Hansjürgen Vahldiek und Harald Zimmermann Das Geläut des einstigen Berliner Glockenturms
Viele offene Fragen konnten mit einem großen Rechercheaufwand beantwortet werden. Trotzdem musste Manches im Dunkeln bleiben. Soviel scheint aber sicher: Zur Einweihung des Alten Berliner Doms im Jahre 1536 war die Erstbestückung des Geläuts bereits ungewöhnlich. 1537 kam noch das von Andreas Kepffel gegossene “Langestück” hinzu. Mit einem Gewicht von 14 t war das nun die schwerste freischwingende Glocke des ausgehenden Mittelalters. Diese Attraktion wurde noch durch die Einmaligkeit des Geläuts übertroffen. Mit Hilfe der ausgeklügelten Geläutedisposition bestand eine vielfältige Variationsmöglichkeit. So standen 16 Motive beim Läuten zur Verfügung, die von den schweren Glocken als prächtiger Klangeindruck zur Geltung gebracht wurden. Es ist völlig unverständlich, dass dieses ungewöhnliche Geläut so in Vergessenheit geraten konnte. Nicht nur die Prachtentfaltung im Schloßbereich, sondern auch die religiöse Prachtentfaltung stand bei Kurfürst Joachim II. an erster Stelle. Schon sein Vater, Joachim I., hatte versucht, den Domstift aus der kleinen Erasmuskapelle des Schlosses zu verlegen [1]. Nun, im Dezember 1535, erhielt Joachim II. die Genehmigung des Papstes zur Verlegung in die wesentlich größere Klosterkirche der Dominikaner. Nur wenige Monate danach, zu Pfingsten 1536, konnte der Alte Berliner Dom mit seiner äußerst prächtigen Ausstattung eingeweiht werden. Für die Gewänder wurden ausgesuchte Stoffe beschafft. Weither kamen die Besucher, um die Zeremonie zu erleben. Dementsprechend wurde das dazugehörige Geläut bereits zur Einweihung mit ausgewählten Glocken ausgestattet. 1537/38 erfolgte die Komplettierung mit dem “Langestück” und noch einer weiteren Glocke aus Eberswalde. Mit der Wilsnacker wurde die Bestückung 1552 abgeschlossen. Das Geläut wurde in einem mächtigen quadratischen Turm, dem “Glockenturm” [2] untergebracht. Mit seinen 2,3 m starken Mauern [3] stand der Turm (10 x 10 m) im einstigen Klosterbezirk des Dominikaner Klosters direkt neben dem Alten Berliner Dom.
Wie kam es zu diesem besonderen Geläut?
Glückliche Umstände verhalfen Joachim II. zu einem beeindruckenden Geläut. Erst am Ende des 15. Jh. war nämlich die Entwicklung der Glockenkunst abgeschlossen. So wendete Geerd van Wou aus Kampen als Erster konsequent die Proportionalgesetze beim Glockenguß an [4]. Damit erhöhte er die Treffsicherheit für die Schlagtöne. Bislang war es mehr ein Glücksfall, wenn der gewünschte Ton einer Glocke getroffen wurde. So gelang Van Wou im Jahre 1497 der nahezu perfekte Guß der 11,4 t schweren „Gloriosa“ (mit e0) für den Erfurter Dom. Sie gilt seither weltweit als klangschönste Glocke, nicht nur ein Ansporn für alle Glockengießer, sondern auch für Joachim II., diese Glocke mit dem 14 t schweren “Langestück”, ebenfalls mit e0, zu übertreffen. Die heikle Aufgabe der Umsetzung, es sollte ja ein ganz besonderes Geläut werden, übertrug Joachim II. dem bis dato unbekannten Andreas Kepffel, der Joachim II. nicht nur bei den Planungen des 1
gesamten Geläuts beraten haben dürfte, sondern auch noch im Jahre 1537 den Guß des “Langestücks” meisterte. Wie unsere Rekonstruktion ergab, strebte man – ausgehend vom “Langestück” mit eo – ein außergewöhnliches Geläut mit den Schlagtönen eo – fis0 – gis0 – h0 – cis1 – e1 an. Diese Disposition wird als „Salve-Regina-Motiv, ausgefüllt, mit ver-doppeltem Grundton“ bezeichnet.
