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Volume Nr. 37, 09.11.72

Full text: Plenarprotokoll (Public Domain) Issue1972, 6. Wahlperiode, Band II, 22.-42. Sitzung (Public Domain)

Abgeordnetenhaus von Berlin - 6. Wahlperiode 
37. Sitzung vom 9. November 1973 
Stellv. Präsident Hoppe: Das Wort hat der Senator für 
Arbeit und Soziales. 
Liehr, Senator für Arbeit und Soziales: Herr Präsident! 
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte mich 
\ den Fragen zuwenden, die das Erwerbspersonenpotential 
| betreffen. Da war der Herr Abgeordnete Boehm der Mei 
nung, wir würden uns an den Zuwanderungszahlen be 
rauschen. Mitnichten, Herr Abgeordneter, denn jeder, der 
etwas von dem Vorgang versteht, weiß, daß dies ein sehr 
nüchterner, sachlich gehaltener Vorgang ist. Wenn ich zum 
Beispiel nur darauf hinweise, daß wir am Ende dieses 
Jahres etwa 22 000 Arbeitnehmer mehr aus Westdeutsch 
land hier in unserer Stadt haben werden, so drückt diese Zahl 
allein gar nicht das aus, was an Vielfältigkeit der Bemü 
hungen und des Aufwandes erforderlich ist, so daß ich na 
türlich auch aus einem solchen Anlaß heraus den hier 
| unmittelbar Beteiligten, insbesondere also den Berliner 
Arbeitgeberverbänden und der Bundesanstalt für Arbeit, 
dem Landesarbeitsamt, sehr herzlich dafür danken möchte, 
daß es auch in einer Zeit konjunktureller Wiederanspannung 
möglich ist, durch die wohlwollende Unterstützung in der 
Bundesrepublik, uns hier die Arbeitskräfte zu vermitteln. 
Aus der Gegenüberstellung von Erwerbspersonenbestand 
und -bedarf, wie Sie ihn aus der Vorlage entnehmen kön 
nen, errechnet sich für die Jahre 1970 bis 1975 ein not 
wendiger Wanderungsgewinn in Höhe von 7 700 jährlich, 
für den Zeitraum 1975 bis 1980 läßt sich ein erforderlicher 
Wanderungsgewinn von rund 4 600 Erwerbspersonen im 
Jahr ermitteln. Bitte berücksichtigen Sie bei diesen Größen 
ordnungen, daß es in den zurückliegenden fünf Jahren von 
1967 bis 1971 gelungen ist, einen durchschnittlichen Wan 
derungsgewinn von rund 5 600 Erwerbspersonen pro Jahr 
zu erzielen. Ausgehend von den Ergebnissen der Unter 
suchungen der Senatskommission zu Fragen der Bevölke 
rungsfluktuation in Berlin, also unter Berücksichtigung der 
Untererfassung der Berliner Bevölkerung in den Jahren 
1968 bis 1971 aufgrund der Zweitwohnsitzgründungen in 
Westdeutschland bzw. der Untererfassung bei der Volks 
zählung 1970, ergibt sich nach einer entsprechenden Berei- 
| nigung der Gesamtwanderungsbilanz in diesen vier Jahren 
ein Wanderungsgewinn von gut 100 000 Personen, das heißt 
rund 25 000 pro Jahr. Aufgrund der berechtigten Annahme, 
daß rund 60 % davon Erwerbspersonen sind, betrug der 
s Wanderungsgewinn in diesen vier Jahren rund 60 000 Er 
werbspersonen, also bereinigt etwa 15 000 pro Jahr. Hier 
noch einmal der Vergleich: unbereinigt, also Ausgangs 
punkt die statistische Grundlage nach der bundesgesetz- 
| liehen Regelung: 5 600, tatsächlich jedoch; etwa 15 000 pro 
j Jahr. Da die Zahl der ausländischen Arbeitskräfte in der 
gleichen Zeit um etwa 60 000 zunahm, kann davon ausge 
gangen werden, daß nach einer Bereinigung der Wande 
rungsbilanz zwar die Abwanderung deutscher Arbeitskräfte 
durch die Zuwanderung deutscher Arbeitskräfte ausge 
glichen wurde, der Wanderungsgewinn bei den Erwerbs 
personen aber auf die Zunahme der Ausländerbeschäftigung 
j zurückzuführen war. Die in den Leitvorstellungen errech 
nte Größenordnung einer Nettozuwanderung von 7 700 Er 
werbspersonen im Durchschnitt der Jahre 1970 bis 1975 
dürfte also durchaus realistisch sein. Um so mehr, als 
| 1. aufgrund der durch das Viermächte-Abkommen bewirk- 
I ten Erleichterungen für das Leben ln der Stadt eine ver 
ringerte Abwanderungs- und eine erhöhte Zuzugsbereit- 
| sohaft deutscher Erwerbspersonen erwartet werden kann. 
