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Volume Nr. 88, 05.12.74

Full text: Plenarprotokoll (Public Domain) Issue1974/75, 6. Wahlperiode, Band IV, 66.-93. Sitzung (Public Domain)

Abgeordnetenhaus von Berlin - 6. Wahlperiode 
88. Sitzung vom 5. Dezember 1974 
Wir wollen mehr Leistung, wir wollen mehr differenzierte 
Ansätze im Bereich des Bildungswesens! — Ich weiß, daß 
Sie sich darüber aufregen. 
(Glocke des Präsidenten) 
Aber Sie regen sich — und Sie regen sich mit Recht — 
immer dann besonders auf, wenn Sie zutiefst getroffen sind 
durch die eigene falsche Politik. 
(Beifall bei der CDU — Zurufe von der SPD) 
Präsident Sickert: Das Wort hat der Abgeordnete 
Kayser. 
(Unruhe und Heiterkeit) 
Kayser (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Damen und 
Herren! Ich nehme an, daß Sie sich den Abend nicht jetzt 
schon lustig vertreiben wollen, und ich fände es fair, das 
erst dann zu tun, wenn wir die Tagesordnung abgewickelt 
haben. 
(Zuruf von der SPD: Zur Sache!) 
Mir fällt die Aufgabe zu, zum Schuletat Stellung zu be 
ziehen; ich verrate kein Geheimnis, wenn ich vorweg gleich 
sage, daß wir diesen Schuletat aus politischen Gründen, 
die ich im einzelnen dann darlegen werde, nicht für billi- 
genswert halten, sondern ihn ablehnen werden. Diese Ab 
lehnung will ich auf einzelne Gründe beziehen, damit unsere 
politische Entscheidung deutlich wird. 
Bekanntlich ist es so, daß die Freien Demokraten, ebenso 
in Berlin wie auf Bundesebene, klare, von ganz bestimmten 
Voraussetzungen ausgehende bildungspolitische Aussagen 
gemacht haben, die wir in wesentlichen Grundzügen in der 
sozialdemokratischen Schulpolitik wiederfinden. Das ist 
aber kein Freibrief dafür, die sozialdemokratische Schul 
politik dort unterstützen zu müssen, wo sie schlecht funk 
tioniert oder wo sie über das hinausgeht, was wir für sinn 
voll halten. 
Wir mißbilligen die fehlerhafte Vorbereitung, schlechte 
Durchführung und fehlende wissenschaftliche Kontrolle von 
Strukturveränderungen und anderen Reformen des Berliner 
Schulwesens. Das läßt sich an fast allen Schularten in 
Berlin feststellen. Wir bedauern es deswegen, daß wir hier 
scharfe Kritik üben müssen, weil bildungspolitische Ent 
scheidungen wegen der gerade in einem Stadtstaat guten 
Überschaubarkeit ideale Ansatzpunkte bieten müßten, Re 
formen in einem übersichtlichen Bereich gut kalkuliert 
durchzuführen. Diese Möglichkeiten sind in der Vergangen 
heit nicht genutzt worden, sondern es ist ein Reformeifer 
ausgebrochen, bei dem einem nur zu oft in Erinnerung 
gerufen wird, daß blinder Eifer schadet. 
Ich wende mich nun zunächst dem Bereich der Mittel 
stufenzentren zu. Die Mittelstufenzentren, das ist von uns 
schon vielfach von dieser Stelle aus gesagt worden, ent 
sprechen in ihrer bildungspolitischen Konzeption weit 
gehend, wenn auch nicht in idealer Form, aber vom Prinzip 
her — etwa bei der Auflösung der Dreigliedrigkeit der 
Mittelstufe —, dem Gedanken der liberalen Offenen Schule. 
Aber weil das vom Prinzip her Gutzuheißende in Berlin 
schlecht durchgeführt wird, muß von uns auch hier Kritik 
geübt werden. Es ist zunächst auf die mangelhafte päd 
agogische Vorbereitung der Mittelstufenzentren einzugehen. 
Die Vorbereitung hat sich nicht ausreichend auf die Schul 
kader, auf die Kern-Kollegien bezogen, sondern es ist eine 
ganze Menge Eigeninitiative gerade in diesen Kern-Kolle 
gien erforderlich gewesen, um einen halbwegs sachgerech 
ten Schulbetrieb in den eingerichteten Mittelstufenzentren 
ab Herbst sicherzustellen. 
Die einseitige Priorität der Mittelstufenzentren — ab 
gesehen von der abwegigen und kostspieligen Finanzierung 
außerhalb des Haushalts — gegenüber den anderen Schul 
formen muß scharf kritisiert werden. Die Hauptschule 
wird durch diese Politik zunehmend ausgepowert und in 
einen schlimmen Zustand gebracht. In vielen Stadtteilen 
kann man nicht mehr klar unterscheiden, ob die Mehrzahl 
tatsächlich Hauptschüler sind — insbesondere, wenn man 
daran denkt, mit welch schlechten Ergebnissen überhaupt 
Abschlüsse in der Hauptschule erzielt werden — oder ob 
diese „Hauptschüler“ nicht eigentlich besonders förderungs 
bedürftige Sonderschüler sind, die dort nur ihre Schulpflicht 
absitzen, ohne die ausreichende pädagogische Förderung zu 
erhalten. 