Abb. 1: Die großen Glocken im Überblick. Ein weiterer Glücksfall: Vor der Einweihung des Domes bekam Joachim II. Zugriff zu mehreren großen Glocken. So mußte z.B. die Bernauer Glocke im März 1536 in Cölln abgeliefert werden. Hervorzuheben ist aber die Neuruppiner, eine im Jahre 1490 von Van Wou gegossene Glocke, die nach Andre Lehr [22] quasi die gleichen wichtigen, klangbestimmenden Daten wie die Gloriosa hatte. Für sie könnte die Neuruppiner die Musterglocke gewesen sein. Ganz im Sinne von Joachim II. – kam mit ihr etwas ganz Besonderes ins Geläut. Allerdings mußte man nun die von Wou schon ab 1490 deutlich erhöhte “Glockenkonstante” (Tab. 2) bei den Planungsarbeiten berücksichtigen.
Andreas Kepffel
Rätselhaft ist, wie es zur Bestallung des damals unbekannten Andreas Kepffel zum Berater Joachims II. gekommen ist und wie er an den Auftrag zum Guß des “Langestücks”, das ja schließlich ein Prestigeobjekt war, gekommen ist. Andreas Kepffel stammt aus Lothringen nahe Straßburg oder wie es auf seinen Glocken zu lesen ist, aus Lutring. Denkbar wäre, daß er von dem damals schon bedeutenden Geläut des Straßburger 2
Münsters so beeindruckt war, dass in ihm der Wunsch zum Glockengießer erwuchs. Wie er zu den genauen Kenntnissen der Arbeiten von Wou gelangte, ließ sich trotz intensiver Forschung nicht nachweisen. Nach dem Tode Van Wous (1527) und dem Ende seiner Werkstatt wurde in seinem Sinne von Hinrik Van Kampen weitergearbeitet, dem die Wouschen Rippenschablonen übergeben worden waren. Zwischen Hinrik und Kepffel dürfte es zu einer Begegnung, ja eventuell zur Zusammenarbeit gekommen sein, so daß Kepffel an die Kenntnisse der Wouschen Arbeitsweise gelangte und mit den notwendigen Planungsarbeiten für das Geläut und den Guß des “Langestücks” von Joachim II. beauftragt wurde. Denn nur ein genauer Kenner konnte die zu erwartenden schwierigen Arbeiten meistern. Seine Lebensdaten: 1530 dürften die Planungsarbeiten für Joachim II. begonnen haben. 1532 Guß der Osterburger. Ein Test im Hinblick auf das “Langestück” 1534 Stolpe (bei Berlin) 1534 Kanone, verziertes Stück für den Grafen von Stollberg-Wernigerode 1536 Seegefeld (Falkensee) 1537 Langestück 1537/38 Eberswalde 1539 Kanone, verziertes Stück für den Grafen von Anhalt 1541 Glocke, später in die Heiligegeistkirche (Potsdam) 1545 Alt Stralau 1547 Sperenberg 1548 Eberswalde 1548 Havelberg (Dom)
Rekonstruktionsversuch des Geläuts
Joachim I. war in einem jahrelangen Prozess um die Verlegung der Erasmus Kapelle in einen Dom bemüht [1]. Die lang ersehnte Genehmigung vom Papst kam 1535. Bis zur Einweihung des Doms zu Pfingsten 1536 standen nur wenige Monate zur Verfügung. Vorausschauend hat man wahrscheinlich schon ab 1530 gründliche Recherchen betrieben, um die sinnvolle und machbare Disposition des Geläuts herauszufinden. Dabei muss sich herausgestellt haben, dass zur Ergänzung der neu zu schaffenden Glocken einige ausgewählte Glocken rechtzeitig durch Joachim II. als Erstausstattung zur Einweihung des Domes (1536) „beschafft“ werden mussten. Die besondere Fachkompetenz und genaue Detailkenntnis, die beim Aufbau des Geläuts im Spiel war, wird beim Vergleich der Rippenschwere (Tab. 2) deutlich. Bis auf die Brandenburger, Bernauer und die Neuruppiner, haben alle anderen annähernd gleiche Werte bei der Rippenschwere und folgen genau den Proportionalitätsgesetzen! Sie müssen daher als ein Block angesehen werden. Dieser Datenblock gewährt Einblicke in die damaligen Gedankengänge und Vorgehensweise: Zur Realisierung des Geläuts waren umfangreiche Planungen und geschickte Anpassungsprozesse nötig – ein mutiger “Husarenritt”.
