Abgeordnetenhaus von Berlin - 6. Wahlperiode
62. Sitzung vom 12. Dezember 1973
— Um dem wachsenden schulischen Anteil an der Berufs
bildung entsprechen zu können, ist die sachliche und
personelle Ausstattung der Berufsschulen für die be
rufliche Grundbildung und die sich darauf aufbauende
Fachbildung erheblich zu verbessern und vordringlich
auszubauen.
— Durch zusätzliche Förderung der beruflichen Fortbil
dung ist die Attraktivität der Ausbildung in anerkann
ten Ausbildungsberufen zu erhöhen. Hierbei sollte an
gestrebt werden, einen gleichen gesellschaftlichen Rang
im Vergleich zu anderen Bildungsgängen herzustellen
und damit zugleich einen Sogeffekt zu erzielen. In die
sem Zusammenhang muß wohl auch überprüft werden,
ob durch eine Novellierung des Privatschulgesetzes ge
währleistet werden kann, daß eine den staatlichen Ein
richtungen gleichwertige berufliche Qualifikation er
folgt.
Zu 4.: Das Gebot einer verstärkten Qualifikation des
einheimischen Erwerbspersonenpotentials umfaßt vor
nehmlich die Gruppe der Jugendlichen — einschließlich der
jugendlichen Ausländer — sowie die erwachsenen Männer
und Frauen, auch hier einschließlich der Ausländer, wobei
vor allem das Augenmerk zu richten ist auf Frauen, die
noch keiner Berufstätigkeit nachgehen, auf die große Zahl
der Ungelernten sowie auf diejenigen, die im Zuge der
wirtschaftlichen und technischen Entwicklung sich einer
Umschulung unterziehen müssen.
Für diesen zahlenmäßig nicht unbeträchtlichen Perso
nenkreis ergibt sich die Notwendigkeit, ihn durch unter
stützende Maßnahmen zu motivieren und die Bereitschaft
zu einer beruflichen Qualifikation durch lohn- und tarif
politische Konsequenzen anzuerkennen. Wegen der Hete
rogenität dieses Personenkreises müssen für die verschie
denen Gruppen bei einheitlicher Zielsetzung die Maßnah
men erheblich differenziert werden. Neben einer gezielten
Förderung derjenigen ungelernten Erwachsenen, die sich
stufenweise vom Niveau des Hilfsarbeiters zum Facharbei
ter qualifizieren wollen, sind insbesondere durch familien
politische und sozialpolitische Maßnahmen derartige Qua-
liflzierungsabsichten zusätzlich zu unterstützen und durch
empirische Untersuchungen die Zielpunkte zu ermitteln.
Soweit es sich um Jugendliche handelt, sollten folgende
Maßnahmen vorrangig ergriffen werden:
— Überprüfung der Organisation und des Bildungsauftra
ges der „Allgemeinen“ Berufsschulen. Dies muß ins
besondere im Hinblick auf eine Spezialisierung des Bil
dungsangebotes dieser Berufsschulen erfolgen, um eine
stärkere Motivation der Jugendlichen zu erreichen,
nicht nur im Fachlichen, sondern auch im Hinblick auf
den gesellschaftlichen Stellenwert.
— Entwicklung von Sonderformen des Berufsgrundbil
dungsjahres für Jugendliche ohne Ausbildungsverhält
nis und Schaffen der entsprechenden schulgesetzlichen
Voraussetzungen dafür.
— Durchführung von Förderungsmaßnahmen für einhei
mische und ausländische Jugendliche zur Herbeiführung
ihrer Berufsreife unter besonderer Betonung der Ver
mittlung von deutschen Sprachkenntnissen an auslän
dische Jugendliche.
— Sondermaßnahmen für die Berufsausbildung behinder
ter Jugendlicher.
— Für jugendliche Strafgefangene und Jugendliche, die
der öffentlichen Fürsorge unterliegen, sind Einrichtun
gen zu schaffen, die unter sozialpädagogischen Gesichts
punkten an eine Berufsausbildung heranführen bzw.
diese auch durchführen.
— Weibliche Jugendliche, die sich für eine Ausbildung in
Berufsbereichen entscheiden, in denen Frauen bisher
im wesentlichen nur als ungelernte Arbeitskräfte tätig
sind, sind durch entsprechende Information und mate
rielle Anreize für eine ordentliche Berufsausbildung zu
gewinnen. Insbesondere sind heute noch vorwiegend
Männern vorbehaltene Berufsfelder für weibliche Ju
gendliche zu erschließen, soweit sie ihren physischen
und psychischen Eignungen entsprechen.
