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Full text: Unternehmerin Kommune (Rights reserved) Ausgabe 20.2016,4 (Rights reserved)

AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 20. JAHRGANG Jahresthema: Infrastruktur Vernetzung und Wettbewerb Schienengebundener Regionalverkehr und lokaler ÖPNV S. 5 Kommunalwirtschaft aktuell Nur noch ein Torso? Theorie und Realität der kommunalen Selbstverwaltung S. 20 Forum Neue Länder 25 Jahre Ostdeutscher Sparkassenverband Festveranstaltung in Potsdam S. 40 Aus Forschung und Lehre Kommunale Implikationen der Integration von Flüchtlingen Die VfkE-Jahresstudie 2016 S. 49 Inspirationen/Informationen Die Asyleinwanderung der vergangenen zehn Jahre in Zahlen Analyse der regionalen Verteilung und nach individuellen Merkmalen S. 53 Eher föderal denn kommunal Blick über den Gartenzaun auf die Verwaltungsstrukturen in Kanada s i o n: rs n t r o ve o k d n ent u ng Vehemte Debat te st al t u r n h a r ü f e e v g res k E -J a h m b e r i n f V e i D e 0. Nov (S. 33) vom 3 eld-Wolfen f Bi t t e r .de s ku s Zu r D i unter - kommune in einung Ihre M nter nehmer w w w.u S. 58 www.unternehmerin-kommune.de Pluspunkte, wohin man schaut Bürger und Kommunen wünschen komfortable Ver- und Entsorgungsleistungen sowie stabile Gebühren. Der finanzielle Handlungsspielraum dafür ist jedoch begrenzt. Das Modell der Zukunft für alle kommunalen Aufgaben der Recycling- und Wasserwirtschaft sind ganzheitliche Öffentlich-Private Partnerschaften, wie wir sie bereits seit vielen Jahren in ganz Europa erfolgreich praktizieren. In gemeinsamen Gesellschaften beschäftigt die REMONDIS-Gruppe mit ihren kommunalen Partnern mehr als 9.000 Mitarbeiter und erbringt Leistungen für mehr als 20 Millionen Bürger. Kommunen und Bürger profitieren dabei von unserer hohen Investitionsbereitschaft in moderne Logistik, fortschrittliche Anlagen und wegweisende Technologien. Sie wollen Ihren Haushalt entlasten und finanziellen Spielraum hinzugewinnen? 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ÖÖP oder KKP? 20 27 Öffentlich-Private Partnerschaften auf kommunalwirtschaftlicher Ebene Die GASAG-Gruppe entwickelt integrierte Messkonzepte der Energienutzung Alles aus einer Hand Zwei Kürzel für ein Unikat: „Das Weimarer Modell“ 26 Eine Möglichkeit zur Mehrung kommunalen Vermögens? 31 FORUM NEUE LÄNDER ÖPP für gestaltende kommunale Mitwirkung bei Erneuerbaren Energien Die kommunalen Implikationen der Flüchtlingskrise Gewogene Werte 33 25 Jahre Ostdeutscher Sparkassenverband Fest an der Seite der Ostdeutschen Know-how von E.dis, strategische Führung bei Kommunen 43 Weit über dem Durchschnitt liegende Flüchtlingskonzentration 40 „Wir können Flüchtlingen noch ordentliche Wohnungen bieten“ 45 AUS FORSCHUNG UND LEHRE Das Verbundnetz für kommunale Energie präsentiert die Jahresstudie 2016 Die Integration von Flüchtlingen 49 INSPIRATIONEN / INFORMATIONEN Deutlich verstärkte Asylmigration seit dem Jahr 2014 Auf dem Weg zum Einwanderungsland? 53 Personalien / Bücher 66 Epilog / Impressum 74 Die politischen und Verwaltungsstrukturen in Kanada Britische Verfassungstradition in einem föderalen Gewand UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 58 Zum Titelbild: Die alte Agfa-Zentrale und das heutige Rathaus von Bitterfeld-Wolfen – Denkmal der Industriegeschichte und Austragungsort der VfkE-Jahresveranstaltung 2016. 3 Prolog Liebe Leserin, lieber Leser, Gesprächsrunden und Veranstaltungen zu kommunalen Themen sind ein Markenzeichen von UNTERNEHMERIN KOMMUNE. In diesem Heft dokumentieren wir davon gleich fünf: In Naumburg gab es einen Austausch zur Zukunft des ÖPNV als optimal vernetztes System von unterschiedlichen Verkehrsmitteln, Aufgabenträgern und Leistungserbringern. In Bitterfeld-Wolfen und Neubrandenburg stand die Flüchtlingsintegration im Zentrum. Die Runde in Teterow hatte die Überschrift Digitalisierung und Daseinsvorsorge. In Halberstadt schließlich gab es einen kontroversen Disput darüber, ob die kommunale Selbstverwaltung in Deutschland diesen Namen noch verdient. In der Rückschau auf diese sachkundig und leidenschaftlich geführten Debatten fiel mir auf, dass wir bei allen Themen – also nicht nur in Halberstadt, wo dies schon als Titel gesetzt war – immer schnell auch beim Artikel 28 und dessen Absatz 2 unseres Grundgesetzes landeten. Erstes Stichwort: Integration. Vollständige Übereinstimmung gab es zur Interpretation der Merkelschen Formel vom „wir schaffen das“: Wir – das ist ein fast schon zynischer Pluralis Majestatis. Faktisch sind es eben nicht die da „oben“, sondern es sind die Kommunen, die es schaffen mussten, und die es ja auch tatsächlich schafften und schaffen. Die Akteure sind zuvorderst Ehrenamtler, Mitarbeiter kommunaler Verwaltungen und Unternehmen. Die gaben auch folgendes zu Protokoll: wenn oft quasi über Nacht die Ankunft von Hunderten von Flüchtlingen organisiert werden musste, fragten jene, die bei Bund und Ländern mit fanatischem Eifer darüber wachen, dass der von ihnen „erdachte“ gigantische Regelkatalog – viele dieser Vorschriften sind unsinnig, unnötig, widersprüchlich – befolgt wird, plötzlich nicht mehr nach Gesetzeskonformität. Da musste von jetzt auf gleich ein leerstehender Supermarkt zur Flüchtlingsunterkunft umfunktioniert werden. Ohne Antrag und ohne Bauaufsicht. Darauf, dass dieses vernünftige „Wegschauen“ Bestandskraft hat, vertrauen indes die meisten Entscheidungsträger in den Kommunen und Unternehmen nicht. Wenn genug Zeit verstrichen ist, wird es vermutlich akribische Beamte in Kommunalaufsichten und Landesrechnungshöfen geben, die etwa beanstanden, dass Stellenpläne überdehnt oder Dolmetscherhonorare falsch gezahlt und gebucht wurden. Wer aber sanktioniert jene, die die Aufnahme und Betreuung der Flüchtlinge erschweren und behindern? Zum Beispiel dadurch, dass sie sich ein Asylverfahren ausgedacht haben, dass zu Recht als Bürokratiemonster bezeichnet werden muss. Deswegen dauert die Bearbeitung viele Monate. Erst mit dem positiven Bescheid kann mit der Integration ja erst richtig begonnen werden. Davor sind Arbeitstätigkeiten im Regelfall verboten. Verständnis dafür gibt es in den Kommunen und bei den Bürgern nicht. Es ist ja auch keinem vernunftbegabtem Wesen zu vermitteln, warum im Herbst das Laub nicht richtig beseitigt wird, weil im Bauhof Leute fehlen, andererseits aber junge Leute aus Syrien und anderswo qua Gesetz zur Untätigkeit verurteilt sind. Dabei sind sie in übergroßer Mehrheit bereit, etwas für das Land zu tun, das sie aufgenommen hat. Die Kommunen beweisen gerade in Extremsituationen, dass sie am besten wissen, wie vor Ort Aufgaben gelöst werden müssen. Darauf basiert das Prinzip der Subsidiarität. Das wird im Alltag mit Füßen getreten. Der Autor dieser Zeilen nennt das neben der strukturellen Unterfinanzierung und der unerträglichen Überregulierung den dritten Totengräber der kommunalen Selbstverwaltung. 4 Das konnte mit eindeutigen Fakten am Beispiel Flüchtlinge gerade gezeigt werden. Das trifft aber ebenso auf das unspektakulär scheinende Thema „geschlossene ÖPNV-Mobilitätsketten zu. Richtig war es, dass der Bahnverkehr 1999 regionalisiert wurde. Und wenn es – wie in Sachsen-Anhalt mit der Nahverkehrsgesellschaft Sachsen-Anhalt – einen engagagierten und kompetenten Verbund gibt, klappt auch die Vernetzung mit dem kommunalen ÖPNV. Aber am Ende wird die junge Frau, die aus dem abgelegenen Dorf täglich zur Arbeitsstelle in der Kreisstadt pendeln muss, nur dann darauf verzichten, den ganzen Weg mit dem Auto zu absolvieren, wenn am Haltepunkt der Regionalbahn ein gut beleuchteter Parkplatz eingerichtet wird. Das zahlt aber nicht der Besteller dieser Züge, sondern das Geld muss aus dem kommunalen Säckel bereitgestellt werden. Die Teilnehmer der Diskussionsrunde zur kommunalen Selbstverwaltung in Halberstadt waren sich ungeachtet mancher Kontroverse einig, dass es in unserem Land einen Trend zum Zentralismus gibt, verbunden mit weiter wachsendem Argwohn gegenüber den Kommunen. Dass es anders geht, zeigt mal wieder Dänemark. Dort wurden im Jahr 2007 die schon zuvor mit vielen Rechten ausgestatteten Kommunen auf eine Weise gestärkt, die beim deutschen Nachbarn unvorstellbar wäre. In Dänemark sind die Gemeinden die zentrale Ebene der Verwaltung und mit hohen Kompetenzen bei der Finanzierung und der Aufgabenerledigung ausgestattet. Das Zentrale-OrtePrinzip wurde konsequent umgesetzt: Jede der 2007 gebildeten 98 Gemeinden des Landes hat im Durchschnitt 56.000 Einwohner. Zwischen diesen Kommunen und dem Staat gibt es keine Zwischenebene. Das System funktioniert. Und da es mit hohen Kompetenzen und gesunden Finanzen etwas zu gestalten gibt, gehen bei Kommunalwahlen seit vielen Jahren durchschnittlich 70 Prozent der Wahlberechtigten an die Urne. Hoffentlich werden diese Sätze auch von den Politikern gelesen, die gerade in Brandenburg und Thüringen an Gebietsreformen „werkeln“. Allen, die jetzt das letzte Heft von UNTERNEHMERIN KOMMUNE im Jahr 2016 in den Händen halten, wünsche ich ein wunderschönes Weihnachtsfest und alles erdenklich Gute für 2017. Ihr Michael Schäfer UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 JAHRESTHEMA: INFRASTRUKTUR JAHRESTHEMA: INFRASTRUKTUR übrigens Im Juni 2016 leitete die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland ein, da man die PkW-Mautgesetze, die sogenannte Ausländer-Maut, für europarechtswidrig hielt. Nach Gesprächen mit der Bundesregierung gab die Kommission jedoch zu erkennen, dass sie sich mit einigen kleineren Gesetzesmodifikationen einverstanden erklären kann. Spekuliert wird allerdings nach wie vor, ob die Einnahmen die Kosten übersteigen werden. Bundesverkehrsminister Dobrindt hält eine Einführung der PkW-Maut noch in dieser Legislaturperiode für äußerst unwahrscheinlich. Vernetzung, Abstimmung und Kooperation ÖPNV wie am Fließband Roundtable-Gespräch zur Zukunft des schienengebundenen ÖPNV D er ÖPNV in Deutschland ist deutlich vielfältiger und komplexer geworden. Neue Anbieter beleben den Wettbewerb, innovative Konzepte verknüpfen unterschiedlichste Verkehrsträger und eine digitalisierte Kundenführung ermöglicht Informationen in Echtzeit. Um diese technologischen und innovativen Potentiale nutzen zu können, braucht es mehr Abstimmung unter einer wachsenden Zahl von Anbietern und Trägern. UNTERNEHMERIN KOMMUNE wollte wissen, wie vernetzte Konzepte dieser deutlich gestiegenen Komplexität Rechnung tragen können. In Naumburg an der Saale diskutierten ÖPNV-Anbieter von Schiene und Straße, aus Stadt, Region und darüber hinaus. Die kommunale Ebene vertraten der Oberbürgermeister der ehrwürdigen Domstadt und dessen Stellvertreter. Am Tisch versammelt sind eine kreiseigene Gesellschaft, ein privater ÖPNV-Anbieter der Stadt und ein überregional operierendes Schienenverkehrsunternehmen, das letztlich der Regulierung durch die Länder unterliegt, so Prof. Dr. Michael Schäfer. Diese verschiedenen Akteure operierten in unterschiedlichen Trägerschaften, genügten unterschiedlichen Rahmenbedingungen und wiesen unterschiedliche Kundenstrukturen auf, sie müssten aber dennoch bereit sein für ein hohes Maß an Kooperation. Der Moderator der Runde schließt die Frage an, wie in solch divergenten Strukturen eine Abstimmung im Sinne der Kunden und der jeweiligen Träger bestmöglich erfolgen kann. „Wir müssen bedarfsorientierte Angebote Die Runde traf sich im Amtszimmer des Oberbürgermeisters im Naumburger Rathaus. UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 5 ÖPNV Dirk Ballerstein (l.) und Armin Müller Naumburgs Oberbürgermeister Bernward Küper (l.) und Prof. Dr. Michael Schäfer Lutz Däumler, Andreas Messerli und Andreas Plehn (v.l.n.r.) entwickeln, was sowohl den Trägern als auch den Anbietern eine gewisse Flexibilität abverlangt“, antwortet Bernward Küper. Die lokalen Verkehrsgesellschaften seien aufgefordert, ganz verschiedene Bedarfe möglichst optimal zu verknüpfen. Dies umfasse die Schülerbeförderung, den Stadtverkehr oder auch die Stadt-UmlandRelationen. Darüber hinaus werde mit der Naumburger Straßenbahn ein vornehmlich touristisches Angebot mit verkehrshistorischer Relevanz vorgehalten. Naumburg profitiere von der Einbindung in den Mitteldeutschen Verkehrsverbund. Solche länderübergreifenden Kooperationen könnten für die Stadt im Dreiländereck zwischen Sachsen-Anhalt, Sachsen 6 und Thüringen einen enormen Mehrwert entfalten. Der Tarifverbund zwischen Leipzig und Naumburg habe die öffentliche Mobilität zwischen beiden Städten deutlich erhöht. Es wäre zu wünschen, dass zeitnah auch in der Relation zwischen Jena und Naumburg ein solches Angebot entwickelt werde, so der Oberbürgermeister. Armin Müller ergänzt, dass Naumburg rein flächenmäßig eine der größten Städte Mitteldeutschlands ist. „In 31 Ortsteilen leben 34.000 Menschen auf 130 Quadratkilometern“, so der Stellvertreter im Amt des Oberbürgermeisters. Aus dieser Siedlungsstruktur ergäbe sich eine besondere Relevanz für den Busverkehr. Da die geringe Siedlungsdichte im Umland der Kernstadt Naumburg einen regelmäßigen Linienverkehr mit Bussen und festen Fahrplänen zunehmend weniger rechtfertige, müssten in der Zukunft alternative, innovative und flexible Bedienformen entwickelt werden. Verkehrsknoten Mitteldeutschlands „Naumburg ist ein zentraler Knotenpunkt im Netz der Abellio Mitteldeutschland“, sagt Dirk Ballerstein. „Fünf Linien führen durch die Stadt und wir halten dort 36.000 Mal im Jahr“, unterstreicht der Geschäftsführer von Abellio Rail Mitteldeutschland die Bedeutung des Standortes für sein Unternehmen. Innerhalb Mitteldeutschlands hätten sich die verkehrlichen Kooperationen zwischen den beteiligten Bundesländern recht positiv entwickelt. Dem Grenzraum zwischen Leipzig in Sachsen, Halle in Sachsen-Anhalt über Naumburg bis in die zentralen Glieder der Thüringer Städtekette nach Jena, Weimar und Erfurt werde Naumburg ist ein zentraler Knotenpunkt im Netz der Abellio Mitteldeutschland. „ ______________________ Dirk Ballerstein “ eine zunehmend zentrale Rolle in den regionalen Verkehrskonzepten eingeräumt. Schließlich zeige sich hier die größte Siedlungsdichte der Region. Aktuell sei es fast überall gelungen, eine Durchbindung in die benachbarten Bundesländer herzustellen. Das Netz der Abellio Mitteldeutschland erstrecke sich mittlerweile über fünf Bundesländer, was wiederum den verkehrspolitischen Konzeptionen innerhalb Mitteldeutschlands entspricht. Damit umfasse das Angebot mitunter Relationen von mehr als 200 Kilometern Streckenlänge, so Ballerstein. Prof. Dr. Schäfer fragt, wie die Kommunen an der Erstellung von Verkehrskonzepten und an der Bestellung von Verkehrsleistungen noch besser beteiligt werden können. In Sachsen-Anhalt funktioniere die Abstimmung zwischen dem Land und den kommunalen Verkehrsgesellschaften grundsätzlich sehr gut, antwortet Lutz Däumler. Alle Beteiligten würden auf Augenhöhe und in enger Frequenz beteiligt. Dank der Digitalisierung könnten sich die unterschiedlichen Verkehrsarten zunehmend in Echtzeit untereinander koordinieren. Verspätungen hätten immer weniger zur Folge, dass der Anschluss verpasst wird. Der regionale Schienenverkehr in Mitteldeutschland hat sich in den vergangenen Jahren hervorragend entwickelt, nunmehr kommt es darauf an, die Verkehrskette bis in die Ortsteile noch besser zu knüpfen. „ ______________________ Andreas Plehn “ All diese Kooperationen und Vernetzungen hätten im Bereich des Mitteldeutschen Verkehrsverbunden schon jetzt ein deutliches Fahrgastplus bewirken können. So werde die neue Nahverkehrsverbindung zwischen Naumburg und Leipzig ausgesprochen gut angenommen. „Wer früher von Naumburg in das Oberzentrum Leipzig wollte, der musste den ICE In Sachsen-Anhalt funktioniert die Abstimmung zwischen dem Land und den kommunalen Verkehrsgesellschaften grundsätzlich sehr gut. „ ______________________ Lutz Däumler “ UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 JAHRESTHEMA: INFRASTRUKTUR ÖPNV nehmen und auch bezahlen.