36
66. Sitzung vom 15. Januar 1970
Schwarz
gischen Fragen einer modernen Industriegesellschaft
erfordern adäquate Antworten in einem entsprechenden
Bildungswesen. Das veränderte Anspruchsniveau ver
schiedener sozialer Schichten steigerte auch deren Bil
dungserwartung. Wir müssen deshalb Schulen so ein
richten, daß sie imstande sind, jeden Schüler ent
sprechend seinen Fähigkeiten und Neigungen zu fördern,
und darüber hinaus sich als einen Ort sozialer Integra
tion unserer Gesellschaft zu verstehen. Wir meinen, daß
in einer Gesamtschule jene Hindernisse besonders wirk
sam beseitigt werden können, die diesen Forderungen
entgegenstehen. Die herkömmliche Dreigliederung der
Sekundarschule in Volksschule, Realschule und Gym
nasium entstammt doch dem bildungspolitischen Den
ken des 19. Jahrhunderts, das den gesellschaftlichen
Formierungen in Stände und Klassen ein entsprechen
des Schulsystem anpaßte. Fähige und aufgeschlossene
Lehrer haben dieses System zweifellos inzwischen weit
gehend verbessert und seine Leistungsfähigkeit erhöht.
Darüber gibt es keinen Zweifel. Und eine strukturelle
Anpassung an die heutige Zeit ist auch in diesem Be
reich unverkennbar. Ich erinnere hier nur an die Ver
suche von Gymnasien der Berliner Schule mit dem
Buxtehuder Modell in der Studienstufe. Ich erinnere
auch hier an die Ausführungen, die Frau von der Lieth
im Novemberheft der „Höheren Schule“ gemacht hat zur
Reform der Mittelstufe des Gymnasiums. Im Endeffekt
kann aber die strukturelle Anpassung an die veränder
ten gesellschaftlichen Verhältnisse nur von den politi
schen Kräften entschieden werden.
Zweitens: Entwicklungsplanung im Bildungsbereich
muß stets auf weite Sicht erfolgen. Wer die Gesamt
schule als eine Schule von morgen begreift, wird sie in
diese Planung miteinbeziehen müssen, d. h. sie wird als
eine Regelschule neben die bestehenden treten müssen.
Nur so kann eine langfristige Standort-, Bau- und Per
sonalplanung effektiv werden. Daß wir dabei keine
Gewaltlösung in einem Kraftakt anstreben, möge Ihnen
unser Antrag über die Entwicklungsplanung im
Gesamtschulbereich beweisen. Wir meinen, daß sich
herkömmliche Oberschulen und Gesamtschule ohnehin
aufeinanderzu entwickeln werden, wobei der verstärkte
Bau von Schulzentren gewiß zusätzlich hilfreich sein
wird, und wir meinen, daß sich beide Teile eine Menge
zu geben haben werden.
Drittens: Wir entsprechen mit unserem Vorhaben den
Wünschen weiter Teile der Elternschaft. In der Walter-
Gropius-Schule ln Britz-Buckow-Rudow zum Beispiel
haben sich um 140 Plätze im Schuljahr 1970/71 heute
schon 850 Eltern beworben. Die gleiche Situation finden
wir an den übrigen Gesamtschulen.
Viertens: Erste vorläufige Ergebnisse scheinen die
Erwartungen zu bestätigen, die von der Erziehungs
wissenschaft gehegt werden. Die für die Gesamtschule
charakteristischen Leistungskurse in den Hauptfächern
Deutsch, Mathematik und Englisch fördern die Schüler
entsprechend ihrem Leistungsvermögen und geben da
bei Spitzen- und Spezialbegabungen den Weg zu indi
vidueller Entfaltung frei. So besuchen in der Martin-
Buber-Oberschule in Spandau 121 hauptschulempfohlene
Schüler die beiden anspruchsvollsten Kurse. In der
Walter-Gropius-Schule nehmen von 143 Schülern der
achten Jahrgangsstufe nur zwei in allen drei Fächern
und nur acht in zwei Fächern am niedrigsten Kurs teil.
Daß sich unter solchen Bedingungen auch das Sitzen
bleiberproblem neu lösen läßt, liegt auf der Hand.
Meine Damen und Herren, ich habe Sie mit Zitaten
und Zahlen bewußt weitgehend verschont, der weitere
Verlauf der Debatte wird es vielleicht notwendig
machen, auch die Detailfragen weiter zu erörtern und
Einzelbelege vorzuweisen. Wir sind darauf vorbereitet.
