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Volume Nr. 92, 23.01.75

Full text: Plenarprotokoll (Public Domain) Issue1974/75, 6. Wahlperiode, Band IV, 66.-93. Sitzung (Public Domain)

Abgeordnetenhaus von Berlin - G. Wahlperiode 
92. Sitzung vom 23. Januar 1975 
Hitzigrath (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und 
Herren! Wie Sie ja alle wissen, ist die Lage auf dem Ber 
liner Arbeitsmarkt weitaus günstiger als in der übrigen 
Bundesrepublik. Wir hatten in Berlin Ende 1974 etwa 3,3 % 
und im Bundesgebiet etwa 4,2 % Arbeitslose. Die Zahl der 
arbeitslosen Jugendlichen unter 18 Jahren lautet für Ber 
lin für Ende 1974 1104. 
Ihnen ist allen der unverschämte Erpressungsversuch der 
fünf Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft gegenüber 
der Bundesregierung bekannt in der Frage der Berufsbil 
dungsreform. 
(Unruhe bei der CDU — Beifall bei der SPD) 
Offensichtlich, meine Damen und Herren, bieten die Unter 
nehmer an, zwar mehr Jugendliche auszubilden, wenn sie 
diese schlechter ausbilden dürfen. Ihnen sind sicher auch 
die vielfältigen Reaktionen bekannt bis hin zur Kritik des 
Vorsitzenden der CDU-Sozialausschüsse und der Jungen 
Union. Diese Frage ist jedoch — und das darf ich hier be 
tonen, und das begrüßen wir — für Berlin nicht aktuell, 
da es hier immer eine vernünftige Kooperation zwischen 
dem Senat und der Berliner Wirtschaft gab und auch 
geben wird. Auch im Jahre 1975 wird jeder Berliner, der 
die Schule verläßt, einen Ausbildungsplatz erhalten. Im 
Frühjahr 1975 stehen den Schulabgängern Berlins etwa 
8 200 Ausbildungsplätze zur Verfügung. 2 900 Plätze sind 
noch zu besetzen, zur Zeit sind nur 2 500 Bewerber bekannt. 
Diese Zahlen konnten sie unlängst schon aus dem „Abend“ 
entnehmen. 
Trotz dieser relativ günstigen Entwicklung in diesem 
Bereich hatte der Senat bereits rechtzeitig Maßnahmen 
entwickelt, um eine mögliche Jugendarbeitslosigkeit von 
vornherein in den kommenden Monaten gar nicht erst in 
unserer Stadt entstehen zu lassen. Dazu gehören unter an 
derem die Ausweitung der berufsvorbereitenden Maßnah 
men und das sogenannte Sonderprogramm im Bereich der 
Arbeitsbeschaffung. Aus diesem Grunde können wir jetzt 
schon feststellen, daß es für keinen Berliner Schulabgän 
ger Anlaß zur Besorgnis gibt und daß in diesem Jahr kein 
Berliner Jugendlicher arbeitslos sein muß. — Schönen 
Dank! 
(Beifall bei der SPD) 
Präsident Sickert: Das Wort hat Herr Abgeordneter 
Diepgen. 
Diepgen (CDU): Herr Präsident! Meine Damen und 
Herren! Das Thema, über das wir uns heute unterhalten 
müssen, ist eigentlich viel zu ernst und sollte von allen 
Fraktionen so ernst aufgefaßt werden, daß man hier nicht 
gleich von vornherein nur den Versuch unternimmt, angeb 
liche oder tatsächliche Handlungen des Senats herauszu 
stellen und dabei das Problem, mit dem wir es zu tun 
haben, unverantwortlich zu verniedlichen. Das hat der Herr 
Kollege Hitzigrath hier gemacht. 
(Beifall bei der CDU) 
Wir haben es ja mit verschiedenen Problemkreisen zu 
tun, die wir sowohl dem wirtschaftspolitischen als auch 
dem bildungspolitischen Teil zuschreiben können. Natürlich 
ist es ein Teil der gegenwärtigen wirtschaftlichen Misere 
ih der Bundesrepublik, daß wir es mit einer Arbeitslosig 
keit gerade von Jugendlichen zu tun haben. Das ist ein 
Thema, das im Zusammenhang mit den Schwierigkeiten 
der Wirtschaftspolitik gesehen werden muß und worauf 
ui diesem Zusammenhang sicherlich von meiner Fraktion 
hoch eingegangen werden muß. 
Das Weitere, das hier berücksichtigt werden muß, ist die 
genaue Differenzierung nach den Personenkreisen, die be 
troffen sind. Zunächst einmal haben wir es mit einer Ju 
gendarbeitslosigkeit von über 1 000 zu tun; hierbei handelt 
6s sich in Berlin im wesentlichen um die Personengruppen, 
d‘e keine Ausbildungsplätze erhalten haben und auch auf 
der Grundlage ihrer Qualifikation keine Ausbildungsplätze 
erhalten werden. So jedenfalls die Aussagen, die wir von 
dem Handwerk, von der Industrie überall bekommen und 
die sich auch decken mit den Problemen, die wir selbst 
kennen aus der Misere der Berliner Hauptschule, und die 
wir auch kennen aus der Misere der Berliner allgemeinen 
Berufsschule. 
