Abgeordnetenhaus von Berlin - 6. Wahlperiode
54. Sitzung vom 4. Juli 1973
wenn alle anderen Möglichkeiten zur Erhaltung
der notwendigen wirtschaftlichen Leistungskraft
Berlins ausgeschöpft sind.
Die verstärkte Anwerbung deutscher Arbeits
kräfte aus dem übrigen Bundesgebiet sowie deut
scher Aussiedler aus Osteuropa hat Vorrang.
Die Berlin-Werbung ist in dieser Richtung zu ver
stärken. Ein finanzieller Anreiz durch Gewährung
von ausreichend hohen Familiengründungs- und
Einrichtungsdarlehen soll dies erleichtern.
2. Bei der Werbung ausländischer Arbeitnehmer gel
ten Prioritäten.
Zunächst kommen Staatsangehörige der EG-Län-
der in Betracht, für die die Sonderrechte des EG-
Aufenthaltsgesetzes gelten.
Alsdann soll auf Anwerbung in solchen europäi
schen Ländern zurückgegriffen werden, mit denen
Anwerbeabkommen bestehen.
Nur ausnahmsweise ist der Arbeitskräftebedarf
aus anderen Ländern zu decken. Dabei haben
westeuropäische und westliche Länder den Vor
rang.
3. Weitere ausländische Arbeitnehmer werden grund
sätzlich nur dann hereingenommen, wenn
die volle Versorgung, insbesondere mit ausrei
chendem Wohnraum, sichergestellt ist. Inso
fern besteht ein unauflösliches Junktim,
Nachweis, Garantie und Kosten hierfür haben
auch die im Einzelfall begünstigten Arbeitgeber
mitzutragen. Bereits bei der Anwerbung auslän
discher Arbeitnehmer ist auf deren Fähigkeit zur
Integration in den deutschen Sozialkörper (soziale
Integration) und in den deutschen Staatsverband
(staatsbürgerliche Integration) Gewicht zu legen.
4. Die Ausländer-Maßnahmen des Landes Berlin dür
fen sich nicht ausschließlich am Wirtschaftsbe
darf ausrichten. Im Sinne einer Harmonisierung
müssen sie vielmehr die Gesamtinteressen der
Berliner Bevölkerung ebenso wie die wohlverstan
denen langfristigen Interessen der ausländischen
Arbeitnehmer berücksichtigen.
5. Alle Maßnahmen des Senats müssen das Angebot
sozialer und staatsbürgerlicher Integration stär
ker als bisher in den Vordergrund stellen. Dies gilt
insbesondere, weil auch weiterhin davon ausge
gangen werden muß, daß es nur bei einer verhält
nismäßig geringen Zahl ausländischer Arbeitneh
mer und ihrer Familien zu staatsbürgerlicher In
tegration kommt.
6. Unabhängig von der staatsbürgerlichen Integra
tion sind in jedem Fall die Möglichkeiten zur
sozialen Integration während des Aufenthalts für
die ausländischen Arbeitnehmer zu schaffen.
7. Die Aufenthaltserlaubnis ist den ausländischen
Arbeitnehmern künftig nach zwei Probejahren für
weitere drei Jahre zu erteilen.
Bei Ablauf des fünften Aufenthaltsjahres ist auf
Antrag die Aufenthaltserlaubnis in eine Aufent
haltsberechtigung umzuwandeln, sofern eine
Nachprüfung ergibt, daß der Antragsteller die
Möglichkeiten sozialer Integration erfolgreich ge
nutzt hat (z. B. fester Arbeitsplatz, fester Wohn
sitz, ausreichende Wohnung, befriedigende Be
herrschung der deutschen Sprache, gute polizei
liche Führung, ggf. ausreichender Unterhalt der
unterhaltsberechtigten Familienangehörigen).
Nach fünfjähriger Aufenthaltsberechtigung soll
einem Antrag auf Einbürgerung bei Vorliegen der
gesetzlichen Voraussetzungen Statt gegeben wer
den.
Ausländische Arbeitnehmer mit beschränkter Auf
enthaltserlaubnis, die bereits länger als zwei Jahre
in Berlin leben, erhalten die Hälfte ihrer bisheri
gen Aufenthaltszeit auf die Fünfjahresfrist zur
Erlangung der Aufenthaltsberechtigung ange
rechnet.