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Die Planungen Als Ausgangspunkt für die Planungen kam nur die von Van Wou 1490 gegossene Neuruppiner in Frage. Auffallend ist, dass sie eine recht hohe Glockenkonstante (Tab. 2) mitbrachte, was beim Guß der Osterburger (1532), dem “Langestück” (1537) und der Eberswalder (1537/38) zu einer entsprechend hohen Glockenkonstanten führte! Die 1532 mit e1 gegossene Osterburger hatte als Oktavglocke zum geplanten “Langestück” mit e0 eine besondere Beziehung. Sie dürfte nämlich – wahrscheinlich auch für Kepffel – die Probeglocke für das “Langestück” gewesen sein. Denn man musste ja beweisen, dass man Glocken mit verstärkten “Wourippen” gießen konnte. Wenn man dann auf die von der Neuruppiner abgeleiteten Daten des “Langestück” die Proportionalgesetze anwendete, kam man auf die Daten der Osterburger mit e1, dieser Musterglocke. Die Daten, die diese Zusammenhänge beschreiben, können den Tabellen 1 und 2 entnommen werden. Beim Gelingen der Osterburger war die Wahrscheinlichkeit für das Gelingen des “Langestück”, der schwersten freischwingenden Glocke des Mittelalters, recht hoch, so dass man deren Guß wagen konnte. Diese Vorgehensweise, an der Andreas Kepffel wesentlich beteiligt war, war sicherlich spannend. Denn er mußte ja die Rippe der Neuruppiner vermessen haben, um die Daten der Gloriosa in das Geläut einbringen zu können. Seine Verdienste sollte man nicht vergessen! Bei der Eberswalder Glocke gelang Kepffel ein Meisterstück. Er legte den Schlagton genau zwischen den vom “Langestück” und der Neuruppiner. So ergab sich eine schwere Glocke mit entsprechend kräftigem Klangvolumen, was dem generellen Ziel für das gesamte Geläut entsprach! Da die Wilsnacker leider erst 1552 von Joachim II. nach Cölln geholt werden konnte, musste vorerst die Brandenburger h0 beschafft werden. Entstehung des Geläuts Glücklicher Weise hatte Joachim II. bis zur Einweihungsfeier zu Pfingsten 1536 Zugriff auf die Neuruppiner, die Brandenburger, die Bernauer und die Osterburger, so dass bereits ein beachtlicher Grundstock für das Geläut vorlag: 1536: gis0 – h0 – cis1 – e1 : „Parsifal-Motiv“ [7] 1537 wurde, nachdem der Guß der e1-Glocke gelungen war, das “Langestück” gegossen. Es muß für Kepffel ein erhabenes Erlebnis gewesen sein, als er neben seinem “Langestück” das Probestück, die Osterburger und daneben noch die Neuruppiner als Schwester der Gloriosa hören konnte. Nach dieser zufriedenstellenden Prüfung konnte die Eberswalder in Angriff genommen. Nun stand die endgültige Disposition zur Verfügung : 1537/38: e0 – fis0 – gis0 – h0 – cis1- e1 : “Salve-Regina-Motiv, ausgefüllt, mit ver-doppeltem Grundton” 1552: Im Rahmen der Schlichtungsgespräche in Wilsnack konnte Joachim II. die lang ersehnte h0Glocke nach Cölln bringen lassen, so dass der h0-Ton verstärkt wiedergegeben werden konnte.
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Möglichkeiten zur Würdigung des Geläuts
Da hierzu eine tiefergehende Kenntnis erforderlich ist, hat sich Harald Zimmermann mit den komplizierten Berechnungs- und Beurteilungsmöglichkeiten vertraut gemacht. Wie sich zeigte, wurde beim genaueren Nachrechnen der Glockendaten deutlich, dass die verfügbaren Angaben zu den einzelnen Glocken sehr unvollständig und widersprüchlich, ja sogar falsch sind. Nicht nur die Verwechslung der Zahlen für Durchmesser und Glockenhöhe waren des Öfteren zu beobachten [8]. Auch wurde das Klöppelgewicht zum Glockengewicht dazu gezählt. Unter diesen Umständen war eine komplette Durchrechnung des Geläuts nötig, um an zuverlässige Daten zu gelangen. Der Berechnungsumfang war beträchtlich, denn es musste mit großer Genauigkeit – also mehrere Stellen nach dem Komma – gearbeitet werden, um eine angemessene Rechengenauigkeit zu erhalten. Anschließend gab es natürlich eine Kontrolle der Ergebnisse. Das geschah durch Querrechnungen, wie dem Nachrechnen in Halbtonschritten. Des Weiteren durch eine Überprüfung mit dem Gewichtsfaktor „8“ je Oktave oder dem Durchmesser- und Frequenzfaktor „2“ je Oktave – entsprechend der Proportionalitätsgesetze, die erstmalig von van Wou angewendet wurden und denen auch Andreas Kepffel, dem Glockengießer von Joachim II, gefolgte sein dürfte.
