Das Querformat für Architekten
DOCUMENTA
URBANA 1982
WOHN-VORBILDER FÜR MEHR VIELFALT
480
2. Februar 2017
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DIESE WOCHE
Tipp
Buch
Bewohnbare Treppenhäuser, komplexe Grundrisse und begrünte Dachterrassen – auf die Monotonie des modernen Massenwohnungsbaus antworteten 1982 in Kassel neun junge Büros mit revolutionären Ideen. Noch immer gilt die documenta urbana, die Teil der großen Kunstschau war, als
vorbildhafte soziale Architektur – nicht zuletzt, weil hier im gemeinnützigen Wohnungsbau eine
Qualität entstand, die bis heute ihresgleichen sucht.
Dossier
6
Architekturwoche
2
News
Documenta Urbana 1982
Wohn-Vorbilder für mehr Vielfalt
3 Architekturwoche
4 News
Von Luise Rellensmann
19
Buch
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Bild der Woche
Titel: Blick auf die Fassade der „Schlange“, dem eigentlichen
Highlight der documenta urbana
oben: Ebenerdiges Luftgeschoss der Häuser von Inken und
Hinrich Baller mit Durchblick und Durchgang
Inhalt
Alle Fotos des Dossiers:
Marc Timo Berg // www.marctimoberg.de
Diese Ausgabe wurde ermöglicht durch:
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K e i n u n e t z w o c ie r e n !
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Architekturwoche
3
MONTAG
Inhalt
Foto: Bruce Makowsky/ BAM Luxury Development
Jede Zeit hat die Architektur, die sie verdient – in Potsdam ebenso wie in Bel Air.
Während man aber Hasso Plattner bei seinem Museum Barberini ein gewisses Gespür
für Ästhetik nicht absprechen kann, beeindruckt der jüngste amerikanische Milliardärs
trend allein durch protzige Hässlichkeit: Voll ausgestattete Monstervillen, die ob ihrer
Größe allerdings wirken, wie neureiche Einfamilienhäuser auf engen Vorortgrundstück
en. Der Trend geht zurück auf den Developer Bruce Makowsky, der laut Guardian vor
einigen Jahren eine wichtige Erkenntnis hatte: „Superreiche bezahlen für ihre Yachten
oft mehr als für ihre Häuser.“ Mit seinem kürzlich fertiggestellten Vorhaben 924 Bel
Air Road möchte er dies jetzt ändern – Kostenpunkt: 250 Millionen Dollar. Die Auto
sammlung und der Hubschrauber sind aber immerhin im Kaufpreis enthalten, was nun
schon fast wieder nach Schnäppchen klingt. // sb
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RUHRGEBIETSLANDSCHAFTEN AUSSTELLUNG IN MÜNCHEN
BRUTALIST PLAYGROUND
ELBPHILHARMONIE REVISITED AUSSTELLUNG IN HAMBURG
STAMPFLEHM IM ZICK-ZACK
SPIELEN IN WEIL AM RHEIN
Foto: Albert Renger-Patzsch
Foto: Alun Bull / RIBA
Kanalphilharmonie, Foto: Baltic Raw Org
Foto: Edward Birch
Ein frühes Zeugnis der zersiedelten
Stadtlandschaft: In den Jahren 1927 bis
1935 nahm Albert Renger-Patzsch, einer
der wichtigsten Fotografen der Neuen
Sachlichkeit, im Ruhrgebiet Stadtrandund Haldenlandschaften, Hinterhöfe
und Vorstadthäuser, Schrebergärten und
Zechenanlagen auf. Mit ihrer zurückhaltenden Emotionalität und kompositionellen Klarheit markieren die Aufnahmen eine signifikante Position im
künstlerischen Genre der Landschaftsdarstellung, die zugleich eine Dokumentation der Modernisierungsprozesse
ist. Die Pinakothek der Moderne in
München zeigt diese Werkgruppe nun
erstmalig in einer Ausstellung.
Noch bis 23. April 2017
Die Brutalist Playgrounds des Londoner
Kollektivs assemble sind schlicht genial.
