Abgeordnetenhaus von Berlin - 6. Wahlperiode
41. Sitzung vom 7. Dezember 1973
anderen sollen 2 Mio DM für zusätzliche Einstellung von
Vertretungskräften für den Grundschulbereich bereit
gestellt werden.
Ich gehe davon aus, daß jedes Mitglied dieses Hauses, das
sich nur ein ganz klein wenig um die Probleme der Berliner
Schule kümmert, auch mit dem Problem, das in diesem
Antrag angesprochen ist, vertraut gemacht hat. Eine Viel
zahl von Stunden fällt aufgrund von Krankheit der Lehrer
in den Berliner Schulen aus. Ich habe gerade heute Vor
mittag einmal eine Umfrage in einigen Schulen durch
geführt und dabei feststellen müssen, daß 208 bis 240
Lehrerstunden — es geht hier um eine Umfrage im Bezirk
Reinickendorf — im Monat ausfallen, was die ganze Trag
weite der Problematik zeigt. Der Versuch, durch Teilungs-
stunden, durch Senkung der Klassenfrequenzen und durch
ähnliche Maßnahmen ein Mehr an Chancengerechtigkeit zu
erreichen, muß daher immer dann scheitern, wenn wir in
der Problematik der Vertretungskräfte nicht weiter voran
kommen. Sie, meine Damen und Herren — ich spreche jetzt
insbesondere die Sozialdemokraten in diesem Hause an —,
müssen also entscheiden, ob Sie eine Ausdehnung der Stel
lenpläne an der Freien Universität um faktisch über 450
Stellen im außerklinischen Bereich für wichtiger halten als
den Versuch, die gröbsten Schwierigkeiten im Grundschul
bereich wenigstens zu bereinigen. Sie müssen entscheiden,
ob Sie ein Tutorenprogramm, dessen Praxis noch dazu
rechtlich umstritten ist, höher bewerten als den Versuch,
die Ausgangsbasis im Bildungswesen im Sinne von mehr
Chancengerechtigkeit zu verbessern. Und Sie müssen auch
entscheiden und haben hier leider schon negativ entschie
den vorhin in der Abstimmung, ob Sie die Polizeischau oder
die Mittel für die Selbstdarstellung des Berliner Senats
unter der Haushaltsstelle „Berlin-Informationen“ für wich
tiger halten als eine wirkungsvolle Hilfe für die Sechs- bis
Zwölfjährigen im Grundschulbereich.
Dabei ist bei unseren Anträgen auch Raum für eine
weitere kontinuierliche Entwicklung der Personalsituation
an der Freien Universität, und es ist auch Raum für eine
Fortführung des Tutorenprogramms. Dabei, meine Damen
und Herren, kann ich Sie hier nur eindringlich bitten, sich
unserem Antrag anzuschließen, denn nur mit dieser Ent
scheidung — davon bin ich fest überzeugt — werden Sie
auch vor den Eltern in Ihrem Wahlkreis und zuhause in
Ihrem Wahlkreis bestehen können, sonst sicher nicht.
(Zuruf der Frau Abg. Renner)
Bei der Gestaltung des Haushalts stoßen wir immer wie
der auf die Gegenpole bezirklicher Verantwortung und Not
wendigkeit einer gezielten Schulpolitik. Wir haben diese
Problematik im Hauptausschuß des öfteren erörtert. Ich
will hier nur zwei Forderungen vortragen;
1. Wir fordern vom Senat bei der Fortschreibung des
Schulentwicklungsplans eine genaue Zweckbestimmung der
beabsichtigten Erhöhung der Haushaltsmittel. Es muß aus
gewiesen werden, welche Kosten zu welchem Zweck an
welcher Schule in welchem Bezirk ausgewiesen werden
können und müssen. Nur so kann nämlich vermieden wer
den, daß in diesem Hause beschlossene zusätzliche Mittel
im Rahmen der Gesamtbindung nachher den eigentlich vor
gesehenen Empfänger nicht erreichen. Ich denke beispiels
weise dabei an die Kleine Anfrage zur Frage der Mittel für
Sonderschulen.
2. Wir erwarten, daß der Senat ein dauerhaftes Modell
erarbeitet, mit dem er die Verschiebung der Bevölkerung
111 der Stadt und damit die Grundlagen für die gesamt
gebundenen Ansätze besser in den Griff bekommt. Zur Zeit
spiegeln alle Pläne die Wirklichkeit nicht wider.
Bel diesen Forderungen, meine Damen und Herren, bin
Ich bereits bei einer kritischen Würdigung der Schulpolitik
des Senats. Wir würdigen dabei auch die positiven Seiten
der Bilanz: Die großen Anstrengungen beim Oberschulbau-
Programm, die Bemühungen, zusätzliche Lehrer aus ande
ren Bundesländern für Berlin zu werben. Wir stellen auch
rest: In der aktuellen und sehr bedeutsamen Auseinander
setzung um die Prüfungspraxis am Wissenschaftlichen
Landesprüfungsamt wird der Schulsenator, vorausgesetzt
er bleibt bei seiner Zielsetzung, mit der Unterstützung
meiner Fraktion rechnen können. Ich will dabei allerdings
schon jetzt anklingen lassen, daß wir mit dem Verhalten
der anderen betroffenen Senatsverwaltung nicht einver
standen sind und es zumindest als bedenklich charakteri
sieren müssen.
