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Documenta Urbana 1982: Wohn-Vorbilder für mehr Vielfalt

Full text: Baunetzwoche (Rights reserved) Ausgabe 480.2017 Documenta Urbana 1982: Wohn-Vorbilder für mehr Vielfalt (Rights reserved)

Das Querformat für Architekten DOCUMENTA URBANA 1982 WOHN-VORBILDER FÜR MEHR VIELFALT 480 2. Februar 2017 R E N G WE R N I SEW ning r a e l ore as No m Las Veg f ro m 480 Bild der Woche DIESE WOCHE Tipp Buch Bewohnbare Treppenhäuser, komplexe Grundrisse und begrünte Dachterrassen – auf die Monotonie des modernen Massenwohnungsbaus antworteten 1982 in Kassel neun junge Büros mit revolutionären Ideen. Noch immer gilt die documenta urbana, die Teil der großen Kunstschau war, als vorbildhafte soziale Architektur – nicht zuletzt, weil hier im gemeinnützigen Wohnungsbau eine Qualität entstand, die bis heute ihresgleichen sucht. Dossier 6 Architekturwoche 2 News Documenta Urbana 1982 Wohn-Vorbilder für mehr Vielfalt 3 Architekturwoche 4 News Von Luise Rellensmann 19 Buch 21 Bild der Woche Titel: Blick auf die Fassade der „Schlange“, dem eigentlichen Highlight der documenta urbana oben: Ebenerdiges Luftgeschoss der Häuser von Inken und Hinrich Baller mit Durchblick und Durchgang Inhalt Alle Fotos des Dossiers: Marc Timo Berg // www.marctimoberg.de Diese Ausgabe wurde ermöglicht durch: n mit pa sse et ter. r e v gabe e-Newsl h e Au s K e i n u n e t z w o c ie r e n ! n a n B o b m a de Jetzt News Dossier Tipp Buch Bild der Woche 480 Architekturwoche 3 MONTAG Inhalt Foto: Bruce Makowsky/ BAM Luxury Development Jede Zeit hat die Architektur, die sie verdient – in Potsdam ebenso wie in Bel Air. Während man aber Hasso Plattner bei seinem Museum Barberini ein gewisses Gespür für Ästhetik nicht absprechen kann, beeindruckt der jüngste amerikanische Milliardärs­ trend allein durch protzige Hässlichkeit: Voll ausgestattete Monstervillen, die ob ihrer Größe allerdings wirken, wie neureiche Einfamilienhäuser auf engen Vorortgrundstück­ en. Der Trend geht zurück auf den Developer Bruce Makowsky, der laut Guardian vor einigen Jahren eine wichtige Erkenntnis hatte: „Superreiche bezahlen für ihre Yachten oft mehr als für ihre Häuser.“ Mit seinem kürzlich fertiggestellten Vorhaben 924 Bel Air Road möchte er dies jetzt ändern – Kostenpunkt: 250 Millionen Dollar. Die Auto­ sammlung und der Hubschrauber sind aber immerhin im Kaufpreis enthalten, was nun schon fast wieder nach Schnäppchen klingt. // sb 480 RUHRGEBIETSLANDSCHAFTEN AUSSTELLUNG IN MÜNCHEN BRUTALIST PLAYGROUND ELBPHILHARMONIE REVISITED AUSSTELLUNG IN HAMBURG STAMPFLEHM IM ZICK-ZACK SPIELEN IN WEIL AM RHEIN Foto: Albert Renger-Patzsch Foto: Alun Bull / RIBA Kanalphilharmonie, Foto: Baltic Raw Org Foto: Edward Birch Ein frühes Zeugnis der zersiedelten Stadtlandschaft: In den Jahren 1927 bis 1935 nahm Albert Renger-Patzsch, einer der wichtigsten Fotografen der Neuen Sachlichkeit, im Ruhrgebiet Stadtrandund Haldenlandschaften, Hinterhöfe und Vorstadthäuser, Schrebergärten und Zechenanlagen auf. Mit ihrer zurückhaltenden Emotionalität und kompositionellen Klarheit markieren die Aufnahmen eine signifikante Position im künstlerischen Genre der Landschaftsdarstellung, die zugleich eine Dokumentation der Modernisierungsprozesse ist. Die Pinakothek der Moderne in München zeigt diese Werkgruppe nun erstmalig in einer Ausstellung. Noch bis 