Zusammen mit dem Künstler Simon
Terrill formen sie aus Schaumgummi
jene Spielstrukturen nach, die, ursprünglich aus Beton, viele der brutalistischen Wohnprojekte Großbritanniens
zierten. Die meisten dieser Anlagen
sind heute verschwunden, aber dank
des Archivs der RIBA ließen sich einige
noch rekonstruierten. Das Vitra Design
Museum bringt das Projekt nun auf den
Kontinent. Seit Januar stehen in Weil
am Rhein die begehbaren Skulpturen
zum Spielen bereit – für Kinder und
Erwachsene, die einen neuen Blick auf
den Brutalismus werfen möchten.
Bis zum 16. April 2017
Der Titel der Ausstellung klingt, als
stünde die Elbphilharmonie schon ewig
– und man schaue nun, nach langer
Zeit, was aus dem Gebäude geworden
ist. Eigentlich müsste es allerdings Pre
visited heißen, denn in den Deichtorhallen wird Kunst zu sehen sein, die sich
„von der mehrmonatigen Testphase des
Gebäudes künstlerisch inspirieren ließ“.
Das Projekt glänzt dabei mit großen
Namen: Candida Höfer, Monica Bonvicini oder Tomás Saraceno sind mit von
der Partie. Auftragskunst auf höchstem
Niveau? Zumindest die Kanalphilharmonie des Kollektivs Baltic Raw verspricht etwas Aufregung – schließlich ist
sie als Elphies subversive kleine Schwester bekannt. Bis zum 1. Mai 2017
Zwölf Apartments in der australischen
Pilbara Region fügen sich dank einer
230 Meter langen, mäandrierenden
Stampflehmwand wie selbstverständlich
in die Landschaft. Denn diese ist aus
dem eisenhaltigen Lehmboden des Baugrunds errichtet, der mit Kies aus einem
nahen Fluss vermischt wurde. Luigi
Rosselli Architects aus Sydney planten
The Great Wall, eine temporäre Unterkunft für die Mitarbeiter einer Rinder
zuchtstation. Neben dem örtlichen
Baumaterial nutzten sie eine natürliche
Erhebung und schoben die Wohnräume
ins Erdreich. So wirkt die thermische
Trägheit der Materialien den teilweise
extremen Temperaturunterschieden
zwischen Tag und Nacht entgegen.
www.pinakothek.de
www.design-museum.de
www.deichtorhallen.de
www.baunetzwissen.de/flachdach
OBJEKT IM BAUNETZ WISSEN
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1982
Hermann Hertzbergers Treppenhaus mit vom Architekten entworfener
Lampe. Es dient auch zur Erschließung der Baller-Wohnungen
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DOCUMENTA URBANA 1982
WOHN-VORBILDER FÜR MEHR VIELFALT
VON LUISE RELLENSMANN
FOTOS VON MARC TIMO BERG
Bewohnbare Treppenhäuser, Gemeinschaftsräume, begrünte Dachterrassen und vielfältige Wohnstrukturen – was heute innerhalb
privater Berliner Bauherrenkooperativen realisiert wird, wurde 1982
in Kassel als soziale Architektur
vorweggenommen.
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Bewohnbare Treppenhäuser: Auch mehr als dreißig Jahre
nach Fertigstellung werden die offenen Flure genutzt wie hier
im Schlangenkopfbau von Otto Steidle
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Links: Eine offene Treppe in Form eines Laubengangs
verbindet die Wohnungen von Otto Steidle; rechts: Kopfbau der „Schlange“ von den Architekten Hilmer & Sattler
In den Achtziger- und Neunzigerjahren pilgerten Architekturtouristen in den Südwesten von Kassel an den Rand des heutigen Naturschutzgebietes Dönche. Ihr Ziel: Ein
richtungsweisendes Wohnprojekt, das die Wohnungsbaugesellschaft „Neue Heimat“
mit insgesamt neun beteiligten Architekturbüros als Beitrag zu documenta 7 im Jahr
1982 realisierte. Mit dabei waren unter anderem Hinrich und Inken Baller (Berlin),
Otto Steidle (München), Hermann Hertzberger (Amsterdam), die Baufrösche (Kassel)
und Roland Rainer (Wien). Sie verwandelten mit der documenta urbana einen ehemaligen, an einer Müllkippe gelegenen Truppenübungsplatz in eine Wohnidylle. Rund
35 Jahre später ist der Strom an interessierten Architekturbesuchern abgerissen, die
modellhafte Wohnbebauung der Achtzigerjahre ist inzwischen merklich gealtert. Doch
in Zeiten großer Veränderungen auf dem Wohnungsmarkt lohnt sich ein Rückblick auf
ihre Konzeption und Geschichte.