Tab. 1: Glockendaten. Die Berechnungen hat Harald Zimmermann aufgrund historischer Überlieferungen und sorgfältiger Abwägungen auf der Basis a1= 440 Hz durchgeführt. Den Umfang der Wilsnacker Glocke hat er selbst gemessen! Zur “Gloriosa” lieferte Bill Hibbert (WAH 6/1/01) die Schlagtonanalyse. Bis auf die Glocken aus Wilsnack (Gewicht und Schlagtonfrequenz), Brandenburg und Bernau (Schlagtonfrequenz) – dort wurden Schätzwerte eingesetzt – sind die Daten nach den Proportionalitätsgesetzen gesichert.
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Abb. 2: Rippenform im Halbquerschnitt (gestrichelt). Damit wird die Glocke als Rotationskörper hinreichend beschrieben, wie auch die horizontal verlaufende Bereiche „…..“, in denen die betreffenden Schwingungen auftreten.
Zur Berechnung der Glockendaten
Historische Angaben, wie Zentner für das Gewicht und Zoll für den Durchmesser, stehen im Preußischen Maßsystem. Das ist bei der Umrechnung auf „kg“ und „m“ ins heutige Maßsystem zu beachten! 1 Zentner (ct) = 51,53896 kg 1 Zoll (“) = 0,02615445808 m Die Gewichtangabe einer Glocke darf nur das Gewicht des eigentlichen Glockenkörpers enthalten und nicht noch das Gewicht des Klöppels. Denn der Schlagton ist nur vom Glockenkörper abhängig, während der Klang natürlich von der Krone, aber auch von der gesamten Aufhängung beeinflusst wird. So wie bei den Buchdruckern haben sich bei den Glockengießern mittelalterliche Begriffe erhalten: Schärfe, Rippe, Rippenschwere. Ein weiterer anschaulicher Wert ist die sogenannte Glockenkonstante. Schärfe: Der größte äußere Umfang der Glocke wird durch eine scharfe Kante gebildet, die Schärfe. Da sich aber der Durchmesser leichter ermitteln lässt, wird dieser und nicht der Umfang als Glockenkennwert herangezogen. 6
Rippe: Die Konstruktion von Form und Größe einer Glocke sind durch die Rippe – dem vertikalen Halbquerschnitt – festgelegt (s. Abb. 2). Rippenschwere = d (Durchmesser, m)* Frequenz (Schlagton, Hz) Das entspricht dem Proportionalitätsgesetz [9] zur Umrechnung der Glockendaten auf einen anderen Schlagton: Ein größerer Durchmesser senkt die Frequenz des Schlagtons bei gleichbleibender Rippe proportional. Als Anhaltspunkt beschreibt der Wert von 380 m/s eine leichte und 450 m/s eine schwere Rippe. Diese Werte variierten im Laufe der Zeit und zwischen den verschiedenen Glockengießern. Glockenkonstante = M (Masse, kg) / d3,66…(Durchmesser, m)* Frequenz0,66…(Schlagton, Hz) Sie wurde von Joachim Grabinski [10] eingeführt. Ihr Wert ist ein Kennwert, der in hervorragender Weise wichtige Glockendaten zu einem Begriff zusammenfasst und schnelle Vergleiche ermöglicht: Grabinski gibt den Wert mit 11,42 als Mittelwert von 1200 ausgewählten Glocken an, der je nach Rippenschwere zwischen 9 und 12 variiert. Im Laufe der Zeit (s. Tab. 2) waren immer schwerere Glocken gefragt, so dass sich die Glockenkonstante immer mehr erhöhte. So hatte die 1456 gegossene Bernauer Glocke eine Konstante von 10,47 Mit der Neuruppiner Glocke (1490) wurde sie bereits auf 11,97 und mit der Gloriosa in Erfurt (1497) auf 11,96 gesteigert.