“ Mit der Integration in den Mitteldeutschen Verkehrsverbund sei es nun möglich, für deutlich weniger als zehn Euro von der Saale an die Pleiße zu kommen, so der Geschäftsführer der PVG Personenverkehrsgesellschaft Burgenlandkreis. Wir müssen uns in die Lage des Pendlers versetzen und uns fragen, wie wir ihn aus seinem Auto herausbekommen. „ ______________________ Bernward Küper “ Auch Naumburgs Oberbürgermeister ist mit der Kooperation zwischen den Kommunen und der Nahverkehrsgesellschaft des Landes vollauf zufrieden. Hier würden die Belange und auch die Einwände der Kommunen ernst genommen, im Gegenzug aber auch erwartet, dass die lokalen Verkehre so organisiert werden, dass sie mit überregionalen Angeboten korrespondieren. Auch in schwierigen Situationen oder bei möglichen Interessenskollisionen werde sich eng mit den betroffenen Kommunen abgestimmt. Oberbürgermeister Küper erinnert in diesem Zusammenhang an die Einstellung der Die Naumburger Straßenbahn fährt ausschließlich mit historischen Zügen und kann so eine Förderung durch das Land begründen. ALLEINERZIEHENDER VATER LÄSST ATOMVERTRAG PLATZEN. UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 7 ÖPNV Schienenverbindung zwischen Naumburg und Zeitz. „Wir hoffen, im kommenden Jahr endlich als UNESCO-Welterbestätte anerkannt zu werden“, sagt Andreas Plehn. Mit den touristischen Potentialen verbinde sich eine zusätzliche Motivation, den ÖPNV möglichst optimal zu gestalten, so der Geschäftsführer der Naumburger Straßenbahn. Für die kommenden Jahre wünscht er sich im Stadtzentrum eine bessere Verknüpfung zwischen Bus und Straßenbahn. Bindeglied Bahnhof Nach dem Gewinn einer Ausschreibung und der Übernahme bestellter Verkehre ist die Bezahlung doch garantiert, ganz unabhängig, wie voll die Züge sind, sagt Prof. Dr. Schäfer. Er fragt, wieso Das alte Rathaus am Naumburger Markt es Abellio dennoch nicht egal ist, wie die Züge auf das kommunale Angebot abgestimmt sind. So einfach sei die Rechnung nicht, antwortet Ballerstein. „Schließlich wollen wir auch in Zukunft noch Ausschreibungen gewinnen und unser Netz ausbauen.“ Der Geschäftsführer von Abellio Mitteldeutschland stimmt ein in das allgemeine DIE TEILNEHMER DER GESPRÄCHSRUNDE (in namensalphabetischer Reihenfolge) ˆˆ Ballerstein, Dirk, Geschäftsführer Abellio Rail Mitteldeutschland GmbH, Halle (Saale) ˆˆ Däumler, Lutz, Geschäftsführer PVG Personenverkehrsgesellschaft Burgenlandkreis mbH, Weißenfels ˆˆ Küper, Bernward, Oberbürgermeister der Stadt Naumburg ˆˆ Messerli, Andreas, Geschäftsführer Naumburger Straßenbahn GmbH, Naumburg ˆˆ Müller, Armin, Stellvertreter des Oberbürgermeisters der Stadt Naumburg ˆˆ Plehn, Andreas, Geschäftsführer Naumburger Straßenbahn GmbH, Naumburg Die Runde wurde moderiert von Prof. Dr. Michael Schäfer. Lob für die Nahverkehrsgesellschaft des Landes Sachsen-Anhalt. Auch im deutschlandweiten Vergleich gäbe es kaum einen Aufgabenträger, der sich so eng, detailliert und professionell mit den Kommunen und den Verkehrsunternehmen abstimmt. Teil dieses Ansatzes sei ein strenges Monitoring der bestellten Verkehre und der entsprechenden Fahrgastströme. Offenbar habe Abellio gute Leistungen erbracht, denn ab 2018 werde das Unternehmen etwa 50 Prozent des Schienen-Regionalverkehrs in SachsenAnhalt fahren, so Ballerstein. Andreas Plehn stimmt zu. Mit Abellio habe sich das Angebot im Schienen-Regionalverkehr spürbar verbessert. Die Züge führen pünktlicher, der Service sei besser, die Taktzeiten koordinierter und das Personal freundlicher als beim Branchenprimus. Der regionale Schienenverkehr in Mitteldeutschland hätte sich in den vergangenen Jahren hervorragend entwickelt, nunmehr komme es darauf an, die Verkehrskette bis in die Ortsteile noch besser zu knüpfen. Andererseits werde man in entlegenen und sich entleerenden Siedlungsstrukturen auch über Grenzen der Daseinsvorsorge nachdenken müssen, so Plehn. Bernward Küper will die lokalen Verkehrskonzepte zunächst auf die Kernstadt konzentrieren. In diesem Zusammenhang plädiert er für eine bessere Verknüpfung zwischen Auto und Bahn. Park and Ride spiele hier eine zentrale Rolle. „Wir müssen uns in die Lage des Pendlers versetzen und uns fragen, wie wir ihn aus seinem Auto herausbekommen. Wenn er gleich am Bahnhof parken und über die Straße hinweg den Stadtexpress nach Leipzig erreichen kann, wird er das vielleicht machen, wenn er erst einen Parkplatz suchen und hunderte Meter laufen muss, dann sicher nicht.“ Am Naumburger Bahnhof sei die Verknüpfung recht gut gelungen, in der Kernstadt bestehe allerdings noch Optimierungsbedarf. Bei einem optimalen Mix der Verkehrsträger dürfe das Fahrrad nicht vergessen werden. Die Stadt müsse dafür sorgen, dass man auch mit dem Rad sicher und bequem in die Ortsteile gelangen kann. Es könne niemandem zugemutet werden, sich in den dichten Verkehr einer Bundesstraße einzufädeln. Insgesamt sei die Verkehrsinfrastruktur in Naumburg und Umgebung auf höchstem Niveau. Mit der neuen Trasse zwischen Halle/Leipzig und Erfurt entfiele zwar der ICE-Halt, dank Abellio Die Naumburger StraSSenbahn Die Straßenbahn Naumburg verkehrt mit einigen Unterbrechungen seit 1892. Mit der Wiedervereinigung brachen die Beförderungszahlen stark ein. Zudem waren die vorhandenen Anlagen in sehr schlechtem Zustand und ließen nur den Einsatz von zweiachsigen Straßenbahnwagen zu. Im März 1991 lief die Konzession aus, im August wurde der Betrieb vorläufig eingestellt. 1994 gründeten einige Enthusiasten die Naumburger Straßenbahngesellschaft mbH, die in erster Linie eine touristische Vermarktung der einzigen Ringstraßenbahn Europas anstrebte und bald darauf mit der Wiederherstellung einiger Abschnitte begann. Im November konnte die Gesellschaft Fahrzeuge und Anlagen von der Stadt pachten, der auf 20 Jahre befristete Vertrag sah auch die Wiederinbetriebnahme der gesamten Ringstrecke vor. 2007 wurde zwischen Ostern und Oktober wieder ein täglicher Regelbetrieb aufgenommen. Dabei sei es zunächst einmal sekundär gewesen, ob dieser kostendeckend erfolgen kann, schildert Andreas Messerli. „Im 8 Zweifelsfall hätten wir auch die Insolvenz der Gesellschaft in Kauf genommen, doch das Landesverkehrsministerium unter Dr. Karl-Heinz Daehre sprang mit einem Zuschuss ein.“ Daraus wiederum sei mit der „Lex Naumburgensis“ ein einzigartiges Fördermodell für touristische Bahnen entstanden, so der Geschäftsführer der Naumburger Straßenbahn GmbH. Der Landtag verabschiedete einen Zusatzartikel für das Landes-ÖPNVGesetz, wonach Straßenbahnen, die ausschließlich mit historischen Fahrzeugen operieren, gesondert gefördert werden können. Somit ist erstmals seit der De-facto-Stilllegung im Jahr 1991 wieder ein unbefristet finanziell gesicherter Betrieb möglich. 2014 begannen die Bauarbeiten zur Verlängerung der Straßenbahn bis zum Naumburger Salztor. Die Gleise der Straßenbahn sind Eigentum der Stadt, der Betrieb wird von der Naumburger Straßenbahngesellschaft mbH geführt. UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 JAHRESTHEMA: INFRASTRUKTUR ÖPNV könne man jedoch schnell, oft, bequem und sicher in die umgebenden Oberzentren gelangen, so Küper. Dirk Ballerstein teilt diesen angebotsorientierten Ansatz. Im Gegensatz zum Fernverkehr als eigenwirtschaftlicher Leistung der DB AG gehe es in der Region und in der Kommune um Daseinsvorsorge und dieses Konzept impliziere ein gewisses Grundangebot. „Im Sinne der Ökologie, der Sicherheit und der Lebensqualität sollten wir uns alle zusammen überlegen, wie wir die Menschen in die Züge bringen. Die Vielzahl und Vielfalt entsprechender Mobilitätskonzepte wird in Zukunft zunehmen“, so Ballerstein. Lutz Däumler ist überzeugt, dass der Bürger immer weniger Wert auf bestimmte Verkehrsträger legt. Es ginge ihm lediglich um möglichst praktische und angenehme Mobilität. Den Kommunen müsse bewusst sein, dass die Daseinsvorsorge im ÖPNV auch etwas kostet. Ballerstein ergänzt, dass es in Leipzig schon jetzt eine Mobilitäts-App gibt, die unter Berücksichtigung sämtlicher Verkehrsträger dem Nutzer in Echtzeit Mobilitätsketten von A nach B erstellt. Dieser Trend aus den Großstädten werde in Zukunft sicher auch in Mittelstädten wie Naumburg relevant werden. Grenzen der Daseinsvorsorge Wenn in vielen Kommunen Daseinsvorsorge nach Kassenlage erbracht wird, werde das Konzept Es ist gut, dass der Wettbewerb im Schienenpersonennahverkehr deutlich an Intensität zugelegt hat. Die Standards bei Komfort, Schnelligkeit und Service sind deutlich gewachsen. Abellio hat daran einen großen Anteil, der auch andere Marktteilnehmer zu verstärkten Anstrengungen motiviert. Die Digitalisierung ermöglicht eine einfache und schnelle Information für den Kunden. Die ist auch nötig, denn in erster Linie konkurriert der ÖPNV noch immer mit dem Individualverkehr. Die Aufgabenträger sind aufgerufen, ihre Angebote weiter zu optimieren und miteinander zu verzahnen. Damit der Kunde mindestens genauso schnell und sicher ans Ziel kommt wie mit dem eigenen Auto. Falk Schäfer konterkariert. Andererseits gäbe es faktische Grenzen der Belastbarkeit, so Prof. Dr. Schäfer. Daran schließt er die Frage an, ob der Bus in Zukunft auch in entlegene Ortschaften mit nur sehr wenigen Einwohnern fahren muss oder ob man nicht an deren Bewohner appellieren sollte, sich entweder selbst zu helfen oder an zentralere Orte zu ziehen. „Gerade in den kleinen Ortsteilen lässt sich die Entwicklung nur schwer prognostizieren“, sagt Bernward Küper. Aktuell gehe der Trend in Richtung einer Reurbanisierung, das sei vor wenigen Jahren aber noch ganz anders gewesen und könne sich angesichts der in den urbanen Zentren deutlich steigenden Mietpreise auch jederzeit wieder ändern. „Wir werden nach wie vor auch in der Fläche einen Mobilitätsbedarf haben, dem wir als Kommune genügen müssen. Wir werden dabei aber verstärkt auf flexible und dezentrale Konzepte setzen.“ Lutz Däumler stimmt zu. Allerdings sollten die Menschen in peripheren Siedlungen nicht die gleiche Angebotsdichte erwarten, wie in den Zentren. Zusätzlich gelte es, das bestehende Angebot noch bekannter zu machen. n Die Gesprächsrunde dokumentierte Falk Schäfer i infos www.abellio.de ALLEINERZIEHENDER VATER LÄSST ATOMVERTRAG PLATZEN. Jetzt wechseln zu GASAG | STROM Fix: 0 % Atom. 100 % erneuerbar. www.gasag.de/strom UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 9 Breitbandversorgung Mehrere Ortskennzahlen für eine Gemeinde und falsche Versorgungsprämissen Erfolgreicher Breitband-Hürdenlauf über mehrere Etappen Interview mit Kerstin Hoppe, Bürgermeisterin Gemeinde Schwielowsee D aseinsvorsorge-Infrastrukturen – das ist das Jahresthema 2016 von UNTERNEHMERIN KOMMUNE. Diesen Gegenstand können wir unmöglich in seiner ganzen Breite erschöpfend behandeln. Deshalb haben wir uns bewusst auf zwei Segmente konzentriert: den ÖPNV und die Breitbandversorgung. In Beitragsserien nähern wir uns deduktiv, also vom Allgemeinen zum Konkreten, am Ende einzelnen Projekten auf der kommunalen Ebene. Im Juniheft haben wir grundsätzlich geklärt, welchen Platz die Breitbandversorgung im Kanon der Daseinsvorsorge hat. Dem folgte im September eine umfassende Bestandsaufnahme für Brandenburg. Hier zeigten wir die Verzahnung der Förderprogramme auf Bundesund Landesebene und stellten dar, welche Rolle die Landkreise bei der Schaffung der technischen Infrastrukturen für das schnelle Internet spielen. Im vorliegenden Dezemberheft berichten wir, wie es eine kleine Gemeinde in Brandenburg geschafft hat, eine große Lücke in der Breitbandversorgung zu schließen, und zwar ohne Förderung von Bund und Land und ohne Einbindung in Programme, die von den Landkreisen für ausgewählte Regionen umgesetzt werden. Über dieses Beispiel sprachen wir am 1. Dezember mit der Bürgermeisterin der Gemeinde Schwielowsee, Kerstin Hoppe. UNTERNEHMERIN KOMMUNE: „Telekom nimmt schnelles Internet in Schwielowsee in Betrieb. Surfen mit bis zu 100 Megabit pro Sekunde für weitere 2.100 Haushalte ab sofort / Jetzt auch Fernsehen über Internet möglich“. Mit diesen Sätzen war eine Pressemitteilung der Telekom getitelt, die uns im November erreichte. Der Text unter diesen Überschriften machte uns neugierig, denn daraus ging unter anderem hervor, dass das Projekt offenbar nicht Teil der derzeit verfügbaren Förderprogramme war. Frau Bürgermeisterin, haben wir richtig gelesen, dass für die Breitbanderschließung in Schwielowsee keine Mittel vom Bund und dem Land Brandenburg flossen? Kerstin Hoppe: Ja, das jetzt kürzlich in Betrieb gegangene Vectoring-Ausbaugebiet im Ortsteil Caputh und der Ortslage Kammerode hat die Deutsche Telekom mit eigenen Investitionsmitteln ohne öffentliche Förderung ausgebaut. UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Im Vorgespräch haben Sie uns erläutert, dass Sie seit mehr als zehn Jahren für schnelles Internet in Ihrer Gemeinde kämpfen. Können Sie uns diese Geschichte bitte konkret schildern? Hoppe: Dazu muss ich noch drei weitere Jahre zurückgehen. 