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Volume Nr. 63, 13.12.73

Full text: Plenarprotokoll (Public Domain) Issue1973, 6. Wahlperiode, Band III, 43.-65. Sitzung (Public Domain)

Abgeordnetenhaus von Berlin - 6. Wahlperiode 
63. Sitzung vom 13. Dezember 1973 
Lummer (CDU): Herr Präsident! Meine Damen und 
Herren! Wir werden den Etat des Regierenden Bürgermei 
sters ablehnen, und ich nehme an, daß niemand etwas an 
deres erwartet. 
(Heiterkeit bei der SPD — Zurufe von der SPD) 
Wir haben hier verschiedene Gründe bereits vorgetragen, 
aber dies sind längst nicht alle Gründe, und wir haben auch 
nicht die Absicht, sie hier alle vorzutragen. Aber ein Be 
reich wird noch anzusprechen sein, in dem wir auch das 
tun müssen, was anderswo geschieht, daß wir Worte und 
Taten in Beziehung zueinanderbringen, und diejenigen, die 
regieren und handeln, müssen sich an dem messen lassen, 
was sie sich selber als Maßstäbe gesetzt haben. 
Man hat uns im Hinblick auf die Debatte der Berlin- 
Politik gelegentlich vorgeworfen, daß uns gewissermaßen 
die ganze Richtung der Berlin-Politik nicht passe. Der 
Regierende Bürgermeister hat sogar mehrfach gesagt — 
und andere, die das Nachplappern gewöhnt sind, haben es 
wiederholt —, die CDU habe zu den Vereinbarungen nein 
und abermals nein gesagt. Dies war erwiesenermaßen 
falsch. 
(Abg. Schwarz: Jein!) 
Als wir den Regierenden Bürgermeister danach fragten, 
wo denn die Quelle für eine solche Äußerung zu finden sei, 
hat er uns den Satz unseres Landesvorsitzenden vorgetra 
gen, der gesagt hat, das Ergebnis der Berlinvereinbarungen 
bleibe in wesentlichen Fragen nicht nur hinter unseren 
Erwartungen, sondern auch hinter den Lebensnotwendig 
keiten Berlins zurück. Dies hat der Regierende Bürger 
meister angeblich zum Anlaß genommen zu behaupten, wir 
hätten nein und abermals nein zu den Berlin-Vereinbarun 
gen gesagt. Damit — so scheint uns — widerlegte er sich 
selber und dekuvrierte sich wohl auch ein wenig. Auch hier 
wurde deutlich, daß gelegentlich das Mittel der Täuschung 
im Spiel ist, wenn es darum geht, den politischen Gegner in 
bestimmter Weise zu charakterisieren. 
Gerade die Äußerungen des Regierenden Bürgermeisters 
— und das ist etwas, was die Glaubwürdigkeit nicht unter 
streicht, sondern entkräftet — sind oft genug von Täu 
schungen und Selbsttäuschungen getragen. Uns geht es hier 
doch aber darum, einmal festzustellen, wo die Wahrheit 
liegt, bezogen auf die Frage, was im Hause gemeinsam 
vertreten wird und wo es unterschiedliche Auffassungen 
gibt. Ich glaube, man darf mit gutem Gewissen feststellen, 
daß es seit 1963 keine Meinungsverschiedenheiten mehr 
darüber gibt, daß eine Vertragspolitik mit den osteuro 
päischen Ländern geführt werden müsse. Die ist seit dem 
Jahre 1963 eingeleitet worden, aber es gab und gibt unter 
schiedliche Auffassungen über Form und Inhalt der Ver 
träge: dies ist richtig. Wir haben hinsichtlich der Berlin- 
Vereinbarungen bessere Verträge gewünscht und für not 
wendig gehalten. Wir haben damals auch hier im Ab 
geordnetenhaus gesagt, der Senat möge weiter verhandeln 
an einer bestimmten Stelle, wo wir glaubten, Unsicherheit 
zu spüren. Wir sehen uns jetzt durch die politische Ent 
wicklung bestätigt und meinen, die eigentlichen Realisten 
in der Berlin-Politik waren nicht diejenigen, die naiv für 
die Anerkennung der Realitäten eingetreten sind, sondern 
die wahren Realisten waren wohl diejenigen, die von An 
fang an dafür plädierten, den mangelnden guten Willen dei; 
anderen Seite und ihre nicht aufgegebene offensive Ziel 
setzung als reale Faktoren mit in die Vertragspolitik ein 
zubeziehen. Dies hätte eben hieb- und stichfeste Texte und 
Verträge erforderlich gemacht. Und dann hätte die Formel 
„Strikte Einhaltung und volle Anwendung“ keine unter 
schiedlichen Auffassungen mehr überdecken müssen, son 
dern sie wäre selbstverständlich und aussagekräftig ge 
wesen. 
