Abgeordnetenhaus von Berlin - 6. Wahlperiode
92. Sitzung vom 23. Januar 1975
— einen Satz noch, Herr Präsident —, und damit decken
wir uns mit den Forderungen der F.D.P.-Fraktion; Wir er
warten vom Land Berlin — von der öffentlichen Hand —,
daß sie die Ausbildungsplätze in ihrem Bereich erweitert.
Und, meine Damen und Herren, ich appelliere hier auch an
Handwerk und Industrie, daß sie die Ausbildungsplätze
trotz der Verunsicherung, die durch Sozialdemokraten und
leider auch die F.D.P. sehr oft betrieben wird,
(Empörte Zurufe)
erweitern, trotz der finanziellen Schwierigkeiten, die sie
haben werden. Denn insbesondere in Berlin müssen wir
sehen, daß wir 57 000 zusätzliche Facharbeiter brauchen.
Ich erinnere an das Gutachten des Deutschen Instituts
für Wirtschaftsforschung.
(Beifall bei der CDU — Abg. Dr. Haus; Wenn wir
alle acht Minuten redeten!)
Präsident Sickert: Herr Abgeordneter Diepgen, ich
mache Sie darauf aufmerksam, daß ich nicht aus Spaß
den Hedezeitablauf anzeige, das waren jetzt sieben Minu
ten. Ich lasse es nicht mehr zu, daß so etwas hier vor
kommt. — Das Wort hat Herr Senator Liehr.
Liehr, Senator für Arbeit und Soziales: Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege
Diepgen, wenn es wirklich allen im Hause darum geht, sich
an der Sache zu orientieren, dann hätte es Ihnen gut an
gestanden, wenigstens Ihre letzte Bemerkungen völlig
hintan zu stellen, denn das kann ich nicht als den Versuch
werten, die Fakten zur Kenntnis zu nehmen. Deshalb
scheint cs angebracht zu sein, doch noch mal alle Tat
bestände in den notwendigen Zusammenhang zu stellen.
Und da sage ich erstens: Die Berliner Arbeitsmarktlage
ist günstiger als die im Bundesgebiet, denn die Arbeits
losenquote lag hier das ganze Jahr über deutlich unter der
des Bundes. Die Kurzarbeiterzahl lag in Berlin bei 5S %
der Arbeitslcsenzahl, im Bundesdurchschnitt bei 74 %■
Berlin hat eine günstigere Relation von Arbeitslosen zu
offenen Stellen, nämlich 4:1, im Bundesdurchschnitt 5:1.
Zweitens: Die Arbeitslosigkeit Jugendlicher ist in Berlin
geringer als im Bundesdurchschnitt. Ende 1974 waren von
den 28 000 Arbeitslosen in Berlin 1104 Jugendliche unter
18 Jahren, Die Zahlen für den Bund sind für die unter
18jährigen — um das vergleichen zu können — leider nicht
bekannt. Jedcch ermittelte die Bundesanstalt für Arbeit im
September 1974, daß in Berlin der Anteil der Jugendlichen
bis zu 20 Jahren an den Arbeitslosen bei den Deutschen
bei 5,5 %, bei den Ausländern bei 7.7 % gelegen hatte. Er
war damit nicht nur niedriger als der Bundesdurchschnitt
mit 12,7 bzw. 11 %, sondern war der günstigste aller Lan-
desarbeitsamtsbezirke der Bundesrepublik Deutschland.
Trotz relativ günstiger Lage hat der Senat rechtzeitig
Maßnahmen der Vorsorge ergriffen. Erstens: Ich verweise
auf die Aktion zur Erhöhung des Ausbildungsplatzangebots
der Betriebe und Verwaltungen mit dem Landesarbeitsamt
im Herbst des vergangenen Jahres. Diese erfolgte selbst
verständlich nach vorheriger Konsultation und einver
nehmlicher Absprache sowohl mit den Arbeitgeberorgani
sationen, der Industrie- und Handelskammer und der
Handwerkskammer als auch der Gewerkschaften.
Zweitens: Die gegenwärtig 636 Plätze für beruf svorbe-
reitende Maßnahmen werden in diesem Jahr vorsorglich auf
1 064 Plätze für arbeitslose Jugendliche ausgeweitet, das
heißt um rund 430 Plätze.
Drittens: Wir bieten seit dem 1. Januar 1975 durch ein
Sonderprogramm nach dem Arbeitsförderungsgesetz 2 000
Arbeitsplätze für Bestandserhaltungs- und Emeuerungs-
arbeiten in den Berliner Forsten und im Gartenbau zu
einem Stundenlohn bis zu 7,50 DM. Bis heute sind davon
225 Arbeitsplätze besetzt, darunter rund ein Fünftel von
Jugendlichen unter 20 Jahren, das heißt, daß wir zur Zeit
noch über 1 775 freie Arbeitsplätze allein bei diesem An
gebot, das der Senat zusammen mit dem Landesarbeits
amt und der Bundesanstalt für Arbeit geschaffen hat, ver
fügen.