23. April 2017 Die Brutalist Playgrounds des Londoner Kollektivs assemble sind schlicht genial. Zusammen mit dem Künstler Simon Terrill formen sie aus Schaumgummi jene Spielstrukturen nach, die, ursprünglich aus Beton, viele der brutalistischen Wohnprojekte Großbritanniens zierten. Die meisten dieser Anlagen sind heute verschwunden, aber dank des Archivs der RIBA ließen sich einige noch rekonstruierten. Das Vitra Design Museum bringt das Projekt nun auf den Kontinent. Seit Januar stehen in Weil am Rhein die begehbaren Skulpturen zum Spielen bereit – für Kinder und Erwachsene, die einen neuen Blick auf den Brutalismus werfen möchten. Bis zum 16. April 2017 Der Titel der Ausstellung klingt, als stünde die Elbphilharmonie schon ewig – und man schaue nun, nach langer Zeit, was aus dem Gebäude geworden ist. Eigentlich müsste es allerdings Pre­ visited heißen, denn in den Deichtorhallen wird Kunst zu sehen sein, die sich „von der mehrmonatigen Testphase des Gebäudes künstlerisch inspirieren ließ“. Das Projekt glänzt dabei mit großen Namen: Candida Höfer, Monica Bonvicini oder Tomás Saraceno sind mit von der Partie. Auftragskunst auf höchstem Niveau? Zumindest die Kanalphilharmonie des Kollektivs Baltic Raw verspricht etwas Aufregung – schließlich ist sie als Elphies subversive kleine Schwester bekannt. Bis zum 1. Mai 2017 Zwölf Apartments in der australischen Pilbara Region fügen sich dank einer 230 Meter langen, mäandrierenden Stampflehmwand wie selbstverständlich in die Landschaft. Denn diese ist aus dem eisenhaltigen Lehmboden des Baugrunds errichtet, der mit Kies aus einem nahen Fluss vermischt wurde. Luigi Rosselli Architects aus Sydney planten The Great Wall, eine temporäre Unterkunft für die Mitarbeiter einer Rinder­ zuchtstation. Neben dem örtlichen Baumaterial nutzten sie eine natürliche Erhebung und schoben die Wohnräume ins Erdreich. So wirkt die thermische Trägheit der Materialien den teilweise extremen Temperaturunterschieden zwischen Tag und Nacht entgegen. www.pinakothek.de www.design-museum.de www.deichtorhallen.de www.baunetzwissen.de/flachdach OBJEKT IM BAUNETZ WISSEN Inhalt Architekturwoche 4 News Dossier Tipp Buch Bild der Woche NEWS Bild der Woche Durch eine vereinfachte Abstimmung mit in- und externen Projektbeteiligten. • Vergleichen Sie digitale Dokumentenversionen mit einem Klick. • Öffnen und kommentieren Sie Dateiformate nicht installierter Programme. • Teilen Sie Anpassungen mit internen und externen Teammitgliedern in Sekundenschnelle. • Dokumentieren Sie den Designprozess automatisch. Für eine lückenlose Nachverfolgung. Inhalt Architekturwoche 5 News Dossier Tipp Mehr Zeit für Design. Buch 480 Konzentrieren Sie sich auf das Design. Newforma übernimmt alles andere für Sie. Jetzt kostenloses Whitepaper herunterladen! Tel. +49 (0)89 248 802 22 info@newforma.com www.newforma.de Architekturwoche 6 News Dossier Tipp Buch DOCUMENTA URBANA 1982 Hermann Hertzbergers Treppenhaus mit vom Architekten entworfener Lampe. Es dient auch zur Erschließung der Baller-Wohnungen Inhalt Bild der Woche 480 DOCUMENTA URBANA 1982 WOHN-VORBILDER FÜR MEHR VIELFALT VON LUISE RELLENSMANN FOTOS VON MARC TIMO BERG Bewohnbare Treppenhäuser, Gemeinschaftsräume, begrünte Dachterrassen und vielfältige Wohnstrukturen – was heute innerhalb privater Berliner Bauherrenkooperativen realisiert wird, wurde 1982 in Kassel als