Tab. 2: Glockendaten. Beim Vergleich der Glockendaten, wie z.B. der Rippenschwere, wird deutlich, wie sorgfältig man aus dem vorhandenen Glockenangebot ausgewählt hat, um ein Geläut mit höchsten Ansprüchen zu realisieren.
Der Schlagton ist ein Phänomen
Da der Glockenkörper kein Resonanzkörper ist, stellt die Entstehung des Schlagtons oder Nominaltons der Glocke ein Phänomen dar: Nach dem Schlag des Klöppels auf den Glockenkörper bilden sich – mit einer Schallgeschwindigkeit von über 3000 m/s – stehende Wellen entlang des Umfangs aus und zwar als harmonische Teilschwingungen in mehreren horizontalen Ebenen (s. Abb. 7
2). Das sind die für die Glocke spezifischen harmonischen Unter- und Oberschwingungen, die beim Abklingvorgang verebben. Das Schwingungsgemisch wird von unserem Ohr als Glockenklang mit dem Nominalton der Glocke wahrgenommen. Für die Frequenz (Hz) des Schlag- oder Nominaltons ist das Gewicht oder Masse (kg) der Glocke und der Durchmesser (m) verantwortlich – natürlich verbunden mit der Stärke der „Rippe“, deren Form die Lage der starken Teiltöne (Abb.2) und damit die Klangfarbe bestimmt.
Die Großen Glocken, Herkunft und Werdegang
Die Beschreibung erfolgt nach der Herkunft (oder Bezeichnung) und zwar in der Reihenfolge, wie sie im Glockenturm aufgehängt wurden. Bernau Zur Erstbestückung des Glockenturmes gehörte die „Bernauerin“, wie die Glocke im Volksmund genannt wurde. Ihr Gewicht betrug 35 Zentner [11]. Sie wurde 1456 [12] für die Pfarrkirche gegossen und musste am 17. März 1536 „auf Sinnen und Begehren“ von Joachim II. in Cölln abgeliefert werden. Im Gegenzug erhielt die Stadt Bernau „unbedingte Zollfreiheit“ [13]. Damit stand die „Bernauerin“ am 4. Juni 1536 zur Einweihungsfeier des Alten Berliner Doms zur Verfügung. In der Lieferanweisung wird von einer „sehr großen“ Glocke gesprochen. Das ist aber relativ zu sehen, denn Archäologen fanden in Bernau Gruben (s. Anm. 23), in denen Glocken mit einem Gewicht von unter 2 t gegossen werden konnten. Das steht mit den Ausführungen von R. Bergan [14] im Einklang: “Ungewöhnlich große Glocken kommen in der Mark Brandenburg nicht vor”. Die „Bernauerin“ zersprang 1682 und wurde 1685 von Jacob Wenzel (Magdeburg) vor dem Spandauer Tor auf d1 umgegossen. Um einen stärkeren Ton zu erreichen, hat Wenzel das Gewicht auf 40 Zentner erhöht. In die reichliche Verzierung des Neugusses wurden das Brustbild des Großen Kurfürsten und das Kurfürstliche Wappen eingearbeitet – in Verbindung mit einer stärkeren Rippe. Mit einem Gewicht von 2,062 t und einem Durchmesser von 1,47 m kam sie in den Uhrenturm des Alten Doms. Die Glockenkonstante betrug jetzt 11,52. Nachdem sie 1906 in den Berliner Dom gekommen war, zersprang sie (wegen mech. Antrieb) bereits im Jahre 1907. Der neuerliche Umguss erfolgte 1913. Mit der gebotenen Ehrfurchts schreibt man auf die Glocke: “Jacob Wenzel goß mich – von Magdeburg – 1685″. “1907 erkrankt, reiste ich bis Straßburg, neu goß mich nach alter Form aus altem Stoff M. + O. Ohlsen in Lübeck 1913″. Sie kam als „Brandenburger“ Glocke (wieder mit dem Brustbild des Großen / Kurfürsten von Brandenburg) in den Berliner Dom zurück. Neuruppin Als 1524 der letzte Graf aus dem Haus der von Lindow verstarb, fielen die Besitzungen an den Kurfürsten zurück. Dh. an Joachim II. ging das „erledigte Lehen“ über. Daher konnte er 1535 seiner zweiten Gemahlin die Herrschaft als Leibgedinge aussetzen und seine Machtposition weiter ausbauen. Joachim II. hatte 1536 Zugriff zu der von Geerd van Wou 1490 gegossenen [24], 110 Zentner schweren Glocke aus dem Kloster St. Trinitatis zu Neu Ruppin [15], die er in den Glockenturm nach Cölln schaffen ließ. Zur Zeit der Erstbestückung war sie die „Größte Glocke“ im Geläut.