2003 entstand Schwielowsee im Ergebnis der Gemeindegebietsreform in Brandenburg aus mehreren zuvor selbstständigen Gemeinden. Ferch, wo wir uns zu unserem Interview treffen, liegt in der Mitte und ist der Sitz der Verwaltung und der Bürgermeisterin. Als unsere 10 Kerstin Hoppe neue Kommune startete, bestand der IT- und Telekommunikations-Standard aus einer ISDNLeitung. Mit diesem Netz, quasi aus dem vorigen Jahrhundert, mussten wir die IT-Kommunikation zwischen dem Rathaus und mehreren Bürgerbüros organisieren. Viel mehr als Telefonieren war auf diesem Niveau nicht möglich. An den Austausch großer Dateien zwischen dem Rathaus und den Außenstellen war nicht zu denken. Das aber war das Ziel. Wir wollten unseren Bürgern lange Wege ersparen. Dazu musste der schnelle Transfer solcher Datenmengen technisch ermöglicht werden. Unseren 2003 aufgenommenen Kampf um die Anbindung an das DSL-Netz haben wir am 1. November 2006 gewonnen. Wären wir nicht selbst aktiv geworden, hätte das deutlich länger gedauert, denn wir waren schlichtweg nicht dran, ja nicht einmal geplant. Um den Prozess voranzutreiben, haben wir in eigener Regie Bedarfe ermittelt und der Telekom übergeben. Im Ergebnis erhielten 800 Privat- und Geschäftskunden den Zugang zur breitbandigen Internetnutzung. Für die Gemeinde mindestens ebenso wichtig: Rathaus und Bürgerbüros in den Ortsteilen konnten vernetzt, eine Standleitung installiert werden. Die Breitbanderschließung von Schwielowsee ist der schwierige Weg von Lückenschluss zu Lückenschluss. Wir aber wollten von vornherein eine komplexe Erschließung. Denn es ist doch keinem Bürger in einer Gemeinde zu vermitteln, dass er im Ortsteil A mit Überschall im Netz unterwegs ist und in B mit der Postkutsche. Wir haben immer wieder Druck gemacht: auf den Landkreis, auf das Wirtschaftsministerium in Potsdam, ja sogar auf den Bund einschließlich seiner Netzagentur. Da wir eine ganzheitliche Lösung nicht durchsetzen konnten, haben wir uns im Interesse unserer Bürger immer einen Platz in der ersten Reihe erkämpft, wenn die Breitbanderschließung weiterer Areale im Gemeindegebiet möglich war. So im Jahr 2014 als im Rahmen des Programms „Glasfaser 2020“ der Brandenburger Landesregierung weitere Teile von Schwielowsee Gegenstand von Ausschreibungen waren. UNTERNEHMERIN KOMMUNE: In Brandenburg, so haben wir es im Septemberheft beschrieben, wird die regionale Breitbanderschließung im Regelfall über die Landkreise realisiert, die dazu Förderanträge stellen und Ausschreibungen auf den Weg bringen. Warum hat das für Schwielowsee nicht funktioniert? Hoppe: Neben dem Eigenausbau der Telekommunikationsanbieter gibt es bekanntlich auch Förderprogramme. Dabei sind die Förderkriterien UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 JAHRESTHEMA: INFRASTRUKTUR Breitbandversorgung der jeweiligen Programme einzuhalten. Im Landesprogramm Brandenburg Glasfaser 2020 war es zum Beispiel so, dass eine Förderung nur möglich war, wenn die Mehrheit der Haushalte im Versorgungsbereich mit weniger als sechs MBit/s Bandbreite versorgt war. Hatte also die Mehrheit der Haushalte bereits sechs MBit/s war der Breitbandausbau nicht förderfähig. Dieses Kriterium von Durchschnittswerten ist für mich mehr als fragwürdig, denn es gibt ja bei der Internetanbindung keine Ausgleichsmöglichkeiten. Der Bürger, der mit sechs Mbit/s oder mehr versorgt ist, kann davon seinem Nachbarn, der mit einer ISDN-Leitung leben muss, nichts abgeben. Falsche Informationen führten zu ablehnenden Bescheiden UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Im Umkehrschluss stellt sich die Frage, warum die Telekom die Lücke geschlossen hat? Haben sich zum Beispiel die Rahmenbedingungen in Gestalt höherer Einwohnerzahlen und damit auch einem größeren Kundenpotenzial geändert? Hoppe: Natürlich hat die Telekom die jetzt für Caputh und die Ortslage Kammerode erfolgreich realisierte Breitbanderschließung auch vorgenommen, weil die Hoffnung besteht, dass sich das wirtschaftlich rechnet. Aber diese Perspektive gibt es in etlichen Regionen und der Ausbau der Infrastruktur für das schnelle Internet ist auch für den Großkonzern nur Schritt für Schritt möglich. Insofern ist es aus heutiger Sicht sinnvoll gewesen, dass wir nach der erwähnten DSL-Erschließung von Ferch im Jahr 2006 im Kontakt mit der Telekom immer wieder ausgelotet haben, was neben geförderten Projekten an Erschließungsmaßnahmen möglich ist, die das Unternehmen mit eigenen Mitteln und dem vollen wirtschaftlichen Risiko auf den Weg bringen kann. Das Ergebnis, das wir jetzt am 14. November präsentieren konnten, ist Ausdruck des konstruktiven Zusammenwirkens. Ich will bei dieser Gelegenheit anmerken, dass die Telekom auch bei lukrativsten Standorten in Die Gemeinde Schwielowsee Schwielowsee ist eine amtsfreie Gemeinde im Landkreis Potsdam-Mittelmark (Brandenburg). Sie entstand 2002 durch den Zusammenschluss der drei Gemeinden des früheren Amtes Schwielowsee (Caputh, Ferch, Geltow sowie dem bewohnten Gemeindeteil Wildpark-West). Die Gemeinde erstreckt sich auf einer Fläche von 58,3 Quadratkilometern und hat rund 10.500 Einwohner. Schwielowsee ist Staatlich anerkannter Erholungsort. Bürgermeisterin Kerstin Hoppe und Uwe Klawitter, Regio-Manager der Telekom Deutschland im Landkreis PotsdamMittelmark, bei der Inbetriebnahme des neuen Breitbandnetzes in der Gemeinde Schwielowsee am 14. November 2016. dicht besiedelten Großstadtquartieren nicht selbst entscheiden darf, ob sie dort investiert. Das letzte Wort hat immer die Bundesnetzagentur. Für das jetzt erschlossene Gebiet in Schwielowsee war der dortige Informationsstand in dieser Behörde so, dass die Versorgungssituation ausreichend sei. Wir haben unseren Status, der genau dies eben nicht zeigte, immer sach- und termingerecht kommuniziert. Zu den verschlungenen Wegen, auf denen solche Informationen von den Kommunen über die Kreise und das Land zur Netzagentur gelangt, erspare ich mir an dieser Stelle einen Kommentar. Noch eine kurze Anmerkung zu den Rahmenbedingungen. In unserem Landkreis PotsdamMittelmark gibt es nach meinem Kenntnisstand zwei Kommunen mit wachsender Einwohnerzahl. Das sind Schwielowsee und Teltow. Unsere neuen Bürger arbeiten vor allem in Potsdam und Berlin. Sie sind jung, haben Kinder und bauen sich hier ihr Einfamilienhaus. Aber die herrliche, wald- und wasserreiche Umgebung reichen heute UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 allein nicht aus, um den Lebensmittelpunkt nach Schwielowsee zu verlegen. Schnelles Internet gehört einfach dazu. Das gilt natürlich auch für viele kleine, aber sehr feine Unternehmen, die von hier aus, oft am Anfang aus dem Wohnzimmer, weltweit agieren. UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Die Breitbandinfrastruktur für das schnelle Internet ist jetzt verfügbar. Was bedeutet das für die Bewohner von Schwielowsee und die Unternehmen, die hier tätig sind? Hoppe: Eine Verbesserung der Infrastruktur und eine Aufwertung der nun bestens mit Breitband erschlossenen Wohn- und Gewerbegrundstücke. Darüber hinaus sind Investitionen in Infrastruktur immer auch Wirtschaftsförderung: Neuansiedlungen, neue Wohnungsbauprojekte, zusätzliche Arbeitsplätze, höhere Steuereinnahmen. 11 Breitbandversorgung Breitbandversorgung in Schwielowsee. Daten und Fakten Die Telekom versorgt seit dem 14. November 2016 rund 2.100 Haushalte und Betriebe in der Gemeinde Schwielowsee (dort im Ortsteil Caputh und der Ortslage Kammerode) mit schnellem Internet mit Geschwindigkeiten von bis zu 100 Megabit pro Sekunde (MBit/s). Um die Breitbandversorgung sicherzustellen, hat die Telekom 17 neue Knotenpunkte aufgebaut und Glasfaserkabel neu verlegt. Das neue Netz ist so leistungsstark, dass Telefonieren, Surfen und Fernsehen gleichzeitig möglich sind. Auch das Streamen von Musik und Videos oder das Speichern in der Cloud ist bequemer. Das maximale Tempo beim Herunterladen steigt auf bis zu 100 Megabit pro Sekunde (MBit/s) und beim Hochladen auf bis zu 40 MBit/s. Uwe Klawitter, Regio-Manager der Telekom Deutschland im Landkreis Potsdam-Mittelmark, ordnete dieses Projekt in die deutschlandweiten Infrastrukturaktivitäten des Unternehmens ein: „Wir investieren Jahr für Jahr bis zu vier Milliarden Euro in den Netzausbau in Deutschland. Unser Netz wächst täglich. Mit mehr als 400.000 Kilometern betreibt die Telekom bereits heute das größte Glasfasernetz in Deutschland. Zum Vergleich: Das deutsche Autobahnnetz ist insgesamt 13.000 Kilometer lang.“ Fusionen haben Auswirkungen auf Daseinsvorsorgestrukturen, die oft nicht im Blick sind UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Breitband gibt es jetzt für den Ortsteil Caputh und die Ortslage Kammerode. Schwielowsee ist also offenbar noch nicht komplett erschlossen. Wie geht es weiter und warum umfasste das aktuelle Projekt nicht gleich die komplette Gemarkung? Hoppe: Der Breitbandausbau muss sich an den technischen Grenzen ausrichten, die leider nicht mit den Gemeindegrenzen harmonieren. Dieses technische Raster ist räumlich definiert durch unterschiedliche Ortsnetzkennzahlen (03327 und 033209). Das ist eben auch eine Konsequenz, wenn man früher eigenständige Gemeinden zusammenführt. In dieser neuen Gebietskörperschaft müssen Erschließungen im Regelfall diesen technischen Prämissen folgen, sind also a priori weder konsistent noch homogen. UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Betreffen die von Ihnen gerade geschilderten Netzzuständigkeiten nur das Internet oder auch andere Infrastrukturen? Hoppe: Selbst eine gemeinsame neue Postleitzahl für die fusionierte neue Gemeinde bekommt man nicht etwa automatisch. Was da alles geregelt und beantragt werden muss, übersteigt das Vorstellungsvermögen von „Otto-Normalverbraucher“. Hier haben wir es geschafft. Bei den Ortskennzahlen ist uns das auch nach nunmehr 13jährigem Kampf noch nicht gelungen. Wenn Breitbandversorgung zur Daseinsvorsorge gehört, dann muss sie dort, wo die dazugehörige Infrastruktur aus betriebswirtschaftlicher Perspektive nicht errichtet werden kann, öffentlich finanziert werden. „ ______________________ Kerstin Hoppe “ Die Gemeinde Schwielowsee ist nicht zuletzt wegen ihrer landschaftlichen Lage bei gleichzeitiger Nähe zu Potsdam und Berlin eine gefragte Adresse für „Häuslebauer“, die in Berlin und Potsdam arbeiten, für ihren Wohnsitz aber eine naturnahe und ruhige Lage bevorzugen. 12 UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 JAHRESTHEMA: INFRASTRUKTUR Breitbandversorgung Ein drittes Beispiel: vor der Bildung der neuen Gemeinde im Jahr 2003 gehörte die Gemeinde Caputh, heute ein Ortsteil von Schwielowsee, zum Berliner ÖPNV-Tarif, der auch das unmittelbar anliegende Brandenburger Umland, dafür steht das „C“, umfasst. Die Gemeinde Ferch, seit 2003 ebenfalls Teil von Schwielowsee, gehörte tariflich schon zu Brandenburg. Mit der Fusion hatten wir also in der neuentstandenen Kommune plötzlich zwei Tarife. Erklären Sie mal einem Bürger des Ortsteils Ferch, warum er mehr zahlen muss als ein Caputher, wenn er nach Berlin fahren will, obwohl in den Personalausweisen beider als Wohnort Schwielowsee steht. UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Wir haben im bereits erwähnten Juniheft sehr eindeutig die Frage bejaht, ob schnelles Internet zur Daseinsvorsorge gehört. Ist das auch Ihre Einschätzung? Hoppe: Uneingeschränkt ja. UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Wenn Privatunternehmen für die Implementierung von Infrastrukturen zuvorderst die unternehmerische Frage stellen, ob mit der Nutzung die Refinanzierung dieser Investitionen gesichert ist, muss man das ohne Der Ausflug in die kleine Gemeinde Schwielowsee in Sachen Breitbanderschließung war für den Autor in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich: Erstens zeigt das Beispiel – und das ist für die Fläche durchaus repräsentativ – dass der Versorgungsgrad nicht nach einem Kriterium wie „mehrheitlich über dem Standard X“ liegend, beurteilt werden kann. Wenn in einer Kommune eine große oder auch kleine Minorität nur deshalb nicht erschlossen werden kann, weil eine Mehrheit schon den guten oder besten Standard bereits hat, so ist das schlicht falsch. Wir reden über Daseinsvorsorge. Dass dieses gerade kritisierte Entscheidungskriterium geradezu grotesk ist, leuchtet schnell ein. Man ersetze nur die Daseinsvorsorgeleistung „Schnelles Internet“ durch das Daseinsvorsorgeangebot „Trinkwasser“. Dann wäre es legitim 51 Prozent der Einwohner Wasser bester Güte (wie überall in Deutschland gewährleistet) anzubieten, dem „Rest“ von 49 Prozent aber ein Nass, das allenthalben kühl ist, aber selbst per Abkochen nicht genussfähig wird………. Zweitens und das sollte man aktuell vor allem in Brandenburg und Thüringen bedenken, wo derzeit nach dem Prinzip „Augen zu und durch“ Gebietsreformen auf den Weg gebracht werden – sollte man kommunale Reformen immer unter Beachtung der Prämisse auf den Weg bringen, dass unter allen kommunalen Aufgaben die Daseinsvorsorge die höchste Priorität hat. Dass man kommunale Funktionalitäten und Strukturen regelmäßig auf den Prüfstand stellen muss, ist unstrittig. Aber dabei geht es doch bestenfalls auch um Verwaltungsoptimierung. Vorrangiges Ziel aber muss es sein, Daseinsvorsorge auch dann zu gewährleisten, wenn sich die Rahmenbedingungen, hier geht es vor allem um den demografischen Wandel, dramatisch verändern. Drittens: Auch das Beispiel Schwielowsee zeigt, dass der fast pervers zu nennende Drang, auch das allerletzte Detail zu regulieren, zur Strangulierung verkommt. Dass eine tüchtige Bürgermeisterin wie Kerstin Hoppe zehn Jahre ihrer Energie verschwenden muss, um den Einwohnern ihrer Gemeinde einen einheitlichen ÖPNV-Tarif zu verschaffen, zeigt, dass viele Bundes- und Landespolitiker sich endlich dem realen Leben zuwenden müssen, anstatt als in Sonntagsreden über Kommune 4.0 zu schwafeln. Frau Hoppe zeigt, dass es geht. Aber wieviel Kraft muss sie beim Kampf gegen Windmühlenflügel regelrecht verschwenden. Dabei ist es viel wichtiger, dass sie es geschafft hat, die Pro-Kopf-Verschuldung der seit 2003 bestehenden Gemeinde Schwielowsee (sie führt den Ort seit dessen Gründung) von 1.100 auf 330 Euro pro Kopf zu reduzieren. Viertens: Die Telekom muss sich bei Strafe des Unterganges unternehmerisch verhalten: Dass sie dabei als Marktführer auch ins vertretbare Risiko geht, und dies nicht nur in Schwielowsee, ist offenbar in Deutschland nicht mehr selbstverständlich. Also dürfen wir es am Schluss erwähnen. Und uns wünschen, dass es auf diesem Wege noch mehr an Kooperationen vor Ort gibt, zum Beispiel mit Stadtwerken, die sich die Geschäftsfelder Telekommunikation und Informationstechnologie gerade erschließen oder auch schon zu den Akteuren gehören. Prof. Dr. Michael Schäfer UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 UNSER Gesprächspartner Kerstin Hoppe wurde am 9. August 1965 in Luckenwalde (Land Brandenburg) geboren. Ihr Studium an der Ingenieurschule für Bauwesen und Ingenieurpädagogik Magdeburg schloss sie 1988 als Diplom-Ingenieurin für Hochbau (FH) ab. Danach war Kerstin Hoppe u.a. im Brückenbau, in der Tragwerksplanung und in der Bauleitung tätig. Seit 2003 ist sie Bürgermeisterin der Gemeinde Schwielowsee. Im Zusammenhang mit diesem Amt ist sie u.a. Vorsitzende der Verbandsversammlung des Wasser- und Abwasserzweckverbandes Werder/Havelland, Vorsitzende des Aufsichtsrates der Gesellschaft kommunaler E.dis-Aktionäre und Mitglied im Präsidium der Städte- und Gemeindebundes Brandenburg. Kerstin Hoppe ist Mitglied der CDU. Seit 2003 ist sie Vorstandsmitglied im CDU-Kreisverband Potsdam-Mittelmark. 