soziale Architektur vorweggenommen. Inhalt Architekturwoche 7 News Dossier Tipp Buch Bild der Woche 480 Bewohnbare Treppenhäuser: Auch mehr als dreißig Jahre nach Fertigstellung werden die offenen Flure genutzt wie hier im Schlangenkopfbau von Otto Steidle 480 Inhalt Architekturwoche 8 News Dossier Tipp Buch Bild der Woche Links: Eine offene Treppe in Form eines Laubengangs verbindet die Wohnungen von Otto Steidle; rechts: Kopfbau der „Schlange“ von den Architekten Hilmer & Sattler In den Achtziger- und Neunzigerjahren pilgerten Architekturtouristen in den Südwesten von Kassel an den Rand des heutigen Naturschutzgebietes Dönche. Ihr Ziel: Ein richtungsweisendes Wohnprojekt, das die Wohnungsbaugesellschaft „Neue Heimat“ mit insgesamt neun beteiligten Architekturbüros als Beitrag zu documenta 7 im Jahr 1982 realisierte. Mit dabei waren unter anderem Hinrich und Inken Baller (Berlin), Otto Steidle (München), Hermann Hertzberger (Amsterdam), die Baufrösche (Kassel) und Roland Rainer (Wien). Sie verwandelten mit der documenta urbana einen ehemaligen, an einer Müllkippe gelegenen Truppenübungsplatz in eine Wohnidylle. Rund 35 Jahre später ist der Strom an interessierten Architekturbesuchern abgerissen, die modellhafte Wohnbebauung der Achtzigerjahre ist inzwischen merklich gealtert. Doch in Zeiten großer Veränderungen auf dem Wohnungsmarkt lohnt sich ein Rückblick auf ihre Konzeption und Geschichte. Inhalt Architekturwoche 9 News Dossier Tipp Buch Bild der Woche 480 Markante Betonsäulen, offenen Treppenhäuser und helle, belebte Gemeinschaftsräume im Erdgeschoss prägen die Fassade des Steidle-Baus 480 Buch Bild der Woche Idylle an der Woonerf: Dem damals jüngsten Büro, den Baufröschen, war die Architektur der „Schlange“ zu unkonventionell, sie ergänzten das Projekt mit Reihenhäusern entlang verkehrsberuhigter Spielstraßen Inhalt Architekturwoche 10 News Dossier Tipp Wettbewerb eingeladen waren, erpressten die damals angeschlagene Wohnungsbaugesellschaft, die mit dem Projekt ihr Image aufpolieren wollte. „Es fand ein Kolloquium statt, bei dem uns die geladenen Architekten eröffneten, dass sie das Projekt gemeinsam planen wollten. Die Beteiligung vieler Architekten und die Mischung von Bauformen und Wohnungsstrukturen entsprach der Idee der sozialen Mischung,“ erinnert sich Hans Eichel im Telefongespräch. Der ehemalige Bundesfinanzminister, Sohn eines Architekten und seinerzeit Oberbürgermeister in Kassel galt als treibende Kraft hinter der documenta urbana. Name wie Ansatz des Projekts gehen auf den documenta-Gründer Arnold Bode zurück, der sich unter einer documenta urbana eine bauliche Verankerung der alle fünf Jahre in Kassel stattfindenden, internationalen Ausstellung in Form von außergewöhnlichen Architekturvorhaben und Kunst am Bau vorstellte. Ersteres wurde mit dem 1982 fertiggestellten Projekt demonstriert. Es entstand ein städtisches, verdichtetes Wohnen im Grünen, das Familien eine Alternative zum Einfamilienhaus auf dem Lande bot und dem damals aufkommenden Gedanken des „freizeitgerechten“ Wohnens entsprach. Beispielhaft für die Architektur des Jahrzehnts wurde als Reaktion auf den monostrukturellen Massenwohnungsbau der Sechziger- und Siebzigerjahre ein breites Spektrum an Wohnformen geschaffen. Wie kam es zum Kollektivprojekt, bei dem neun Büros miteinander kooperierten? „Wir sollten alle einzeln antreten