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Volume Nr. 9, 24. Juni 1971

Full text: Plenarprotokoll (Public Domain) Issue1971, 6. Wahlperiode, Band I, 1.-21. Sitzung (Public Domain)

Abgeordnetenhaus von Berlin - 6. Wahlperiode 
9. Sitzung am 24. Juni 1971 
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haben Sie auch im Verfassungsausschuß angeregt, daß 
diese Frage noch einmal mit überprüft wird. Dazu nun 
darf ich Ihnen sagen, es ist hier schon angesprochen wor 
den der Vorwurf einer Verfassungsverletzung, den Sie ja 
in der Form so kraß nicht erheben, sondern Sie sagen: Es 
bestehe eine Vermutung, daß ein Verstoß vorliegen könnte. 
Der kommt einmal ein bißchen spät, denn diese Vorstellun 
gen sind schon sehr lange im Gespräch. Sie wissen, daß 
sogar früher eine Muß-Vorschrift ausdrücklich beantragt 
war, und da ist es Ihnen noch nicht aufgefallen, offenbar 
in der damaligen Einschätzung der Lage, daß diese Muß- 
Vorschrift nicht durchkommen würde. Zum zweiten aber 
meine ich, daß, wenn Sie den Vorwurf der möglichen Ver 
fassungswidrigkeit erheben, Sie diesen Vorwurf dann 
besser begründen müßten und nicht nur damit, daß hier 
das politische Sterbelied — wenn Sie so wollen — der freien 
Bezirksverordnetenversammlung gesungen wird. Das ist 
nicht der Fall. Die Bezirksverordnetenversammlungen 
haben noch sehr weitgehende Rechte und ich darf nochmals 
auf das hin weisen, was ich Ihnen gesagt habe: Der Spiel 
raum ist nicht so klein, wie Sie ihn hier darstellen wollen. 
Vielen Dank! 
(Beifall bei der CDU) 
Präsident Sickert: Das Wort hat Herr Abgeordneter 
Luster. 
Luster (CDU): Herr Präsident! Meine Damen und Her 
ren! Ich bitte um Nachsicht, wenn ich zu einer ganz an 
deren als der hier im Vordergrund stehenden Frage eine 
persönliche Meinung äußere, die ich persönlich jedenfalls 
für wichtig halte. Es sind bisher hauptsächlich um die 
mehr — ich will einmal sagen — machtpolitischen und 
parteipolitischen Elemente der Vorlagen, die wir hier zur 
Beratung haben, Ausführungen gemacht worden. Ich 
möchte mich zu einer demokratie-politischen Frage, so wie 
ich es sehe, äußern, nämlich zu der Frage der Abschaffung 
der Deputationen, die ich für unrichtig, für verkehrt, für 
falsch halte. Ich will ganz wenige Worte dazu machen 
und mich mit diesen Worten nicht einmal meiner eigenen 
Diktion bedienen, sondern der Diktion des Senator Lip- 
schitz bei der Einbringung der Gesetze, wie sie seinerzeit 
verabschiedet wurden. Lipschitz hat damals in der ersten 
Sitzung — ich darf mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten 
den Stenographischen Bericht der 54. Sitzung vom 7. März 
1957 zitieren — zu dieser Frage folgendes gesagt: 
Eine Bezirksverordnetenversammlung mit einem 
echten parlamentarischen Ablauf, mit Aus 
schüssen und ähnlichen Dingen wie ein Abge 
ordnetenhaus, ist als Selbstverwaltungsorgan in 
ihren Gestaltungsmöglichkeiten ärmer als eine 
Bezirksverordnetenversammlung, die über De 
putationen ständig und maßgeblich den täg 
lichen Gang der Verwaltung zu beeinflussen 
vermag. 
Bei der U. Lesung der gleichen Materie hat Lipschitz unter 
streichend sich folgendermaßen geäußert: 
Wenn man Selbstverwaltung als eine Ordnung sehen 
und betrachten will, in der ehrenamtlich tätige Bür 
ger so dicht wie möglich, und zwar mit Entschei 
dungsbefugnissen an die Verwaltungsarbeit heran 
kommen sollen, dann ist das Herzstück der laufen 
den Selbstverwaltungsarbeit die Deputation, denn 
die Bezirksverordnetenversammlung kommt gar 
nicht so dicht an diese Aufgabe heran. Und wenn sie 
sich der Ausschüsse bedient, dann kann sie es nicht 
anders machen als ein Parlament, nämlich die Aus 
schüsse mit bestimmten Aufträgen versehen und im 
übrigen läuft die ganze Verwaltung daneben her, das 
heißt, die Bezirksverordnetenversammlung läuft leer. 
(Abg. Jannicke: Graue Theorie!) 
Ich halte die Ausführungen von Lipschitz damals heute 
noch genau für so richtig, wie sie meines Erachtens damals 
waren. Wenn ich mir gegenüberlege den Aufgabenkatalog 
eines Bezlrksverordnetenausschusses künftig, nach der 
Vorlage, und einer Deputation heute, dann ist das eine — 
wie ich mich ausdrücken möchte — ganz eindeutige Demon 
tage der bürgerschaftlichen Mitwirkungsmöglichkeit; 
(Abg. Dr. Haus: Aber Herr Luster!) 
nicht zwar deshalb, weil es künftig — es wäre ja unrichtig 
zu sagen — keine Deputierten gibt, sondern weil das, was 
die Bezirksverordnetenausschüsse zu leisten haben, ganz 
entscheidend abweicht von dem, was im § 26 Absatz 2 für 
die Deputation vorgesehen ist, nämlich die Entscheidung in 
den wichtigen Dingen der Bezirke. Deshalb halte ich das, 
was hier geschieht, im Interesse unseres Demokratiever 
ständnisses, das wir ja gemeinsam haben, für nicht richtig. 
Ich weiß wohl — Kollege Jannicke machte wohl den Zu 
ruf, und zwar in bezug auf die Äußerungen von Lipschitz, 
die ich ja nur zitiert habe: Graue Theorie! —, ich weiß 
wohl, daß in der Praxis manches anders läuft als es nach 
dem Gesetz laufen könnte. 
(Abg. Dr. Haus: Waren Sie mal Deputierter?) 
Ich bin aber der Meinung, wenn ein Gesetz nicht ausgefüllt 
wird, das den Bürgern Mitwlrkungs- und Mitgestaltungs 
möglichkeiten gibt, daß man alle Möglichkeiten ausschöp 
fen soll, diesen Mangel auszugleichen, nicht aber, daß man 
den Weg geht, weil das nicht gut ist, also diese Möglichkeit 
zu streichen. 
(Abg. Jannicke: Bezirksdeputationen sind ja auch 
nach der neuen Konstruktion nicht gestrichen!) 
Das ist ein Rückgehen und kein Vorwärtsgehen, ich kann 
einen solchen Schritt nicht als ein Stück Reform der Be 
zirksverwaltung ansehen. Ich habe hier nur meine persön 
liche Meinung gesagt, aber wie ich denke, in einer Sache, 
die für uns alle wichtig sein sollte. Ich danke Ihnen. 
(Beifall bei der CDU) 
Präsident Sickert: Das Wort hat Herr Abgeordneter 
Oxfort. 
Oxfort (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Damen und 
Herren! Haben Sie Verständnis dafür, daß ich nach den 
wehmütigen Erinnerungen, die der Herr Kollege Luster 
noch einmal hier vorgetragen hat, auf das Problem der ge 
setzlich institutionalisierten Großen Koalition zurück 
komme, wie sie in § 35 Absatz 2 der Beschlußempfehlung 
zum Bezirksverwaltungsgesetz ihren Ausdruck findet. Hier 
ist bezweifelt worden, insbesondere von dem Herrn Kollegen 
Haus, daß die jetzige Regelung, wie wir sie hier abstim 
men sollen, der Bezirksverordnetenversammlung demokra 
tische Rechte nimmt. Nun, meine Damen und Herren, ich 
befürchte, daß die SPD-Fraktion bei ihren Bemühungen 
einen für sie tragbaren Kompromiß zu finden, der darauf 
beruht, die bezirkliche Selbstverwaltungsreform durch 
zusetzen, was ja auch wir begrüßen, noch nicht in voller 
Tragweite gesehen hat, worauf die jetzige gesetzliche Re 
gelung in Verbindung mit den beiden Protokollnotizen 
eigentlich hinausläuft. Denn § 35 Absatz 2 des Bezirksver 
waltungsgesetzes in der jetzt vorliegenden Neufassung in 
Verbindung mit den beiden Protokollnotizen bedeutet nicht 
nur, daß die Bezirksverordnetenversammlung, die wir bis 
her immer seit Verabschiedung der Verfassung von Berlin 
als ein politisches Gremium angesehen haben, das auch das 
Recht hatte, sich sein Bezirksamt nach Mehrheitsentschei 
dung zu wählen, in Zukunft nicht mehr dieses Bezirksamt 
auf Grund eigener Mehrheitsentscheidung bilden kann, son 
dern was noch viel schlimmer ist, daß diese Bezirksverord 
netenversammlung in Zukunft auch keinen Personalvor 
schlag zur Wahl des Bezirksamtes mehr ablehnen darf, 
(Abg. Dr. Riebschläger: Doch!) 
nein, es sei denn — lassen Sie mich bitte ausreden — der 
betreffende Kandidat habe, um das berühmte Beispiel zu 
bringen, gerade silberne Löffel gestohlen. Das Gesetz 
schreibt ausdrücklich eine Bindung, und zwar eine verwal-
	        
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