Abgeordnetenhaus von Berlin - 6. Wahlperiode
60. Sitzung vom 17. Mai 1973
1830
befriedigenden Regelung entfernt sind. Und wenn gerade
gestern ein Regierungssprecher in Bonn davon sprach, daß
es nun gelte, die zum Abschluß bereitstehenden Verträge
mit Leben zu erfüllen, mit Leben, meine Damen und Her
ren, so kann man — wenn dieser Bemerkung auch sicher
lich ein anderer Tenor zugrunde lag — nur mit Bitterkeit
ausrufen, und das an die östliche Seite: Mit Leben erfüllen,
ja; Tote an der Mauer und in den Grenzgewässern haben
wir übergenug!
Deutlich wird uns immer vor Augen geführt, wie wenig
das Wort „Menschlichkeit" bei den Machthabern jenseits
der Mauer gilt, wie stur Anordnungen befolgt werden, und
gelte es auch, ein Menschenleben zu bewahren. Dem jetzi
gen tragischen Vorfall sind ja andere vorangegangen. So
hatte der Regierende Bürgermeister schon im Oktober 1972
bei einem ähnlich tragischen Vorkommnis erklärt, daß die
Zeit reif sei, sich um eine Regelung der Vernunft zu be
mühen. Schon damals galt da das schreckliche Wort von
dem Brunnen, der erst abgedeckt wird, wenn das Kind
hineingefallen ist. Welch’ schreckliche Parallele heute wie
der! Wir müssen in dem Zusammenhang aber auch fragen;
Mit welcher Intensität ist der Senat an die Klärung dieser
Fragen herangegangen? Warum kamen die Gespräche nur
so zögernd voran? Kann der Senat darlegen, daß er sich
mit allem Nachdruck um eine Klärung der Angelegenheit
bemüht hat ? Funktioniert die bürokratische Maschine
— auch diejenige der Alliierten — schnell genug, wenn es
um Menschenleben geht? Sind die Anweisungen an Polizei
und Feuerwehr wirklich so eindeutig, daß man behaupten
könnte, das Menschenmögliche getan zu haben? Fragen
über Fragen. Wir meinen, wenn nicht in kürzester Frist
eine befriedigende Vereinbarung mit der östlichen Seite zu
erzielen ist, dann müssen die Berliner Organe mit ver
schärften Richtlinien versehen werden, die unter Um
ständen auch ein gewisses Risiko einschließen. Dann gilt
es aber auch, die gefährdeten Grenzbereiche besser abzu
schirmen.
Mehr Menschlichkeit, meine Damen und Herren! Auf
manchen Gebieten scheinen wir noch weit davon entfernt zu
sein. Wir hoffen, daß der Senat diesen bestürzenden Vor
gängen die ihnen gebührende Priorität einräumt. Das
Leben ist höher einzuschätzen als die Einhaltung bloßer
Ordnungsprinzipien an der Grenze. Dieses sagte Herr
Bürgermeister Neubauer im November 1972. Dem stimmen
wir zu. Wir fordern den Senat auf, aus dem Stadium der
Erklärungen herauszutreten und seine Einstellung in der
Praxis unter Beweis zu stellen.
(Beifall bei der CDU)
Stellv. Präsident Hoppe: Meine Damen und Herren!
Weitere Wortmeldungen habe ich nicht. Wir sind damit am
Ende der Aktuellen Stunde. Ich hoffe sehr, daß die Selbst
bescheidung des Parlaments allseits begriffen wird und daß
die Bemühungen des Senats nunmehr zu einem schnellen
Erfolg führen.
(Beifall)
Meine Damen und Herren! Bevor ich die lfd. Nr. 1 der
Tagesordnung aufrufe, darf ich mitteilen, daß nach inter
fraktioneller Übereinkunft die Tagesordnungspunkte 4, 5,
11 und 12 ln der heutigen Sitzung nicht behandelt, sondern
auf die Plenarsitzung am 24. Mal 1973 vertagt werden. —
Da kein Widerspruch zu hören ist, stelle ich fest, daß das
Haus so beschlossen hat.
Ich rufe auf die
lfd. Nr. 1, Drucksache 6/862;
Große Anfrage der Fraktion der FJD.P. über Ver
halten des Senats zur Kündigung der Verträge Uber
die Nutzung der Kindertagesstätten zum 31. März
1972
1. Wie beurteilt der Senat heute sein Gesamtver
halten im Zusammenhang mit den im Frühjahr
1972 ausgesprochenen Kündigungen der Kinder-
tagesstätten-Nutzungsverträge ?