Zum Schluß möchte ich noch auf zwei Behauptungen
eingehen, die man nun häufig in der Öffentlichkeit
gegen die Gesamtschule hört, zum Teil sind sie auch im
Ausschuß vorgebracht worden. Es wird gesagt, die all
gemeine Intelligenz entwickele sich ja vorwiegend vom
vierten bis zum achten Lebensjahr, und deshalb habe
sich die bildungspolitische Aktivität vorwiegend dem
Bereich der Vorschul- und Grundschulerziehung zuzu
wenden. Das ist eine Wahrheit, allerdings nur eine
halbe. Es wird dabei übersehen, daß die Grundkapazität
nicht allein die geistige Ausreifung eines Menschen
bestimmt, sondern spezielle Intelligenzfaktoren sich erst
bedeutend später entfalten. Bei Meili, Thurstone, Spear-
man und anderen Psychologen von Weltruf kann man
das leicht nachlesen. Als Beispiele sollen hier nur das
Denken in historischen Kategorien und das bewußte
soziale Verhalten angeführt werden. Wir meinen, daß
Verbesserungen im Bereich der Grundschule durch die
Statusänderung der Gesamtschule nicht behindert wer
den; im Gegenteil, die Struktur einer Gesamtschule er
öffnet sogar besonders günstige Möglichkeiten, die
Arbeit der Grundschule adäquat fortzusetzen. Der
andere scheinbar gewichtige Einwand bezieht sich auf
die höheren Kosten. Tatsächlich liegen die reinen Bau
kosten einer Gesamtschule nicht höher. Wenn es sich
allerdings um eine Ganztagsgesamtschule handelt, sind
höhere Aufwendungen notwendig, aber das gilt auch
für alle anderen Schularten, in denen ganztägig unter
richtet wird. Mehrkosten entstehen auch durch die um
fangreichen Planungsarbeiten an Gesamtschulen, die
sich aber mittelfristig und erst recht langfristig hoch
für alle Schulen auszahlen.
An dieser Stelle, Herr Senator, muß jedoch auch eine
kritische Anmerkung gestattet sein. Angesichts der
intensiven und für die gesamte Berliner Schule nutz
bringende Planungstätigkeit ist die Gewährung von
zwei Stunden Unterrichtsermäßigung für die Lehrkräfte
an Gesamtschulen ein allzu bescheidener Ausgleich.
Hier sollte schnelle Abhilfe geschaffen werden, und
außerdem sollte bei der weiteren Planung im Gesamt
schulbereich auch die Frage einer speziellen Lehrer
ausbildung und Lehrerweiterbildung viel stärker als
bisher berücksichtigt werden.
Ich will mich auf diese zwei Hauptargumente gegen
die Einführung der Gesamtschule als Regelschule be
schränken. Jedes Argument für sich enthält einen Teil
von Wahrheit. Das Gefährliche bei halben Wahrheiten
ist, daß leider fast immer die falsche Hälfte geglaubt
wird. Es war notwendig, glaube ich, den Schwerpunkt
der Diskussion im Ausschuß deutlich zu machen und für
meine Fraktion eine klare Stellungnahme abzugeben.
Wir meinen, dieses Gesetz bringt uns unserem bildungs
politischen Ziel ein Stück näher, allen jungen Menschen
in unserer Stadt, unabhängig von Gruppenzugehörigkeit
und sozialer Herkunft, optimale Bildungschancen zu
bieten und ihnen den Weg in ein erfülltes Leben zu
ebnen. —- Ich danke Ihnen.
(Beifall.)
Präsident Sickert: Das Wort hat Frau Abgeordnete
Dr. von Simson.
Frau Dr. von Simson (F.D.P.); Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Nach den sehr ausführlichen Aus
führungen meiner beiden Vorredner kann ich es ver
hältnismäßig kurz machen. Insbesondere bin ich dem
Kollegen Schwarz dafür dankbar, daß er zunächst ein
mal den wesentlichen Kernpunkt dieser Gesetzesände
rung noch einmal zusammengefaßt hat, die der Kollege
Padberg sozusagen als bekannt vorausgesetzt hat. Mei
ner Meinung nach ist das ganz Wesentliche an dem,
was wir jetzt tun, die Erhöhung der Durchlässigkeit und
damit sozusagen das Gerechtwerden den verschiedenen
Begabungsniveaus und auch — wie der Kollege Schwarz
sehr richtig sagte — den Arbeitswilligkeits-Niveaus und
daß wir damit hier einen erheblichen Schritt weiter
vorangekommen sind. Und ich glaube auch, der Vorwurf
des Kollegen Padberg, daß auf diese Weise die §§ 21c
und d relativ länger geworden sind als das, was wir im
Schulgesetz über die sozusagen klassischen Schulformen
haben, ist durchaus unberechtigt, weil es sich ja hier
eben um wirklich etwas Neues handelt.