
Sektor nicht das wiederherstellen, was als Straßensystem
etwa in den zwanziger und dreißiger Jahren als vorbild
lich gegolten haben mag. Wir sind bereit, dafür zu kämpfen,
daß die alten Zugfahrzeiten wiederhergestellt werden, aber
wir sind nicht bereit, dafür zu kämpfen, daß die für den
Postkutschenverkehr des 18. Jahrhunderts geeigneten
Alleestraßen nach Nordwestdeutschland den Maßstab für
den Autoverkehr bilden, der in den nächsten Jahren an
steht.
(Abg. Baetge: Da war alles sehr einfach!)
Wenn wir uns schon in Extremen bewegen, wollte ich
Ihnen mein Extrem nicht vorenthalten, Herr Kollege
Baetge.
Zum Schienenverkehr: Obwohl der Eisenbahnverkehr
nicht unerheblich zugenommen hat, liegt der Anteil des
Schienenverkehrs am gesamten Personen- und Güterver
kehr erheblich unter vergleichbaren Durchschnittswerten
in Westeuropa. Aus den verschiedensten Gründen, hierzu
gehören Gesichtspunkte des Umweltschutzes ebenso wie die
Voraus- oder Anschlußbedienung durch die Deutsche
Bundesbahn, ist eine Erhöhung des Schienenanteils im
Berlin-Verkehr erwünscht. Diesem Ziel können vor allem
dienen: Höhere Transport- und Reisegeschwindigkeiten,
häufiger fahrende kurze Züge, eine Vermehrung der direkt
anzufahrenden Reiseziele im Bundesgebiet und im Ausland,
Direktanschluß an das TEE-Netz und das TEEM-Netz,
Öffnung der kürzesten Transitrouten, Intensivierung des
Huckepack-Verkehrs, Vermehrung der Verbindung für den
sogenannten Güternachtsprung - nichts Unseriöses, für die,
die sich damit noch nicht befaßt haben — und Einrichtun
gen von zusätzlichen Autoreisezugverbindungen.
Die Überlegungen des Senats sehen insbesondere die
Öffnung der Streckenführungen über Staaken, öbisfelde
und Wolfsburg nach Hannover für den Transitverkehr so
wie den zweigleisigen Ausbau aller Transitstrecken vor.
Für die Fernzüge sollten mehr Haltepunkte in Berlin ge
schaffen werden. Der Bau eines zentralen Güterbahnhofs
soll einer weiteren Verbesserung des Güterverkehrs dienen.
Für dieses Projekt ist bekanntlich die Geländevereinbarung
zwischen Senat und Reichsbahn eine wesentliche Vorbe
dingung gewesen. Kurzfristig durchführbare Maßnahmen
betreffen auch die Anbindung Berlins an internationale
Verbindungen in Nord-Süd- und Ost-West-Richtung.
Zum Wasserstraßenverkehr; Hier steht der notwendige
Ausbau des Wasserstraßennetzes im Transitverkehr im
Vordergrund. Nach der Fertigstellung des Elbe-Seiten
kanals in Niedersachsen im Jahre 1976 dürfte fast der
gesamte Elbeverkehr nach Berlin und Osteuropa diese
neue Kanalverbindung in Anspruch nehmen. Um diesen
neuen Verkehrsweg sinnvoll nutzen zu können, ist eine
Beseitigung des Engpasses der Elbeüberfahrt unbedingt
erforderlich. Kernstück unserer Zielvorstellung für die
Verbesserung des Wasserstraßenverkehrs ist daher die
direkte Verbindung des Mittellandkanals mit dem märki
schen Wasserstraßennetz durch eine Trogbrücke bei
Magdeburg oder eine ähnliche Anlage. Durch einen ergän
zenden Ausbau der Schleusen auf dem Gebiet der DDR und
in West-Berlin würde dann ein durchgehendes Wasser
straßennetz — und hier können wir uns an das Vorhan
dene ja anlehnen und brauchen nicht in die Zukunft zu
schweifen — zwischen Dnjepr, Bug, Weichsel, Oder, Elbe,
Mittellandkanal bis zum westeuropäischen Wasserstraßen
netz geschaffen werden können, was einmal mehr ausweist,
daß es hier in dem Gebiet, von dem wir hinsichtlich unserer
Konzeption sprechen. Engpässe gibt, die diesen Ausbau auch
zum Nutzen West-Berlins bisher verhindert haben. Hier
könnten dann Fahrzeuge der Wasserstraßenklasse II, also
das sogenannte Europaschiff mit 80 m Länge, 9,5 m Breite
und 2,5 m Tauchtiefe eingesetzt werden. Der hier beschrie
bene Ausbau des Wasserwegs würde einer Anregung der
UdSSR aus dem Jahre 1960 folgen, die zu einer entspre
chenden Empfehlung des Sachverständigenausschusses der
Europäischen Wirtschaftskommission der Vereinten Natio
nen (ECE) führte.
Der Senat — und ich nehme Ihre Aufmerksamkeit nur
noch kurze Zeit in Anspruch — strebt ferner die Aufhebung
der Zwangsfahrtrouten im Transitverkehr an. Aber um die
Damen und Herren, die vielleicht schon zu stark strapaziert
sind, davon in Kenntnis zu setzen: Wir halten dieses Thema
für diese Stadt für so ungeheuer wichtig, daß das Haus den
Anspruch hat, die Prioritäten aus der Vorlage des Senats
noch einmal herausdestilliert zu bekommen. Deswegen bitte
ich, mir nachzusehen, wenn ich hier nicht nur zehn Minuten
das Wort zu diesem uns wichtig erscheinenden Komplex
genommen habe.
Was die übrigen Routen angeht, so sollte der Havelkanal
für westdeutsche und Westberliner Schiffe geöffnet werden.
Wir halten ferner die Öffnung des Teltowkanals von Westen
her mit der Öffnung der Schleuse Machnow zur Vermei
dung des gegenwärtigen sogenannten Hufeisenverkehrs für
erforderlich. Schließlich ist der Senat der Auffassung, daß
die die Stadt umgebenden Wasserläufe und Seen für die
Personenschiffahrt und für Sportboote geöffnet werden
sollten.
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