2007 wurde sie zum 1. Stellvertreter des Landesvorsitzenden der Kommunalpolitischen Vereinigung der CDU Brandenburg gewählt und im selben Jahr zur Stellvertretenden Bundesvorsitzenden der Kommunalpolitischen Vereinigung von CDU/ CSU. Dort vertritt sie die Interessen der Gemeinden, die 10.000 und weniger Einwohner haben. Beide Ämter übt sie nach mehrfacher Wiederwahl auch aktuell aus. „wenn und aber“ akzeptieren. Heißt das in der Konsequenz, dass dort, wo die Refinanzierung nicht dargestellt werden kann – also in strukturschwachen Regionen wie der Uckermark – öffentliche Forderung unabdingbar ist? Hoppe: Das ist die Konsequenz. Wenn die Breitbandversorgung zur Daseinsvorsorge gehört, dann muss sie dort, wo die dazugehörige Infrastruktur aus rein betriebswirtschaftlicher Perspektive weder errichtet noch betrieben werden kann, öffentlich finanziert werden. Auch hier gibt es kein schwarzweiß, sondern fließende Übergänge. Es verdient Anerkennung, wenn ein sehr großer Anbieter wie die Telekom auch dort investiert, wo eine Refinanzierung aktuell nicht garantiert werden kann. Solche vertretbaren Risiken sollten Marktführer auch eingehen. Die Telekom tut es. Nach meinem Kenntnisstand hat sie in der von Ihnen gerade genannten Uckermark unter anderem die Stadt Prenzlau im Jahr 2013 im Rahmen ihres Vectoring-Ausbauprogramms erschlossen. n Das Gespräch führte Michael Schäfer i infos www.schwielowsee.de 13 Digitalisierung Digitalisierung und Daseinsvorsorge Auf dem Weg ins digitale Zeitalter Roundtable-Gespräch zu den Potentialen für kleinere und mittlere Stadtwerke D ie Digitalisierung wird derzeit vor allem mit Bezug auf große Metropolenräume und industrielle Anwendungen diskutiert. Tatsächlich verbinden sich mit der kommunikationstechnologischen Vernetzung auch für Kleinstädte und den ländlichen Raum enorme Möglichkeiten. Eine leistungsfähige Breitbandverbindung vorausgesetzt, wird es immer leichter werden, das beschauliche Landleben mit der Globalisierung zu verknüpfen. Im Hinblick auf die Daseinsvorsorge und auf eine geringer werdende Siedlungsdichte können mittelfristig nur die Effizienzpotentiale der Digitalisierung eine Versorgung auf gleichbleibend hohem Niveau und mit angemessenem Aufwand sicherstellen. Lesen Sie zu diesem Themenkomplex die Zusammenfassung einer Diskussionsrunde im mecklenburgischen Mittelzentrum Teterow. Vertreten waren die wichtigsten kommunalen Unternehmen der Stadt, der Bürgermeister – in Personalunion auch Präsident des Städteund Gemeindetages im nordöstlichsten Bundesland – sowie ein kommunales Unternehmen aus den Niederlanden, welches seit einigen Jahren auch in deutschen Kommunen mit innovativen Konzepten überzeugen kann. Der Prozess der Digitalisierung wird nicht aufzuhalten sein, beginnt Prof. Dr. Michael Schäfer. In diesem Zusammenhang würden immer wieder Analogien zu früheren Epochenwenden bemüht, sei es die Industrielle Revolution, die Deutsche Einheit oder der Beginn einer automatisierten Produktion an den Fließbändern der Detroiter Ford-Werke. Der Herausgeber dieser Zeitschrift und Moderator der Debatte fragt, wie die Digitalisierung von den Disputanten am Tisch in den sozialhistorischen Kontext eingeordnet wird. Digitalisierung und Globalisierung sind zwei Seiten der gleichen Medaille, sagt Manuela Hilse. Die Wirkungen auf die einzelnen Kommunen seien äußerst komplex. Einerseits könnten Kleinstädte wie Teterow von einer digitalisierten und zunehmend flexibler werdenden Arbeitswelt profitieren, andererseits trage die noch immer unzureichende Breitbandversorgung dazu bei, den Unterschied zu den prosperierenden Metropolregionen weiter zu vertiefen, so die Geschäftsführerin der Teterower Wohnungsgesellschaft. Caspar von Ziegner wirft ein, dass man sich abseits von Attributen und Analogien eines umfassenden und tiefgreifenden Wandels bewusst sein muss. Dies sei die Voraussetzung, um die technischen Möglichkeiten bestmöglich für die Menschen nutzbar zu machen. Die Übertragungsraten mögen sich vervielfacht haben, doch das Zeitbudget und die menschliche Aufnahmekapazität nicht. Kommunikations- und Informationsprozesse bedürften daher weiterhin einer aktiven Selektion, so der Unternehmensentwickler der Alliander AG. Der Bürgermeister von Teterow stimmt zu: Zentrale Prämisse bei einer Implementierung digitaler Prozesse müsse der Nutzwert für den Menschen und für seine alltägliche Lebenswelt sein. Die Digitalisierung solle Arbeit abnehmen und nicht neue schaffen. Sie müsse es ermöglichen, auch mal zur Ruhe zu kommen, und dürfe nicht dazu führen, von immer neuen Angeboten und Informationen getrieben zu sein, so Dr. Reinhard Dettmann. Bei der Datensicherheit hätten einige benachbarte Kommunen bereits schlechte 14 Erfahrungen sammeln müssen. Daher habe die Stadt Teterow eigens zwei IT-Fachleute eingestellt, um Daten besser schützen und Prozesse besser verknüpfen zu können. Zwar sei eine leistungsfähige Breitbandanbindung für den ländlichen Raum eine zentrale Entwicklungsvoraussetzung, damit allein sei es jedoch noch lange nicht getan. Manuela Hilse ergänzt, dass in Teterow Vieles schon umgesetzt ist. So seien Auftragsvergabe, -abwicklung und Rechnungslegung zwischen der Wohnungsgesellschaft und den mittelständischen Handwerksbetrieben der Region bereits vollständig digitalisiert. Kluge Konzepte Digitalisierung ist kein Selbstzweck, so Prof. Dr. Michael Schäfer. Die Oberfläche dürfe nicht die Inhalte bestimmen, sondern müsse als Instrument zur Erreichung gesetzter Prämissen dienen. Die Kommunen dürften sich der Digitalisierung nicht verweigern, doch sie müssten auch den Mut aufbringen, Grenzen zu definieren, was sinnvoll ist und was nicht. Nicht alles, was technisch möglich ist, sei auch notwendig. „Im Zentrum aller Überlegungen müssen die Bedürfnisse der Kunden stehen“, stimmt Caspar von Ziegner zu. Gerade auf dem Land könnten digitale Lösungen zu einer erheblichen Steigerung der Lebensqualität beitragen. Dr. Dettmann sieht das ähnlich. Allerdings würden viele Dörfer schneller schrumpfen, als sich die älteren Mitbürger mit der Digitalisierung arrangieren. Und nur weil es möglich ist, würden sich nicht automatisch neue Menschen ansiedeln. „Letztlich ist es auch eine Frage des Preises“, sagt Manuela Hilse. Assistenzsysteme seien sicherlich geeignet, das Leben im Alter auf dem Land zu erleichtern, allerdings ließen sich die teilweise erheblichen Implementierungskosten mit den zu erwartenden Nutzerzahlen kaum rechtfertigen. „Smart Meter sind an sich eine gute Sache“, sagt Klaus Reinders. Doch auch die innovativsten Angebote müssten sich an ihrem Nutzen messen lassen. Zusätzlich werde der Kostenaufwand durch eine vielfach unangemessene Regulierung erhöht, so der Geschäftsführer der Teterower Stadtwerke. Reinders stemmt sich gegen einen Automatismus, dass das was technisch möglich ist, auch umgesetzt Der direkte Kontakt und Austausch mit den Kunden ist für uns von großem Wert. Auch deshalb versorgen wir noch 95 Prozent der Netzkunden selbst. „ ______________________ Klaus Reinders “ Die Runde traf sich am Sitz der Stadtwerke Teterow. UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 JAHRESTHEMA: INFRASTRUKTUR Digitalisierung Caspar von Ziegner (l.) und Dr. Reinhard Dettmann Klaus Reinders und Manuela Hilse werden muss. „Der normale Haushaltskunde im Reihenhaus oder Plattenbau braucht keinen Smart Meter. Dagegen lässt sich für das Eigenheim mit Garten durchaus ein Mehrwert denken.“ Eine flächendeckende Implementierung empfindet Reinders als unfair. Es könne nicht sein, dass lediglich wohlhabende Haushalte spürbare Vorteile generieren können, die Kosten aber unter allen Nutzern solidarisiert werden. Selbstverständlich würden sich auch die Stadtwerke Teterow den Anforderungen der Digitalisierung stellen. So hätte man sich mit den Kollegen aus Neustrelitz zusammengetan, um ein gemeinsames Rechenzentrum aufzubauen. Aktuell werde an einem neuen IT-Sicherheitskonzept gefeilt, so der Stadtwerke-Geschäftsführer. „Sowohl Erzeugung als auch Verbrauch werden immer dezentraler“, sagt Caspar von Ziegner. Dieser Trend zu komplexeren Strukturen sei für die Datensicherheit eher vorteilhaft. Die Stadtwerke mit ihrer engen Bindung an die Kunden und an die Region seien prädestiniert, den Zentrale Prämisse bei einer Implementierung digitaler Prozesse muss der Nutzwert für den Menschen und für seine alltägliche Lebenswelt sein. „ ______________________ Dr. Reinhard Dettmann “ Prozess der Digitalisierung zu moderieren und zu gestalten. Dazu gehörten Smart Meter, die wirklich klug sind und Informationen gemäß ihrem tatsächlichen Nutzwert erfassen. Alliander testet als Netzdienstleister im rheinländischen Heinsberg solche Technik bereits erfolgreich. Dr. Dettmann wirft ein, dass eine intelligente Steuerung auch von den Nutzern und nicht zuletzt von den Angestellten der Versorgungsbetriebe nachvollzogen werden müsse. Leider fehle es den mittelständischen Unternehmen in Teterow jedoch zunehmend an geeignetem Nachwuchs. Effizienz und Bürgernähe „Wenn man den Prozess der Digitalisierung als derart umfassenden Wandel begreift als der er ständig apostrophiert wird, dann wird man den daraus Neben positiven Effizienzpotentialen hat die Digitalisierung durchaus auch nachteilige Effekte. „ ______________________ Manuela Hilse “ resultierenden Chancen und Herausforderungen nur mit einer ausgefeilten Konzeption entsprechen können“, sagt Prof. Dr. Schäfer. Das Strommarktdesign oder auch die Umlagefinanzierung werde diesen Prämissen nicht gerecht. Beispielhaft wird die Förderung der E-Mobilität mit ihren „lächerlichen Verkaufszahlen“ als „Rohrkrepierer“ beschrieben. Im Hinblick auf die Raumentwicklung sei es viel zu einfach gedacht, dass strukturschwache Gebiete automatisch wiederbevölkert würden, nur weil dort ein paar Glasfaserkabel anlandeten. Manuela Hilse bringt ein Beispiel aus der Wohnungswirtschaft. Die Energieeinsparverordnung mit ihren Anforderungen an eine möglichst energieschonende Dämmung hätte das Bauen deutlich verteuert. Um Schimmelbildung zu verhindern, müssten nun kontrollierte Lüftungsanlagen installiert werden, die wiederum Geld und Energie verschlingen. „Die Wärmedämmung ist ein gutes Die Stadtwerke mit ihrer engen Bindung an die Kunden und an die Region sind prädestiniert, den Prozess der Digitalisierung zu moderieren und zu gestalten. „ ______________________ Caspar von Ziegner “ Beispiel, wie der Einfluss der Industrie an sich wohlmeinende Ideen konterkarieren kann“, so Prof. Dr. Schäfer. Diese schlechten Erfahrungen sollten dazu veranlassen, neue Entwicklungen möglichst optimal an klar definierten Zielorientierungen auszurichten. Die Alliander AG Als kommunal geprägtes Technologie-Unternehmen setzt sich Alliander aktiv für den Erfolg der Energiewende ein. Alliander ist Innovationsführer auf dem Gebiet der digitalen Energieinfrastruktur und bietet maßgeschneiderte Produkte und Lösungen zur Umsetzung neuer lokaler Energiekonzepte. Als Dienstleister und Partner von Netzbetreibern, Städten und Kommunen übernimmt das Unternehmen die Planung, Installation und Betriebsführung von Infrastrukturen im Bereich Energie, Verkehr und Telekommunikation. Alliander bietet Produkte und Lösungen für Smart Grid, Smart Home und Smart City inklusive Ladeinfrastrukturen für Elektro-Mobilität. Auch im Bereich der öffentlichen Beleuchtung und Lichtsignalanlagen sind intelligente und effiziente Lösungen eine Stärke des Unternehmens. UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 Alliander sucht die Partnerschaft mit Kommunen und Initiativen, um mit ihnen gemeinsam die Energiewende bezahlbar und bürgernah umzusetzen. Die Alliander AG ist Tochter der Alliander N.V., einem der führenden Energienetzbetreiber in den Niederlanden, der dort sechs Millionen Menschen mit Energie versorgt und auf eine rund hundertjährige Unternehmensgeschichte zurückblickt. 2012 hat das Unternehmen das erste vollwertige Smart Grid erfolgreich in Amsterdam installiert und in Betrieb genommen. Seit 2001 ist Alliander auch in Deutschland aktiv. In Deutschland hat die Alliander AG bundesweit 160 Mitarbeiter, der Hauptsitz ist in Berlin-Adlershof, ein weiterer großer Standort befindet sich in Heinsberg (NRW). 15 Digitalisierung Klaus Reinders thematisiert die Datensicherheit. Die enormen regulatorischen Anforderungen für den Umgang mit Verbraucherdaten seien letztlich nur in Kooperation mit Partnern zu bewältigen. „Bis heute gibt es kein zertifiziertes System der GatewayAdministration, welches die gesetzlichen Vorgaben erfüllt.