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Als der Glockenturm dann im Jahr 1716 abgerissen wurde, gab es zunächst keine Verwendung. Erst 1734 erfolgte ein Umguss: Es entstanden die fünf Bassglocken für das Glockenspiel der Potsdamer Garnisonkirche. Brandenburg Aus der St. Katharinen Kirche wurde die h0-Glocke aus einem kompletten mittelalterlichen Geläut entnommen [24, S. 143]. Das dürfte Joachim II. durch Einsatz von Privilegien nicht allzu schwer gefallen sein, zumal sich die „Kirchen entleert und ihre Einkünfte zum Schrecken der Pfarrer vermindert hatten“ [s. Anm. 26, S.301]. Nachdem der Turm der Katharinen Kirche nach einem Orkan 1582 eingestürzt war, wurden 1585 neue Glocken aus Maastricht beschafft (s. Anm. 26, S. 339-341). Osterburg Leider wurden beim Großbrand im Jahre 1761 sämtliche Unterlagen zerstört, so dass sich nicht mehr abschätzen lässt, wann die Glocke nach Cölln gelangte. In der reichlichen Verzierung wird das Gießdatum von 1532 angegeben. Die Glocke kam 1717/18 in den neugebauten südwestlichen Turm des Alten Doms. Im Berliner Dom ist sie dann 1974 gerissen. Von der Schweißreparatur in Apolda kam sie 1977 in den Berliner Dom zurück. Bei der Einsegnungsfeier brach allerdings der Klöppel und blieb im Gewölbe stecken. Bis zur Reparatur galt einige Zeit Läuteverbot. Sie ist nunmehr die einzige im Original erhaltene Glocke aus dem Glockenturm, die noch im jetzigen Berliner Dom läutet. Ihre Daten wurden 1994 von C. Peter auf der Basis a1 =440 Hz analysiert. „Langestück“ Die Glocke wurde 1537 von Andreas Kepffel gegossen. Obwohl sie nun die größte Glocke im Geläut war (s. Anm.5, S.457), nannte man sie das „Langestück“. Der reichliche Schmuck zeigte auf der Vorder- und Rückseite die Reliefbilder von Joachim II. und seiner zweiten Gemahlin Hedwig. Die Inschrift: „Gottes Creatur sind zwar alle gut, wohl dem, der sie recht gebrauchen thut”. “Andreas Kepffel aus Lutring gos mich MDXXXVII.“ Es ist kein Wunder, dass diese Glocke „zu den bedeutesten Merkwürdigkeiten der Stadt“ gehörte. War sie doch mit ihren 14 t die schwerste freischwingende Glocke des ausgehenden Mittelalters! Heute würde man sagen, es war „die“ Sensation. Erst 1754, also Jahre nach dem Abriss des Glockenturms, wurde sie zerschlagen und als Schrottware per Schiff zum Verkauf nach Amsterdam gebracht. Da die Daten der Osterburger mittlerer Weile bis ins Einzelne bekannt sind, ließen sich die Daten des “Langesrück” bei der Rekonstruktion gut nach dem Proportionalitätsgesetz ermitteln. Eberswalde Beim katastrophalen Stadtbrand von 1499 [17] waren die „einstmals gegossenen Glocken im Feuer untergegangen“. Im Rahmen der Neubestückung soll eine Glocke gegossen worden sein, die nicht in den Turm der Maria Magdalenen Kirche passte [18]. Diese Formulierung beruht wahrscheinlich auf einer 9
