Abgeordnetenhaus von Berlin - 6. Wahlperiode
67. Sitzung vom 14. Februar 1974
züglich den Versuch machen, solche Instrumentarien in
Anspruch zu nehmen, die diese Spirale nicht auslösen. Das
kann in der Situation nur — und darum haben wir diesen
Vorschlag gemacht — der Versuch sein, Steuern zu sen
ken, weil Steuern in dieser Weise weder auf die Pro
gression wirken — ein Teil der Lohnerhöhung geht ja
zugunsten des Staates in erhöhte Steuereinnahmen und
wird dann wieder Ausgabe der öffentlichen Hand und wirkt
preissteigemd. Der eine sinnvolle Weg, der hätte beschrit
ten werden müssen, war der Versuch, mit Steuersenkun
gen zu operieren. Dies ist abgelehnt worden von der Bun
desregierung, und sie wird das zu vertreten haben, denn
hier werden Entwicklungen freigemacht, die sicherlich
noch niemand in aller Konsequenz durchdenken kann.
Eine zweite Bemerkung, die an dieser Stelle wohl am
Platze ist, ist die Frage nach dem immer wieder auf
tauchenden Prestigegesichtspunkt bei der tarifpolitischen
Auseinandersetzung. Jedermann wußte von vornherein, das
Angebot der öffentlichen Arbeitgeber wird kaum einzu
halten sein, und jedermann wußte, auch die Gewerkschaf
ten selbst, daß die Forderung der Gewerkschaften über
höht war. Ich weiß nicht, ob wir hier nicht mal die Lehre
daraus ziehen sollten, mit realistischen Zahlen zu operieren
und auch mit vernünftigen Forderungen, damit nicht dieses
idiotische Karussel von Prestigegesichtspunkten in die
Debatte hineinkommt; man unter Umständen von vorn
herein weiß, die Bundesregierung wird Umfallen, sie hat
es ja dann auch in konsequenter Taktik getan, auf der
anderen Seite wußte man, die 15 % sind nicht realisierbar.
Vernunft auf beiden Seiten hätte sicherlich manches er
sparen können. Und hier, glaube ich, haben wir ein Bei
spiel, das gravierender ist, als manches früher.
Es ist von allen Rednern bisher darauf hingewiesen
worden — und ich darf das deshalb hier in aller Kürze
noch einmal tun —, daß wir uns in einer Situation be
funden haben, die insofern einmalig war, als der klassische
Vorreiter lohnpolitischer Auseinandersetzungen — IG Me
tall zum Beispiel — in diesem Falle nicht im Spiel war,
sondern erstmalig der öffentliche Dienst ins Spiel kam.
Hier wurde doch, glaube ich, allen deutlich, vor dem Back
ground einer Diskussion um das einheitliche Dienstrecht,
daß der öffentliche Dienst ein ganz besonderer Bereich ist,
und mit anderen Bereichen insofern nicht vergleichbar ist.
Es ist davon gesprochen worden, daß die Waffengleich
heit gefehlt habe. Dies ist in der Tat das entscheidende
Kriterium. Das Fehlen der Waffengleichheit besteht ja
auch darin, daß der Adressat der Kampfmaßnahmen nicht
irgendein Arbeitgeber ist, sondern der eigentliche Adres
sat der Kampfmaßnahmen ist der steuerzahlende Bürger.
Der muß einerseits die Konsequenz tragen, indem er durch
seine Steuern die erhöhten Löhne decken muß und auf
dessen Rücken wird andererseits auch noch der aktuelle
Kampf ausgetragen. Es sollte eine Frage an uns sein, wenn
wir öffentliches Dienstrecht und seine Veränderung disku
tieren, ob und wieweit denn die Bereiche, die unmittelbar
Dienstleistungen für den Bürger betreffen, ein geeignetes
Feld sind für derartige tarifpolitische Auseinandersetzun
gen. Ich glaube, hier haben alle — ganz unbeschadet, wo
sie parteipolitisch stehen — nachzudenken. Ich bin auch
sicher, weil ich es von Gewerkschaftern selbst gehört habe,
daß es viele Gewerkschafter gab, die selbst kein wahn
sinnig gutes Gewissen dabei hatten, als sie diesen Streik
durchgeführt haben. Insofern weichen Streiks im öffent
lichen Dienst von all den klassischen Regeln und Risiken,
die bei Streiks auftauchen, ab, insofern sind Streiks im
öffentlichen Dienst schließlich Streiks gegen den Steuer
zahler.
Nun haben wir hier eine Diskussion geführt über den
Punkt, inwieweit Berlin einer besonderen Situation unter
liegt. Es gibt sicherlich das triftige Argument zu sagen,
wenn jemand die Zugehörigkeit zum Bund unterstreichen
will, dann kann er sich nicht überall ausnehmen, wenn es
ihm nicht mehr gefällt. Das heißt, dieser Verbund ist nicht
nur ein Verbund im Positiven, sondern auch im Negativen
— wenn es darauf ankommt. Aber das, worauf es hier
ankam, war eigentlich nur, die besondere Situation Berlins
zu berücksichtigen, daß heißt nur Gleiches gleich zu be
handeln aber eben Ungleiches auch ungleich zu behandeln.