Wie will er insbesondere die Tatsache rechtferti
gen, daß er ein parlamentarisch bestrittenes
Kündigungsrecht, das er selbst rechtlich für
zweifelhaft hielt, ausübte und dabei zögernde
Eltern zum Abschluß neuer Verträge nötigte,
indem er ihnen androhte, ihre Kinder von der
weiteren Betreuung auszuschließen ?
2. Welche finanziellen Folgerungen hat der Senat
Inzwischen gegenüber den betroffenen Eltern aus
dem rechtskräftigen Urteil des Landgerichts
Berlin vom 2. April 1973 gezogen?
Werden insbesondere die betroffenen Eltern für
die entstandenen Nachteile entschädigt, und ist
der Senat darüber hinaus bereit, die alten Ver
träge auf Verlangen der Eltern zu erfüllen ?
3. Welche Konsequenzen wird der Senat aus dem
rechtlichen und politischen Pehlverhalten der
Senatorin für Familie, Jugend und Sport ziehen?
Die Fraktion der F.D.P. hat beantragt, die Redezeit
beschränkung aufzuheben. — Wiederspruch dagegen wird
nicht erhoben, also hat das Haus so beschlossen. Zur Be
gründung für die anfragende Fraktion hat das Wort Herr
Abgeordneter Wahl.
Wahl (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Damen und Her
ren! Wir stellen heute eine Große Anfrage über das Ver
halten des Senats zur Kündigung der Verträge über die
Nutzung der Kindertagesstätten zum 31. März 1972, und
wir fragen darin nach drei Teilkomplexen. Ich möchte dazu
einiges ausführen. Es wird nicht leicht sein, diese Anfrage
zu beschränken auf den Vorgang, den wir mit unserer
Großen Anfrage meinen, und allzu oft in den sachlichen
Inhalt dieser Verordnung einzusteigen. Ich will es aber
trotzdem versuchen.
Nach einer Diskussion von über einem Jahr über das
Problem der Gebühren in den Kindertagesstätten besteht
ein dringendes öffentliches Interesse an Konsequenzen zum
Fehlverhalten des Senats in dieser Frage. Frau Senatorin
Reichel, Sie haben doch wohl — wie jetzt inzwischen fest
steht — in der Behandlung dieser Verträge die Aufgabe,
die in der Bezeichnung Ihrer Amtsstelle liegt, und Ihre
Amtspflichten vernachlässigt, indem Sie das Wohl der
Familie und der Jugend eben nicht in dem Maße im Auge
behalten haben, wie wir es eigentlich hätten erwarten
können.
(Zuruf von der SPD; Geradezu lachhaft!)
Wir bleiben, wie schon bei unserer ersten Großen Anfrage,
bei dem Vorwurf, daß Sie dem sozialpolitischen und bil
dungspolitischen Fortschritt entgegengewirkt haben, und
dies mit Mitteln, die nicht nur unfair, wie wir damals
gesagt haben, sondern, wie wir heute wissen, auch rechts
widrig waren. Die Enttäuschung über Ihre Amtsführung
ist bei uns deshalb besonders groß, weil Sie bis zur Über
nahme Ihres Amtes als progressiv galten.
Wir Freien Demokraten haben vor über einem Jahr hier
Im Abgeordnetenhaus einen Gesetzentwurf eingebracht zur
vorschulischen Erziehung — bitte sagen Sie nicht: Was hat
das heute mit dem Thema zu tun? An einer Stelle dieses
Gesetzentwurfes gehen wir auch auf die Gebührenfrage
ein — und wissen nach der Entwicklung in den Ausschüs
sen und der Meinung, wie sie vom Senat und von der sie
tragenden Mehrheitsfraktion inzwischen mehrfach ge
äußert wurde, über das Schicksal dieses unseres Gesetzent
wurfes natürlich schon recht gut Bescheid. Sie haben uns
ln den Debatten den Vorwurf des Abschreibens von Geset
zen, die ln anderen Bundesländern bereits praktiziert wer
den, gemacht, und ich möchte hier heute und gerade an
dieser Stelle und in diesem Zusammenhang sagen: Dann