Abgeordnetenhaus von Berlin - 6. Wahlperiode
69. Sitzung vom 14. März 1974
der Bevölkerung und eine Reduzierung der alliierten Prä
senz gefordert wird, sind nicht gerade nützlich in diesem
Zusammenhang. Wir müssen vielmehr alles tun, um diese
negativen Symptome zu beseitigen. Dieses geschieht aber
nicht dadurch, daß man einfach ignorieren will, was im
Bewußtsein der Bevölkerung vor sich geht. Ich will nur als
ein Beispiel sagen, was jetzt in einer namhaften west
deutschen Zeitung gestanden hat, die der Sozialdemokra
tischen Partei nicht fernsteht, nachdem eine Gruppe von
Journalisten einen Besuch in Begleitung eines sozialdemo
kratischen Bundestagsabgeordneten machte: Da stand in
der Zeitung ein Artikel über Berlin und natürlich wurde
auch die Frage nach der Stimmung behandelt. Der Artikel
schließt mit folgender Bemerkung;
Der Elan und Optimismus, mit dem diese Stadt ver
sucht zu überleben, ist es, der fasziniert. Ob sie über
leben kann ? — Auch unsere Begleiter aus Spreeathen
waren sich da nicht ganz einig.
Das sind Fragen, die hier auftauchen, von denen wir ge
hofft haben, daß sie der Vergangenheit angehören. Wir
haben alle Veranlassung, wo immer wir politisch stehen,
hier den Versuch zu machen, die veränderte Stimmung in
der Bevölkerung ernstzunehmen, um sie positiv zu korri
gieren.
Ein anderes, zweites Motiv des Ostens, uns Schwierig
keiten zu bereiten, muß ganz gewiß in dem Bemühen der
Sowjetunion und Ostberlins gesehen werden, die These von
der selbständigen politischen Einheit West-Berlin — inmit
ten der DDR — zu kultivieren. Damit sollen offensichtlich
die Wege für eine künftige Einverleibung offengehalten
werden. Um diese These nämlich zu kultivieren, ist man
gezwungen, das Viermächte-Abkommen so einseitig zu in
terpretieren, das diese Interpretation gelegentlich einem
Bruch gleichkommt.
Und das dritte — dies kann nicht ausgeschlossen wer
den — ist, daß die Sowjetunion und Ostberlin die Verein
barungen auch deshalb in besonderer Weise strapazieren,
um bei passender Gelegenheit zusätzliche Forderungen an
uns zu richten, so wie das zum Beispiel im Zusammenhang
mit der Aussiedlerfrage und dem Warschauer Vertrag ge
schehen ist; auch bei der Realisierung des Berlin-Abkom
mens müssen wir uns darauf einstellen, daß die andere
Seite unangemessene und sachfremde Forderungen, seien
es politische, seien es finanzielle, stellen wird. Wir sollen
für schon einmal bezahlte Sachen offenbar zusätzliche
zweite Preise zahlen. Gerade aber im Hinblick auf die
Motive und Absichten der anderen Seite zeigt ein solcher
Blick in aller Deutlichkeit die Fehleinschätzungen, die in
der Vergangenheit bei der SPD-Führung — gerade in Bonn
aber auch in Berlin — eingetreten sind. Man hatte bei
seiner Politik der Anerkennung von Realitäten ganz außer
acht gelassen, daß auch der Wille der anderen Seite eine
politische Realität erster Ordnung darstellt. Diese Ver
engung des Realismusbegriffes führt nun, da die Realitäten
ihr Recht fordern, zu mancher Wandlung. Wenn ich das
salopp unter Inanspruchnahme der „Maghrebinischen Ge
schichten“ von Rezzori sagen darf: Aus dem „Realillusio
nisten“ Schütz scheint nun langsam ein Realist zu werden.
Aber trotzdem besteht zur Vorsicht jede Veranlassung.
Denn sein Wehklagen, das wir gelegentlich jetzt hören,
gleicht dem eines Bootsinsassen, der nasse und kalte Füße
bekommt, nachdem das Wasser in das Boot eingedrungen
ist, der aber genau weiß, daß er dafür mitverantwortlich
ist, daß dieses Boot eben nicht wasserdicht ist. Die jetzt
feststellbare verhaltene Skepsis des Regierenden Bürger
meisters steht in einem so auffallenden Gegensatz zu dem
noch vor Jahresfrist zur Schau getragenen Optimismus,
daß es jedem schwerfallen wird, an die Echtheit dieses
Realismus zu glauben. Schließlich hat uns gerade der Re
gierende Bürgermeister diese Suppe schmackhaft machen
wollen, die ihm jetzt ganz offensichtlich Schluckbeschwer
den bereitet. Noch kann aber niemand wissen, ob nicht der
Regierende Bürgermeister lediglich in der Vorwahlzeit
Ferien vom Ich nimmt, um sich in verbaler Härte zu prä
sentieren, damit die Bürger ihm mehr vertrauen als seiner
Partei. Ich bin aber ganz sicher, daß die Berliner sich nicht
hinters Licht führen lassen werden.