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Markante Betonsäulen, offenen Treppenhäuser und helle, belebte Gemeinschaftsräume im Erdgeschoss prägen die Fassade des Steidle-Baus
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Idylle an der Woonerf: Dem damals jüngsten Büro, den
Baufröschen, war die Architektur der „Schlange“ zu unkonventionell, sie ergänzten das Projekt mit Reihenhäusern entlang verkehrsberuhigter Spielstraßen
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Wettbewerb eingeladen waren, erpressten die damals angeschlagene Wohnungsbaugesellschaft, die mit dem Projekt ihr Image aufpolieren wollte. „Es fand ein Kolloquium statt, bei dem uns die geladenen Architekten eröffneten, dass sie das Projekt
gemeinsam planen wollten. Die Beteiligung vieler Architekten und die Mischung von
Bauformen und Wohnungsstrukturen entsprach der Idee der sozialen Mischung,“ erinnert sich Hans Eichel im Telefongespräch. Der ehemalige Bundesfinanzminister, Sohn
eines Architekten und seinerzeit Oberbürgermeister in Kassel galt als treibende Kraft
hinter der documenta urbana.
Name wie Ansatz des Projekts gehen auf den documenta-Gründer Arnold Bode
zurück, der sich unter einer documenta urbana eine bauliche Verankerung der alle fünf
Jahre in Kassel stattfindenden, internationalen Ausstellung in Form von außergewöhnlichen Architekturvorhaben und Kunst am Bau vorstellte. Ersteres wurde mit dem
1982 fertiggestellten Projekt demonstriert. Es entstand ein städtisches, verdichtetes
Wohnen im Grünen, das Familien eine Alternative zum Einfamilienhaus auf dem Lande
bot und dem damals aufkommenden Gedanken des „freizeitgerechten“ Wohnens
entsprach. Beispielhaft für die Architektur des Jahrzehnts wurde als Reaktion auf den
monostrukturellen Massenwohnungsbau der Sechziger- und Siebzigerjahre ein breites
Spektrum an Wohnformen geschaffen.
Wie kam es zum Kollektivprojekt, bei dem neun Büros miteinander kooperierten? „Wir
sollten alle einzeln antreten und sind stattdessen gemeinsam eingefallen“, erinnert
sich Mike Wilkens, Mitbegründer der Baufrösche, bei Kaffee und Blechkuchen im
Garten seines an die Versuchswohnbebauung angrenzenden Reihenhauses. Die neun
Architektenteams1, die von der Neuen Heimat eigentlich zu einem konkurrierenden
Statt einer konkurrierenden Entwurfsarbeit entstand ein Gemeinschaftsprojekt, was im
Rahmen des Gutachterverfahrens nicht zuletzt aufgrund der starken Position möglich
war, die die Architekten den Bauherren und Initiatoren gegenüber innehatten. Das kam
besonders am Anfang den Baufröschen zu Gute: Das Büro des heute emeritierten
Professors der Universität Kassel, Mike Wilkens, ist gewissermaßen ein Nebenprodukt
der documenta urbana. „Die etablierten Architekten haben uns gerettet – entweder
alle oder keiner “ – noch heute klingt Begeisterung in Wilkens Stimme. Dass er mit
seiner studentischen Arbeitsgruppe Stadt/Bau als eingeladener Hochschulvertreter
trotz des abgeschafften Wettbewerbs Teil des Kollektivs der Planer blieb, verdankt er
den anderen Büros, die damals geschlossen für die jungen Kollegen einstanden. Dann
musste nur noch ein Name her, „Frösche – das klang ein bisschen verrückt, grün und
nach igitt“.
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Inken und Hinrich Baller (Berlin), Hillmer und Sattler (München), Patschan Werner Winking, Planungskollektiv Nr.1
(Berlin), Otto Steidle (München), Baufrösche (Kassel), Herman Hertzberger (Amsterstam), Olivgren (Stockholm) Roland
Rainer (Wien)
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Baller meets Hertzberger: Die unterschiedlichen
Handschriften und die daraus entstandene, besondere
Dynamik lässt sich auch als Zeugnis einer einmaligen
Arbeitssituation lesen
Der gemeinsam entwickelte Bebauungsplan sah entlang der Hauptstraße einen
schlangenartig geschwungenen Geschosswohnungsbau („Schlange“) vor. Südlich
davon zur Dönche hin wurde diese durch die um die sogenannten „Cluster“ ergänzt:
verdichtete Einfamilien- und Reihenhäuser, die den Straßenraum zur Schlange und
zum Naturschutzgebiet abrunden sollten und die durch die damals viel diskutierten
Woonerfen erschlossen wurden. Der Begriff kam aus den Niederlanden und bezeichnete das Prinzip, Wohngebiete durch verkehrsberuhigte Spielstraßen menschenfreundlicher zu machen.
