Abgeordnetenhaus von Berlin - 6. Wahlperiode
29. Sitzung vom 18. Mai 1972
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daß im Bethanien unter dem Deckmantel eines sozial
pädagogischen Experimentes für Gruppen und Personen,
die etwas ganz anderes wollen, ein Freiraum geschaffen
wird, der nichts mehr mit dem Auftrag und der Ver
pflichtung des Jugendwohlfahrtsgesetzes zu tun hat.
Im Bericht des Senats aus der vergangenen Legislatur
periode über geschlossene Einrichtungen steht ein inter
essanter Abschnitt, der als „Erziehungsauftrag und Leit
sätze“ überschrieben wurde und sicher Leitgedanke sein
sollte, bei diesem vorliegenden Projekt aber anscheinend in
Vergessenheit geraten ist. Ich darf mit Genehmigung des
Herrn Präsidenten zitieren:
Der Leitgedanke jeglicher Jugendarbeit ist die Erzie
hung zur leiblichen, geistigen und gesellschaftlichen
Tüchtigkeit — § 1 Absatz 1 Jugendwohlfahrtsgesetz —,
wobei „geistig“ auch „seelisch“ mit umfaßt. Diese Er
ziehung beinhaltet nicht die Erziehung zu einem
artigen, leicht lenkbaren, sozial unauffälligen und in
jeder Hinsicht angepaßten Menschen, sondern zu einer
Persönlichkeit, die ihre Fähigkeiten entfalten und sinn
voll gebrauchen kann und ihre Triebe so weit beherr
schen gelernt hat, daß sie die grundsätzlich gegebene
Ordnung der Gesellschaft achtet und sich dementspre
chend verhält.
Unterschrieben vom Vorgänger der jetzigen Senatorin.
Wenn der Senator oder die Senatsverwaltung für Fami
lie, Jugend und Sport schon keine Konzeption hat, dann
sollte er wenigstens die gleichen Voraussetzungen gelten
lassen und die Gesetze und Vorschriften beachten und an
wenden, die für jeden Bürger — und speziell für jede ge
schlossene oder halboffene Einrichtung der Senats- und der
bezirklichen Jugendverwaltung oder auch der Träger der
Freien Wohlfahrt — gelten. Trotz Zusagen in bezug auf
dieses Bethanien-Projekt wurde das hier nicht gewährlei
stet. Hier gilt anscheinend in Berlin zweierlei Maß, zweier
lei Recht.
Die zuständigen Stellen in der Senatsverwaltung und in
der Bezirksverwaltung Kreuzberg haben sich nach unserer
Auffassung unfähig oder unwillig gezeigt. Darum will die
CDU nicht länger mit ansehen, daß mit Kindern und
Jugendlichen in dieser Form manipuliert und experimen
tiert wird und daß gegen das Jugendwohlfahrtsgesetz und
andere Gesetze verstoßen wird. Wir sind der Auffassung,
daß damit dieser Versuch als gescheitert angesehen werden
muß, und die Behörde muß jetzt endlich die Verantwor
tung übernehmen den Jugendlichen gegenüber, den Er
ziehungsberechtigten gegenüber, der Öffentlichkeit und dem
Gesetz gegenüber, und mit dieser Verantwortung dann
auch entsprechend eingebunden werden. Deshalb unser
Antrag: Der Senat wird beauftragt, die private Einrichtung
des Wohnkollektivs „Jugendzentrum e. V.“ im ehemaligen
Martha-Maria-Haus umgehend zu schließen.
(Beifall bei der CDU)
Präsident Sickert: Ich eröffne die Beratung. Das Wort
hat der Abgeordnete Weingärtner.
Weingärtner (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Als am 8. Dezember 1971 Jugendliche ein leer
stehendes Gebäude des ehemaligen Bethanien-Kranken
hauses besetzten, hat das Bezirksamt Kreuzberg nicht von
seinem Recht Gebrauch gemacht, die Polizei einzuschalten
und das Haus räumen zu lassen. Das ist juristisch einwand
frei und auch möglich, denn Hausfriedensbruch ist ein
Delikt, das einer Anzeige bedarf und bei dem die Polizei
nicht von sich aus vorzugehen braucht und das auch gar
nicht darf.
In Zusammenarbeit mit der Senatsverwaltung für Fami
lie, Jugend und Sport hat der zuständige Stadtrat, Herr
Beck, vielmehr zunächst einmal versucht, durch intensive
Diskussionen mit den Jugendlichen sich ein genaues Bild
von der Situation zu machen. Er, seine Mitarbeiter und die
Mitarbeiter der Senatsverwaltung für Familie, Jugend und
Sport haben damit nicht etwa, wie ihnen damals vielfach
vorgeworfen wurde, lasch, weich oder am Rande der Lega
lität gehandelt, sondern nach dem alten Verwaltungsrechts
grundsatz von der Angemessenheit der Mittel, den man
doch nur dann vernünftig anwenden kann, wenn man
einen genauen Überblick über die Situation hat, der man
begegnen will.
