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Bühne in freiere Bahnen zu lenken und durch das Theater die Regungen
des deutschen Volkes zu wecken. Für diese wurde ihm die Literatur
zum Zweck und die Bühne das Mittel, diesen Zweck zu erreichen. - In
England wurde das Schauspiel durch den Schutz des Hofes, die Gunst
der Gesellschaft und das nationale Leben wesentlich gehoben. IIier er-
regten Shakespeare's Dramen am mächtigsten die Phantasie und die
r,eidenschaften der Menschen. Kaum berührt der Genins des Dichters
sie mit seinem Zauberstabe, so eröffnen sich vor ihnen die strahlenden
Pforten der Dichtkunst. In ihren Gebilden erscheinen Gestalten, die
hoch über das Menschliche hinaus ragen. Drei Elemente, harmonisch
verbunden, offenbaren uns das Wesen von Shakespeare's Dichtun-
gen: die gewaltige Phantasie, die scharfe Charakteristik und die be-
wundernswürdige Tiefe seiner Weltanschauung. Aus der scharf-
blickem!sten Beobachtung des Lebens entsprangen die Charaktere
seiner Bühnengestalten. Seine eigene adelige Erscheinung, sowie die
Stimmnng seiner tiefempfindenden Seele, brachten ihn in die Kreise
des Hofes, wo Graf Southampton sein Beschützer wurde. Einsam,
still und grofs war die Seele Shakespeare's, der das Gemeine und
Gewöhnliche harste, und wo er es fand, mit Humor geifselte. Diesen
Heros des Denkens und Sinnens, dessen IIamlet, Kaufmann von Ve-
nedig, Macbeth, Richard III., Romeo und Julia und andere Dramen
Jeden bezaubern, mufste das Schicksal in den bunten :Flitterstaat eines
Schauspielers kleiden, um durch seine Bühnenschöpfungen die Welt zu
enthusiasmiren. Bei der willkürlichsten Verschlingung und Phantastik
der Begebenheiten sieht man in seinen handelnden Bühnenhelden im-
mer doch den Menschen im vollsten Sinne des Wortes. Seine Geistespro-
dukte, an denen wir uns heute noch laben, machen ihn unsterblich. Und
doch schätzte er selber seine Dramen geringer, als seine Sonette
und epischen Gedichte, die im Ganzen heute nur wenig gelesen
werden. B 0 den s te d t hat uns Shakespeare's Sonette in deutscher
Sprache (in Berlin bei R. v. Deckel' erschienen), in so vollendeter
Form und Denkweise zugänglich gemacht, dafs sie für die deutsche
Lesewelt ein nenes lebendigeres Interesse hervorrufen. Shakespeare's
gesammte Dramen bilden ein riesenhaftes Gemälde der irdischen
Komödie, das, gleich dem lIIichelangelo in seinem Weltgericht,
den Schleier von dem Jenseits zu heben sucht. Seit lIomer gab es
keinen ursprünglicheren, keinen mächtigeren Genius als den Shake-
spearo's, nnd dennoch fehlte ihm der beWllfste künstlerische Zug. Wir