und sind stattdessen gemeinsam eingefallen“, erinnert sich Mike Wilkens, Mitbegründer der Baufrösche, bei Kaffee und Blechkuchen im Garten seines an die Versuchswohnbebauung angrenzenden Reihenhauses. Die neun Architektenteams1, die von der Neuen Heimat eigentlich zu einem konkurrierenden Statt einer konkurrierenden Entwurfsarbeit entstand ein Gemeinschaftsprojekt, was im Rahmen des Gutachterverfahrens nicht zuletzt aufgrund der starken Position möglich war, die die Architekten den Bauherren und Initiatoren gegenüber innehatten. Das kam besonders am Anfang den Baufröschen zu Gute: Das Büro des heute emeritierten Professors der Universität Kassel, Mike Wilkens, ist gewissermaßen ein Nebenprodukt der documenta urbana. „Die etablierten Architekten haben uns gerettet – entweder alle oder keiner “ – noch heute klingt Begeisterung in Wilkens Stimme. Dass er mit seiner studentischen Arbeitsgruppe Stadt/Bau als eingeladener Hochschulvertreter trotz des abgeschafften Wettbewerbs Teil des Kollektivs der Planer blieb, verdankt er den anderen Büros, die damals geschlossen für die jungen Kollegen einstanden. Dann musste nur noch ein Name her, „Frösche – das klang ein bisschen verrückt, grün und nach igitt“. 1 Inken und Hinrich Baller (Berlin), Hillmer und Sattler (München), Patschan Werner Winking, Planungskollektiv Nr.1 (Berlin), Otto Steidle (München), Baufrösche (Kassel), Herman Hertzberger (Amsterstam), Olivgren (Stockholm) Roland Rainer (Wien) 480 Inhalt Architekturwoche 11 News Dossier Tipp Buch Bild der Woche Baller meets Hertzberger: Die unterschiedlichen Handschriften und die daraus entstandene, besondere Dynamik lässt sich auch als Zeugnis einer einmaligen Arbeitssituation lesen Der gemeinsam entwickelte Bebauungsplan sah entlang der Hauptstraße einen schlangenartig geschwungenen Geschosswohnungsbau („Schlange“) vor. Südlich davon zur Dönche hin wurde diese durch die um die sogenannten „Cluster“ ergänzt: verdichtete Einfamilien- und Reihenhäuser, die den Straßenraum zur Schlange und zum Naturschutzgebiet abrunden sollten und die durch die damals viel diskutierten Woonerfen erschlossen wurden. Der Begriff kam aus den Niederlanden und bezeichnete das Prinzip, Wohngebiete durch verkehrsberuhigte Spielstraßen menschenfreundlicher zu machen. Laut Wilkens erlauben solche kleinteiligen Strukturen eine bessere Aneignung durch die Bewohnerschaft als Wohnungen im Mehrgeschossbau. Und längst spielen in den Woonerfen die Enkelkinder der Erstbezieher. Die inzwischen mehrfach erneuerten Anstriche der Holzfassaden hinter üppig bepflanzten Vorgärten leuchten in einer Palette an Blautönen und erzeugen damit eine fast bullerbümäßige Wohnidylle. „Die etablierten Architekten waren uns zu unkonventionell“ gesteht der Architekt, „deren Wohnschlange hatte kein Vorne und kein Hinten.“ Inhalt Architekturwoche 12 News Dossier Tipp Buch Bild der Woche 480 Blick in das von Hertzberger entworfene, gemeinsame Treppenhaus zwischen den Gebäuden von Hertzberger und den Ballers Inhalt Architekturwoche 13 News Dossier Tipp Buch Bild der Woche 480 Obwohl sie damals das jüngste der beteiligten Büros waren, ergänzten die Baufrösche die urbane Vielfalt an der Dönche durch eine vergleichsweise gewöhnliche Bebauung aus Reihenhäusern. Neben den Baufröschen entschieden sich auch der Wiener Roland Rainer und der schwedische Architekt Johann Olivegren