Bei diesen Diskussionen mit den Jugendlichen, die für
die Beteiligten der Verwaltung alles andere als einfach und
angenehm waren — wir alle oder wenigstens einige von
uns kennen derartige Diskussionen, und auch ich hatte ein
mal Gelegenheit, mit Jugendlichen in diesem Haus zu
diskutieren —, da wird man angegriffen, aggressiv, da
wird man beleidigt, da wird man beschimpft, hier ist eine
Wand, durch die man erst einmal durch muß. Diese Dis
kussionen wurden von den Mitarbeitern der Verwaltung
geführt, mit großer Geduld, mit sehr viel Zeitaufwand, und
ich glaube, auch das sollte man hier einmal anerkennend
sagen, daß sie hier ihre Aufgabe und ihre Verantwortung
sehr ernst genommen und das durchgestanden haben.
(Beifall bei der SPD)
Bei diesen Diskussionen mm stellte sich heraus, daß eine
Gruppe von Lehrlingen und Jungarbeitern in dem Haus
zusammen mit sogenannten Trebegängern leben wollte,
und zwar um so konkret etwas für diese Gruppe von
Jugendlichen zu tun. Man schätzt die Zahl der Trebegänger
in Berlin auf etwa 500; genaue Zahlen kennt keiner. Für
diese Trebegänger war bisher keine Institution in Berlin
und anderswo in der Lage, Sozialisierungs- oder Resoziali
sierungsarbeit zu leisten. Die Verantwortlichen, die an die
sen Diskussionen teilgenommen hatten, begegneten dieser
Absicht der Jugendlichen — nämlich der Lehrlinge und
Jungarbeiter — durchaus nicht mit Euphorie und mit gro
ßer Begeisterung. Ähnliche und gescheiterte Versuche etwa
in Frankfurt und München ließen Skepsis angebracht er
scheinen. Dennoch schien das Projekt eine geringe Chance
zum Gelingen zu haben, und daher entschloß man sich
damals, das Projekt für eine begrenzte Zeit zu fördern und
zu beobachten. Ich erinnere an verschiedene Tatsachen: Am
31.12.1971 schloß das Bezirksamt mit dem inzwischen ge
gründeten Verein „Jugendzentrum Kreuzberg e.V.“ einen
Nutzungsvertrag und übernahm zugleich die Kosten für
Miete, Heizung, Licht und Müllabfuhr. Diese Kosten wer
den übrigens auch heute noch vom Bezirksamt Kreuzberg
getragen und belaufen sich, wie ich erfahren habe, monat
lich auf etwa 6750 DM, wobei man berücksichtigen muß,
daß ein Teil dieser Kosten ohnehin anfällt, da man das
Haus teilweise beheizen muß, da man auch Reinigungs
arbeiten usw. durchführen muß. Weiterhin stellte das Be
zirksamt Kreuzberg drei Mitarbeiter ab — drei Sozial
arbeiter aus der eigenen Familienfürsorge —, die mit den
Jugendlichen zusammenlebten, um sie zu beraten, um
ihnen zu helfen, ihre Vorstellungen zu verwirklichen. Die
Senatsverwaltung für Familie, Jugend und Sport ihrerseits
stellte für eine Anfangsphase pro Person der Bewohner
dieses Hauses 9 DM zur Verfügung; diese Summe wird auf
ausdrücklichen Wunsch der Jugendlichen selbst übrigens
in der Zwischenzeit nicht mehr bezahlt; sie belief sich ins
gesamt auf ungefähr — ich habe den genauen Betrag
nicht — 32 000 DM. Damit auch das hier einmal offen ge
sagt wird.
Aber damit allein erschöpfte sich natürlich das nicht, was
die entsprechenden Verwaltungen taten. Sie ließen die
Sache nicht einfach laufen und sagten: Nun bekommt Ihr
das, nun macht mal schön, wir wollen mal sehen, was
rauskommt, — sondern die Senatsverwaltung für Familie,
Jugend und Sport stellte einen Katalog von Minimalfor
derungen auf gegenüber diesem Kollektiv, gegenüber die
sen Bewohnern, die folgendermaßen lauteten: 1. Es muß
eine Nutzungsvereinbarung bestehen; diese Forderung
wurde schon sehr frühzeitig erfüllt. 2. Die Gesamtzahl der
Jugendlichen im Martha-Maria-Haus darf die Zahl 70 nicht
übersteigen; nach allen Kenntnissen, die wir haben, ist das
auch nicht der Fall, von gelegentlichen Übernachtungen,
über die man vielleicht noch etwas sagen kann, abgesehen.
3. Die Jugendlichen müssen in einer ganz bestimmten
Form der Legalisierung zugeführt werden, das heißt, der
Aufenthaltsbestimmungsberechtigte muß seine Einwilli
gung zum Aufenthalt geben. Das sind entweder die Eltern
oder — wenn es entlaufene Heimzöglinge waren — die ent
sprechenden Behörden. Dieser Teil der Legalisierung, daß
die Jugendlichen dort mit Erlaubnis sind, ist zu einem
wesentlichen Teil abgeschlossen und gelungen. Zweitens: