Abgeordnetenhaus von Berlin - 6. Wahlperiode
37. Sitzung vom 9. November 1973
Stellv. Präsident Hoppe: Das Wort hat der Senator für
Arbeit und Soziales.
Liehr, Senator für Arbeit und Soziales: Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte mich
\ den Fragen zuwenden, die das Erwerbspersonenpotential
| betreffen. Da war der Herr Abgeordnete Boehm der Mei
nung, wir würden uns an den Zuwanderungszahlen be
rauschen. Mitnichten, Herr Abgeordneter, denn jeder, der
etwas von dem Vorgang versteht, weiß, daß dies ein sehr
nüchterner, sachlich gehaltener Vorgang ist. Wenn ich zum
Beispiel nur darauf hinweise, daß wir am Ende dieses
Jahres etwa 22 000 Arbeitnehmer mehr aus Westdeutsch
land hier in unserer Stadt haben werden, so drückt diese Zahl
allein gar nicht das aus, was an Vielfältigkeit der Bemü
hungen und des Aufwandes erforderlich ist, so daß ich na
türlich auch aus einem solchen Anlaß heraus den hier
| unmittelbar Beteiligten, insbesondere also den Berliner
Arbeitgeberverbänden und der Bundesanstalt für Arbeit,
dem Landesarbeitsamt, sehr herzlich dafür danken möchte,
daß es auch in einer Zeit konjunktureller Wiederanspannung
möglich ist, durch die wohlwollende Unterstützung in der
Bundesrepublik, uns hier die Arbeitskräfte zu vermitteln.
Aus der Gegenüberstellung von Erwerbspersonenbestand
und -bedarf, wie Sie ihn aus der Vorlage entnehmen kön
nen, errechnet sich für die Jahre 1970 bis 1975 ein not
wendiger Wanderungsgewinn in Höhe von 7 700 jährlich,
für den Zeitraum 1975 bis 1980 läßt sich ein erforderlicher
Wanderungsgewinn von rund 4 600 Erwerbspersonen im
Jahr ermitteln. Bitte berücksichtigen Sie bei diesen Größen
ordnungen, daß es in den zurückliegenden fünf Jahren von
1967 bis 1971 gelungen ist, einen durchschnittlichen Wan
derungsgewinn von rund 5 600 Erwerbspersonen pro Jahr
zu erzielen. Ausgehend von den Ergebnissen der Unter
suchungen der Senatskommission zu Fragen der Bevölke
rungsfluktuation in Berlin, also unter Berücksichtigung der
Untererfassung der Berliner Bevölkerung in den Jahren
1968 bis 1971 aufgrund der Zweitwohnsitzgründungen in
Westdeutschland bzw. der Untererfassung bei der Volks
zählung 1970, ergibt sich nach einer entsprechenden Berei-
| nigung der Gesamtwanderungsbilanz in diesen vier Jahren
ein Wanderungsgewinn von gut 100 000 Personen, das heißt
rund 25 000 pro Jahr. Aufgrund der berechtigten Annahme,
daß rund 60 % davon Erwerbspersonen sind, betrug der
s Wanderungsgewinn in diesen vier Jahren rund 60 000 Er
werbspersonen, also bereinigt etwa 15 000 pro Jahr. Hier
noch einmal der Vergleich: unbereinigt, also Ausgangs
punkt die statistische Grundlage nach der bundesgesetz-
| liehen Regelung: 5 600, tatsächlich jedoch; etwa 15 000 pro
j Jahr. Da die Zahl der ausländischen Arbeitskräfte in der
gleichen Zeit um etwa 60 000 zunahm, kann davon ausge
gangen werden, daß nach einer Bereinigung der Wande
rungsbilanz zwar die Abwanderung deutscher Arbeitskräfte
durch die Zuwanderung deutscher Arbeitskräfte ausge
glichen wurde, der Wanderungsgewinn bei den Erwerbs
personen aber auf die Zunahme der Ausländerbeschäftigung
j zurückzuführen war. Die in den Leitvorstellungen errech
nte Größenordnung einer Nettozuwanderung von 7 700 Er
werbspersonen im Durchschnitt der Jahre 1970 bis 1975
dürfte also durchaus realistisch sein. Um so mehr, als
| 1. aufgrund der durch das Viermächte-Abkommen bewirk-
I ten Erleichterungen für das Leben ln der Stadt eine ver
ringerte Abwanderungs- und eine erhöhte Zuzugsbereit-
| sohaft deutscher Erwerbspersonen erwartet werden kann.
Bitte, lassen Sie mich am Rande vermerken, daß schon
bei einer um 1 000 Erwerbspersonen höheren Zuwanderung
und einer um 1 000 Erwerbspersonen geringeren Abwande-
| rung die Differenz zwischen dem bisherigen Wanderungs-
gewinn von 5 600 Erwerbspersonen jährlich und dem in den
I Leitvorstellungen projektierten Wanderungsgewinn von
V 700 Erwerbspersonen bis 1975 ausgeglichen werden kann.
| 2. Der Erwerbspersonenbedarf bis 1975 wird auch zum
: Teil aus dem heimischen Erwerbspersonenpotential zu
decken sein, und zwar durch eine Mobilisierung von Per-
I ®°nen im erwerbsfähigen Alter, die bisher nicht erwerbs
tätig waren. Es handelt sich dabei in erster Linie um die
Aktivierung von weiblichen Arbeitskräften als Auswirkung
| äe r künftigen Kindertagesstättenprogramme. Weitere Re-
® erve n liegen in einem verstärkten Übergang zur Teilzeit-
Peschäftigung, einem Bereich übrigens, der von der Wirt-
I Sc baft stärker beachtet werden sollte.
3. Das Berliner Erwerbspersonenpotential wird sich
außerdem aufgrund des festzustellenden Trends eines Rück
gangs der selbständig Erwerbstätigen zugunsten der un
selbständig Erwerbstätigen umschichten.
Aus diesen Gründen, meine Damen und Herren, dürfte
etwa die Hälfte des benötigten Wanderungsgewinns von
7 700 Erwerbspersonen zu decken sein. Der restliche Bedarf
von etwa 4 000 Erwerbspersonen wäre durch eine Zunahme
der Zahl der ausländischen Arbeitnehmer zu befriedigen.
Dies entspricht im übrigen den Vorstellungen, die das Pla
nungsteam „Eingliederung der ausländischen Arbeitnehmer
und ihrer Familien“ in seinem Abschlußbericht niedergelegt
hat. Das Team geht davon aus, daß die Ausländerbeschäf
tigung bis 1975 um jährlich rund 4 000 zunimmt, und unter
stellt dabei gleichzeitig, daß höchstens 50 % der zur Ver
fügung stehenden Arbeitsplätze für ausländische Arbeit
nehmer geeignet sind. Hier schließt sich also wieder der
Kreis zu den wirtschaftspolitischen Leitvorstellungen des
Senats.
In diesem Zusammenhang darf ich darauf hinweisen, daß
die Entwicklung des Berliner Erwerbspersonenpotentials ab
1976 natürlich auch von zahlreichen Imponderabilien ab
hängig ist. Der Arbeitsmarkt — dahinter verbergen sich
ja schließlich Menschen — ist nicht bis ins letzte planbar.
Die Erkenntnis, daß die Leitvorstellungen aber bis 1975
durchaus realisierbar sind, läßt erwarten, daß die ab 1976
geringeren Wanderungsgewinne von jährlich 4 600 Erwerbs
personen erst recht erreicht werden können.
Abschließend möchte ich sagen, daß trotz aller Unwäg
barkeiten letztlich die Nachfrage, das heißt der positive
Sog der Wirtschaft, von ausschlaggebender Bedeutung ist.
Die Zuwanderung wird damit letzten Endes von der Bereit
stellung attraktiver Arbeitsplätze durch die Arbeitgeber
abhängen. In diesem Sinne möchte ich auch von hier aus an
die Arbeitgeber appellieren, die politischen Vorzüge des
Viermächte-Abkommens und der innerdeutschen Verein
barungen im Verbund mit dem Berlinförderungsgesetz sinn
voll zu nutzen. — Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD)
Stellv. Präsident Hoppe: Das Wort hat der Senator für
Wirtschaft.
Dr. König, Senator für Wirtschaft: Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Ich darf auf einige Punkte, die
in der Diskussion hervorgehoben worden sind, eingehen.
1. Es wurde die Mittelstandspolitik, die wir hier betreiben,
angeschnitten. Ich kann mit wenigen dürren Worten sagen:
Wir haben in den letzten Jahren eine gute Politik für den
wirtschaftlichen Mittelstand betrieben, denn dieser Mittel
stand ist zufrieden, er ist zufrieden mit seinen wirtschaft
lichen Zuwachsraten: natürlich in dem Rahmen, daß der
eine oder andere sagt: Hätte es nicht etwas mehr sein
können? Ich glaube, wenn er sich dann etwas mehr an
strengt, wird es auch etwas mehr sein. Es ist tatsächlich
so, daß einerseits die Zuwachsraten in Ordnung sind und
andererseits die Kreditdecke, die wir bewilligen, bisher aus
reichend gewesen ist. Wir haben darüber eine eigene Ver
öffentlichung herausgegeben, worin man nachlesen kann,
welch vielfältige Möglichkeiten wir bieten, um den Mittel
stand mit Krediten zu versorgen. Nur eins gibt es noch
nicht, daß wahllos und — wie man so schön sagt — im
bürokratisch gewährt wird und bei mir eine Schuuiade vor
handen ist, aus der ich einfach zahlen kann; das gibt es bei
uns noch nicht und wird es wahrscheinlich mit Blick auf den
Rechnungshof auch nicht geben, und zwar mit Recht nicht
geben.
Ich muß auf die eine oder andere Bemerkung über die
Steigerung der Präferenzen eingehen. Ich glaube kaum,
daß wir eine Steigerung der Präferenzen im absoluten
Rahmen, das heißt in absoluten Zahlen, in der Zukunft ver
langen können, denn allein mit der Steigerung der wirt
schaftlichen Tätigkeit überhaupt steigen die Anforderungen
an die Präferenzen, das heißt steigen die Anforderungen Ein
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