dazu, ausschließlich im „Cluster“-Teil zu bauen. Von den anderen Architekten wurden nur die Reihenhäuser von Otto Steidle umgesetzt. Die Entwürfe von Hilmer und Sattler, von Hertzberger, Patschan Werner Winking und den Ballers blieben unrealisiert. Später entwickelten die Baufrösche in Eigenregie nach dem Modell Baugruppe weitere besondere Reihenhaustypen. In einem von ihnen wohnt Wilkens zusammen mit seiner Frau bis heute. Die drei- bis viergeschossige, sich windende Häuserzeile ist das eigentliche Highlight der Bebauung „Schöne Aussicht“ – wie die Neue Heimat den Bereich nannte. „Eigentlich sollte hier gegenüber der Fünfzigerjahre-Mustersiedlung Helleböhn ein strenger Wohnriegel entstehen“, erinnert sich Inken Baller beim Besuch des Kasseler Projekts. Gemeinsam mit ihrem damaligen Mann Hinrich Baller entwarf die Berliner Architektin die markanten, von Pilzstützen getragenen Torbauten mit einem Luftgeschoss in der Erdgeschosszone: Sie unterbrechen die Wohnschlange, wahren gleichzeitig aber die Kontinuität der Häuserreihe. Den Bewohnern der Helleböhn-Siedlung sollte so der Blick auf die Dönche erhalten bleiben. Neben den Ballers wirkten Herman Hertzberger, die Hamburger Architekten Patschan Werner Winking, das Berliner Planungskollektiv Nr.1 sowie Otto Steidle und Hillmer Sattler an der Gestaltung des geschwungenen Baukörpers mit. Die unterschiedlichen Handschriften und die daraus entstandene, besondere Dynamik lässt sich auch als Zeugnis einer einmaligen Arbeitssituation lesen: „Die Architektur ist durch die Zusammenarbeit sehr bereichert worden,“ stellt Baller fest, die in späteren Projekten etwa im Rahmen der IBA 84 in Berlin mit dem Amsterdamer Architekten kooperierte. „Mit Otto Steidle und Herman Hertzberger sind lebenslange Freundschaften entstanden.“ Hinrich und Inken Baller koordinierten mit ihrem gemeinsamen Büro auch den Bau der langen Häuserreihe. Südseite der Wohnschlange: Raimund Harms, ein Schüler des einflussreichen Landschaftsarchitekten Hermann Mattern, gestaltete die Gartenanlage und die organisch geformten Verkehrswege Inhalt Architekturwoche 14 News Dossier Tipp Buch Bild der Woche 480 Hermann Hertzbergers Wohnbalkone bieten genügend Raum als Essplatz für die gesamte Familie 480 Inhalt Architekturwoche 15 News Dossier Tipp Buch Bild der Woche Links: Die beiden von Pilzstützen getragenen Baller-Bauten mit ihren ebenerdigen Luftgeschossen bilden ein Tor zur Dönche; rechts: Übergang Baller / Hertzberger Das Miteinander statt Neben- oder Gegeneinander zeigt sich im Schlangenbau etwa da, wo Baller und Baller auf Hertzberger treffen: Während die beiden Berliner ihre geschwungenen Laubengänge in dem von Hertzberger verwendeten, rauen Betonstein realisierten, übernahm der Amsterdamer in seinen an die Torbauten anschließenden Wohnbauten mit dem gewölbten Dachgeschoss ihre Gestaltung. Beide Abschnitte verbindet ein gemeinsames, von Hertzberger entworfenes Treppenhaus. In räumlichen Situationen wie dieser wird das Konzept der durchgängig verbundenen Schlange sichtbar: Von Kopf bis Ende sollten sich die Anwohner den geschwun- genen Bau über Treppenhäuser, Lichthöfe und bepflanzte Dachgärten erschließen und Kinder in den Nischen spielen können. Besonders in Otto Steidles von massiven Betonsäulen geprägten, vertikal betontem Abschnitt werden die entlang der Fassade über Splitlevel führenden Erschließungsgänge