Ich ziehe aus all dem folgende Schlußfolgerungen:
1. Nach den Erwartungen und Zusagen der Betriebe und
Verwaltungen aufgrund unserer Aktion um mehr Ausbil
dungsplätze wird jeder Berliner Schulabgänger auch in
diesem Jahr die Chance haben, einen Ausbildungsplatz zu
erhalten.
(Beifall bei der SPD)
Unser Dank gilt der Berliner Wirtschaft, insbesondere der
Industrie- und Handelskammer, für ihre intensiven Be
mühungen, nicht nur das zahlenmäßige, sondern auch das
qualitative Angebot von Ausbildungsstellen spürbar zu er
weitern. Für den Einstellungstermin Frühjahr 1975 wur
den ohnehin bis Ende 1974 den Arbeitsämtern etwa 8 200
Ausbildungsstellen gemeldet, von denen noch rund 3 000 zu
besetzen waren. Wir wissen alle in der Zwischenzeit, meine
Damen und Herren, daß dem etwa 2 500 Bewerber gegen
überstehen. Wir gehen also davon aus, daß für den Früh
jahrseinstellungstermin das Ausbildungsangebot durch die
zusätzlichen Bemühungen der Berliner Wirtschaft noch
erweitert wird. Außerdem muß berücksichtigt werden, daß
nicht wenige Ausbildungsverhältnisse — das ist übrigens
nicht neu, sondern eine durchgängige Erfahrung — ohne
Mitwirkung des Arbeitsamtes zustande kommen, das heißt,
daß die tatsächliche Zahl der Abschlüsse von Ausbildungs
verhältnissen also entsprechend größer sein kann.
2. Bei all diesen Bemühungen um ein Mehr an guten
Ausbildungsstellen dürfen wir jedoch nicht übersehen —
und das ist das eigentliche Problem, mit dem wir es hier
zu tun haben —, daß nach Aussage des Landesarbeitsamtes
Ende 1974 von den 1100 als arbeitslos registrierten Ju
gendlichen nur etwa 170 bis 180 bereit sind, an berufs
fördernden Sondermaßnahmen teilzunehmen. Rund 640 zur
Zeit als arbeitslos registrierte Jugendliche sind bereits
Empfänger von Arbeitslosenunterstützung etc. und emp
finden offenbar — ich muß das so freimütig sagen, damit
es keine Mißverständnisse gibt — keinen finanziellen oder
sonstigen Anreiz, an solchen berufsfördemden Maßnahmen
teilzunehmen. Die Erweiterung dieser berufsfördemden
Maßnahmen um 430 Plätze ist damit mehr als ausreichend.
Nur der Vollständigkeit halber erwähne ich hier, daß noch
im Laufe des Jahres bis zu 450 Jugendliche in Vollzeit
lehrgänge nach § 22 Abs. 7 des Schulgesetzes aufgenom
men werden könnten.
Abschließend will ich also feststellen: Dies alles, im Zu
sammenhang mit den noch offenstehenden 1775 Arbeits
plätzen im ABM-Programm, bietet grundsätzlich die Ge
währ, daß in diesem Jahr nicht ein einziger Jugendlicher
in unserer Stadt arbeitslos sein muß, wenn er es nicht will.
(Beifall bei der SPD)
Präsident Sickert: Das Wort hat der Abgeordnete Rasch.
Kasch (F.D.P.); Herr Präsident! Meine Damen und Her
ren! An sich hätte man die erste Runde, die hier zu diesem
Thema diskutiert wurde, unter die Überschrift „Wahl
kampf macht Spaß“ stellen können.
(Abg. Mertsch: Wer hat denn angefangen?)
Aber das Thema — und das hat der Kollege Diepgen hier
zumindest als Einstieg in seinen Beitrag gesagt — ist zu
ernst, um dies zu einem Wahlkampfthema zu machen.
Und, meine Damen und Herren von der SPD-Fraktion,
Sie sind in Ihrer großen Ängstlichkeit über die Punkte, die
wir hier auf die Tagesordnung bringen, immer schon so
weit in der Diskussion, daß Sie grundsätzlich aggressiv
reagieren und meinen, wir wollen hier Wahlkampf machen.
Uns geht es darum, ein Problem, das seit längerer Zeit in
der Öffentlichkeit diskutiert wird und das offenkundig
außerordentlich aktuell ist, weil eben objektiv zumindest
1104 — wie wir gerade gehört haben — Arbeitslose unter
den Jugendlichen vorhanden sind, hier sachlich und ruhig
zu diskutieren, um diesen Leuten zu helfen.
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