“ Der Verband kommunaler Unternehmen in Mecklenburg-Vorpommern arbeite aktuell an einem Konzept, das alle Versorger im Land einschließt. „Diese Form der Überregulierung widerspricht der kommunalen Selbstverwaltung“, sagt Dr. Dettmann. Er fragt, wo die Kommunen denn noch frei seien in ihren Entscheidungen. Wir reden zum einen von Prozessen, die uns von außen aufgezwungen wurden und zweitens von freiwilligen Kooperationen, mit denen sich die enormen Herausforderungen stemmen lassen, fasst Prof. Dr. Schäfer zusammen. Letzteres sei im Hinblick auf die kommunale Selbstverwaltung der richtige Weg. Die Digitalisierung schaffe dafür zentrale Voraussetzungen. Er fragt, ob diese Die Teilnehmer der Gesprächsrunde Kooperationspotentiale (in namensalphabetischer Reihenfolge) von den kommunalen ˆˆ Dettmann, Dr., Reinhard, Vorstand Städte- und Gemeindetages Unternehmen ausMecklenburg-Vorpommern, Bürgermeister Stadt Teterow reichend genutzt ˆˆ Hilse, Manuela, Geschäftsführerin Teterower Wohnungsgesellschaft mbH werden. Schon jetzt ˆˆ Reinders, Klaus, stellvertretender Vorsitzender der VKU-Landesgruppe würden back-officeNord, Geschäftsführer der Stadtwerke Teterow GmbH Prozesse, wie etwa ˆ ˆ Ziegner, Caspar von, Bereich Unternehmensentwicklung, die Buchhaltung, Alliander AG, Berlin an externe DienstDie Diskussion wurde moderiert von Prof. Dr. Michael Schäfer. leister ausgelagert, sagt Manuela Hilse. Neben positiven Effizienzpotentialen gebe es durchaus Auftrag aber auch zentraler Wettbewerbsvorteil auch nachteilige Effekte – etwa ein Verlust an der kommunalen Wirtschaft. Kontrolle mit einem entsprechend schwierigerem Auch die Stadtwerkekunden würden die persönFehlermanagement oder die Rationalisierung von lich fassbare Präsenz am Ort schätzen, ergänzt Klaus Arbeitskraft. Zudem dürften Effizienzkriterien Reinders. „Wir schicken bewusst noch jedes Jahr nicht dazu führen, dass die kommunalen Untereinen Kollegen in die Haushalte, um dort die Zähler abzulesen. Der direkte Kontakt und Austausch mit nehmen die Nähe zu Bürgern und Kunden verden Kunden ist für uns von großem Wert.“ Zudem nachlässigen. Schließlich sei dies gleichzeitig könnten auf diesem Wege die technischen Einrichtungen regelmäßig auf ihre Funktionsfähigkeit überprüft werden. „Auch deshalb versorgen wir noch 95 Prozent der Netzkunden selbst“, so der Geschäftsführer der Stadtwerke Teterow. „Die ausgeprägte Kundenbindung wird uns auch den Einstieg in die Breitbandversorgung erleichtern“, ist sich Dr. Dettmann sicher. Und die Wertschöpfung bleibe vor Ort. Der Bürgermeister begreift Bürgernähe und Gesprächsbereitschaft als Teil der kommunalen Daseinsvorsorge. „Wir sollten gerade die älteren Menschen nicht allein lassen.“ Caspar von Ziegner stimmt zu. Die Kommunen müssten kontinuierlich eine Abwägung zwischen konkreten Kosteneffekten und den geschilderten weichen Faktoren vornehmen. Alliander als Unternehmen der niederländischen Kommunen hätte sich diesem vermeintlichen Widerspruch konzeptionell angenähert. Smart City Amsterdam sollte beantworten, wie sich sozialer Austausch und Die 800 Jahre alte mecklenburgische Mittelstadt Teterow aus der Luft – in der rechten Bildhälfte der Teterower See mit der Burgwallinsel. Digitalisierung möglichst gut in Einklang bringen lassen. Selbstverständlich müsse es Anknüpfungspunkte zu den Menschen geben, doch genauso selbstverständlich müsse geklärt sein, wie viel diese kosten und wer diese Aufwände bezahlt, so der UnterDie Digitalisierung wird derzeit vor allem mit Bezug auf nehmensentwickler von Alliander. große Metropolenräume und industrielle Anwendungen Gerade in kleineren Kommunen, wie in diskutiert. Tatsächlich verbinden sich mit der kommuniTeterow, sei der direkte Kontakt zum Bürger von kationstechnologischen Vernetzung auch für Kleinstädte enormer Relevanz. Diese besondere Atmosphäre und den ländlichen Raum enorme Möglichkeiten. Eine sei letztlich ein zentraler Standortvorteil des ländleistungsfähige Breitbandverbindung vorausgesetzt, wird lichen Raums, sagt Prof. Dr. Schäfer. „Wenn es immer leichter werden, das beschauliche Landleben mit der Globalisierung zu verknüpfen. Im Digitalisierung richtig verstanden wird, dann soll Hinblick auf die Daseinsvorsorge und auf eine geringer werdende Siedlungsdichte können mittelsie eben jene Ressourcen sparen, die dann für solche fristig nur die Effizienzpotentiale der Digitalisierung eine Versorgung auf gleichbleibend hohem Zwecke eingesetzt werden können.“ n Niveau und mit angemessenem Aufwand sicherstellen. Lesen Sie zu diesem Themenkomplex Die Gesprächsrunde dokumentierte Falk Schäfer die Zusammenfassung einer Diskussionsrunde im mecklenburgischen Mittelzentrum Teterow. Vertreten waren die wichtigsten kommunalen Unternehmen der Stadt, der Bürgermeister – in Personalunion auch Präsident des Städte- und Gemeindetages im nordöstlichsten Bundesland – sowie ein kommunales Unternehmen aus den Niederlanden, welches seit einigen Jahren auch in deutschen Kommunen mit innovativen Konzepten überzeugen kann. Falk Schäfer 16 i infos www.alliander.de www.sw-teterow.de www.teterow.de www.teterower-wg.de UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 gültig ab 13.12.2015 gültig ab 13.12.2015 Niedersachsen Niedersachsen Herzberg (Harz) Harzer S RB 80 Ellrich Wernige Brocken Stiege Ilfeld Heringen (Helme) Werther Wolkramshausen Nohra (Wipper) Görs Nordhausen Wipperdorf Bleicherode Ost RB 75 RB 51 Gebra (Hainleite) Sollstedt Bernterode Gernrode-Niederorschel Hausen RE 19 Leinefelde RB 51 RE 9 RE 19 Sonders RE 19 Winge Beuren Bodenrode Wingerode Bodenrode RB 51 RB 51 RE 9 Arenshausen Eichenberg Eichenberg Mühlhausen RB 89 Paderborn / Münster Witzenhausen RE 17 Hagen RB 51 RE 2 RB 52 KasselWilhelmshöhe R 7 Bebra Kassel Mitteldeutschlands neue Züge. RT 5 Melsungen R 5 Fulda RE 9 Kassel Wir Wir fahren fahren für: für: RE 2 RB 52 RB 53 RB 20 R6 Gerstungen / Bebra Eisenach Wutha Sättelstädt Schönau (Hörsel) STB 41 Bad Salzungen Wir fahren für: Wir fahren fahrenim: im: Wir MDV G Fröttstädt Mechterstädt Gotha Se R Jeder Mensch hat Ziele. Wir bringen Sie hin. Hessen Hessen Kassel Hbf RE 30,Bad RE 98 Langensalza Frankfurt (M) R 39 Bad Wildungen RT 5 Melsungen R 5 Fulda RE 1 RE 30, RE 98 Frankfurt (M) R 39 Bad Wildungen www.abellio.de RB 51 Hann. R 7 Bebra Münden Staufenberg-Speele R 4 KorbachRE 1 Münden R 4 Korbach Mit uns fahren SieStaufenberg-Speele besser. KasselKomfort, der für sich Wilhelmshöhe RE 9 spricht. Kassel Hbf Uder Thüring Uder RB 89 Paderborn / Münster Witzenhausen RE 17 Hagen Hann. Arenshausen R 8 Göttingen Heilbad Heiligenstadt R 8 Göttingen Heilbad Heiligenstadt RB 48 Friedrichroda R Interkommunale Kooperation Landwerke M-V GmbH – Gemeinsam. Regional. Stark. Acht kommunale Energieversorger schließen sich zu Plattform zusammen Von Caspar Baumgart, Vorstand Wemag AG und Frank Schmetzke, Geschäftsführer Stadtwerke Neustrelitz GmbH, beide auch Geschäftsführer der Landwerke M-V GmbH K ommunal- und auch Landespolitiker erkennen zunehmend das Erfordernis zu einer stärkeren Regionalisierung der Daseinsvorsorge. Dieses Postulat wird vor allem für strukturschwache Flächenregionen formuliert und ist im Jahr 2011 auch erstmals wissenschaftlich umfassend begründet worden.1 Regionalisierung – das heißt im Regelfall auch, dass der Kooperationsgrad im Bereich der kommunalwirtschaftlichen Betätigung deutlich erhöht werden muss. Zwischen der grundlegenden Erkenntnis und der praktischen Umsetzung besteht auch weiterhin deutschlandweit ein deutliches Delta. Insofern erfahren Projekte, die mit der Intention gestartet werden, dieses Defizit zu kompensieren, besondere Aufmerksamkeit. Deren publizistische Begleitung hat vor allem die folgenden Intentionen: sie stellen Umsetzungsszenarien vor allem mit dem Ziel zur Diskussion, den Erfahrungsaustausch zu fördern. Und sie soll den Protagonisten, die sich auf dieses bekanntlich komplizierte Terrain begeben, Mut machen. Die Redaktion hat aus genannten Gründen die beiden Geschäftsführer der vor einem Jahr gegründeten Landwerke M-V GmbH, Caspar Baumgart und Frank Schmetzke, gebeten, dieses neue Unternehmen im Bereich der kommunalen Energiewirtschaft im Dezemberheft von UNTERNEHMERIN KOMMUNE vorzustellen. Die Gesellschaft hat das Ziel, gemeinsame Projekte zu entwickeln und zu betreiben, zunächst auf den Feldern der Erneuerbaren Energien, der Wärmeversorgung und der Breitbandversorgung. Jedem Gesellschafter bleibt es unbenommen, auf diesen und allen anderen denkbaren Feldern nach wie vor auch Caspar Baumgart Im Dezember 2015 wurde die Landwerke M-V GmbH gegründet. Gründungsgesellschafter sind die Stadtwerke Malchow, die Stadtwerke Neustrelitz GmbH, die Stadtwerke Teterow GmbH, die WEMAG AG sowie die Kommunalwind Nord GmbH, hinter der zu gleichen Anteilen die Stadtwerke Prenzlau GmbH und die Stadtwerke Waren GmbH stehen. Im April bzw. November 2016 traten die Stadtwerke Pasewalk GmbH und die Stadtwerke Rostock AG der Gesellschaft bei. Die Gesellschaft steht weiteren kommunalen Unternehmen aus Mecklenburg-Vorpommern offen. Frank Schmetzke, Geschäftsführer der Stadtwerke Neustrelitz GmbH, und Caspar Baumgart, Vorstandsmitglied der WEMAG AG, bilden das Geschäftsführer-Team. Die Stadtwerke Neustrelitz haben die kaufmännische Betriebsführung der Gesellschaft übernommen. 18 Frank Schmetzke bringen. Besonders um die Art und Weise des Miteinanders soll es im Folgenden gehen. Die Grundbedingung für das Gelingen sehen alle Beteiligten darin, dass man auf gleicher Augenhöhe miteinander umgeht. Das findet seinen sichtbarsten Ausdruck darin, dass alle Gesellschafter über gleiche Anteile und damit gleiches Stimmrecht in der Gesellschaft verfügen. Und es findet seine Fortsetzung in einem ordentlichen Umgang miteinander. Die Gesellschafterversammlungen werden von den Chefs der beteiligten Unternehmen wahrgenommen. Man nimmt das gemeinsame Vorhaben ernst. Man nimmt sich Zeit füreinander und für die Erarbeitung gemeinsamer Sichtweisen. Man sucht nach der optimalen Kombination der verschiedenen Fähigkeiten der Gesellschafter, wenn es darum geht, Projekte zu bewerten, zu entwickeln und künftig zu betreiben. So treiben gerade die Stadtwerke Pasewalk als Ansprechpartner einer Kommune in der Nähe von Pasewalk, die Stadtwerke Neustrelitz als erster Ansprechpartner für einen involvierten Windprojektierer und die WEMAG mit ihrer Erfahrung aus anderen Projekten ein erstes gemeinsames Windprojekt voran. Konsensorientierter Ansatz eigene Projekte zu verfolgen. Gleichwohl versprechen sich die Gesellschafter vom gemeinsamen Vorgehen Vorteile. Das wird dieser Beitrag deutlich machen. Für alle Beteiligten sind der Zusammenschluss und die Ausprägung der Zusammenarbeit eine spannende Angelegenheit. Denn hier wollen acht Unternehmen mit unterschiedlicher Größe, unterschiedlicher Ausrichtung und nicht zuletzt unterschiedlichen internen Entscheidungsstrukturen effektiv und vertrauensvoll zusammenarbeiten und gemeinsam etwas in Gang Dieses Verständnis von Zusammenarbeit bedingt, dass es Mehrheitsentscheidungen über die Durchführung von Projekten nicht geben kann. Wenn ein Projekt umgesetzt werden soll, darf kein Gesellschafter gezwungenermaßen mittun müssen. Dies wiederum hat zur Folge, dass die Funktion der 1 Vgl.: Mit strukturübergreifenden Strategien die demografischen Herausforderungen meistern. Eine Bestandsaufnahme mit dem Schwerpunkt kommunalwirtschaftliche Betätigung. Studie des „Verbundnetz für kommunale Energie“, Berlin, 2011 (verfügbar unter www.vfke.org) UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 JAHRESTHEMA: INFRASTRUKTUR Interkommunale Kooperation Landwerke M-V GmbH vorrangig die einer Plattform sein wird. Hier werden Projekte identifiziert und vorbereitet, aber nicht unbedingt umgesetzt. Es ist zwar nicht ausgeschlossen, dass die Landwerke M-V selbst ein Projekt realisieren, wenn alle Gesellschafter einverstanden sind und im Fall eines zusätzlichen Kapitalbedarfs auch zu gleichen Anteilen Kapital bereitstellen. Wenn aber einzelne Gesellschafter sich an einem Projekt nicht beteiligen wollen oder die Beteiligungsquoten der Gesellschafter an einem Projekt nicht gleich groß sein sollen, wird das Projekt in einer gesonderten Projektgesellschaft umgesetzt. Hier ist es dann möglich, dass der Gesellschafterkreis nicht dem kompletten Gesellschafterkreis der Landwerke M-V entspricht oder aber die Gesellschafter mit unterschiedlichen Anteilen beteiligt sind. Mit dieser Vorgehensweise wird die Beachtung des übergeordneten Ziels gewährleistet, dass die gleichberechtigten Anteilsverhältnisse in der Landwerke M-V GmbH unbedingt erhalten bleiben müssen. Ein erstes Beispiel für diese Vorgehensweise bildet die Gründung der Landwerke M-V Breitband GmbH. Sie beteiligt sich an den derzeit laufenden bzw. in Vorbereitung befindlichen Ausschreibungen der Breitbandversorgung auf der Grundlage von Fördermitteln des Bundes, etwas schnoddrig als die „Dobrindt-Milliarden“ betitelt, und des Landes. Die Landwerke M-V Breitband GmbH wurde zunächst von drei Unternehmen aus dem Gesellschafterkreis der Landwerke M-V GmbH gegründet, die bereits entsprechende Gremienbeschlüsse ihrer Häuser vorliegen hatten bzw. diese Die Landwerke M-V versprechen sich von der Bündelung ihrer Gesellschafter und der Bündelung von deren Fähigkeiten, dass auf diese Weise Projekte in der Zusammenarbeit besser und im Zweifel auch wirtschaftlicher umgesetzt werden können. „ ______________________ Caspar Baumgart “ Beschlüsse zügig herbeiführen konnten. Zwei weitere Gesellschafter werden absehbar hinzukommen. Die verbleibenden Landwerke-Gesellschafter werden sich in einem angemessenen Zeitraum entscheiden. Die Geschäftsanteile an der Breitband-Gesellschaft sind wiederum zu gleichen Teilen von den mitwirkenden Gesellschaftern übernommen worden. Neben diesem strukturellen Aspekt bietet das Breitband-Projekt ein Beispiel dafür, wie auch die inhaltliche Zusammenarbeit im Sinne eines einerseits fairen und gleichberechtigten, andererseits effektiven Miteinanders gestaltet werden kann. Oberste Maxime ist die Frage „wer kann was?