(Abg. Hauff: Nicht von Ihnen! — Abg. Schulze:
Dieses haben sie bei Ihnen längst festgestellt!)
— Sie haben ja eine Chance, meine Damen und Herren.
Warten Sie doch geduldig darauf, wie die Entscheidung
fallen wird. —
(Zurufe von der SPD)
Jedenfalls werden die Berliner sehr genau spüren, ob diese
harten Worte für den Hausgebrauch bestimmt oder ob sie
aufgrund einer echten Einschätzung zustandegekommen
sind.
Wenn man, meine Damen und Herren, in diesem Zusam
menhang die Schwierigkeiten mit der praktischen Um
setzung der Berlin-Vereinbarungen noch einmal ins Ge
dächtnis zurückruft, dann ist, nachdem dies geschah, eine
sehr bemerkenswerte Folge eingetreten. Dieser Sachverhalt
hat nämlich zu einer Scheidung der Geister geführt. Seit
es Schwierigkeiten gibt, gibt es auch wieder Gegensätze
zwischen Senat und Bundesregierung, zwischen SPD in
Berlin und SPD in Bonn. Man soll es sich nicht versagen,
an dieser Stelle ganz kurz einmal die Punkte, wo der
Dissens aufgetreten ist, noch einmal zu rekapitulieren. Es
gab Meinungsverschiedenheiten in folgenden Punkten:
beim Versuch der Bundesregierung, die individuelle Zah
lung der Visagebühren durchzusetzen, beim Versuch des
Senats, Direktflüge nach Bulgarien durchzusetzen, hin
sichtlich der Wehnerschen Äußerungen, wonach wir die
Vereinbarungen überziehen, viertens hinsichtlich der Be
merkungen Graberts zu Fragen der Fluchthilfe, fünftens,
als die Bundesregierung den sogenannten Normalisierungs
vertrag mit Prag Unterzeichnete, ohne daß die Rechtshilfe
für Berlin sichergestellt war. Es gab Schwierigkeiten hin
sichtlich der Einführung neuer Bezeichnungsrichtlinien —
Meinungsverschiedenheiten zwischen Bonn und Berlin. Es
gab Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Umstände
vor der Kabinettsentscheidung über die Einrichtung des
Umweltbundesamtes, und es gab Schwierigkeiten bei der
Bewertung der Kontrollmaßnahmen auf den Zugangswegen
im Januar 1974. Es mag den einen oder anderen Punkt
geben, der umstritten ist, vielleicht auch noch den einen
oder anderen zusätzlichen Punkt. Es stellt sich jedoch die
Frage nach den Ursachen dieser Gegensätze. Hier in Berlin
geben sich alle — fast alle — ernüchtert und realistisch.
Offenbar tut der Geist des Ortes seine Wirkung. Um so
mehr sticht demgegenüber manchmal die Haltung der
Sozialdemokraten in Bonn ab, die verharmlosen, die die
Dinge herunterspielen und gelegentlich bagatellisieren. Es
gibt dafür verschiedene Gründe. Nur, wenn man die Gründe
kennt, weiß man, wie man zu reagieren hat. Einer der
Gründe besteht bestimmt auch darin, daß man drüben
— psychologisch verständlich — die Politik, die Ergebnisse
einer Politik, die man selber gemacht hat, loben möchte.
Man möchte sich nicht gern in der Rolle dessen sehen, der
seine eigene Politik in Frage stellen muß. Insofern ist bis
zu einem gewissen Grade die rosarote Brille zum untaug
lichen Betrachtungs- und Bewertungsinstrument für die
Ostpolitik der Bundesregierung geworden.
Diese Grundeinstellung wird dann problematisch, wenn
man zu dem Ergebnis kommt, wie es Wehner vorgeführt
hat, daß man dann die eigenen Anforderungen an die
Verträge herunterschraubt und sich gewissermaßen einem
psychologischen Druck zum Wohlverhalten ausgesetzt
fühlt. Es läßt sich hier so etwas wie eine bedingte Fähig
keit der Bonner SPD-Führung konstatieren, die Ostpolitik
realistisch und nüchtern zu bewerten, weil sie sich in einem
psychologischen Erfolgszwang befindet.
Diese Unfähigkeit zeigt sich nun insbesondere am Bei
spiel Berlins. Gerade die Schwierigkeiten in und um Berlin
verdunkeln natürlich das Bild dieser Ostpolitik. Diese
Schwierigkeiten stehen einer grundsätzlichen positiven Be
wertung der Ostpolitik im Wege und werden deshalb nach
den klassischen Regeln der Psychologie verdrängt. Berlin
ist für manche in Bonn zu einem Hemmschuh oder gar
Klotz am Bein geworden.
(Abg. Rheinländer: Das ist die nächste Premiere
im Schiller-Theater!)
Die Wehnersche Behauptung, wonach die Vereinbarungen
von uns überzogen werden, entspringt diesem Verdrän-
2691