Ich kann mich nun — um das als Beispiel zu sagen — sehr
gut erinnern, weil das schon oft vorgekommen ist, an
Situationen im Ausschuß für Bundesangelegenheiten. Da
haben wir dann irgendwelche Wünsche vorgetragen, da
sollte der Senat im Bundesrat tätig werden in der einen
oder anderen Sache. Anpassung des Kindergeldes etwa an
die inflationäre Entwicklung. Dann hat der Bundessenator
gesagt, das sei zwar alles richtig, aber mache sich gar
nicht gut, wenn Berlin hier Vorreiter sei bei der For
derung nach finanzieller Anhebung bestimmter Leistungen.
Das heißt, er wollte sagen, wir gewissermaßen als Kost
gänger des Bundes — zu großen Teilen jedenfalls — sollten
uns nicht an die Spitze der Forderungen stellen, wenn es
um Anhebungen von Leistungen geht. Für dies Argument
kann man Verständnis haben. Nur, wenn man es verwen
det, dann muß man auf der anderen Seite die besondere
Situation im umgekehrten Sinne sehen. Dann muß man
doch auf allen Seiten begreifen, daß Berlin dann nicht bei
Streikmaßnahmen der Vorreiter sein kann, wie das der
Fall gewesen ist bei uns. Dann sollte man sich ernsthaft
die Frage stellen, weil ja auch der Handlungsspielraum
des Senats gegenüber dem Bund beschränkt ist, wenn es
um finanzielle Leistungen und Steuern geht, ob dann Berlin
in dem Sinne zumindest zum Schwerpunkt wird, daß aber
auch alles schematisch auf Berlin bezogen wird, obwohl
die Situation durch die geografische und politische Lage
bedingt eine andere ist. Streiks, die auf den Verkehr
Auswirkungen haben, sind eben für Berlin anders wegen
der Transitsituation. Das muß man sehen und man muß
wissen, welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind. Ich
glaube nicht, daß hier die angemessenen Konsequenzen
von vornherein gezogen worden sind.
Eine Bemerkung zu der Frage, die auch auftaucht und die
keineswegs neu ist. Wir haben hier wieder einmal erlebt, daß
bei der Durchführung eines gewiß legalen Streiks rechts
widrige Mittel verwendet wurden. Wenn ich sage: wieder
einmal, dann möchte ich den Bezug herstellen zu dem,
was wir im universitären Bereich oft genug gehabt haben.
Und da haben wir hier schon geradezu erbitterte Aus
einandersetzungen im Hause geführt, von Anfang an. Und
wir haben gesagt, man möge den Anfängen wehren. Wenn
hier von Senatsseite die Meinung vertreten wurde, damals
war es immer der dort sitzende Senator Stein gewesen,
man muß das opportun abwägen, man muß Eskalation ver
hindern, darum ist es vielleicht manchmal besser, wenn
man Rechtswidrigkeiten duldet, damit es nicht schlimmer
wird. Sie haben hier gewissermaßen, Herr Bürgermeister,
so etwas wie eine Karenzzeit denjenigen, die illegale Mittel
verwendet haben, zugestanden. Aber ich möchte doch nach
drücklich darauf hinweisen: Es ist eine Gefahr, wenn man
solche Dinge einreißen läßt, eine Gefahr für das Gemein
wesen und das gerade auch in bezug auf die Erfahrungen,
die wir im universitären Bereich gemacht haben, denn
dort haben wir schließlich Situationen gehabt, nachdem
wir den Anfängen nicht gewehrt haben, daß partiell die
Rechtsstaatlichkeit in diesem Bereich nicht gewährleistet
war.
Präsident Sickert: Gestatten Sie eine Zwischenfrage,
Herr Abgeordneter Lummer ?
Lummer (CDU): Bitte schön.
Brinckmeier (SPD): Herr Kollege Lummer! Darf ich
Ihre letzten Ausführungen so verstehen, daß Sie konkret
der Auffassung sind, daß am Montag in Neukölln Polizei
hätte eingesetzt werden müssen ?
Lummer (CDU): Ich bin der festen Überzeugung, Herr
Brinckmeier, daß es nicht notwendig gewesen wäre, Poli
zei einzusetzen, wenn bei den Vorgesprächen —- davon ist
geredet worden — ausreichende Klarheit bestanden hätte
und wenn zum Beispiel der Bürgermeister höchstpersönlich
dort hingegangen wäre um zu überzeugen.
Ich könnte mir das als eine Vorstufe polizeilichen Ein
satzes sehr gut vorstellen, weil ich immer noch an ein
Stück Vernunft auch bei denjenigen glaube, die dort rechts-
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