sichtbar. Über die Fassadengestaltung hinaus finden sich besonders im Inneren vielfältig strukturierte Wohnräume: Kleinwohnungen bei den Ballers wechseln sich ab mit Familienwohnungen bei Hertzberger, mit fließenden Räumen bei Steidle und den um ein zentrales Oktongon axial und diagonal organisierten Grundrissen von Hillmer und Sattler. Unterschiedlichste Raumsituationen eröffnen sich unter dem hölzernen Tonnendach der Baller-Wohnungen. Die Erstbewohner hatten immer mal wieder überlegt wegzuziehen, aber jegliche Alternativen erschienen im Vergleich architektonisch uninteressant Inhalt Architekturwoche 16 News Dossier Tipp Buch Bild der Woche 480 Bewohnbare Verkehrsflächen und großzügige Gemeinschaftseinrichtungen, also räumliche Konzeptionen, die Berliner Baugruppen aktuell wieder gerne als Besonderheiten ihrer Wohnkonzepte hervorheben, prägen die Wohnschlange. Auch mehr als 30 Jahre nach Fertigstellung gelangen selbst zufällige Besucher noch über die mit Blumentöpfen besetzten Treppenstufen bis auf die Dachterrasse mit Kaninchenstall. Alles ist offen, niemand ist argwöhnischen Blicken ausgesetzt, und niemand spürt die Notwendigkeit, sich abzugrenzen. Ein Indoor-Basketball-Korb schimmert durch die Verglasung eines Gemeinschaftsraumes im Steidle-Bau, Korbsesselgruppen stehen auf den Absätzen der Aufgänge, und die von Architektenhand entworfene Flurlampe leuchtet über einer in Beton eingelassenen Sitzgruppe in Hertzbergers Treppenhaus. Inhalt Architekturwoche 17 News Dossier Tipp Buch Bild der Woche 480 „Flexibles Wohnen und gemeinschaftliche Räume werden derzeit als neu diskutiert, dabei sind sie es nicht, man muss sich nur mal die alten Sachen anschauen,“ wundert sich Inken Baller, selbst ein wenig erstaunt über die heutige Aktualität und Aussagekraft ihres Projektes. Den Detailreichtum und die verschiedenen Eingangssituationen sieht die 74-jährige, emeritierte Professorin noch heute als herausragende Qualitäten, die man im aktuellen, durchrationalisierten Wohnungsbau nicht mehr finde. „Häuser sind mehr als Türen mit Klingelanlage“, stellt sie fest. Ein wichtiges Thema sei damals gewesen, die Bewohner des Mehrgeschossbaus mit privatem Freiraum zu versorgen und ihnen zu ermöglichen, statt durch einen langen Hausflur direkt von draußen in die Wohnung einzutreten. Zur Bauzeit gab es jedoch auch kritische Stimmen, parallel zur Realisierung der documenta urbana fand als Reaktion auf die unstädtische Lage des Projekts – vier Kilometer außerhalb des Stadtzentrums – ein Aktionsprogramm der Kasseler Hochschullehrer Lucius Burkhardt und Vladimir Nikolic statt. Sie thematisierten die kaputte, unvollständig wiederaufgebaute Stadt Kassel als Problem und luden Architekten und Künstler ein, sich mit den von ihnen identifizierten Missständen auseinanderzusetzen. Als Konkurrenzprojekt sei das jedoch nie begriffen worden, Baller und Wilkens selbst sprechen von der „Schönen Aussicht“ als „verdichtetem Wohnbau, wenn auch an der falschen Stelle“. Es sind Mieter, die gute Architektur zu schätzen wissen und auch heute noch hier wohnen, obwohl sich die Preise längst nicht mehr auf Sozialniveau befinden. Etwa im Haus Nummer 12 in der nach Landschaftsgestalter Hermann Mattern benannten Wohnschlangenstraße. Raimund Harms, ein Schüler des einflussreichen Landschafts- architekten, gestaltete die heute zugewachsene Gartenanlage