Fehlinformation. Denn es dürfte sich um eine auf das Cöllner Geläut (von Andreas Kepffel ?) zugeschnittene Glocke gehandelt haben, die dann 1538 abgegeben wurde. Bei der Rippenschwere und Glockenkonstanten (Tab. 2) vom „Langestück“ und der Eberswalder besteht eine auffallend gute Übereinstimmung, was auf eine direkte Anpassung der Eberswalder an das „Langestück“ schließen läßt. Diese Eberswalder Glocke wurde nach Cölln überstellt: … Im Jahre 1538 wurde „mit wohlbehaltenem Geist und nach abgehaltenem Rat“ das Patronatsrecht, die Pfarre und der St. Maria-Magdalene-Altar frei übergeben und im Gegenzug, d.h. „auf Bitte und Antrag eine Glocke“ nach Cölln geschafft [19]. Sie zersprang 1705. Den Umguss auf g0 besorgte Johann Jacobi (Berlin). Das Gewicht betrug nunmehr zwischen 6 t und 6,5 t. Sie kam nach Crossen/O., wo sie noch im Jahr 1875 im Turm der Marien Kirche gesehen wurde. Allerdings war sie 1920 nicht mehr vorhanden. Kaiser Wilhelm II. hatte sie in die Berliner Marien Kirche bringen lassen. Im 2. Weltkrieg landete sie auf einem Hamburger Glockenfriedhof. 1947 kam sie wieder zurück. Wilsnack In Wilsnack hatte sich eine ausgeprägte Hostienkultur entwickelt [20]. Seit 1383 wanderten hunderttausende Pilger aus aller Herren Länder in die Stadt. Aber schon 1403 entwickelte sich Widerstand. Z.B. wandte sich Jan Hus gegen die Verehrung des Wunderblutes. Durch die Untersuchung der Bluthostien (1443), die nur noch aus einem Gemisch von Krümeln und Spinnweben bestanden, wurde der Zwist noch verstärkt. Die brandenburgischen Kurfürsten, durch zwei Bullen des Papstes (1447) gestärkt, versuchten den Wallfahrtsort durch aktive Förderung zu stützen. So stiftete Friedrich II. einen dreiteiligen Altar und unter Albrecht Achilles wurde 1471 eine Glocke für die Wunderblutkirche St. Nikolai gegossen. Dennoch eskalierte der erbitterte Streit über die Hostienkultur. Durch das Eingreifen von Joachim II. gelang schließlich 1552 die Schlichtung. Noch im gleichen Jahr ließ er die „Wilsnacker Glocke“ nach Cölln bringen. Nach Abriss des Glockenturms kam sie 1717/18 in den neu gebauten nordwestlichen Turm des Alten Doms. Im Berliner Dom ist sie dann beim Trauergeläut für die Kaiserin 1921 zerborsten [21]. Nach dem Schweißen war sie im Winter 1924/25 erneut gesprungen. 1929 erfolgte ein verkleinerter Neuguss im Mitteldeutschen Stahlwerk/Lauchhammer. Sie befindet sich wieder im Berliner Dom. Das Original ist im Märkischen Museum ausgestellt, wo Harald Zimmermann den Umfang der Glocke sicherheitshalber nachgemessen hat.
Schlußbemerkung
Von den Glocken im Glockenturm existieren nicht nur falsche Gewichtsangaben, sondern auch vertauschte Daten von Durchmessern und Höhen. Um die nötigen Korrekturen durchführen zu können, mussten wir uns erst einmal einen Überblick über die ausgeklügelte Technik des Glockengießens verschaffen und uns die Fachbegriffe aneignen. Die Kontrollrechnung erforderte einen erheblichen Rechercheaufwand. Wie sich herausstellte, hat sich diese Arbeit gelohnt, denn wir haben dabei ein tiefergehendes Verständnis für das Vorgehen der Glockengießer gefunden. 10
Wie wir leider feststellen mussten, sind wir doch nicht tief genug in die Problematik eingedrungen. Die erste Version des Beitrags enthielt nämlich einen fundamentalen Fehler. So war uns nicht bewusst, welche bestimmende Rolle die Neuruppiner Glocke bei der Gestaltung des Geläuts spielte und wie groß der Einfluß von Van Wou war! So kamen wir zur Fehleinschätzung der Rippenschwere bei der Neuruppiner. Uns war nicht bekannt, dass die von Van Wou benutzten Rippenschweren bei <430 m/s lagen. Da der Schlagton