Laut Wilkens erlauben solche kleinteiligen Strukturen eine bessere Aneignung durch
die Bewohnerschaft als Wohnungen im Mehrgeschossbau. Und längst spielen in den
Woonerfen die Enkelkinder der Erstbezieher. Die inzwischen mehrfach erneuerten
Anstriche der Holzfassaden hinter üppig bepflanzten Vorgärten leuchten in einer
Palette an Blautönen und erzeugen damit eine fast bullerbümäßige Wohnidylle. „Die
etablierten Architekten waren uns zu unkonventionell“ gesteht der Architekt, „deren
Wohnschlange hatte kein Vorne und kein Hinten.“
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Blick in das von Hertzberger entworfene, gemeinsame Treppenhaus zwischen den Gebäuden von Hertzberger und den Ballers
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Obwohl sie damals das jüngste der beteiligten Büros waren, ergänzten die Baufrösche die urbane Vielfalt an der Dönche durch eine vergleichsweise gewöhnliche
Bebauung aus Reihenhäusern. Neben den Baufröschen entschieden sich auch der
Wiener Roland Rainer und der schwedische Architekt Johann Olivegren dazu, ausschließlich im „Cluster“-Teil zu bauen. Von den anderen Architekten wurden nur die
Reihenhäuser von Otto Steidle umgesetzt. Die Entwürfe von Hilmer und Sattler, von
Hertzberger, Patschan Werner Winking und den Ballers blieben unrealisiert. Später
entwickelten die Baufrösche in Eigenregie nach dem Modell Baugruppe weitere
besondere Reihenhaustypen. In einem von ihnen wohnt Wilkens zusammen mit seiner
Frau bis heute.
Die drei- bis viergeschossige, sich windende Häuserzeile ist das eigentliche Highlight
der Bebauung „Schöne Aussicht“ – wie die Neue Heimat den Bereich nannte. „Eigentlich sollte hier gegenüber der Fünfzigerjahre-Mustersiedlung Helleböhn ein strenger
Wohnriegel entstehen“, erinnert sich Inken Baller beim Besuch des Kasseler Projekts.
Gemeinsam mit ihrem damaligen Mann Hinrich Baller entwarf die Berliner Architektin
die markanten, von Pilzstützen getragenen Torbauten mit einem Luftgeschoss in der
Erdgeschosszone: Sie unterbrechen die Wohnschlange, wahren gleichzeitig aber die
Kontinuität der Häuserreihe. Den Bewohnern der Helleböhn-Siedlung sollte so der
Blick auf die Dönche erhalten bleiben.
Neben den Ballers wirkten Herman Hertzberger, die Hamburger Architekten Patschan
Werner Winking, das Berliner Planungskollektiv Nr.1 sowie Otto Steidle und Hillmer
Sattler an der Gestaltung des geschwungenen Baukörpers mit. Die unterschiedlichen
Handschriften und die daraus entstandene, besondere Dynamik lässt sich auch als
Zeugnis einer einmaligen Arbeitssituation lesen: „Die Architektur ist durch die Zusammenarbeit sehr bereichert worden,“ stellt Baller fest, die in späteren Projekten etwa
im Rahmen der IBA 84 in Berlin mit dem Amsterdamer Architekten kooperierte. „Mit
Otto Steidle und Herman Hertzberger sind lebenslange Freundschaften entstanden.“
Hinrich und Inken Baller koordinierten mit ihrem gemeinsamen Büro auch den Bau der
langen Häuserreihe.