“, wie können die Fähigkeiten und Ressourcen der Gesellschafter optimal im Sinne des Projekterfolgs kombiniert werden. Die Stadtwerke Neustrelitz und die WEMAG verfügen über Know-how und Erfahrung in der Errichtung und im Betrieb von Breitbandnetzen. Die Stadtwerke Teterow sind ebenfalls gerade dabei, die Stadt Teterow mit Glasfaserleitungen zu verkabeln. Die LandwerkeGesellschafter hatten schnell räumliche Bereiche im Ostteil des Landes identifiziert, in denen sich Breitbandaktivitäten aus Sicht der Landwerke lohnen könnten. Die WEMAG wird sich unabhängig von den Landwerken im Westteil des Landes bewerben. Ein Tätigwerden der Landwerke auch hier hätte deren Ressourcen überfordert. Gleichwohl erfolgte die Vorbereitung auf die Ausschreibungen in enger Abstimmung zwischen Mitarbeitern der Stadtwerke Neustrelitz und der WEMAG. In der Auswahl und Beauftragung von Planern, bei der Ausschreibung von Rahmenverträgen zur Umsetzung der Ausbauprojekte im Fall der Zuschlagserteilung und auf einigen Feldern mehr wurde einheitlich vorgegangen. Kommt es zur Zuschlagserteilung und zur Umsetzung von Projekten werden weitere Gesellschafter der Landwerke M-V Breitband GmbH für die Breibandgesellschaft tätigt werden. Dies betrifft Teile des technischen Netzbetriebs und den Vertrieb. Dabei ist es für die Kultur der Zusammenarbeit im Landwerke-Verbund wichtig, diese Bündelung von Ressourcen und Know-how einerseits und die Verteilung der Leistungspakete andererseits transparent und einvernehmlich vorzunehmen. Das Breitband-Beispiel verdeutlicht, welche übergeordnete Zielsetzung mit dem Projekt Landwerke M-V verbunden ist. Es geht darum, gemeinsam mit anderen kommunalen Unternehmen Dinge umzusetzen, die das einzelne Unternehmen nicht ohne weiteres allein realisieren könnte. Der Mangel an Ressourcen und Know-how mag zum Teil eine Rolle spielen. Wenn man auf die eingangs bezeichneten Themenfelder Erneuerbare Energien, Wärme und Breitband blickt, trifft das aber nur eingeschränkt zu. An ihnen zeigt sich nämlich, dass die Fähigkeit zur Umsetzung eigener Projekte bei den verschiedenen Gesellschaftern der Landwerke durchaus vorhanden ist. Jeder Gesellschafter verfügt über eigene Wärmeversorgungen. Windprojekte haben einige Gesellschafter ebenfalls, mit der Kommunalwind Nord GmbH ist sogar ein Unternehmen beteiligt, dessen Gesellschaftszweck die Umsetzung entsprechender Projekte ist. Biogas- und Fotovoltaikanlagen sind ebenfalls im Bestand mehrerer Gesellschafter vertreten. Und Breitbandaktivitäten gibt es – wie gesagt – auch bei mehreren Gesellschaftern. Trotzdem versprechen sich die Landwerke M-V von der Bündelung ihrer Gesellschafter UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 UNSERE AUTOREN Caspar Baumgart wurde am 25. Februar 1965 in Celle geboren. Nach einem juristischen Studium in Freiburg und Göttingen absolvierte er seine Referendarzeit in Hamburg und Schwerin. Im Anschluss arbeitete er als Rechtsanwalt in Schwerin und wechselte 1997 zur Thüga-Aktiengesellschaft, München. Dort war er zuletzt als Hauptabteilungsleiter Recht tätig, bevor er 2010 im Zuge der Kommunalisierung der Schweriner WEMAG AG Vorstandsmitglied dieses Unternehmens wurde. Seit 2003 ist Caspar Baumgart zudem Mitglied verschiedener Aufsichtsräte innerhalb und außerhalb der Thüga-Gruppe. Frank Schmetzke wurde am 22.02.1965 in Prenzlau geboren. Nach dem ÖkonomieStudium an der Humboldt-Universität zu Berlin und einem Jahr Tätigkeit im Vorstand einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft befasste er sich mit dem Strukturwandel der Wirtschaftsregion des damaligen Landkreises Neustrelitz. Hier agierte Frank Schmetzke als Geschäftsführer einer landesweit tätigen Beschäftigungsgesellschaft. Im Jahr 2001 übernahm er die Geschäftsführung der Stadtwerke Neustrelitz GmbH. und der Bündelung von deren Fähigkeiten, dass auf diese Weise Projekte in der Zusammenarbeit besser und im Zweifel auch wirtschaftlicher umgesetzt werden können. Dazu ist am Beispiel Breitband genug gesagt worden. Neben diesem Vorteil sehen die beteiligten Unternehmen aus dem Zusammenschluss in den Landwerken M-V einen verbesserten Zugang zu Projekten. Zum einen sind schlicht Projekte ganz anderer Größenordnung umsetzbar, wenn sich mehrere der Gesellschafter für die Realisierung entscheiden, als wenn ein Unternehmen auf sich allein gestellt investieren müsste. Zum anderen lässt der Landwerke-Verbund aufgrund der räumlichen Verteilung seiner Gesellschafter einen überregionalen Ansatz bei der Projektakquise zu. Die Gesellschafter sind gleichmäßig über das Land verteilt (lediglich der äußerste Nordosten ist noch nicht richtig abgedeckt, aber was noch nicht ist, kann ja noch werden). So können die Landwerke M-V gegenüber potentiellen Kunden, Gemeinden, Flächeneigentümern, Behörden und anderen Stakeholdern landesweit glaubwürdig und selbstbewusst getreu dem selbst gewählten Claim auftreten: Regional. Gemeinsam. Stark. n i infos www.wemag.com www.stadtwerke-neustrelitz.de 19 KOMMUNALWIRTSCHAFT AKTUELL übrigens Die EU-Kommission hat Klage gegen Deutschland wegen Versäumnissen beim Grundwasserschutz (Nitrat-Richtlinie) eingereicht. Nach Ansicht der Europäischen Union ist die Bundesrepublik seiner Pflicht zur Umsetzung bisher nicht ausreichend nachgekommen. Die Nitrat-Richtlinie stammt ursprünglich aus dem Jahr 1993 und soll eine Verunreinigung des Grund- und Oberflächenwassers durch Nitrate aus der Landwirtschaft verhindern. In einigen Bundesländern mit extensiver Landwirtschaft liegt der Nitratgehalt infolge von Überdüngung jedoch teilweise deutlich über den zulässigen Grenzwerten. Grundrechtliche Verpflichtung und politische Realität Nur noch ein Torso? Artikel 28 (2) und die kommunale Selbstverwaltung im Fokus D ie Kommunen in Deutschland sind seit der deutschen Wiedervereinigung betraut mit epochalen Veränderungen auf unterschiedlichsten Ebenen. Städte und Gemeinden in den Neuen Bundesländern hatten nach der politischen Wende in der DDR einen tiefgreifenden Strukturwandel zu bewältigen. Massenhafte Abwanderung und rapide sinkende Geburtenrate waren die direkten Folgen. Bis heute liegt in den Neuen Bundesländern das Labor für den demografischen Wandel. Hier spielen sich tiefgreifende Prozesse ab, die sich mit einiger Verzögerung auch in den anderen Teilen des Bundesgebietes zeigen werden. 2011 – nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima – hat die Kanzlerin nicht zu Unrecht die Kommunen zu den Treibern der Energiewende ausgerufen. Insbesondere die Stadtwerke haben einen enormen Anteil an der Dezentralisierung von Erzeugung und Versorgung. Und seit dem vergangenen Herbst sind die Kommunen mit einer extrem gestiegenen Einwanderung von Asylsuchenden konfrontiert. 15 Monate nach den dramatischen Szenen von Budapest, München und aus vielen weiteren deutschen Städten und Gemeinden lässt sich schon heute sagen, dass die Anforderungen der Aufnahme und Integration von Flüchtlingen in herausragender Weise bewältigt worden sind. All diese Entwicklungen und die Rolle, die die Kommunen darin spielen, werden auf Landes- und Bundesebene kaum bestritten, sie widersprechen allerdings der finanziellen und regulatorischen Ohnmacht der Kommunen. An den Verhandlungen zur Ausgestaltung der bundesweiten Finanztransfers werden sie nicht beteiligt und die Überregulierung bindet kreative und innovative Potentiale. Kommunen in Deutschland werden zwar mit immer größeren Aufgaben betraut, sind aber weit entfernt von der Autonomie und Gestaltungsfreiheit etwa ihrer skandinavischen Nachbarn. UNTERNEHMERIN KOMMUNE griff diese Entwicklungen auf und wollte sie unter Hinzuziehung wissenschaftlicher Expertise mit Praktikern der Bundes-, Landes- und kommunalen Ebene diskutieren. Exemplarisch wurde dazu die Mittelstadt Halberstadt am Tor zum Harz herausgegriffen. Lesen Sie im Folgenden eine Zusammenfassung der kontrovers geführten Debatte vom 5. Dezember dieses Jahres. Bund, Länder und Kommunen im Gespräch. 20 UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 KOMMUNALWIRTSCHAFT AKTUELL Kommunale Selbstverwaltung Die Moderation der Runde hat Prof. Dr. Michael Schäfer übernommen. Er ist Professor für Kommunalwirtschaft an der Hochschule für Nachhaltige Entwicklung in Eberswalde (HNEE) und Chefredakteur dieses Blattes. Die kommunale Selbstverwaltung mit dem Artikel 28 (2) soll im Fokus stehen, sagt er und präsentiert zu Beginn seine Vision eines deutschen Kommunalstaates. „Wie wäre es, wenn Deutschland als Teil eines europäischen Bundesstaates auf die Länder und auch auf die Landkreise verzichten und dafür die Kommunen als gleichberechtigen Gegenpol zum Bund ausbauen würde, wenn statt des Bundesrates eine Kommunalkammer ebenbürtig neben dem Bundestag agieren würde?“ In einem solchen System würde das Prinzip der Subsidiarität revitalisiert und endlich hätten diejenigen eine Stimme, die Politik vor Ort in Realität umsetzen. An die Runde geht die Frage, ob sie sich mit einem solchen Staatsmodell anfreunden kann. Holger Hövelmann entgegnet, dass der Paragraf 28 (2) sehr bewusst so ausgestaltet wurde, wie er im Grundgesetz nachzulesen ist. Auch heute bestünden erhebliche Spielräume, innerhalb derer die Kommunen das Leben vor Ort individuell gestalten können. Der SPD-Abgeordnete im Magdeburger Landtag wendet sich deutlich gegen eine Abschaffung der Landkreise. Es ärgere ihn, wenn die Landkreise nicht zu den Kommunen gezählt und künstliche Gegensätze zu den Städten und Gemeinden konstruiert würden. „Die Erfahrungen in Sachsen-Anhalt haben gezeigt, dass eine Straffung von Strukturen nicht automatisch mit Einsparungen einhergehen muss“, sagt Andreas Henke. Schließlich bleibe die Zahl der Aufgaben gleich, egal wie sie organsiert werden. Der Halberstädter Oberbürgermeister stimmt zu, dass auch die Landkreise ihre Berechtigung haben. Henkes Kollege aus Osterode am Harz steht einer Stärkung der Kommunen aufgeschlossen gegenüber, zeigt sich aber skeptisch, ob eine kommunale Kammer auf Wenn man lediglich Effizienzkriterien zu Rate zieht, dann ist der Zentralstaat sicherlich günstiger, doch die kommunale Selbstverwaltung ist ein Wert an sich. „ ______________________ Holger Hövelmann “ Bundesebene die Vielfalt der deutschen Städte und Gemeinden abbilden könne. Hinsichtlich der Landkreise hat er schon vor einigen Jahren die Meinung vertreten, dass diese politische Ebene am ehesten verzichtbar sei. Mittel- und Oberzentren könnten nach dem Zentrale-OrtePrinzip leicht deren Aufgaben übernehmen. Auch Dagmar Zoschke hält eine Abschaffung der Landkreise für zumindest bedenkenswert. Im neuen Landkreis Anhalt-Bitterfeld seien die Entfernungen mitunter so groß, dass ein ehrenamtliches Engagement äußerst schwer falle. Diejenigen, die keinen Pkw haben, seien praktisch ausgeschlossen. Sie hält es für sinnvoller, die bundes- und landesgesetzlichen Vorgaben direkt in den Städten und Gemeinden bzw. an zentralen Orten zu exekutieren. Auch eine Kommunalkammer auf Bundesebene kann sie sich vorstellen. Diese Idee sei in der Linkspartei schon einige Male diskutiert worden. Schließlich würden in Berlin und auch auf der Landesebene etliche Gesetze beschlossen, die niemals mit Blick auf die Umsetzbarkeit in den Kommunen gewogen wurden, so die Abgeordnete der Linksfraktion im Magdeburger Landtag. Effizienz und Bürgernähe Prof. Dr. Schäfer räumt ein, dass seine Vision eines kommunalen Deutschlands recht radikal und provokant sei. Doch selbst kleinste Schritte würden nicht getan. Im Bundestag sei es nicht einmal gelungen, einen vollwertigen Dagmar Zoschke, Prof. Dr. Thomas Edeling und Andreas Henke (v.l.n.r.) UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 Kommunalausschuss zu installieren. Die Landkreise nähmen zumindest teilweise Funktionen der Kommunalaufsicht wahr und entsprächen somit nicht der klassisch kommunalen Ebene. Klaus Becker thematisiert den Gegensatz zwischen Subsidiarität und Effizienz. Im Mittelzentrum Osterode am Harz sei es gerade noch möglich, die gesetzlichen Vorgaben aus Brüssel, Berlin und Hannover konkret umzusetzen, die kleineren Samtgemeinden seien mit der Überregulierung jedoch überfordert. Becker plädiert für eine stringente Aufgabenkritik, welche Kompetenzen wo angesiedelt werden. Steuerungsfunktionen könnten etwa in Niedersachsen die ehemaligen Regierungsbezirke übernehmen. Jörg Hellmuth war vor seiner Wahl In Niedersachsen ist spürbar, dass sowohl Ministerpräsident als auch Innenminister eine kommunale Vergangenheit als Oberbürgermeister aufweisen. „ ______________________ Klaus Becker “ in den Deutschen Bundestag 21 Jahre auf der Landkreisebene aktiv – zwei Jahre als Landrat des Landkreises Havelberg, fünf Jahre als Erster Beigeordneter sowie weitere 14 Jahre als Landrat des Landkreises Stendal. „Ich habe immer versucht, einen Ausgleich mit den Städten und Gemeinden herzustellen und offen zu diskutieren, wer wofür verantwortlich sein soll.“ Hellmuth bedauert, dass sich die sachsenanhaltische Verwaltungsreform des Jahres 2004 eher mit Gebietsstrukturen und weniger mit einer stringenten Aufgabenkritik befasste. Dies sei vor allem dem Widerstand von Interessengruppen und der Uneinigkeit in den Koalitionsfraktionen zuzuschreiben. Der CDU-Abgeordnete im Deutschen Bundestag erinnert sich, dass er die Übertragung der Kfz-Zulassung auf die Gemeindeebene diskutieren wollte. Allerdings hätten dies die Bürgermeister mit einer Ausnahme durchweg abgelehnt. Landkreise hätten als Kristallisationspunkt von Fachkompetenzen und übergeordneten Aufgaben eine volle Berechtigung, so Hellmuth. „Wir müssen aufpassen, dass wir die kommunale Ebene nicht mit den staatlichen Instanzen vermischen“, sagt Holger Hövelmann. Bezirksregierungen seien ein Element des staatlichen Durchgriffs auf Landesebene, während ein Landkreis eigene Kompetenzen entfalte. „Wenn man lediglich Effizienzkriterien zu Rate zieht, dann ist der Zentralstaat sicherlich günstiger, doch die kommunale Selbstverwaltung ist ein Wert an sich“, heißt es weiter. Es sei ein typischer Reflex, 21 Kommunale Selbstverwaltung die Sinnhaftigkeit übergeordneter Instanzen zu hinterfragen, sagt Prof. Dr. Thomas Edeling. Da das Aufgabenvolumen insgesamt wachse, kann sich der Soziologe von der Universität Potsdam kaum vorstellen, dass dies unter Verzicht auf eine staatliche Ebene in Zukunft noch besser gelingen soll. Hinzu käme, dass Städte und Gemeinden so heterogen sind, dass sich deren Integration in eine gemeinsame Kammer nur bedingt realisieren lässt. „Subsidiarität meint, dass jede öffentliche Aufgabe möglichst bürgernah umgesetzt werden soll“, sagt Andreas Henke. Die Ökonomisierung der Verwaltung stünde teilweise im Widerspruch zu diesem Grundsatz der gelebten Demokratie. In den Kommunen fehle es an politischem Personal. Selbst den etablierten Parteien falle es mitunter schwer, geeignete Kandidaten für Kommunalwahlen zu nominieren. Dies sei insofern verständlich, als dass die strukturellen Herausforderungen wachsen, der finanzielle Rahmen aber immer straffer wird. Zusätzlich beschränke die Überregulierung aus EU, Bund und Land die Gestaltungskraft der Kommunen. „Ist es denn wirklich so, dass die Kommunen nichts mehr zu entscheiden haben oder trauen sie sich einfach zu wenig zu“, fragt Holger Hövelmann. Henke verweist auf die Kommunalfinanzen. „Wir haben im Jahr 2013 ein integriertes Stadtentwicklungskonzept auf den Weg gebracht. Vieles, was dort verankert ist, scheitert bis heute an der ungenügenden Finanzausstattung.