und die organisch geformten Verkehrswege. In der Dachwohnung in einem der Baller‘schen Torhäuser wohnt das Ehepaar Heusinger von Waldegge. Die passionierten Jäger mit ihren zwei Terriern haben immer mal wieder überlegt, auszuziehen, aber jegliche Alternativen erschienen architektonisch uninteressant – wenig liebevolle Gestaltung und durchweg niedrige Decken seien ihnen auf der Suche begegnet. Bis heute sind sie begeisterte Nutzer ihrer Dachgeschosswohnung, unter deren gewölbter Holzdecke Raumvaria- tionen vom höhlenhaften Rückzugsort bis zum doppelgeschossigen Galerieraum Platz finden. Von der Dachterrasse der einstigen Pilgerstätte für Architekturtouristen aus können die Mieter sogar die Fasane auf der Dönche beobachten. Wer den Anblick der edlen Vögel mit einer gewissen Exklusivität verbindet, liegt nicht ganz falsch – so zumindest lässt sich Hans Eichels heutige Analyse des Projekts interpretieren: „Wenn man ehrlich ist, muss man sagen, dass die soziale Mischung nur begrenzt gelungen ist: Anwälte, Lehrer, Sozialarbeiter sind hingezogen, aber das Thema soziale Mischung ist vor dem Hintergrund, dass beispielhafte Architektur geschaffen wurde, etwas vernachlässigt worden.“ Das mag vielleicht ernüchtert klingen, aber es öffnet doch zugleich auch eine Perspektive für den Wohnungsbau der Gegenwart. Während in gestalterischer und typologischer Hinsicht dieses jahrzehntealte Projekt noch immer Vorbildcharakter hat, fordert es zugleich dazu auf, sich mit den ungelösten sozialen Fragen auf neue Weise zu beschäftigen. Und das ist gut so, denn schließlich muss jede Generation selbst definieren, wie sich ein vielfältiges Zusammenleben organisieren lässt. Als Quelle der Inspiration sollte ein Besuch an der Dönche im aktuellen documenta-Jahr aber in jedem Fall wieder ganz oben auf der Liste stehen. Alle Fotos dieses Dossiers von Marc Timo Berg www.marctimoberg.de Inhalt Architekturwoche 18 News Dossier Tipp Buch Bild der Woche 480 Blick in die Dönche Inhalt Architekturwoche 19 News Dossier Tipp Buch Bild der Woche 480 NO MORE LEARNING FROM LAS VEGAS TEXTE UND INTERVIEWS VON WERNER SEWING LUISE RELLENSMANN Vor rund fünf Jahren verstarb der Architektursoziologe Werner Sewing im Alter von nur 60 Jahren. Nun ist ein Buch mit Texten von ihm erschienen, mit dem die Herausgeber seine bekannte Aufsatzsammlung „Bildregie“ ergänzen. „No more learning from Las Vegas“ lautet der etwas irreführende Titel der bei Spector Books erschienen Publikation. In der von Sewings ehemaligem Hochschul-Mitarbeiter Florian Dreher und der Stuttgarter Stadtsoziologin Christine Hannemann herausgegebenen Textanthologie fehlt nämlich der gleichnamige Aufsatz, den der stets pointierte Kritiker von Baupolitik und Architekturwelt 2002 in der Arch+ veröffentlicht hatte. Deutlich wird aber trotzdem auf jeder Seite, was für ein Vergnügen es war, dem Architektursoziologen zuzuhören. Ohne Plattitüden und jenseits des branchenübliche Geschwurbels geht es hier zur Sache – Architektur und Stadt sind bei Sewing nie Mysterien, sondern werden mit großer Leichtigkeit als Teil der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse analysiert. In dem 350 Seiten starken Reader versammeln Dreher und Hannemann Interviews und Aufsätze, die zwischen 1998 und 2010 erschienen sind. Die Ordnung folgt den Schlagworten Stadt, Wohnen und Themenpark, die sich auch im Untertitel