Bitte, lassen Sie mich am Rande vermerken, daß schon 
bei einer um 1 000 Erwerbspersonen höheren Zuwanderung 
und einer um 1 000 Erwerbspersonen geringeren Abwande- 
| rung die Differenz zwischen dem bisherigen Wanderungs- 
gewinn von 5 600 Erwerbspersonen jährlich und dem in den 
I Leitvorstellungen projektierten Wanderungsgewinn von 
V 700 Erwerbspersonen bis 1975 ausgeglichen werden kann. 
| 2. Der Erwerbspersonenbedarf bis 1975 wird auch zum 
: Teil aus dem heimischen Erwerbspersonenpotential zu 
decken sein, und zwar durch eine Mobilisierung von Per- 
I ®°nen im erwerbsfähigen Alter, die bisher nicht erwerbs 
tätig waren. Es handelt sich dabei in erster Linie um die 
Aktivierung von weiblichen Arbeitskräften als Auswirkung 
| äe r künftigen Kindertagesstättenprogramme. Weitere Re- 
® erve n liegen in einem verstärkten Übergang zur Teilzeit- 
Peschäftigung, einem Bereich übrigens, der von der Wirt- 
I Sc baft stärker beachtet werden sollte. 
3. Das Berliner Erwerbspersonenpotential wird sich 
außerdem aufgrund des festzustellenden Trends eines Rück 
gangs der selbständig Erwerbstätigen zugunsten der un 
selbständig Erwerbstätigen umschichten. 
Aus diesen Gründen, meine Damen und Herren, dürfte 
etwa die Hälfte des benötigten Wanderungsgewinns von 
7 700 Erwerbspersonen zu decken sein. Der restliche Bedarf 
von etwa 4 000 Erwerbspersonen wäre durch eine Zunahme 
der Zahl der ausländischen Arbeitnehmer zu befriedigen. 
Dies entspricht im übrigen den Vorstellungen, die das Pla 
nungsteam „Eingliederung der ausländischen Arbeitnehmer 
und ihrer Familien“ in seinem Abschlußbericht niedergelegt 
hat. Das Team geht davon aus, daß die Ausländerbeschäf 
tigung bis 1975 um jährlich rund 4 000 zunimmt, und unter 
stellt dabei gleichzeitig, daß höchstens 50 % der zur Ver 
fügung stehenden Arbeitsplätze für ausländische Arbeit 
nehmer geeignet sind. Hier schließt sich also wieder der 
Kreis zu den wirtschaftspolitischen Leitvorstellungen des 
Senats. 
In diesem Zusammenhang darf ich darauf hinweisen, daß 
die Entwicklung des Berliner Erwerbspersonenpotentials ab 
1976 natürlich auch von zahlreichen Imponderabilien ab 
hängig ist. Der Arbeitsmarkt — dahinter verbergen sich 
ja schließlich Menschen — ist nicht bis ins letzte planbar. 
Die Erkenntnis, daß die Leitvorstellungen aber bis 1975 
durchaus realisierbar sind, läßt erwarten, daß die ab 1976 
geringeren Wanderungsgewinne von jährlich 4 600 Erwerbs 
personen erst recht erreicht werden können. 
Abschließend möchte ich sagen, daß trotz aller Unwäg 
barkeiten letztlich die Nachfrage, das heißt der positive 
Sog der Wirtschaft, von ausschlaggebender Bedeutung ist. 
Die Zuwanderung wird damit letzten Endes von der Bereit 
stellung attraktiver Arbeitsplätze durch die Arbeitgeber 
abhängen. In diesem Sinne möchte ich auch von hier aus an 
die Arbeitgeber appellieren, die politischen Vorzüge des 
Viermächte-Abkommens und der innerdeutschen Verein 
barungen im Verbund mit dem Berlinförderungsgesetz sinn 
voll zu nutzen. — Vielen Dank. 
(Beifall bei der SPD) 
Stellv. Präsident Hoppe: Das Wort hat der Senator für 
Wirtschaft. 
Dr. König, Senator für Wirtschaft: Herr Präsident! 
Meine Damen und Herren! Ich darf auf einige Punkte, die 
in der Diskussion hervorgehoben worden sind, eingehen. 
1. Es wurde die Mittelstandspolitik, die wir hier betreiben, 
angeschnitten. Ich kann mit wenigen dürren Worten sagen: 
Wir haben in den letzten Jahren eine gute Politik für den 
wirtschaftlichen Mittelstand betrieben, denn dieser Mittel 
stand ist zufrieden, er ist zufrieden mit seinen wirtschaft 
lichen Zuwachsraten: natürlich in dem Rahmen, daß der 
eine oder andere sagt: Hätte es nicht etwas mehr sein 
können? Ich glaube, wenn er sich dann etwas mehr an 
strengt, wird es auch etwas mehr sein. Es ist tatsächlich 
so, daß einerseits die Zuwachsraten in Ordnung sind und 
andererseits die Kreditdecke, die wir bewilligen, bisher aus 
reichend gewesen ist. Wir haben darüber eine eigene Ver 
öffentlichung herausgegeben, worin man nachlesen kann, 
welch vielfältige Möglichkeiten wir bieten, um den Mittel 
stand mit Krediten zu versorgen. Nur eins gibt es noch 
nicht, daß wahllos und — wie man so schön sagt — im 
bürokratisch gewährt wird und bei mir eine Schuuiade vor 
handen ist, aus der ich einfach zahlen kann; das gibt es bei 
uns noch nicht und wird es wahrscheinlich mit Blick auf den 
Rechnungshof auch nicht geben, und zwar mit Recht nicht 
geben. 
Ich muß auf die eine oder andere Bemerkung über die 
Steigerung der Präferenzen eingehen. Ich glaube kaum, 
daß wir eine Steigerung der Präferenzen im absoluten 
Rahmen, das heißt in absoluten Zahlen, in der Zukunft ver 
langen können, denn allein mit der Steigerung der wirt 
schaftlichen Tätigkeit überhaupt steigen die Anforderungen 
an die Präferenzen, das heißt steigen die Anforderungen Ein 
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