Nun kann man bestehende Verträge nicht ändern und 
muß den Versuch machen, Berlin damit leben zu lassen und 
das Beste darauf zu machen. Dies ist gewiß gegenwärtig 
unsere gemeinsame Aufgabe, und wir haben immer deut 
lich genug gesagt, daß wir bereit sind, an dieser gemein 
samen Aufgabe mitzuwirken. Aber das kann nur geschehen, 
wenn man sich freimacht von Täuschungen und Selbst 
täuschungen. Der Regierende Bürgermeister war bisher, wie 
uns scheint, zu einer realistischen Einschätzung der Ost- 
und Berlin-Politik und ihrer Folgen nicht fähig. Er hat eine 
Berlin-Politik verteidigt, mit großen Worten verteidigt, 
deren Schwächen, die sich zu ungunsten Berlins auswirken 
mußten, von vornherein erkennbar waren. Mag er sich 
selbst getäuscht haben oder was immer, das Ergebnis ist 
für uns mangelnde Führungsfähigkeit und mangelnde Be 
rücksichtigung der erkennbaren Interessen Berlins. 
Wir haben in diesen eineinhalb Jahren der Praktizie- 
rung der Berlin-Vereinbarungen hinreichende Bestätigung 
dafür gefunden, daß die Vereinbarungen übereilt abge 
schlossen wurden und unpräzise und an manchen Stellen 
doppeldeutig sind. Wenn man die Erfahrungen dieser 
anderthalb Jahre zusammenzieht — ich will hier nicht 
jeden einzelnen Fall vor Augen führen, Sie haben das 
gewiß gegenwärtig —, dann spürt man, glaube ich, etwas 
— und nicht nur bei denjenigen, die sich berufsmäßig oder 
nebenberuflich mit Politik beschäftigen, sondern bei den 
Bürgern ganz allgemein — von einem Abbröckeln unserer 
Positionen. Was man fest zu haben glaubte, zerfließt einem 
gelegentlich wie Sand in den Händen. Jeder Fall einzeln 
gesehen mag der Dramatik entbehren, aber sie alle zu 
sammen gesehen — das muß man wohl einmal tun — zei 
gen jedoch eine konsequente Politik der anderen Seite, die 
unsere Regierung offenbar unterschätzt, und es zeigt sich 
jenes Abbröckeln und jener Niedergang der Hoffnungen 
bei der Bevölkerung hüben und drüben, nachdem man ihr 
solche Hoffnungen gemacht hat. 
Es gibt viele Beispiele. Hier nur einige: Damals hatten 
wir zunächst eine Diskussion über eine authentische Über 
setzung der Berlin-Vereinbarungen. Man hat die Beratun 
gen geschlossen, ohne eine Übersetzung zu haben, und 
seitdem gibt es über manche Punkte Streit. Dann hatten 
wir Auseinandersetzungen über eine Sofortregelung. Nach 
schwierigen Verhandlungen gab es Fortschritte, aber es 
gab immer noch nicht die Sofortregelung, die der Senat am 
Anfang versprochen hatte. Er pries zwar das Ergebnis als 
Sofortregelung, aber das war weniger, als er vor der Öffent 
lichkeit gesagt und verkündet hatte. Man hatte gelegent 
lich den Eindruck, hier werde nach dem chinesischen 
Sprichwort verfahren: Jedermann lobt die Brücke, über die 
er schreitet, d.h. jedermann lobt das, wofür er selbst Ver 
antwortung zu tragen hat. 
Es gibt trotz der großen Worte des Regierenden Bürger 
meisters, wonach die Zugehörigkeit Berlins zum Bund nun 
mehr nach den Abkommen bestätigt sei, eine permanente 
Auseinandersetzung über diese Fragen. Es werden Ver 
anstaltungen abgesagt, der Sportaustausch gedeiht nicht, 
der Austausch der Vertretungen zwischen Bonn und Ost 
berlin stockt. Es mag sein, wie der Regierende Bürger 
meister gesagt hat, daß es keine neue Berlin-Krise gebe. 
Aber, meine Damen und Herren, es gibt gewiß die Krise 
einer Berlin-Politik, der es an Realismus und Präzision 
fehlt. 
Es gibt ursprünglich jene These des Regierenden Bürger 
meisters, daß in der Praxis die Behauptung zusammen 
fallen werde, wonach das Verhältnis Bundesrepublik/DDR 
nicht ein Verhältnis von Ausland zu Ausland sei. Er hat 
dann an dieser Stelle irgendwann seine ursprüngliche 
These widerrufen. Aber was erleben wir heute ? Es bröckelt 
an dieser Stelle. Ob das der letzte Fall ist, den ich nur er 
wähnen will: Auslandspresse in Bonn, die Frage der Ver 
tretung in Bonn, wo wir sehen, daß wir jetzt bald zu allen 
Ländern Beziehungen haben, nur zu Ostberlin sind die Be 
ziehungen herzlich schlecht, und es gelingt nicht, das unter 
Dach und Fach zu bringen. 
Wir haben die Frage der zweimaligen Verdoppelung eines 
Zwangsumtausches gehabt, und hier muß man sehen, daß 
diese Politik, die doch darauf angelegt war, im Kern mehr 
Erhaltung der Nation durch mehr Begegnungen zu bekom 
men, im Nerv getroffen wird dadurch, daß durch den 
Zwangsumtausch eine Halbierung der Begegnungen statt 
findet. Wir hören jetzt davon, daß man sich schon am ersten 
Tag in die Hausbücher eintragen müsse, wir sehen, daß 
eine enorme Ausdehnung der Personenkreise erfolgt ist, 
die keine Westkontakte haben dürfen. Wir haben hier 
gestern den Fall der Rechtshilfe mit dem Ergebnis disku- 
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