Abgeordnetenhaus von Berlin - 6. Wahlperiode
32. Sitzung vom 7. Juni 1973
es ein solches Engagement gegeben hat, daß viele ln der
Welt bereit waren, diese Stadt psychologisch, politisch und
finanziell zu unterstützen und daß Garantien der West
mächte für die Zukunft dieser Stadt abgegeben wurden.
Es hat jemand bei einem Gespräch, das ich kürzlich ln
Washington geführt habe, gesagt, es sei das so eine Phase
der Berlin-Politik gewesen, die man vielleicht als „Berlin-
Romantik“ bezeichnen könne, und dies war ganz ohne
einen negativen Hintergrund gemeint, weil hier doch fest
stellbar war, daß die Wunde Berlin — dieser schmerzhafte
Krisenpunkt ln Deutschland — ein ungeheures Engage
ment, auch ein emotionales Engagement hervorgerufen hat.
Aber ich würde meinen, daß diese Zeit spätestens abge
schlossen wurde mit jenem Wort Kennedys vor diesem
Rathaus, als er bekannte, ein Berliner zu sein. Ein solches
Wort eines amerikanischen Präsidenten — glaube ich —
wäre heute undenkbar.
(Zuruf von der SPD: Warum ?)
Wir müssen sehen, daß sich in der Psychologie der Situa
tion viel geändert hat. Wenn Sie so fragen „warum?“,
dann, würde ich fast meinen, haben Sie die Geschichte
dieser Stadt nicht aufmerksam betrachtet. Ich will Ihnen
sagen, woran das liegt
(Frau Abg. Kohlmann: Ich habe die Stadt mit
den Augen der Liebe betrachtet!)
— Das sollten Sie auch weiterhin tun, das tun wir hoffent
lich alle. Nur ist die Frage einfach die, ob die ganze Welt
bereit ist, die Stadt weiterhin so zu betrachten, wie Sie es
tun und wie wir es uns immer gewünscht haben. Aber wir
sollen ja immer realistisch sein, und da müssen wir schlech
terdings sehen, daß auch die Sowjetunion ihre politische
Grundhaltung — im Zusammenhang, meine ich, mit der
Kuba-Krise und danach — insofern geändert hat — dies
hat, glaube ich, schon mal ein früherer Regierender Bür
germeister auch festgestellt —, als sie seitdem nicht mehr
versuchte, diese Stadt ln den Griff zu bekommen durch eine
unmittelbare harte Konfrontation, wie sie etwa im Ultima
tum zum Ausdruck kam, sondern daß seither die Sowjet
union versucht hatte, eine Politik zu betreiben, die das Ziel
anstrebte, die separate, die „selbständige politische Einheit
West-Berlin“ durch Verträge, Vereinbarungen, Pässe,
Stempel und meinetwegen auch Fahnen sichtbar zu machen
vor der Welt und für die praktische Politik. Das hat da
mals begonnen, und das — so müssen wir feststellen —
ist ein kontinuierliches Element sowjetischer Berlin-Politik;
denn dieses ist bis heute erhalten geblieben, und damit
beschäftigen wir uns heute nach wie vor.
Nun gibt es einen anderen Punkt, der wichtig ist für
die Frage, ob denn der 3. Juni das einschneidende Ereignis
gewesen sei. Wir alle kennen die Abhängigkeit dieser Stadt
von einer politisch-psychologischen Situation des Ver
trauens, davon nämlich, daß die Menschen, die in dieser
Stadt leben, Vertrauen haben in die Zukunftsentwicklung
Berlins. Wir wisen, daß es da Krisen gegeben hat im Zu
sammenhang mit dem Mauerbau. Es hat eine Krise ge
geben — so hat es Herr Schütz bei Beginn seiner Admini
stration hier festgestellt — in der Zeit des Regierenden
Bürgermeisters Albertz. Wir müssen einfach gewissenhaft
fragen: Ist das heute vorbei? Gibt es heute hier im Bewußt
sein der Menschen eine feste Sicherheit, was die Zukunft
der Stadt anbetrifft, oder gibt es hier nach wie vor manche
bange Frage, die sich auf die Zukunft bezieht, ganz unab
hängig von den Verbesserungen, die niemand bestreitet?
Wir müssen feststellen, daß in diesem Punkte des Zu
kunftsvertrauens bis heute jedenfalls — wiewohl wir das
alle wünschen — die harte Wende noch nicht eingetreten
ist. Wir müssen feststellen, daß — zum Beispiel an den
Indikatoren der Investitionsneigung und auch an der Be
völkerungsentwicklung gemessen — wir nicht davon aus
gehen können, daß diese energische Wende eingetreten
ist; denn: Von meinem Vorredner ist der Bericht der Lan
deszentralbank zitiert worden, der sich gerade mit dem
Problem der Investitionen beschäftigt, und eben daran
wird deutlich, daß das Nachhinken Berlins ln diesem Punkt
immer noch bemerkenswert ist.
