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Volume Nr. 1 (66), 15. Januar 1970

Full text: Stenographischer Bericht (Public Domain) Issue1970/71, V. Wahlperiode, Band IV, 66.-95. Sitzung (Public Domain)

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66. Sitzung vom 15. Januar 1970 
Schwarz 
gischen Fragen einer modernen Industriegesellschaft 
erfordern adäquate Antworten in einem entsprechenden 
Bildungswesen. Das veränderte Anspruchsniveau ver 
schiedener sozialer Schichten steigerte auch deren Bil 
dungserwartung. Wir müssen deshalb Schulen so ein 
richten, daß sie imstande sind, jeden Schüler ent 
sprechend seinen Fähigkeiten und Neigungen zu fördern, 
und darüber hinaus sich als einen Ort sozialer Integra 
tion unserer Gesellschaft zu verstehen. Wir meinen, daß 
in einer Gesamtschule jene Hindernisse besonders wirk 
sam beseitigt werden können, die diesen Forderungen 
entgegenstehen. Die herkömmliche Dreigliederung der 
Sekundarschule in Volksschule, Realschule und Gym 
nasium entstammt doch dem bildungspolitischen Den 
ken des 19. Jahrhunderts, das den gesellschaftlichen 
Formierungen in Stände und Klassen ein entsprechen 
des Schulsystem anpaßte. Fähige und aufgeschlossene 
Lehrer haben dieses System zweifellos inzwischen weit 
gehend verbessert und seine Leistungsfähigkeit erhöht. 
Darüber gibt es keinen Zweifel. Und eine strukturelle 
Anpassung an die heutige Zeit ist auch in diesem Be 
reich unverkennbar. Ich erinnere hier nur an die Ver 
suche von Gymnasien der Berliner Schule mit dem 
Buxtehuder Modell in der Studienstufe. Ich erinnere 
auch hier an die Ausführungen, die Frau von der Lieth 
im Novemberheft der „Höheren Schule“ gemacht hat zur 
Reform der Mittelstufe des Gymnasiums. Im Endeffekt 
kann aber die strukturelle Anpassung an die veränder 
ten gesellschaftlichen Verhältnisse nur von den politi 
schen Kräften entschieden werden. 
Zweitens: Entwicklungsplanung im Bildungsbereich 
muß stets auf weite Sicht erfolgen. Wer die Gesamt 
schule als eine Schule von morgen begreift, wird sie in 
diese Planung miteinbeziehen müssen, d. h. sie wird als 
eine Regelschule neben die bestehenden treten müssen. 
Nur so kann eine langfristige Standort-, Bau- und Per 
sonalplanung effektiv werden. Daß wir dabei keine 
Gewaltlösung in einem Kraftakt anstreben, möge Ihnen 
unser Antrag über die Entwicklungsplanung im 
Gesamtschulbereich beweisen. Wir meinen, daß sich 
herkömmliche Oberschulen und Gesamtschule ohnehin 
aufeinanderzu entwickeln werden, wobei der verstärkte 
Bau von Schulzentren gewiß zusätzlich hilfreich sein 
wird, und wir meinen, daß sich beide Teile eine Menge 
zu geben haben werden. 
Drittens: Wir entsprechen mit unserem Vorhaben den 
Wünschen weiter Teile der Elternschaft. In der Walter- 
Gropius-Schule ln Britz-Buckow-Rudow zum Beispiel 
haben sich um 140 Plätze im Schuljahr 1970/71 heute 
schon 850 Eltern beworben. Die gleiche Situation finden 
wir an den übrigen Gesamtschulen. 
Viertens: Erste vorläufige Ergebnisse scheinen die 
Erwartungen zu bestätigen, die von der Erziehungs 
wissenschaft gehegt werden. Die für die Gesamtschule 
charakteristischen Leistungskurse in den Hauptfächern 
Deutsch, Mathematik und Englisch fördern die Schüler 
entsprechend ihrem Leistungsvermögen und geben da 
bei Spitzen- und Spezialbegabungen den Weg zu indi 
vidueller Entfaltung frei. So besuchen in der Martin- 
Buber-Oberschule in Spandau 121 hauptschulempfohlene 
Schüler die beiden anspruchsvollsten Kurse. In der 
Walter-Gropius-Schule nehmen von 143 Schülern der 
achten Jahrgangsstufe nur zwei in allen drei Fächern 
und nur acht in zwei Fächern am niedrigsten Kurs teil. 
Daß sich unter solchen Bedingungen auch das Sitzen 
bleiberproblem neu lösen läßt, liegt auf der Hand. 
Meine Damen und Herren, ich habe Sie mit Zitaten 
und Zahlen bewußt weitgehend verschont, der weitere 
Verlauf der Debatte wird es vielleicht notwendig 
machen, auch die Detailfragen weiter zu erörtern und 
Einzelbelege vorzuweisen. Wir sind darauf vorbereitet. 
Zum Schluß möchte ich noch auf zwei Behauptungen 