“ Vor diesem Hintergrund sei es ungleich schwerer geworden, konsistente Strategien zu verfolgen. „Das gilt genauso für die Landkreise“, stimmt Dagmar Zoschke zu. Allein die Einführung der Doppik hätte dafür gesorgt, dass die ehrenamtlichen Mandatsträger den Haushalt kaum mehr nachvollziehen können. Klaus Becker identifiziert für die vergangenen Jahre den Trend eines Rückzugs der kommunalen Selbstverwaltung auf rein verwaltungstechnische Aufgaben. In Finanzfragen schaue die Politik oft nur auf den Bürgermeister und winke dessen Vorschläge einfach durch. Dies gelte für fast alle Fraktionen. Die Verwaltung darf nicht ständig dem Streben einer hundertprozentigen rechtlichen Absicherung unterliegen. Andererseits müssen die Mandatsträger in den Räten mehr Engagement und Kreativität entfalten. „ ______________________ Dagmar Zoschke “ Bei der dichten Regulierung und den knappen Finanzen sei der Spielraum für eine politische Entfaltung eben sehr begrenzt, so der Bürgermeister von Osterode am Harz. Jörg Hellmuth erinnert sich, dass 22 Klaus Becker, Jörg Hellmuth und Holger Hövelmann (v.l.n.r.) vor einigen Jahren auch der regionale Mittelstand in den Kreistagen aktiv war. Doch als erkannt wurde, dass man in einem engen Korsett politischer Regulierung agieren muss, hätten sich diese Leute mehr und mehr zurückgezogen. Zusätzlich habe die Doppik das Verständnis finanzpolitischer Zusammenhänge erschwert. Klaus Becker widerspricht: „Wir waren 2007 mit die ersten im Land Niedersachsen, die die Doppik eingeführt haben. Ich bin von außen in die Kommunalpolitik gekommen und hatte anfangs viel größere Probleme mit der Kameralistik. Niemand konnte mir beispielsweise beantworten, welche Ressourcen der Prozess der Passvergabe beansprucht“, so der Osteroder Bürgermeister. Vorbild Skandinavien Die Idee einer zweistufigen Verwaltung sollte nicht allzu schnell über Bord geworfen werden, sagt Prof. Dr. Schäfer. Solche Modelle funktionierten in den nordeuropäischen Staaten schließlich mit bemerkenswerter Effizienz. Voraussetzung für eine Es mangelt wahrlich nicht an Instanzen, die die Arbeit in den Städten und Gemeinden überwachen. „ ______________________ Jörg Hellmuth “ gelungene Reform sei eine stringente Aufgabenkritik. Dabei dürfe es nicht nur um Verantwortlichkeiten gehen, sondern auch um die Notwendigkeit der Aufgaben an sich. Die öffentliche Hand habe mit den Jahren immer mehr Kompetenzen angehäuft. Nicht alle seien wirklich unabdingbar. Überregulierung, Unterfinanzierung und Aushöhlung der Subsidiarität bezeichnet er als Totengräber der kommunalen Selbstverwaltung. Klaus Becker geht auf den Aspekt der Überregulierung ein. „Unser System ist nicht mehr „ Kommunale Selbstverwaltung ist Staatsentlastung. ______________________ Prof. Dr. Thomas Edeling “ überschaubar. Das gilt insbesondere für das EURecht. Ich müsste eigentlich mehr Fachleute einstellen, doch dazu fehlt es wiederum am Geld.“ Holger Hövelmann erkennt zwar ebenfalls einen Trend zu wachsender Komplexität, doch den Kommunen sei ein nicht unerheblicher Entscheidungsspielraum geblieben. Kommunale Selbstverwaltung lebe davon, dass Menschen aktiv ihre Ideen propagieren und verfolgen. Die genannten Defizite dürften nicht als Entschuldigung für fehlendes Engagement herhalten. Hövelmann wünscht sich, dass kommunalpolitische Debatten in Zukunft weniger juristisch und mehr pragmatisch geführt werden. Andreas Henke teilt diese Sichtweise, fügt allerdings hinzu, dass die Länderebene dann auch die Ansprüche an die Rechtskonformität senken müsse. Prof. Dr. Schäfer: „Wir brauchen den Mut zur Lücke. In den skandinavischen Ländern wird Vieles eben nicht geregelt. Dort werden Gesetze gemacht, die wenig Verwaltungsaufwand implizieren und Entscheidungsspielräume offenhalten.“ Beide Seiten müssten den Mut aufbringen, die Grenzen ihres Handelns zu definieren, sagt Dagmar Zoschke. Die Verwaltung dürfe nicht ständig dem Streben einer hundertprozentigen rechtlichen Absicherung unterliegen. Andererseits müssten die Mandatsträger in den Räten mehr Engagement und Kreativität entfalten. Andreas Henke fügt hinzu, dass die Kommunen mit mehr Geld auch unabhängiger agieren könnten. Es sei verständlich, wenn Bundes- und Landesebene an die Bereitstellung von Fördermitteln gewisse Erwartungen knüpfen, allerdings gehörten diese Gelder nicht per se dem Bund oder den Ländern. Jörg Hellmuth ergänzt, dass die Entlastung der Kommunen eines der zentralen UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 Natürlich in MV. Wir wechseln kostenfrei zur ! Strom & Erdgas von hier! ✔ günstige und transparente Preise ✔ kommunal und konzernfrei ✔ etabliert in MV Foto: © Fotolia/micromonkey www.wemio.de /ostsee Kommunale Selbstverwaltung Vorhaben der Großen Koalition auf Bundesebene gewesen sei. „Wir haben Wort gehalten und stellen den Kommunen ab 2018 fünf Milliarden Euro zur Verfügung.“ Die Gemeinden und die Landkreise würden gleichermaßen davon profitieren. „Jede Stadt muss heute etliche Förderprogramme managen“, sagt Klaus Becker. Er hielte es für sinnvoller, wenn die Finanzierung problemorientierter erfolgen würde. Ideal wäre es, wenn die Kommunen gleich von Anfang an mit ausreichenden Mitteln ausgestattet würden. Denn schließlich wüssten sie noch immer am besten, wo der Schuh drückt. Vertrauen und Professionalität Prof. Dr. Schäfer sieht in der kontinuierlichen Missachtung des Paragrafen 28 (2) ein Herrschaftsinstrument der übergeordneten Ebenen. Bei einer aufgabenadäquaten Finanzierung bestünde keine Veranlassung, dankbar für Almosen zu sein und beständig um Fördermittel zu ringen. Auch Holger Hövelmann identifiziert eine schleichende Überheblichkeit gegenüber den Kommunen. Diese drücke Politische Entscheidungen müssen sich an den Bedarfen der Menschen orientieren. Und diese lassen sich nur vor Ort in den Kommunen erkennen. „ ______________________ Andreas Henke “ sich unterschwellig in einer Attitüde aus, die ständig hinterfrage, ob die Kommunen ihre Angelegenheiten auch richtig regeln würden. „Ich wünsche mir hier mehr Offenheit und Grundvertrauen“, so der ehemalige Innenminister von Sachsen-Anhalt. In Niedersachsen hätte sich mit der neuen Legislaturperiode im Land eine wohltuende Trendwende vollzogen, so Klaus Becker. Es sei spürbar, dass sowohl Ministerpräsident als auch Innenminister eine kommunale Vergangenheit als Oberbürgermeister aufweisen. Prof. Dr. Schäfer erinnert an den kommunalen Aufbruch nach der Wende in Ostdeutschland. Der Strukturwandel sei auch deshalb so schnell gelungen, weil vor allem Naturwissenschaftler und Ingenieure in den Städten und Gemeinden Spitzenpositionen einnahmen. Irgendwann hätten die Juristen das Ruder übernommen und damit ging der Spaß verloren an einem konstruktiven Pragmatismus. Jörg Hellmuth fügt an, dass seinerzeit auch anders gefördert wurde. „Damals wurden Investpauschalen pro Kopf der Bevölkerung ausgegeben, mit denen die Kommunen vergleichsweise frei hantieren konnten.“ Es mangele wahrlich nicht an Instanzen, die die Arbeit in den Städten und Gemeinden überwachen, so der Unionsabgeordnete im Deutschen Bundestag. „Nicht nur der Föderalismus, sondern auch die kommunale Selbstverwaltung ist eine Institution des deutschen Rechts“, ergänzt Prof. Dr. Edeling. Eine solche Idee müsse sich in konkreten Rechten, Mitteln und Ressourcen manifestieren. Dies sei immer weniger der Fall, weshalb eine deutliche Tendenz hin zu mehr Zentralismus zu konstatieren ist. Die Kommunen müssten darauf achten, dass Das Halberstädter Rathaus 24 UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 KOMMUNALWIRTSCHAFT AKTUELL Kommunale Selbstverwaltung ihre Kompetenzen eines Tages nicht vollständig schwinden. Dagmar Zoschke bedauert, dass sich die unterschiedlichen Interessen der Kommunen und ihrer Spitzenverbände mitunter selbst widersprechen und dass die kommunale Ebene viel zu selten mit einer starken Stimme spricht. „Es müssen nicht einmal Herrschaftsaspekte sein, die hinter der fortschreitenden Zentralisierung stehen“, sagt Andreas Henke. Es reiche schon der Zwang zur Ökonomisierung staatlichen Handelns. Demokratie und Teilhabe ließen sich eben nicht an Effizienzkriterien messen. Politische Entscheidungen müssten sich an den Bedarfen der Menschen orientieren. Und diese ließen sich nur vor Ort in den Kommunen erkennen. Klaus Becker setzt sich mit einem weiteren Akteur auseinander. Die Ministerialbürokratie insbesondere in den Ländern entfalte ein erhebliches Beharrungsvermögen. Hier sei man offenkundig bestrebt, sich ständig selbst zu legitimieren, so der Bürgermeister von Osterode. „Wir müssen auch mal das Positive sehen“, entgegnet Holger Hövelmann. Die Verwaltungen in den Ländern und im Bund hätten sich in den vergangenen Jahren erheblich professionalisiert. Ein kleiner Malus liege in der zunehmenden Verrechtlichung. „Wir müssen den Menschen wieder vermitteln, dass es Spaß machen kann, sich in der Kommunalpolitik zu engagieren.“ Revolution oder Reform? Prof. Dr. Schäfer hält das System der bundesdeutschen Verwaltungshierarchien, die Organisation exekutiver Vollmachten für malade und grundsätzlich renovierungsbedürftig. Es nutze nichts, ständig daran herumzudoktern. Die Kommunen sollten nicht angewiesen sein auf vermeintlich großzügige Förderprogramme des Bundes und der Länder. Er fragt, wie es gelingen kann, den Staatsaufbau vom Kopf auf die Füße zu stellen und wie den übergeordneten Ebenen Die Teilnehmer der gesprächsSRUNDE (in namensalphabetischer Reihenfolge) ˆˆ Becker, Klaus, Bürgermeister der Stadt Osterode am Harz ˆˆ Edeling, Thomas, Prof. Dr. habil., Soziologe, Universität Potsdam ˆˆ Hellmuth, Jörg, Mitglied des Deutschen Bundestages, CDU-Fraktion, Landrat a.D. ˆˆ Henke, Andreas, Oberbürgermeister der Stadt Halberstadt ˆˆ Hövelmann, Holger, Mitglied des Landtags von Sachsen-Anhalt, SPD-Fraktion, Innenminister a.D. ˆˆ Zoschke, Dagmar, Mitglied des Landtags von Sachsen-Anhalt, Fraktion DIE LINKE, Sprecherin für Kommunalpolitik im Bundesvorstand DIE LINKE, Vorsitzende des Stadtrates von Bitterfeld-Wolfen Moderiert wurde die Runde von Prof. Dr. Michael Schäfer. das Bewusstsein genommen werden kann, dass ihnen die Letztentscheidung über Verteilung und Verwendung von Steuermitteln obliegt. Andreas Henke nennt die Stichworte Deregulierung und Finanzverantwortung. Die Berechnung der Finanzausgleichmasse sei zu kompliziert und insgesamt verfüge die kommunale Ebene nicht über eine aufgabenadäquate Finanzierung. Hövelmann widerspricht der These von einer grundlegenden Malaise des deutschen Staatswesens. „Ich bin überzeugt, dass das System funktioniert, und dass sowohl Kommunen, Länder wie auch der Bund über so gute Rahmenbedingungen verfügen wie noch nie zuvor in der Geschichte.“ Sicherlich würden sich die verschiedenen Ebenen und Akteure an einigen Stellen gegenseitig behindern und sicherlich gäbe es weiteren Optimierungsbedarf, doch das politische Klima für einen grundlegenden Umbau des deutschen Staatswesens könne er nicht erkennen. Klaus Becker stimmt zu. „Ab einer gewissen Größe arbeiten die Verwaltungen in Deutschland vergleichsweise professionell.