des Buches wiederfinden. Ein eigenes Kapitel ist dabei Sewings Engagement in Berlins erster Bürgerinitiative gewidmet. Die „Projektgruppe Winterfeldtplatz“ setzte sich in den Achtzigerjahren gegen die Senatsentscheidung zur Randbebauung der Schöneberger Platzanlage durch. Als kritischer Begleiter – der unweit vom Geschehen sein Zuhause hatte – dokumentierte und archivierte Sewing die Debatte vom kleinsten Zeitungsschnipsel über eigene Skizzen bis hin zu Protokollen des BDA. Die Architekten, die in dem Streit zwischen Bürgern und Planern damals eine wichtige Rolle spielten, waren Hinrich und Inken Baller sowie Klaus Theo Brenner und Benedict Tonon. Letztere hatten mit einem Entwurf zur Vervollständigung des Blockrands 1983 Inhalt Architekturwoche 20 News Dossier Tipp Buch Bild der Woche 480 einen Wettbewerb zur Bebauung der östlichen, kriegszerstörten Platzseite gewonnen. Im Auftrag der Bürgerbewegung zeigten die Ballers anhand eines eigenen Projekts einen alternativen Umgang mit der fragmentierten Stadt auf. Damit kippte allerdings das Wettbewerbsergebnis, und kritische Stimmen wurden laut. Als „banal“ und „pseudoromantisch“ beschimpften Brenner und Tonon die Baller‘sche Gegenvision zur strengen steinernen Kante. Die Bürgerinitiative konnte sich aber durchsetzen, und an der Gleditschstraße wurde schließlich das Projekt der Ballers realisiert. Die Auszüge aus Sewings Archiv bilden die Debatte ab und sind Zeugnis dafür, wie er als Stadtaktivist ins Berliner Planungsgeschehen eingriff. Deutlich wird dabei, dass Sewings scharfsinnige Thesen und Texte ihre eigene Geschichte haben, von der wiederum einige seiner Wegbegleiter in ergänzenden Artikeln erzählen. Gemeinsam mit ihrem Büropartner Richard Manahl setzt sich beispielsweise die Wiener Architektin Bettina Götz in ihrem Aufsatz kritisch mit wohnpolitischen Fragen auseinander und leitet damit in eine Reihe von Interviews ein. Diese hatte Sewing anlässlich des von Götz kuratierten, österreichischen Beitrags zu 11. Architekturbiennale 2008 mit Architekten wie Roger Riewe oder den Gebrüdern Marte geführt. Mit ihrer gelungenen Auswahl diskursbestimmender Texte haben die Heraus- geber Florian Dreher und Christine Hannemann einen Reader erarbeitet, der auch über den Zeitgeist der hier abgebildeten Debatten hinaus für die Gegenwart relevant ist – und der einen immer wieder daran erinnert, wie klar und präzise man das Architekturgeschehen eben auch beschreiben kann. Werner Sewing No more learning from Las Vegas. Stadt, Wohnen oder Themenpark? Herausgegeben von Florian Dreher und Christine Hannemann Spector Books Leipzig, 2016 Hardcover, 368 Seiten 32 Euro www.spectorbooks.com Inhalt Architekturwoche 21 News Dossier Tipp Buch Bild der Woche 480 FLUIDE PANORAMEN Als Maler war Karl Wilhelm Diefenbach durchaus umstritten, aber sein Beitrag als „Urvater der Alternativbewegungen“ ist unbestritten – ebenso wie seine Liebe zur felsigen italienischen Insel Capri. Der Fotograf Francesco Jodice nähert sich mit seinen „Diefenbach Chronicles” dem mythischen Felseneiland vor Neapel und zeigt es in betörend märchenhaften Aufnahmen. Die Bilder sind demnächst im Fotomuseum Winterthur in einer großen internationalen Retrospektive zu sehen. // Foto: Francesco Jodice, Capri, The Diefenbach Chronicles, #003, 2013 // www.fotomuseum.ch
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