Meine Damen und Herren, hier haben wir es doch damit 
zu tun, daß jahrelang in dieser Stadt praktische Begabun 
gen vernachlässigt worden sind, daß man zu stark auf 
theoretische Bildungsinhalte eingegangen ist und damit 
einer ganz erheblichen Gruppe von Jugendlichen in ihren 
Leistungsmöglichkeiten nicht gerecht wurde, und die Folge 
davon ist geradezu zwangsläufig, daß diese jetzt keine 
Ausbildungsplätze bzw. nur sehr schwer Ausbildungs 
plätze bekommen können, vor allen Dingen dann, wenn 
das Angebot derjenigen Kräfte, die qualifiziert sind 
und Ausbildungsplätze haben wollen, groß ist. Das muß 
man auch im Zusammenhang mit der Misere an den 
Hochschulen sehen, die wir durch die Numerus-clausus- 
Situation haben. Die Vernachlässigung des Problemkreises 
berufliche Bildung mit der gleichzeitigen Numerus-clausus- 
Situation ein den Hochschulen führt jetzt zwangsläufig zu 
einem Numerus clausus im Bereich der beruflichen Bildung. 
Und hierzu fehlt es an einschneidenden, energischen 
Maßnahmen auf allen Ebenen, auch auf der Ebene der 
Bundesregierung, wo wir zur Zeit ein geradezu entsetz 
liches Durcheinander feststellen müssen. Ich kann hier an 
dieser Stelle nur den Bundeskanzler auffordem, mal end 
lich wenigsten von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch 
zu machen, 
(Abg. Meyer: Ach Gott!) 
damit wir wenigstens wissen, womit wir uns auseinander 
zusetzen haben und was Politik dieser Bundesregierung 
ist. Wir werden dann feststellen, wo wir kritische Ansätze 
sehen und wo nicht. 
Wir haben es auf der anderen Seite natürlich auch damit 
zu tun, daß man jahrelang praktische berufliche Ausbil 
dung nicht nur vernachlässigte, sondern geradezu ver 
ketzerte. Wir haben hier also die Konsequenz aus wirt 
schaftspolitischen und bildungspolitischen Versäumnissen. 
Denken Sie nur an den Sachverhalt, daß beispielsweise bei 
der Zahl der Schüler, die auf die Allgemeine Berufsschule 
in Berlin-Neukölln oder für Mädchen im Wedding kommen 
sollten, die Kapazität gar nicht ausreicht. Das sind doch 
die Punkte, an denen man den bildungspolitischen Ansatz 
für diese Jugendarbeitslosigkeit sehen muß. 
Herr Kollege Hitzigrath, es ist doch einfach falsch, was 
Sie hier vorgetragen haben, daß Sie sagen: Wir haben ja 
genug Ausbildungsplätze. — Herr Kollege Hitzigrath, wir 
haben insgesamt eine ausreichende Anzahl von Ausbil 
dungsplätzen, aber Sie müssen das doch berufsspezifisch 
sehen. Nicht jeder in dieser Stadt will Perückenmacher 
werden, und deswegen müssen Sie es aufgeteilt sehen. 
Ich muß an dieser Stelle vier Forderungen an den Senat 
richten; zunächst einmal die Forderung, endlich mehr zu 
tun für praktische Ausbildung im Bereich der Hauptschule. 
Zweitens das Problem der allgemeinen Berufsschule nicht 
weiter zu verniedlichen, sondern anzupacken sowohl im 
Hinblick auf die Verbesserung der Lehrer-Schülerrelation 
als auch auf die Inhalte, die dort vermittelt werden können. 
Drittens habe ich die Forderung — und das sehe ich im Zu 
sammenhang mit dem Änderungsgesetz zum Schulgesetz —, 
daß hier Reformen nicht gegen die Wirtschaft eingeleitet 
werden. Herr Kollege Hitzigrath, es ist eine verhängnis 
volle Formulierung, wenn Sie hier von unverantwortlichen 
Erpressungsversuchen der Wirtschaft sprechen, wo es in 
Wirklichkeit auch darum geht, daß gerade Ihre Partei die 
Wirtschaft lange Zeit entschieden verunsichert 
(Empörte Zurufe von der SPD — Beifall bei der 
CDU — Abg. Lummer: Immer noch, immer noch! — 
Abg. Pawlak: Das hat der Kanzler nicht gewußt! — 
Glocke des Präsidenten) 
und insgesamt auch Forderungen an die Wirtschaft gerich 
tet hat, die sie nicht erfüllen kann, es sei denn, es kommt 
zu einer Reduzierung der Ausbildungsplätze. 
Und ich habe noch eine weitere Forderung an den Senat 
(Glocke des Präsidenten) 
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