eingehen, die man nun häufig in der Öffentlichkeit 
gegen die Gesamtschule hört, zum Teil sind sie auch im 
Ausschuß vorgebracht worden. Es wird gesagt, die all 
gemeine Intelligenz entwickele sich ja vorwiegend vom 
vierten bis zum achten Lebensjahr, und deshalb habe 
sich die bildungspolitische Aktivität vorwiegend dem 
Bereich der Vorschul- und Grundschulerziehung zuzu 
wenden. Das ist eine Wahrheit, allerdings nur eine 
halbe. Es wird dabei übersehen, daß die Grundkapazität 
nicht allein die geistige Ausreifung eines Menschen 
bestimmt, sondern spezielle Intelligenzfaktoren sich erst 
bedeutend später entfalten. Bei Meili, Thurstone, Spear- 
man und anderen Psychologen von Weltruf kann man 
das leicht nachlesen. Als Beispiele sollen hier nur das 
Denken in historischen Kategorien und das bewußte 
soziale Verhalten angeführt werden. Wir meinen, daß 
Verbesserungen im Bereich der Grundschule durch die 
Statusänderung der Gesamtschule nicht behindert wer 
den; im Gegenteil, die Struktur einer Gesamtschule er 
öffnet sogar besonders günstige Möglichkeiten, die 
Arbeit der Grundschule adäquat fortzusetzen. Der 
andere scheinbar gewichtige Einwand bezieht sich auf 
die höheren Kosten. Tatsächlich liegen die reinen Bau 
kosten einer Gesamtschule nicht höher. Wenn es sich 
allerdings um eine Ganztagsgesamtschule handelt, sind 
höhere Aufwendungen notwendig, aber das gilt auch 
für alle anderen Schularten, in denen ganztägig unter 
richtet wird. Mehrkosten entstehen auch durch die um 
fangreichen Planungsarbeiten an Gesamtschulen, die 
sich aber mittelfristig und erst recht langfristig hoch 
für alle Schulen auszahlen. 
An dieser Stelle, Herr Senator, muß jedoch auch eine 
kritische Anmerkung gestattet sein. Angesichts der 
intensiven und für die gesamte Berliner Schule nutz 
bringende Planungstätigkeit ist die Gewährung von 
zwei Stunden Unterrichtsermäßigung für die Lehrkräfte 
an Gesamtschulen ein allzu bescheidener Ausgleich. 
Hier sollte schnelle Abhilfe geschaffen werden, und 
außerdem sollte bei der weiteren Planung im Gesamt 
schulbereich auch die Frage einer speziellen Lehrer 
ausbildung und Lehrerweiterbildung viel stärker als 
bisher berücksichtigt werden. 
Ich will mich auf diese zwei Hauptargumente gegen 
die Einführung der Gesamtschule als Regelschule be 
schränken. Jedes Argument für sich enthält einen Teil 
von Wahrheit. Das Gefährliche bei halben Wahrheiten 
ist, daß leider fast immer die falsche Hälfte geglaubt 
wird. Es war notwendig, glaube ich, den Schwerpunkt 
der Diskussion im Ausschuß deutlich zu machen und für 
meine Fraktion eine klare Stellungnahme abzugeben. 
Wir meinen, dieses Gesetz bringt uns unserem bildungs 
politischen Ziel ein Stück näher, allen jungen Menschen 
in unserer Stadt, unabhängig von Gruppenzugehörigkeit 
und sozialer Herkunft, optimale Bildungschancen zu 
bieten und ihnen den Weg in ein erfülltes Leben zu 
ebnen. —- Ich danke Ihnen. 
(Beifall.) 
Präsident Sickert: Das Wort hat Frau Abgeordnete 
Dr. von Simson. 
Frau Dr. von Simson (F.D.P.); Herr Präsident! Meine 
Damen und Herren! Nach den sehr ausführlichen Aus 
führungen meiner beiden Vorredner kann ich es ver 
hältnismäßig kurz machen. Insbesondere bin ich dem 
Kollegen Schwarz dafür dankbar, daß er zunächst ein 
mal den wesentlichen Kernpunkt dieser Gesetzesände 
rung noch einmal zusammengefaßt hat, die der Kollege 
Padberg sozusagen als bekannt vorausgesetzt hat. Mei 
ner Meinung nach ist das ganz Wesentliche an dem, 
was wir jetzt tun, die Erhöhung der Durchlässigkeit und 
damit sozusagen das Gerechtwerden den verschiedenen 
Begabungsniveaus und auch — wie der Kollege Schwarz 
sehr richtig sagte — den Arbeitswilligkeits-Niveaus und 
daß wir damit hier einen erheblichen Schritt weiter 
vorangekommen sind. Und ich glaube auch, der Vorwurf 
des Kollegen Padberg, daß auf diese Weise die §§ 21c 
und d relativ länger geworden sind als das, was wir im 
Schulgesetz über die sozusagen klassischen Schulformen 
haben, ist durchaus unberechtigt, weil es sich ja hier 
eben um wirklich etwas Neues handelt.
	        
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