sich nicht ermitteln ließ, hatten wir ihn auf a0 geschätzt. Das war ein fundamentaler Fehler, so dass wir wesentliche Teile des ersten Beitrags und das Zahlenwerk in den Tabellen (Tab. 1 und Tab. 2) überarbeiten mussten. Dazu kamen wichtige Neuigkeiten über die vergleichbare Qualität der Neuruppiner im Vergleich zur der Glorisa. Auch wurde der Einfluss Kepffels deutlicher. Ferner sein erstaunlicher Sachverstand und die Spezialkenntnisse zur Arbeitsweise von Van Wou. Auffällig war schon zuvor das beeindruckende Zusammenspiel der „Gloriosa“-Daten mit den Daten der Glocke aus Neuruppin. Das ist kein Wunder, denn wie die belegten Klangexperimente von Gerd van Wou zeigen [22], waren die Neuruppiner Glocke (1490) und die Gloriosa (1497) in ihrem Klanggefüge Schwestern. Kepffels Kenntnisstand versetzte ihn in die Lage, zwischen der Neuruppiner und den neugeschaffenen Glocken aus Osterburg, dem „Langestück“ und der Glocke aus Eberswalde eine „verwandtschaftliche“ Beziehung herzustellen! Kurfürst Joachim II. bewies wieder einmal ein gutes Händchen, als er den Glockengießer Andreas Kepffel aufgrund spezieller Kenntnisse auswählte, um ein herausragendes Geläut für den Glockenturm zu realisieren.
Anmerkungen
1 Vahldiek, Hansjürgen, Berlin und Cölln im Mittelalter, 2011, S.85 oder siehe Beitrag dieser homepage: “Wie kamen wir zum Berliner Dom” 2 siehe Beitrag dieser homepage: „Vom Berliner Glockenturm“ 3 siehe Beitrag dieser homepage: „Vom Berliner Glockenturm“ 4 Wollf,F: Die Glocken der Provinz Brandenburg und ihre Gießer, Zirkel-Architektur Verlag, 1920, des Weiteren die Limburger Richtlinien von 1951 5 Friske, Mathias: Die mittelalterlichen Kirchen auf dem Barnim, Lukas Verlag 2001 6 S. Anm. 4, Seite 187 7 Grassmayr Glockengießerei: GRASSMAYR_Gelaeutedispositionen.pdf 8 Geyer, Albert: Die Geschichte des Schlosses zu Berlin, 1935, Seite 87, Anm. 59 9 S. Anm. 6 10 Grabinski, Joachim: www.grabinski-online.de/glocken/Rippenschwere.pdf 11 Bergan, F.: Inventar der Bau- und Kunstdenkmäler in der Provinz Brandenburg, Bd. 1, 1882, Seite 172 12 DKK an Minister der geistl. pp. Angelegenheiten v. 29.2.1912, in: DomABerlin, Bestand 1, Nr.8154, Bl. 183 13 Schmidt, Rudolf: Geschichte der Stadt Eberswalde, Band 1, 1939 und 1992, Seite 32 14 S. Anm. 11, Seite 99 15 Wie Anm. 11, Seite 99 16 Wie Anm. 4, Katharinen Kirche, Brandenburg 17 Wie Anm. 13, Seite 33 und 48 11
18 Wie Anm. 5, Seite 131 19 Wie Anm. 13, Seite 70 20 Siehe: www. Wunderblutkirche.de (Bad Wilsnack) 21 Bericht an Pfarrer Hachmeister, in: DomABerlin, Bestand 1, Nr. 3146, Bl 227 22 Lehr, Andre‘: www.andrelehr.nl/2013/GerdvanWou%20Glockenrippen.pdf 23 Wittkopp, Blandine: Glockengussgruppen an St. Marien in Bernau, Beiträge zur Denkmalpflege, Bodendenkmalpflege und Archäologisches Landesmuseum, S.576 24 Otte, Heinrich: Glockenkunde, Leipzig, 1884, 2. Auflage, S. 217 oder „https://archive.org/stream/glockenkunde00ottegoog#page/n153/mode/2up“ 25 Becker, Klaus-Dieter: Inventar der Bau und Kunstdenkmäler in der Provinz Brandenburg, 2013 , S.274 26 Heffter, Moritz Wilhelm: Geschichte der Kur- und Hauptstadt Brandenburg, 1840, S. 301
veröffentlicht am 18. Juli 2013 12
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