Wir müssen den Senat aber neben diesen Fakten auch
an seinen eigenen Ankündigungen messen, und daran, ob
Probleme gelöst oder wenigstens angepackt wurden, die in
diesem Hause immer wieder zur Diskussion gestellt wurden.
Und dabei kommen wir — ich sage leider — zu einem be
merkenswerten Katalog an unerfüllten Versprechungen und
an hinausgeschobenen Problemen. Der Senator für Schul
wesen hat den Schulentwicklungsplan für den Herbst dieses
Jahres angekündigt. Wir warten noch heute darauf. Der
Senator für Schulwesen hat einen Entwurf eines Mit
bestimmungsgesetzes — er sagt jetzt Schulverfassungs
gesetzes — angekündigt. Wir warten auch darauf noch
heute.
In der letzten Etatdebatte haben wir das Problem des Bil
dungsgefälles zwischen den Bezirken in dieser Stadt ange
sprochen. Wir haben im Zusammenhang mit der Ausländer
problematik auf die Potenzierung dieser Schwierigkeiten
hingewiesen und feststellen müssen, daß gerade die Bezirke
weiter benachteiligt werden, deren Bevölkerung sowieso
unter die Kategorie der sozial Schwächeren einzuordnen ist.
Wir sehen keinen Anhaltspunkt, daß der Senat hier wir
kungsvoll dieses Problem aufgegriffen hat.
Die SPD stellt immer in den Vordergrund ihrer Argu
mentation das Ziel: Mehr Chancengerechtigkeit. Wir teilen
diese Zielsetzung. Doch in der Praxis besteht ein Wider
spruch in der Politik des Senats, wenn er gerade die Be
zirke mit ihren Problemen allein läßt, die man gemeinhin
als Arbeiterbezirke bezeichnet: Tiergarten, Kreuzberg und
so weiter. Genauso ist es, wenn man feststellen muß, daß
der Sonderschulbereich offenbar an die Peripherie der
schulpolitischen Überlegungen dieses Senats gerückt ist und
wenn wir feststellen müssen, daß die Grundschule nicht in
der notwendigen Form gefördert wird. Chancengerechtig
keit im Bildungswesen kann doch nur von den Ausgangs
positionen aus hergestellt werden und damit bei Eintritt in
das Bildungssystem. Der Herr Senator wird jetzt sicherlich
diese Argumentation mit dem Hinweis zu widerlegen ver
suchen, daß die integrierte Gesamtschule hier Erfolge er
zielt habe. Das ist richtig, die bisherigen Ergebnisse zeigen
eine Verbesserung der Durchlässigkeit in Richtung weiter
qualifizierender Kurse. Damit ist aber unsere Argumenta
tion nicht entkräftet, denn um mehr Chancengerechtigkeit
im Bildungswesen zu verwirklichen, können wir nicht erst
in der Mittelstufe, sondern wir müssen bereits vorher be
ginnen, das heißt, im Grundschulbereich, das heißt aber
auch im Sonderschulbereich, im Bereich vorschulischer Er
ziehung.
Der Herr Kollege Schwarz — ich komme gleich zum
Schluß — hat sich in der letzten Debatte über unsere
Große Anfrage zum beruflichen Schulwesen als Hellseher
betätigen wollen. Er hat erwartet, daß wir noch eine Reihe
parlamentarischer Initiativen einbringen werden, so zum
Problem Sonderschulwesen, zum Problem Erwachsenenbil
dung. Zu dieser Vermutung hat Sie sicherlich die Beurtei
lung, Ihre eigene Beurteilung der Senatspolitik geführt, und
ich kann nur sagen; Sie haben recht gehabt, dort klaffen
auch Lücken. Es klaffen Lücken dort wie im berufsbilden
den Schulwesen, wie im Sonderschulwesen, wie im Grund
schulbereich. Und diese Lücken, meine Damen und Herren
— bemerkenswerterweise immer zu Lasten der noch eigent
lich nach den Traditionen Ihrer Partei präferenzierten
Gruppen der Arbeitnehmer, der sozial Benachteiligten —,
und die nicht eingehaltenen Versprechungen des Senats zur
Schulpolitik müssen uns einfach zwangsläufig zu unserem
Nein zu diesem Etat veranlassen. Wir müssen nein sagen,
weil wir uns begreifen als eine Opposition, die weiterdrän
gen will zu vernünftigen Lösungen,
(Heiterkeit bei der SPD)
und ich darf hier weiterhin noch die Bitte aussprechen, daß
Sie unserem Antrag zu dem Vertretungstreffen im Sinne
1451