Der zweite Punkt ist die Bevölkerungsentwicklung, und
wir müssen nun sehen, ob wir wollen oder nicht, daß im
Jahr 1972 — zum ersten Mal in den letzten Jahren — eine
Entwicklung eingetreten ist, wonach der Rückgang der
deutschen Bevölkerung nicht nur auf den Sterbeüberschuß
zurückzuführen ist, sondern auf einen Wanderungsverlust.
Dies ist ein Faktum, das wir sehen müssen, und wir müs
sen uns fragen, welche politischen Konsequenzen daraus zu
ziehen sind, denn der 3. Juni hat, wenn wir uns nach einem
Jahr diese Frage vorlegen, offenbar eine solche Entwick
lung — bis heute jedenfalls — nicht verhindern können.
Nun ist das immer so eine Stelle, wenn man sich derartige
Überlegungen macht, wo die Sozialdemokraten sagen: Nun
Gott, da ist wieder irgendeine Kassandra am Werke, da
wird in Pessimismus gemacht, und da wird etwas schwarz
gesehen.
(Abg. Dr. Haus: So ist es!)
Ich glaube, dies ist grundfalsch. Sicherlich wissen auch wir
— und haben uns immer davor gehütet, Entwicklungen zu
dunkel zu malen —, daß die Einschätzung einer Lage durch
Politiker ihre Rückwirkungen selbst haben wird auf die
Menschen und auf deren Zukunftsvertrauen; das ist klar,
aber andererseits soll sich doch niemand einreden, daß es
gelänge, irgendeine Situation nach dem Rezept des Ge-
sundbetens zu bewältigen, dies geht auf der anderen Seite
auch nicht. Ich meine also, hier sagen zu müssen, daß der
3. Juni, unbeschadet der wichtigen Verbesserungen, die er
gebracht hat im Hinblick auf die politisch-psychologische
Vertrauenssituation, die entscheidende Wende nicht ge
bracht hat, auch nicht im Hinblick auf eine Veränderung
der sowjetischen Politik, die seit 1963 begonnen hat, mit
Hilfe von Vereinbarungen und Verträgen die selbständige
politische Einheit festzuschreiben. Bekanntlich hat ja zum
ersten Mal dieses in jenem Vertrag Sowjetunion—DDR
vom Juni 1964 begonnen, und das ist von der Sowjetunion
konsequent fortgesetzt worden.
Nun ist es natürlich in dieser Situation für uns eine
wichtige Frage, zu überlegen, wie denn die Zukunftsent
wicklungen angesichts der Feststellungen aussehen, die
alle Politiker getroffen haben, daß diese Verträge, die wir
um Berlin haben, gewissermaßen abhängig sind von der
Großwetterlage auf der einen Seite und abhängig sind auch
von der Bereitschaft der Partner, sie einzuhalten. Wie sieht
es damit aus? Ich glaube, wenn wir die sowjetische Hal
tung richtig einschätzen, dann ist auf der einen Seite fest
zustellen, daß die Sowjetunion bereit war, eine Politik des
Status quo zu betreiben, mag es auch nur zu dem Zweck
sein, den Status quo als Ausgangsbasis für künftige Expan
sionspolitik zu bekommen. Bedenken gibt es Inzwischen —
so hat es auch der Bundeskanzler kürzlich geäußert — im
Hinblick darauf, daß die Sowjetunion eine ganz enorme
Aufrüstungspolitik betreibt, die man in keiner Weise in
Einklang zu bringen vermag mit dem, was von Entspan
nung immer gesprochen wird. Man muß sich fragen, was
das für einen Sinn haben soll. Dies muß man auch und
gerade hier in Berlin, wo es ja in besonderer Weise darauf
ankommt — und diese Feststellung des Kommuniques an
läßlich des Besuches von Herrn Breschnew ist sicherlich
richtig —, Entspannungen zu messen; denn wo anders wäre
der Maßstab. Entspannung praktisch zu greifen und zu
sehen, als eben hier? Dabei werden wir nicht übersehen
dürfen, daß diese Formel, die im Kommunique des Bresch
new-Besuches verwendet wird, nun weiß Gott keinen
Neuigkeitswert besitzt, haben aber Verständnis dafür, daß
sie — weil mehr nicht drin gewesen ist — in besonderer
Weise lobend apostrophiert wird. Es war von Anfang an
eine zwingende Logik — von allen behauptet und in der
Politik auch versuchsweise praktiziert —, daß die Rege
lung der Berlin-Frage den Bemühungen um eine Konfe
renz in Helsinki oder in Wien vorausgehen müsse, daß die
Regelung der Berlin-Frage auch den Ost-Verträgen vor
ausgehen müsse; es kam dann praktisch zu einem Aus
tausch, gewissermaßen zu einem Ergebnis Zug um Zug.
Aber dieser Zusammenhang war von Anfang an klar.
Wenn er aber klar ist, dann muß man seine Konsequenz
und Logik gelten lassen — auch heute noch. Und was be
deutet dies heute? Wenn es denn richtig ist — so hat es
der Regierende Bürgermeister gesagt, so sagen wir es
auch —: Die Bindungen an den Bund sind das A und O
der künftigen Berlin-Entwicklung — müssen wir von der
Sowjetunion erwarten, daß sie das respektiert. Wenn sie
1930