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4. Sitzung vom 15. Januar 1959
Brandt
tretenen Bevölkerung in der Beurteilung der lebens
wichtigen Probleme und in der Zielsetzung des Woliens
völlig übereinstimmen.
Zweitens: Es ist nicht wahr, wenn in Reden und
Presseerklärungen, leider auch in Schriftstücken der
Regierung der Sowjetunion, die Behauptung aufgestellt
wird, der Weltfriede werde durch die Anwesenheit
westlicher Schutzmächte in Berlin und durch die Wahr
nehmung ihrer aus internationalen Verträgen ent
springenden Rechte und Pflichten bedroht.
Wahr ist vielmehr, daß die Lage in Berlin seit Jahren
deshalb als nicht normal bezeichnet werden kann,
weil diese Stadt seit praktisch einem Jahrzehnt gegen
ihren Willen gewaltsam gespalten ist. Die im Ostsektor
lebende Bevölkerung ist einer demokratisch nicht legi
timierten Verwaltung unterworfen. Ganz Berlin ist
wegen der noch immer andauernden Spaltung Deutsch
lands daran gehindert, die ihm zustehende Aufgabe als
Hauptstadt Deutschlands zu erfüllen.
Wenn sich die Lage um und in Berlin in den letzten
Monaten zugespitzt hat, so ist dies darauf zurückzu
führen, daß die Machthaber im Kreml in ultimativer
Form die Änderung des Status quo in dieser Stadt ver
langen, daß sie von der Möglichkeit eines „zweiten
Serajewo“ gesprochen und bei Nichterfüllung ihrer
Forderungen sogar mit Atomwaffen gedroht haben.
Die Berliner standen und stehen in der vordersten
Linie derer, die die Lösung der deutschen Frage für
unerläßlich halten, und zwar nicht nur im eigenen
Interesse und wegen des Rechts der Deutschen auf
nationale Selbstbestimmung, sondern auch im Interesse
der Entspannung in Europa und des Friedens in der
Welt. Es ist aber auch eine Tatsache, daß West-Berlin,
das heißt, das auch ohne Anführungszeichen freie Berlin,
allen sich aus der Sonderlage ergebenden Schwierig
keiten zum Trotz, in den hinter uns liegenden Jahren
große Fortschritte gemacht hat. Aus einer Trümmer
wüste ist eine leistungsfähige Wirtschaft entwickelt
worden, und der städtische Aufbau hat rasche Fort
schritte gemacht, Hunderttausende haben einen neuen
Arbeitsplatz und eine neue Wohnung gefunden, Berlin ist
wieder zu einem geistigen Zentrum und zur größten
deutschen Hochschulstadt geworden. Es wurde zur
Stätte der Zuflucht für Bedrängte aus der sowjetisch
besetzten Zone und zu einem Ort täglicher tausendfacher
Begegnungen der Deutschen aus Ost und West. Die
Berliner haben die Schrecken des letzten Krieges noch
in frischer Erinnerung. Sie wissen aber auch um die
schreckliche Belastung eines totalitären Regimes. Sie
haben keinen sehnlicheren Wunsch, als ihr Leben und
ihre Arbeit in Frieden und in Freiheit gestalten und den
Aufbau ihrer Stadt weiter voranführen zu können. Da
ran teilzuhaben, wünschen insbesondere die Ostberliner.
Drittens: Zu den beglückenden Erfahrungen der ver
gangenen Wochen gehört nicht nur die Tatsache, daß
die Berliner nicht geschwankt und keinen Augenblick
daran gedacht haben, sich von dem als richtig erkannten
Weg abbringen zu lassen, sondern auch die andere Tat
sache, daß Berlin sich in dieser kritischen Phase fest auf
seine Freunde verlassen konnte. Unser Dank gilt daher
den Regierungen und den Völkern der Westmächte, die
sich in so eindrucksvoller Weise zu ihren in und für
Berlin übernommenen Rechten bekannt haben.
(Beifall.)
Unser Dank gilt denen in der Welt, deren Beweise
der Sympathie und der Hilfsbereitschaft uns in so
großer Zahl erreicht und in so starkem Maße ermutigt
haben. Unser Dank gilt nicht zuletzt den tragenden
politischen Kräften in der Bundesrepublik und den
Landsleuten in den Bundesländern, die erkannt haben,
daß ihre eigene Zukunft wie die des deutschen Volkes
überhaupt mit der Zukunft Berlins unlösbar verbunden
ist. Das Schicksal Deutschlands verdichtet sich auf
Berlin und wird sich in dieser Stadt erfüllen. Diese Er
kenntnis steht jenseits parteipolitischer Auffassungen;
sie muß zur Grundlage unserer Überlegungen und un
seres nationalen Handelns gemacht werden.