Zu 5.: Zur Schließung der Fachkräftelücke müssen die
für den Berufsbildungssektor vorgeschlagenen Maßnah
men flankiert werden vor allem durch verstärkte Rationa
lisierungsmaßnahmen in den Betrieben, durch Einführung
Arbeitskräfte sparender neuer Verfahrenstechniken. Ge
rade die Betriebe sollten Beiträge zu einer verstärkten Mo
tivierung der Arbeitnehmer zu ihrer beruflichen Qualifizie
rung leisten, beispielsweise durch Unterstützung von Qua-
liflzierungsbestrebungen und durch entsprechend höher
wertige Beschäftigung im Betrieb.
Meine Ausführungen haben wohl deutlich gemacht,
meine Damen und Herren, daß zu dem DIW-Gutachten und
den daraus zu ziehenden Folgerungen z. Z. nur globale
Vorstellungen entwickelt werden können. Dementsprechend
beantworte ich die Große Anfrage der CDU im einzelnen
nun noch wie folgt, wobei ich davon ausgehe, daß sich
viele der in der Anfrage enthaltenen Punkte kreuzen, jetzt
aber noch Gelegenheit gegeben ist, bei einzelnen Punkten
ein wenig die Details auszuleuchten — dies in aller
Kürze —:
Zul: Das DIW-Gutachten konnte die letzte wirtschaft
liche Entwicklung und die damit zusammenhängenden Pro
bleme nicht berücksichtigen. Es wäre verfehlt, jetzt wei
tere Überlegungen nur auf der Basis des DIW-Gutachtens
anzustellen.
Zu 2: Der Senat ist der Auffassung, daß der Bürger ein
Recht darauf hat, seine geistigen Fähigkeiten im Rahmen
eines Schulsystems zur höchstmöglichen Reife zu entwik-
keln. Eine ausreichende Berufsaufklärung sollte sicherstel
len, daß jedem bewußt wird, ob und in welchem Umfang
die Möglichkeit besteht, seine schulische Ausbildung auf
dem Arbeitsmarkt wirtschaftlich zu verwerten.
Zu 3; Der Senat wird im Rahmen der gegebenen Mög
lichkeiten bei der Durchführung des Schulentwicklungs
plans II der beruflichen Bildung Priorität einräumen.
Zu 4: Der Senat ist der Auffassung, daß eine laufende
Datenerfassung im Bereich des Bildungs- und Beschäfti
gungssystems ganz dringend geboten ist. Alle Bundeslän
der sind auf die Verwirklichung des bundeseinheitlichen
Systems angewiesen. Das ist also nicht nur eine Frage,
die sich aus der Berliner Interessenlage ergibt.
Zu 5: Hierauf läßt sich z. Z. keine Antwort geben, weil
die angesprochene Problematik nicht so sehr in einem Ab
weichen des allgemeinen Wirtschaftswachstums von den
Leitvorstellungen für die Berliner Wirtschaftspolitik zu
sehen ist, sondern sich wohl in erster Linie dann ergeben
könnte, wenn festgestellt werden kann, welche Wirt
schaftsbereiche von einer zukünftigen Entwicklung im po
sitiven oder negativen Sinne beeinflußt werden.
Zu 6: Die Vergünstigungen für Arbeitnehmer in Berlin
und für zuwandernde Arbeitnehmer haben in der Vergan
genheit und werden auch in der Zukunft wesentlich dazu
beitragen, Berlin als Wohnort und Arbeitsplatz zu wählen.
Es muß jedoch festgestellt werden, daß die Bereitschaft,
den Arbeitsplatz zu wechseln, in Zeiten eines wirtschaft
lichen Booms am größten ist, das heißt auch in Abhängig
keit von der konjunkturellen Entwicklung gesehen werden
muß.
Zu 7: Die westdeutschen Zuwanderer werden unmittel
bar nach ihrer Ankunft nach ihren Motiven und danach
gefragt, ob sich ihre Erwartungen bisher erfüllt haben.
Wenn zu diesem Zeitpunkt schon 62 % der Zuwanderer
erklären, ihre Wohnungssituation sei befriedigend gelöst,
dann ist das eine Auswirkung der weitgehenden voraus
schauenden Vorsorge für diesen Personenkreis.
(Ha, ha! bei der CDU)
— Na, meine Damen und Herren, da gibt es nichts zu
lachen, sondern das ist in der Tat eine Leistung, daß zwei
Drittel der Zuwandernden zum Zeitpunkt ihrer Zuwande
rung bereits erklären, daß insoweit ihre Erwartungen doch
erfüllt sind. Das kann man doch nicht vom Tisch wischen!
Daß daneben alles versucht werden muß, auch das rest
liche Drittel von der Bleibebereitschaft her zu motivieren,
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