8. Zur wirksamen Ausführung aller jetzt und künf
tig nötigen Maßnahmen ist eine Koordinierungs
stelle für ausländische Arbeitnehmer und ihre Fa
milien einzurichten.
Die Koordinierungsstelle soll mit allen Behörden
und Institutionen eng Zusammenarbeiten. Sie ist
mit weitgehenden Zuständigkeiten in ihrem Be
reich auszustatten, sie ist personell eng zu bemes
sen und sie soll von einem ausschließlich für sie
tätigen hohen Beamten unbürokratisch geleitet
werden.
9. Soweit der Senat von Berlin nicht eine unmittel
bare Zuständigkeit für die vorgeschlagenen Maß
nahmen oder zu ihrer wirksamen Durchsetzung
hat, ist er aufgefordert, bei den zuständigen Stel
len auf die Durchsetzung der vorstehenden Grund
sätze und Maßnahmen einzuwirken.
Soweit das geltende Recht den vorstehenden
Grundsätzen und vorgeschlagenen Maßnahmen
entgegensteht, soll die Initiative zu seiner Ände
rung insoweit ergriffen werden.
Soweit geltende Gesetze ausländischen Arbeitneh
mern weitergehende Rechte einräumen, sollen
diese nicht angetastet werden.
Begründung:
Die Probleme, die sich durch die Anwesenheit von
schätzungsweise 200 000 Ausländern in Berlin für die
Stadt und für die Ausländer selbst ergeben, haben
bisher in ihrer Bedeutsamkeit kaum ausreichende
Beachtung gefunden. Sie sind jedoch zu einem kom
munalpolitischen wie gesellschaftspolitischen Kern
problem angewachsen, was besonders in den Bezir
ken Kreuzberg und Wedding sichtbar wird.
Daher kommt es sowohl darauf an, Sofortmaßnah
men zur Abhilfe für die dringendsten Mißstände, als
auch langfristige Maßnahmen zur Lösung der Ge
samtproblematik zu ergreifen. Dies setzt jedoch ein
Konzept voraus, von dem die im einzelnen zu ergrei
fenden Maßnahmen abzuleiten sind.
Nach allen vorliegenden Prognosen bleibt Berlin
auch in Zukunft auf eine jährliche Zuwanderung von
ca. 5 000 ausländischen Erwerbspersonen angewiesen.
Gesichertes Zahlenmaterial über die künftige Ent
wicklung, insbesondere zu den Fragen des wirtschaft
lichen Bedarfs, der infrastrukturellen Leistungsfähig
keit und dem Rückkehrverhalten der ausländischen
Arbeitnehmer, liegt nur unzureichend vor. Deshalb
werden beide Verhaltenstendenzen der ausländischen
Arbeitnehmer, überwiegende Rückkehrwilligkeit (Ro
tation) und zunehmender Wunsch zum Verbleiben
(Integration) in Zukunft zu berücksichtigen bleiben.
Dies auch, weil eine häufig festgestellte Rückkehr
willigkeit nach längerfristiger Verweildauer sowohl
Elemente der Rotation wie der Integration aufweist.
Auch im Hinblick darauf, daß Integration ohnehin
in nur geringer Zahl möglich sein wird, lassen wir
uns von dem Grundsatz leiten: Soviel Integration wie
möglich — soviel Rotation wie notwendig.
Dabei wird auch von der Erkenntnis ausgegangen,
daß eine Rückkehr aller gegenwärtig anwesenden
ausländischen Arbeitnehmer zu einer psychologisch
wie wirtschaftlich existenzgefährdenden Verringe
rung der Berliner Bevölkerung führt.
Rotation als weitgehend mechanisches Verfahren
ist allenfalls auf kurzfristige Nützlichkeitserwägun
gen ohne Berücksichtigung der Folgen für die Men
schen, sowohl für die ausländischen Arbeitnehmer
als auch für die einheimische Bevölkerung, ausge
richtet.
Eingliederung als organische Entwicklung hilft
dem einzelnen und stabilisiert — neben der auch
langfristig größeren Wirtschaftlichkeit — die Gesell
schaft in ihrer Gesamtheit. Ihr ist daher prinzipiell
der Vorzug zu geben.
Die Lösung des Gesamtproblems kann jedoch nur
in der Harmonisierung der Interessen der vorhande-
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