Südseite der Wohnschlange: Raimund Harms, ein Schüler des
einflussreichen Landschaftsarchitekten Hermann Mattern, gestaltete
die Gartenanlage und die organisch geformten Verkehrswege
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Hermann Hertzbergers Wohnbalkone bieten genügend Raum als Essplatz für die gesamte Familie
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Links: Die beiden von Pilzstützen getragenen
Baller-Bauten mit ihren ebenerdigen Luftgeschossen
bilden ein Tor zur Dönche; rechts: Übergang Baller /
Hertzberger
Das Miteinander statt Neben- oder Gegeneinander zeigt sich im Schlangenbau etwa
da, wo Baller und Baller auf Hertzberger treffen: Während die beiden Berliner ihre geschwungenen Laubengänge in dem von Hertzberger verwendeten, rauen Betonstein
realisierten, übernahm der Amsterdamer in seinen an die Torbauten anschließenden
Wohnbauten mit dem gewölbten Dachgeschoss ihre Gestaltung. Beide Abschnitte
verbindet ein gemeinsames, von Hertzberger entworfenes Treppenhaus.
In räumlichen Situationen wie dieser wird das Konzept der durchgängig verbundenen
Schlange sichtbar: Von Kopf bis Ende sollten sich die Anwohner den geschwun-
genen Bau über Treppenhäuser, Lichthöfe und bepflanzte Dachgärten erschließen
und Kinder in den Nischen spielen können. Besonders in Otto Steidles von massiven
Betonsäulen geprägten, vertikal betontem Abschnitt werden die entlang der Fassade
über Splitlevel führenden Erschließungsgänge sichtbar. Über die Fassadengestaltung
hinaus finden sich besonders im Inneren vielfältig strukturierte Wohnräume: Kleinwohnungen bei den Ballers wechseln sich ab mit Familienwohnungen bei Hertzberger, mit
fließenden Räumen bei Steidle und den um ein zentrales Oktongon axial und diagonal
organisierten Grundrissen von Hillmer und Sattler.
Unterschiedlichste Raumsituationen
eröffnen sich unter dem hölzernen Tonnendach der Baller-Wohnungen. Die
Erstbewohner hatten immer mal wieder
überlegt wegzuziehen, aber jegliche
Alternativen erschienen im Vergleich
architektonisch uninteressant
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Bewohnbare Verkehrsflächen und großzügige Gemeinschaftseinrichtungen, also
räumliche Konzeptionen, die Berliner Baugruppen aktuell wieder gerne als Besonderheiten ihrer Wohnkonzepte hervorheben, prägen die Wohnschlange. Auch mehr als
30 Jahre nach Fertigstellung gelangen selbst zufällige Besucher noch über die mit
Blumentöpfen besetzten Treppenstufen bis auf die Dachterrasse mit Kaninchenstall.
Alles ist offen, niemand ist argwöhnischen Blicken ausgesetzt, und niemand spürt die
Notwendigkeit, sich abzugrenzen. Ein Indoor-Basketball-Korb schimmert durch die
Verglasung eines Gemeinschaftsraumes im Steidle-Bau, Korbsesselgruppen stehen
auf den Absätzen der Aufgänge, und die von Architektenhand entworfene Flurlampe
leuchtet über einer in Beton eingelassenen Sitzgruppe in Hertzbergers Treppenhaus.
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„Flexibles Wohnen und gemeinschaftliche Räume werden derzeit als neu diskutiert, dabei sind sie es nicht, man muss sich nur mal die alten Sachen anschauen,“
wundert sich Inken Baller, selbst ein wenig erstaunt über die heutige Aktualität und
Aussagekraft ihres Projektes. Den Detailreichtum und die verschiedenen Eingangssituationen sieht die 74-jährige, emeritierte Professorin noch heute als herausragende
Qualitäten, die man im aktuellen, durchrationalisierten Wohnungsbau nicht mehr finde.
„Häuser sind mehr als Türen mit Klingelanlage“, stellt sie fest. Ein wichtiges Thema
sei damals gewesen, die Bewohner des Mehrgeschossbaus mit privatem Freiraum
zu versorgen und ihnen zu ermöglichen, statt durch einen langen Hausflur direkt von
draußen in die Wohnung einzutreten.
Zur Bauzeit gab es jedoch auch kritische Stimmen, parallel zur Realisierung der
documenta urbana fand als Reaktion auf die unstädtische Lage des Projekts – vier
Kilometer außerhalb des Stadtzentrums – ein Aktionsprogramm der Kasseler Hochschullehrer Lucius Burkhardt und Vladimir Nikolic statt. Sie thematisierten die kaputte,
unvollständig wiederaufgebaute Stadt Kassel als Problem und luden Architekten und
Künstler ein, sich mit den von ihnen identifizierten Missständen auseinanderzusetzen.