Am 7. Dezember des hinter uns liegenden Jahres war
das Volk von Berlin aufgerufen, darüber zu entscheiden,
welcher Kurs in dieser Stadt in dieser Zeit gesteuert
werden soll. Es hat entschieden, daß die bewährte Po
litik friedlichen, sozialen Aufbaues und der Sicherung
unseres freiheitlichen Gemeinschaftslebens fortgesetzt
werden soll.
Die Wählerinnen und Wähler haben sich nicht der Er
kenntnis verschlossen, daß es nicht allein um landes-
und kommunalpolitische Fragen ging. Im Sinne des
Selbstbestimmungsrechts der Völker stellten die hohe
Wahlbeteiligung von nahezu 93 Prozent und der posi
tive Vertrauensbeweis der Wähler nicht nur einen
Volksentscheid gegen die sowjetischen Berlin-Forde
rungen dar; diese Demonstration des Freiheitswillens
war zugleich ein waffenloser Sieg der Demokratie.
Für die kommunistische Einheitspartei bedeutete der
Wahlausgang — wir wissen es alle — eine vernichtende
Niederlage. Ihr Stimmenanteil ging auf weniger als
2 Prozent der mehr als 1,6 Millionen gültigen Stimmen
zurück. Trotz aller Propaganda, trotz vieler Lockungen
und Drohungen, trotz oder vielleicht auch gerade wegen
der verstärkten Tätigkeit sowjetzonaler subversiver
Organisationen in unserem Berlin erhielten sie, die
Kommunisten, noch ein Drittel weniger Stimmen als
im Jahre 1954.
Das Volk von Berlin hat den 7. Dezember 1958 nicht
nur zu einem bedeutungsvollen Tag in der Geschichte
dieser Stadt gemacht, sondern auch zu einem in der
ganzen Welt beachteten Ereignis. Diese Entscheidung
hat die Entwicklung der letzten Wochen in nicht ge
ringem Maße beeinflußt.
Mit Genugtuung darf ich feststellen, daß auch den Be
mühungen rechtsradikaler Gruppen eine dem freiheit
lichen Klima dieser Stadt entsprechende Abfuhr erteilt
wurde. Darüber hinaus hat das seit geraumer Zeit im
deutschen Westen sichtbar gewordene Streben der
Wähler zur Konzentration auf die beiden großen Par
teien bei uns seinen bisher deutlichsten Niederschlag
gefunden.
Obwohl es zu begrüßen ist, daß die Wähler selbst einer
Zersplitterung der politischen Kräfte Einhalt gebieten,
ist der Senat — und sicherlich auch das Abgeordneten
haus — weit davon entfernt, die Wahlniederlage aller
hier nicht vertretenen demokratischen Parteien etwa
mit Schadenfreude zu quittieren. So wissen wir, daß
liberale Auffassungen in der Gedankenwelt beider Par
teien dieses Hohen Hauses verankert bleiben.
In der Berliner Öffentlichkeit und in beiden Parteien
bzw. ihren Fraktionen hat es lebhafte Diskussionen dar
über gegeben, ob der neue Senat wiederum auf einer
Zusammenarbeit zwischen den Vertretern der SPD und
der CDU basieren sollte, nachdem die Fraktion der SPD
allein über eine ahnsehnliche Mehrheit verfügt. Die
andere Lösung würde darin bestanden haben, daß nach
den klassischen Spielregeln der parlamentarischen De
mokratie die Mehrheitsfraktion allein den Senat ge
bildet hätte. Der Minderheit wäre dabei die gewiß nicht
geringer zu schätzende oder gar minder zu bewertende
Rolle der parlamentarischen Opposition zugefallen, und
es besteht kein Grund zu der Befürchtung, daß die bei
den Parteien und Fraktionen nicht auch unter solchen
Umständen auf vielen Gebieten zum Wohle unserer
Stadt zusammengewirkt hätten.
Niemand kann behaupten, daß die hier aufgeworfene
Frage nur auf eine Art beantwortet werden kann. Die
Mehrheit in beiden Parteien hat sich jedoch dafür
entschieden, daß der ernsthafte Versuch gemacht wer
den sollte, die Regierungsverantwortung gemeinsam zu
tragen.
Hierzu konnte nicht nur ins Feld geführt werden,
daß die Zusammenarbeit in den hinter uns liegenden
Jahren sich bewährt hat, sondern vor allem auch, daß
die außenpolitische Lage und die wirtschaftliche Siche
rung Berlins allen demokratischen ■ Kräften unserer
Stadt einen Zwang zur Verständigung und zum Zu-
samriienrücken auferlegen. Die Kluft, die sich im west-