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denn es gehört zu den Grundbestimmnngen des menschlichen Geistes, dass er nicht von Hause
aus das ist, was er sein soll, sondern dass er sich vielmehr erst zu dem zu erheben und zu
machen hat, was sein ewiges Wesen ist. Die Möglichkeit zu dem Unendlichen, wozu er bestimmt
ist, trägt er zwar von Anfang an eben so in sich, wie der Same den Lebenskeim der zukünftigen
Pflanze in sich trägt, aber er hat diese Möglichkeit erst zu einer lebensvollen und entwickelten
Wirklichkeit zu machen, und diese Verwandlung und Erhebung seines Wesens ist eben der Pro-
zess der Bildung. 1) Daraus folgt, dass die Bildung zwar einen relativen, aber nie einen absoluten
Abschluss erlangen kann, dass sie nichts Fertiges, sondern vielmehr etwas ewig Werdendes ist.
Denn eine Bildung, die mit sich abscbliesst, sich als etwas Fertiges betrachtet, sinkt zu einem
leeren Gedächtnisswerk , zu einer Summe von äusserlichen Kenntnissen herab. Daraus folgt
aber weiter, dass die Bildung nicht hlos in einem Wissen, sondern zugleich in einem Können
besteht. Ein Wissen, das nicht lebendig ist, das nicht den Trieb und die Fäbigkeit der Anwen-
dung in sich trägt, ist Gelehrsamkeit, aber keine Bildung. Ein bIosses Können dagegen, eine
iiussere Fertigkeit, welche im Leben ausgeübt wird, ohne dass damit das Wissen des betreffen-
den Allgemeinen verbunden ist, ist keine Bildung, sondern Dressur, lind alle, die ein Geschäft
treiben, ohne ein Bewusstsein von uen in ihm wirksamen allgemeinen Mächten zu haben und es
mit demselben in Verbindung zu setzen, sind nicht Gebildete, sondern Werkleute. Von diesem
Gesichtspunkt ans muss der Lehrplan der Realschule beurtheilt werden, wenn er richtig ver-
standen und mit gerechtem Mansse gemessen weruen soll. Es darf kein Unterrichtsgegenstand
uarum für entbehrlich gehalten weruen, weil die Kenntnisse, die er überliefert, sich nicht unmit-
telbar im Leben verwerthen lassen, sondern es ist einzig und allein danach zu fragen, ob er im
Verein mit den übrigen Lehrgegenständen im Stande ist, jene geistige Bewegung und Entwicke-
Inng im Inneren des Schülers zu ermöglichen und zn befördern, die wir als das eigentliche Wesen
der Bildung bezeichnet haben. Gerade die Kenntnisse, welche als vorzugsweise praktische em-
pfohlen werden, sind für den Schulunterricht in der Regel ganz unbrauchbar, weil sie, wie eine
fertige Sache, an den Schüler herangebracht werden und seinen Geist belasten , statt ihn zur
Selbstthätigkeit anzuspornen. Alle wahrhafte Bildung ist Entwickelung von innen heraus. Damit
ist einerseits der Punkt gegeben, von welchem die Bildung auszugehen hat ,aber andrerseits
auch dae Ziel, nach welchem sie hinzustreben hat; denn Menschen können nur zu Menschen
gebildet werden. Man mag von der Bestimmung des Menschen sich eine so hohe Vorstellung machen,
wie man wolle, so darf man doch den Zweck der Bildung nicht anders als so fassen, dass er dem
Begriff einer wahrhaft me n sc h I i ch e n Bildung entspricht. In diesem Punkte müssen alle Erzie-
hungsmethoden und Erziehungsanstalten übereinstimmen, und auch die Realschule kann ihr Ziel
nicht anders bestimmen als so, dass sie ihre Schüler zu Menschen bilden will. Aber freilich wird
das Ziel anders verstanden werden, je nachdem der Begriff des Menschen anders gefasst wird.
Wer in dem Menschen nichts anderes sieht, als ein mit Vernunft begabtes Thier, der wird auch
das Ziel humaner Bildung nicht sehr hoch stellen; wer dagegen die Ueberzeugung hegt, dass der
Mensch nach Gottes Ebenbild geschaffen und zur Kindschaft Gottes berufen ist, der wird auch nicht
zweifeln können, dass durch. dieses Ziel unserer ganzen Bildung eine feste unabänderliche Rich-
tung gegeben wird. Schon der heidnische Philosoph Plato hat in einer bewundernswürdigen Vor-
ahnung der ewigen Wahrheit es als die sittliche Lebensaufgabe des Menschen bezeichnet, Gott
ähnlich zu werden. Und wir, an die das mahnende Wort des Heilandes ergangen ist: "Ihr sollt
1) cfr. Deinbardt: "Ucber den BegriO' der Bildung."