Als Konkurrenzprojekt sei das jedoch nie begriffen worden, Baller und Wilkens selbst
sprechen von der „Schönen Aussicht“ als „verdichtetem Wohnbau, wenn auch an der
falschen Stelle“.
Es sind Mieter, die gute Architektur zu schätzen wissen und auch heute noch hier
wohnen, obwohl sich die Preise längst nicht mehr auf Sozialniveau befinden. Etwa
im Haus Nummer 12 in der nach Landschaftsgestalter Hermann Mattern benannten
Wohnschlangenstraße. Raimund Harms, ein Schüler des einflussreichen Landschafts-
architekten, gestaltete die heute zugewachsene Gartenanlage und die organisch
geformten Verkehrswege. In der Dachwohnung in einem der Baller‘schen Torhäuser
wohnt das Ehepaar Heusinger von Waldegge. Die passionierten Jäger mit ihren zwei
Terriern haben immer mal wieder überlegt, auszuziehen, aber jegliche Alternativen
erschienen architektonisch uninteressant – wenig liebevolle Gestaltung und durchweg
niedrige Decken seien ihnen auf der Suche begegnet. Bis heute sind sie begeisterte
Nutzer ihrer Dachgeschosswohnung, unter deren gewölbter Holzdecke Raumvaria-
tionen vom höhlenhaften Rückzugsort bis zum doppelgeschossigen Galerieraum Platz
finden. Von der Dachterrasse der einstigen Pilgerstätte für Architekturtouristen aus
können die Mieter sogar die Fasane auf der Dönche beobachten.
Wer den Anblick der edlen Vögel mit einer gewissen Exklusivität verbindet, liegt nicht
ganz falsch – so zumindest lässt sich Hans Eichels heutige Analyse des Projekts
interpretieren: „Wenn man ehrlich ist, muss man sagen, dass die soziale Mischung nur
begrenzt gelungen ist: Anwälte, Lehrer, Sozialarbeiter sind hingezogen, aber das Thema soziale Mischung ist vor dem Hintergrund, dass beispielhafte Architektur geschaffen wurde, etwas vernachlässigt worden.“ Das mag vielleicht ernüchtert klingen, aber
es öffnet doch zugleich auch eine Perspektive für den Wohnungsbau der Gegenwart.
Während in gestalterischer und typologischer Hinsicht dieses jahrzehntealte Projekt
noch immer Vorbildcharakter hat, fordert es zugleich dazu auf, sich mit den ungelösten
sozialen Fragen auf neue Weise zu beschäftigen. Und das ist gut so, denn schließlich
muss jede Generation selbst definieren, wie sich ein vielfältiges Zusammenleben organisieren lässt. Als Quelle der Inspiration sollte ein Besuch an der Dönche im aktuellen documenta-Jahr aber in jedem Fall wieder ganz oben auf der Liste stehen.
Alle Fotos dieses Dossiers von Marc Timo Berg
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Blick in die Dönche
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NO MORE LEARNING FROM LAS VEGAS
TEXTE UND INTERVIEWS VON WERNER SEWING
LUISE RELLENSMANN
Vor rund fünf Jahren verstarb der
Architektursoziologe Werner Sewing
im Alter von nur 60 Jahren. Nun ist
ein Buch mit Texten von ihm erschienen, mit dem die Herausgeber seine
bekannte Aufsatzsammlung „Bildregie“
ergänzen. „No more learning from Las
Vegas“ lautet der etwas irreführende
Titel der bei Spector Books erschienen Publikation. In der von Sewings
ehemaligem Hochschul-Mitarbeiter
Florian Dreher und der Stuttgarter
Stadtsoziologin Christine Hannemann
herausgegebenen Textanthologie fehlt
nämlich der gleichnamige Aufsatz,
den der stets pointierte Kritiker von
Baupolitik und Architekturwelt 2002
in der Arch+ veröffentlicht hatte.
Deutlich wird aber trotzdem auf jeder
Seite, was für ein Vergnügen es war,
dem Architektursoziologen zuzuhören. Ohne Plattitüden und jenseits des
branchenübliche Geschwurbels geht es
hier zur Sache – Architektur und Stadt
sind bei Sewing nie Mysterien, sondern
werden mit großer Leichtigkeit als Teil
der gesellschaftlichen und politischen
Verhältnisse analysiert.