Ein weiterer wunder Punkt ist, überhaupt Lehrer für 
Hauptschulen gewinnen zu können. Das ist allgemein 
bekannt und zeigt, daß das Vertrauen auf neue, sehr auf 
wendig ausgestattete Schulbauten nicht darüber hinweg 
täuscht, wie sehr ein großer Anteil der jeweiligen Jahr 
gänge durch die Hauptschulen gehen muß und dort die 
jenige schulische Betreuung, Erziehung und Ausbildung 
vermißt, die dann später für das Berufsleben, gerade im 
Rahmen gesteigerter Anforderungen auch an beruflicher 
Qualifikation, notwendig sind. 
Die Ausarbeitung der Mittelstufen-Curricula ist von neun 
ganzen und zwei halben Moderatorenstellen durchgeführt 
worden. Das sind alles Beamte auf Lebenszeit. Die Curri 
cula werden jetzt abgewickelt, für die Planstellen gibt es 
bald keine Arbeit mehr, es sei denn, sie werden für andere 
Aufgaben verwendet. Hier ist eine Planungsreserve ent 
standen, die nicht kontrollierbar ist, während andererseits 
im Bereich der gymnasialen Oberstufenreform zum einen 
die Schulaufsicht nicht erweitert worden ist und zum 
anderen für die Ausarbeitung der Lehrpläne nicht einmal 
14 000 DM zur Verfügung gestellt wurden. Eine so tief 
greifende Reform wie die der gymnasialen Oberstufe hätte 
es nun wirklich erfordert, daß Curricula auf breiter Ebene 
vorbereitet worden wären. Dagegen wird alles in die Mittel 
stufenzentren hineingestopft, um diese funktionsfähig zu 
machen, während die übrigen Bereiche vernachlässigt wer 
den. Hier ist ein Mißverhältnis des Einsatzes von finan 
ziellen Mitteln nicht zu übersehen. 
Zum Unterricht in den Mittelstufenzentren sei darauf 
hingewiesen — das gilt generell auch für die anderen Ge 
samtschulen —, daß wir tiefgreifende Überlegungen des 
Senats vermissen, um das FEGA-System durch ein besseres 
abzulösen, denn das FEGA-System produziert genau ge 
nommen — wir wissen, daß die Durchlässigkeit erfahrungs 
gemäß nach unten stärker ist als nach oben — eine Vier- 
Schichten-Gesellschaft. 
(Abg. Hauff: Ist doch falsch, was Sie da sagen!) 
— Kollege Hauff, wenn das wirklich anders ist und Sie sich 
nicht nur auf ausgewählte Berichte über einzelne Gesamt 
schulen beziehen, dann trete ich gern in einen Disput ein; 
nach einem Jahr dürften wir ja auch Näheres von den Mit 
telstufenzentren wissen. 
Die Nachteile des PEGA-Systems auszubügeln, wäre in 
der Tat eine naheliegende Aufgabe — etwa auch für das 
Pädagogische Zentrum — gewesen, dort sogar im Rahmen 
von hälftigen Zuschüssen aus Bundesmitteln. Aber in Berlin 
läßt man die Sache auf sich beruhen und hofft, daß sie 
schon in etwa funktionieren wird. Wir finden das schlecht, 
denn die Durchlässigkeit des Berliner Schulsystems ist bei 
gleichzeitiger Änderung der Schulstrukturen nur dann ge 
währleistet, wenn die Lehrinhalte so aufeinander abge 
stimmt sind, daß niemand Nachteile erleidet — sei es durch 
Umziehen innerhalb Berlins oder durch einen leistungs 
bedingt erforderlichen Schulwechsel —, die nicht in seiner 
Person, sondern im Schulsystem liegen. Weiterhin ist noch 
kritisch hervorzuheben, daß die Mittelstufenzentren ein 
eigenes Curriculum entwickelt haben, das leider nicht nach 
oben und unten abgestimmt ist, so daß auch hier die Über 
gangsschwierigkeiten deutlich hervortreten werden. Auch 
das war kritisch anzumerken, gerade weil wir von der 
Sorge geleitet sind, daß sinnvolle schulische Reformen ini 
Schulalltag und in mangelhafter Vorbereitung hängenblei 
ben. 
Zum zweiten einige Bemerkungen zur Grundschule, die 
ich — wie ich gerade sehe — mir aber aufsparen muß, da 
die Redezeit abgelaufen ist. Ich werde mich noch einmal zu 
Worte melden. 
(Beifall bei der FJD.P.) 
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