In dem 350 Seiten starken Reader
versammeln Dreher und Hannemann
Interviews und Aufsätze, die zwischen
1998 und 2010 erschienen sind. Die
Ordnung folgt den Schlagworten
Stadt, Wohnen und Themenpark, die
sich auch im Untertitel des Buches
wiederfinden. Ein eigenes Kapitel ist
dabei Sewings Engagement in Berlins
erster Bürgerinitiative gewidmet. Die
„Projektgruppe Winterfeldtplatz“ setzte
sich in den Achtzigerjahren gegen die
Senatsentscheidung zur Randbebauung
der Schöneberger Platzanlage durch.
Als kritischer Begleiter – der unweit
vom Geschehen sein Zuhause hatte –
dokumentierte und archivierte Sewing
die Debatte vom kleinsten Zeitungsschnipsel über eigene Skizzen bis hin zu
Protokollen des BDA.
Die Architekten, die in dem Streit
zwischen Bürgern und Planern damals
eine wichtige Rolle spielten, waren
Hinrich und Inken Baller sowie Klaus
Theo Brenner und Benedict Tonon.
Letztere hatten mit einem Entwurf zur
Vervollständigung des Blockrands 1983
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einen Wettbewerb zur Bebauung der
östlichen, kriegszerstörten Platzseite
gewonnen. Im Auftrag der Bürgerbewegung zeigten die Ballers anhand eines
eigenen Projekts einen alternativen Umgang mit der fragmentierten Stadt auf.
Damit kippte allerdings das Wettbewerbsergebnis, und kritische Stimmen
wurden laut. Als „banal“ und „pseudoromantisch“ beschimpften Brenner und
Tonon die Baller‘sche Gegenvision zur
strengen steinernen Kante. Die Bürgerinitiative konnte sich aber durchsetzen,
und an der Gleditschstraße wurde
schließlich das Projekt der Ballers realisiert. Die Auszüge aus Sewings Archiv
bilden die Debatte ab und sind Zeugnis
dafür, wie er als Stadtaktivist ins Berliner Planungsgeschehen eingriff.
Deutlich wird dabei, dass Sewings
scharfsinnige Thesen und Texte ihre
eigene Geschichte haben, von der
wiederum einige seiner Wegbegleiter
in ergänzenden Artikeln erzählen.
Gemeinsam mit ihrem Büropartner
Richard Manahl setzt sich beispielsweise die Wiener Architektin Bettina Götz
in ihrem Aufsatz kritisch mit wohnpolitischen Fragen auseinander und leitet
damit in eine Reihe von Interviews ein.
Diese hatte Sewing anlässlich des von
Götz kuratierten, österreichischen Beitrags zu 11. Architekturbiennale 2008
mit Architekten wie Roger Riewe oder
den Gebrüdern Marte geführt.
Mit ihrer gelungenen Auswahl diskursbestimmender Texte haben die Heraus-
geber Florian Dreher und Christine
Hannemann einen Reader erarbeitet,
der auch über den Zeitgeist der hier
abgebildeten Debatten hinaus für die
Gegenwart relevant ist – und der einen
immer wieder daran erinnert, wie klar
und präzise man das Architekturgeschehen eben auch beschreiben kann.
Werner Sewing
No more learning from Las Vegas.
Stadt, Wohnen oder Themenpark?
Herausgegeben von Florian Dreher
und Christine Hannemann
Spector Books
Leipzig, 2016
Hardcover, 368 Seiten
32 Euro
www.spectorbooks.com
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FLUIDE PANORAMEN
Als Maler war Karl Wilhelm Diefenbach durchaus umstritten, aber sein Beitrag als „Urvater der Alternativbewegungen“ ist unbestritten – ebenso wie seine Liebe zur felsigen
italienischen Insel Capri. Der Fotograf Francesco Jodice nähert sich mit seinen „Diefenbach Chronicles” dem mythischen Felseneiland vor Neapel und zeigt es in betörend
märchenhaften Aufnahmen. Die Bilder sind demnächst im Fotomuseum Winterthur in einer großen internationalen Retrospektive zu sehen. // Foto: Francesco Jodice, Capri,
The Diefenbach Chronicles, #003, 2013 // www.fotomuseum.ch