“ Aus diesem Trend der vergangenen Jahre ergäbe sich die Notwendigkeit bestimmter Mindestgrößen. Die Kommunen müssten die Bereitschaft zu freiwilligen Kooperationen und Fusionen erkennen lassen. Denn nur so könnten sie selbstbewusst ein Wenn die Kommunen nicht gehört werden, müssen sie halt mit noch lauterer Stimme sprechen. Die Kommunen können sich die Missachtung der übergeordneten Ebenen nicht länger gefallen lassen. Wenn systemische Zwänge zitiert werden, spricht daraus oft genug die Arroganz der Macht. Bund und Länder sind seit Jahrzehnten nicht in der Lage die Beziehungen zwischen den Ebenen zu reformieren. Die bisherigen Föderalismusreformen sind schon in den Ansätzen steckengeblieben. Nun wird es Zeit, dass die kommunale Ebene eigene Angebote zur Umgestaltung von Strukturen entwickelt. Vorbild könnten die skandinavischen Kommunalstaaten sein. Die aktuell bewegten Zeiten vermitteln neue Chancen, die Bürger für die Belange der Kommunen zu sensibilisieren. Ein solch kommunal verstandener Populismus könnte dazu beitragen, wieder für demokratische Verfahren in diesem Land zu begeistern. Denn niemand ist den Bürgern näher als die Amts- und Mandatsträger in Räten und Rathäusern. Falk Schäfer UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 Mehr an Kompetenzen und Finanzen fordern. Jörg Hellmuth plädiert für eine grundlegende Fehleranalyse. Kommunen, Länder und der Bund müssten sich in einem offenen und transparenten Prozess gleichberechtigt miteinander austauschen. Nur so ließen sich staatliche Strukturen im Sinne eines gemeinsamen Mehrwertes optimieren. Dagmar Zoschke wirft ein, dass sich mit den Verwaltungen auch das ehrenamtliche Engagement professionalisieren müsste. Ein einfaches Präsenzmandat in Kreistagen und Stadträten entspräche nicht den notwendigen Checks and Balances zwischen Verwaltung und Politik. Dem Trend zu immer größeren kommunalen Einheiten steht sie skeptisch gegenüber. So habe sich gezeigt, dass in diesem Kontext die Identifikation mit der eigenen Kommune nachlässt, mit den entsprechenden Folgen für das kommunalpolitische Engagement. Prof. Dr. Edeling resümiert, dass die Runde vielleicht noch keine übergreifenden Lösungen gefunden, doch zumindest zwei Probleme identifiziert hätte. Eines läge im Widerspruch zwischen der Professionalisierung der Verwaltung auf der einen und dem ehrenamtlichen Engagement auf der anderen Seite. Das zweite sei die zunehmende Zentralisierung, die zu Teilen getrieben worden sei durch New-Public-Management-Ansätze der Ökonomisierung staatlichen Handelns. „Wir sollten realistisch bleiben“, sagt Andreas Henke. Der politische Reformwillen für einen grundlegenden Umbau des deutschen Staatswesens sei schlicht nicht vorhanden. Und insgesamt hätten sich die föderalen Strukturen in Deutschland doch weitgehend bewährt. Vielmehr müsse nach Stellschrauben gesucht werden, mit denen sich das System weiter verbessern lässt. Voraussetzung sei, dass die relevanten Player mit der nötigen Offenheit agieren und Partikularinteressen hintanstellen, so der Halberstädter Oberbürgermeister. n Die Gesprächsrunde dokumentierte Falk Schäfer i infos www.halberstadt.de www.osterode.de www.cducsu.de www.spd-lsa.de www.dielinke-fraktion-lsa.de 25 Energie Die GASAG-Gruppe entwickelt integrierte Messkonzepte der Energienutzung Alles aus einer Hand Pilotprojekt in Berlin-Prenzlauer Berg A ls einer der größten und als traditionsreichster Versorger der Hauptstadt engagiert sich die Gasag in verschiedenen Kiezen Berlins für ganzheitliche energetische Lösungen. Schließlich lassen sich in der Erzeugung, bei der energetischen Effizienz, aber auch im Hinblick auf eine stärkere Vernetzung noch erhebliche Einsparpotentiale realisieren. Die Gasag-Tochter umetriq widmet sich in erster Linie einer integrierten Messtechnik. Sie installiert spartenübergreifende Systeme, entwickelt innovative Lösungen und zertifiziert Energiemanagementprozesse. Umetriq agiert als Partner von Stadtwerken sowie Energievertrieben und -dienstleistern, die ein eigenes Portfolio im Energiemanagement aufbauen und begleitet außerdem als Projektdienstleister privatwirtschaftliche und öffentliche Kunden bei der Einführung von Energiemanagementsystemen. Die Gewobag Wohnungsbau-Aktiengesellschaft Berlin zählt mit rund 60.000 Wohnungen zu den größten Immobilienunternehmen bundesweit. Mittelfristig will sie zusätzliche 14.600 Wohnungen erwerben, davon 10.200 Wohnungen durch Neubau. Die 2013 gegründete Energietochter Gewobag ED setzt die Energiewende quartiersbezogen um und versorgt die Mieterinnen und Mieter hocheffizient mit Wärme, Strom und energienahen Dienstleistungen. Gemeinsam mit der Gewobag Energietochter hat das Unternehmen der Gasag-Gruppe ein integriertes Metering für das Quartier entworfen. Lesen Sie im Folgenden ein Beispiel aus dem Prenzlauer Berg in Berlin. In Berlin-Prenzlauer Berg entstand nahe des Helmholtzplatzes ein Wohn- und Geschäftshaus mit zwei Gewerbeeinheiten und 14 Mietwohnungen. Die Gewobag – eine von sechs kommunalen Wohnungsgesellschaften der Hauptstadt – hat auf einem knapp 400 Quadratmeter großen Grundstück eine Baulücke geschlossen. Der geplante Baukörper, die Gewerbe Die ersten Mieter sind bereits eingezogen. Der Verbrauch zu allen Hauptmedien wird einheitlich erfasst. im Erdgeschoss sowie die Mietunterschiedlichster Hersteller und Betreiber wohnungen in den Obergeschossen entsprechen der angebunden werden. Und durch eine einheitliche gewachsenen Struktur des Viertels. Die Bauarbeiten Datenverarbeitung lassen sich die internen Prozesse sind im Herbst dieses Jahres abgeschlossen worden erheblich vereinfachen. „Wir erhalten die Datenhoheit und die ersten Bewohner eingezogen. über sämtliche Energie- und Wasserdaten. Zeitaktuell Alle Energie- und Verbrauchsdaten sollen über eine einheitliche Infrastruktur und gemeinsame Schnittstellen erfasst und bereitgestellt werden. Heiz- und Wasserkostenmessung sowie die energiewirtschaftlichen Zähler werden miteinander verbunden, womit wiederum ein ganzheitliches Energiemanagement möglich wird. Ein intensives Monitoring dieses Projektes kann Erkenntnisse liefern, wie sich Verwaltungs- und Abrechnungsprozesse vereinfachen lassen, wie die Hausverwaltung beim Notfall- und Schadenmanagement unterstützen werden kann, welche Potentiale einer energetischen Optimierung sich bieten und wie sich eine angemessene Datentransparenz herstellen lässt. bereitgestellte Verbrauchsdaten ermöglichen eine integrierte und – falls nötig – auch unterjährige Abrechnung. Energie- und Facilitymanagement lassen sich anhand der in Echtzeit gewonnenen Messdaten optimieren“, so Karsten Mitzinger, Geschäftsführer der Gewobag Energietochter. Auf diese Weise kann der Mehrwert von Energieeffizienzmaßnahmen zeitnah erschlossen bzw. können weitere Anpassungen geplant und eng überwacht werden. Dies betrifft etwa die Leerstandsüberwachung oder intelligente Heizszenarien. „Der Kunde behält jederzeit die Datenhoheit und den Zugriff auf alle Abrechnungen“, fasst Martin Böhle zusammen. So würden Weichen gestellt für eine zukunftsfähige Infrastruktur im smart home, so der Leiter für Vertrieb bei der Gasag-Tochter umetriq. n i infos www.gasag.de www.umetriq.de Maßgebliche Vorteile für die Wohnungswirtschaft Die Bündelung von Leistungen und deren Erbringung aus einer Hand ermöglicht vielfältige Synergien für die Wohnungsgesellschaft. „Für uns als Wohnungsunternehmen stehen die Verbesserung heutiger Prozesse und Services im Vordergrund, aber auch die Schaffung einer zukunftsfähigen Infrastruktur in den Gebäuden, die Innovationen zulässt“, sagt Karsten Mitzinger, Geschäftsführer bei der GEWOBAG ED. Offene Systeme und Technologien bieten eine frei Wahl der Anbieter, über Schnittstellen können elektronische Wasseruhren und Heizkostenverteiler 26 Es macht Sinn, wenn sich die wesentlichen Infrastrukturanbieter der Hauptstadt miteinander verknüpfen. Die Gasag kennt sich aus in Berlin und mit den kommunalen Unternehmen der Stadt. Darüber hinaus verfügt sie über erhebliche technologische und energiewirtschaftliche Kompetenzen. Die Energieeffizienz ist einer der zentralen Treiber der Energiewende. Das Pilotprojekt im Prenzlauer Berg wird weitere Erkenntnisse liefern für eine optimierte und vernetzte Nutzung von Energie. Die Gasag ist weiterhin auf einem guten Weg vom Gasversorger zu einem umfassenden Energiedienstleister. Falk Schäfer UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 KOMMUNALWIRTSCHAFT AKTUELL Wohnungswirtschaft / Schulen ÖÖP oder KKP? Zwei Kürzel für ein Unikat: „Das Weimarer Modell“ Gespräch mit dem Oberbürgermeister der Stadt Weimar, Stefan Wolf D eutschlandweit ist ein dramatischer Investitionsstau in den Kommunen – vor allem bei der Infrastruktur und im kommunalen Hochbau – zu konstatieren. Das Deutsche Institut für Urbanistik (DIFU) kam 2015 zu folgender Einschätzung:1 Sowohl auf staatlicher wie auf kommunaler Ebene hat seit 2003 der Verzehr des Sach- bzw. Anlagevermögens begonnen und setzt sich seitdem ungebremst fort. Nach DIFU-Berechnungen liegt der kommunale Investitionsbedarf im Zeitraum 2002 bis 2020 bei 704 Milliarden Euro. In dieser Summe sind auch jene Investitionen enthalten, die von den Kommunen bis dato nicht realisiert wurden. Das ist der Sachverhalt, der mit dem Begriff ‚Investitionsstau‘ beschrieben wird. Im genannten Betrag sind übrigens der kommunale Wohnungsbau sowie Finanzinvestitionen gar nicht eingerechnet. Die größten Einzelpositionen innerhalb des genannten Gesamtbedarfs sind laut DIFU die Straßen (23 Prozent), die Schulen (zehn Prozent) sowie der ÖPNV und die Sportstätten mit je fünf Prozent. Obwohl die Investitionen aktuell auf kommunaler Ebene leicht steigen, wird damit der Vermögensverzehr nicht aufgehalten, sondern nur verlangsamt. Es bedarf zur dringend gebotenen Auflösung des Investitionsstaus also eines grundsätzlichen Umsteuerns auf gesamtstaatlicher Ebene. Die Initiative des Bundes aus dem Jahr 2015, ein kommunales Investitionsprogramm aufzulegen, ist insofern ein richtiger Schritt. Das geplante Volumen von fünf Milliarden Euro für den Zeitraum 2015 – 2018 ist allerdings angesichts des genannten Gesamtbedarfs tatsächlich nicht mehr als der berühmte „Tropfen auf dem heißen Stein“. Um an dieser Stelle ein weiteres Bild zu bemühen: Die Situation ist derart dramatisch, dass es mehr als verständlich wäre, wenn die Kommunen angesichts dieser Szenarios ebenso fatalistisch wie berechtigt auf die Geschichte des Korintherkönigs Sisyphus verweisen würden. Dieser – so die Sage – wird für seine reichlichen zu Lebzeiten begangenen Missetaten vom Gott Hermes in die Unterwelt verbannt. Dort muss er zur Strafe einen Felsblock auf ewig einen Berg hinaufwälzen. Selbiger rollt jedes Mal kurz vorm Gipfel zurück ins Tal. Eine frustrierende Geschichte, und vor allem eine endlose! Kommunen neigen im Gegensatz zu Sisyphus nicht zum Frevel, noch sind sie fatalistisch. Also lassen sie sich etwas einfallen. Bei strukturellen Desastern wie dem gerade beschriebenen, kann das zwar nicht zur grundlegenden Lösung, wohl aber hie und da zu Linderung führen. Auf eine solche ebenso kreative wie vor allem praxistaugliche Idee stießen wir in Weimar. Die Geschichte beginnt im Jahr 2007. Die Goethestadt hat damals wie heute 22 Schulen, und die meisten sind zu diesem Zeitpunkt – von der einen oder anderen Schönheitsreparatur einmal abgesehen – unsaniert. Was aus dem kommunalen Haushalt seinerzeit nicht einmal ansatzweise darstellbar ist, wurde dennoch auf den Weg gebracht: die grundlegende Sanierung von zunächst fast einem Drittel der Schulen und zudem von sechs Turnhallen. Verantwortlich als Bauherr und Projektträger war nicht die Stadt, in deren Bestand sich 2007 alle Schulen befanden, sondern die Weimarer Wohnstätte GmbH, das zu 100 Prozent kommunale Wohnungsunternehmen der Europäischen Kulturhauptstadt (1999). Wie dieses Projekt zustande kam, was die innovative Idee war, ob sie zum Nachnutzen taugt, und wie es in Weimar mit der Schulsanierung weitergeht, fragten wir Stefan Wolf, seit 2006 Oberbürgermeister dieser Stadt, und der maßgebliche Erfinder des „Weimarer Modells“. UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Beginnen wir mit unserer Reise im Jahr 2007. Wie wäre rückblickend der Status quo der Weimarer Schullandschaft unter der Überschrift ‚Investitionsstau‘ zu beschreiben: wie viele Schulen gab es, wann wurden sie gebaut und was waren die gravierendsten Mängel? UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Dieser dringende Sanierungsbedarf erzeugte Handlungsdruck in Weimar. Aber im „wahren Leben“ kommen hin und wieder Anstöße hinzu, die zu schnellen Entscheidungen zwingen, obwohl sie per se mit dem Thema gar nichts zu tun haben. Wollen Sie uns die kleine Geschichte erzählen? Stefan Wolf: In Weimar gibt es aktuell 22 Schulen, die meisten von ihnen zu DDR-Zeiten gebaut Das war auch die Zahl im Jahr 2007. Zu diesem Zeitpunkt waren Sanierungsmaßnahmen mehr als überfällig, denn es gab nur eine Schule, die komplett erneuert worden war. Bei den meisten anderen waren wir nicht einmal bei den Reparaturen auf dem Laufenden. Wolf: So klein ist die Geschichte gar nicht. Weimar ist eine Kulturmetropole von deutschem und internationalem Rang. Das hat sich unter anderem darin manifestiert, dass wir 1999 die „Europäische Kulturhauptstadt“ waren, und wohl jeder Deutsche, der das Wort Thüringen hört, denkt zuerst an Weimar. Diese Geltung hat mitnichten nur etwas mit der Pflege der reichen Traditionen zu tun. Es geht auch um neue Angebote, im Theater, in den Museen, im städtischen Raum, und auch in der freien Szene. Das ist eine nationale Aufgabe, die wir im Wesentlichen auf kommunaler Ebene und mit kommunalen Mitteln lösen. Kultur ist im Weimarer Haushalt folgerichtig eine herausgehobene Kostenstelle. Dass wir zur Europäischen Kulturhauptstadt gekürt wurden, war eine große Ehre. Die andere Seite der Medaille aber waren außergewöhnliche Aufwendungen. Für den Oktober 2008 stand die anteilige Rückzahlung der Kulturstadtanleihe in Höhe von circa 15 Millionen Euro an. Das Geld war im Haushalt nicht darstellbar, also wurden 1 Vgl.: Vortrag des Geschäftsführers des Deutschen Instituts für Urbanistik (DIFU), Dr. Busso Grabow beim 3. WELT-Infrastrukturgipfel am 28. September 2015 in Berlin. In: VfkE-Studie 2015: „Kommunalfinanzen und Effekte aus kommunalwirtschaftlicher Betätigung mit dem Schwerpunkt kommunale Energieversorger. Eine Bestandsaufnahme anhand repräsentativer Stichproben in ausgewählten Ober- und Mittelzentren in den Ländern Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Thüringen für den Zeitraum 2009 – 2014 mit einer Trendabschätzung bis 2018“, Berlin 2015. UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 27 Wohnungswirtschaft / Schulen ordentlicher Rendite deckte, quasi anzumieten – machte damit bundesweit positive Schlagzeilen. Diesen Weg hätte man ja auch in Weimar gehen können. Warum wurde dies verworfen? Denn damals ahnte ja Niemand wie grandios dieses und weitere ähnliche PPPProjekt dereinst mit riesigen Einbußen für die Kommunen scheitern würden. Stefan Wolf Quellen gesucht. Das beförderte die von Ihnen schon erwähnte Diskussion zur Veräußerung der städtischen Wohnungen. Anfangsmehrheit im Stadtrat für Wohnungsverkauf wurde gekippt UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Neben dem Finanzbedarf für die Kulturstadtanleihe wurden die Ideen zur Veräußerung auch davon getrieben, dass im Jahr 2006 die Stadt Dresden alle kommunalen Wohnungen an die private Fortress verkauft hatte. Mit dem Erlös von 1,7 Milliarden Euro – das lag weit über dem Buchwert – konnte sich Dresden komplett entschulden. Warum hat sich diese auf den ersten Blick durchaus verlockende Idee in Weimar nicht durchgesetzt? Wolf: Für den Verkauf gab es im Weimarer Stadtrat zunächst eine Mehrheit aus den Fraktionen von CDU und Freien Wählern. Dazu stellten die SPDMandatsträger einen Gegenantrag. Offenbar hatten wir gute Argumente, mit denen wir drei Stadträte aus der Pro-Verkaufs-Fraktion überzeugen konnten. Weimar behielt seine kommunale Wohnungsgesellschaft mit allen städtischen Quartieren. UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Zurück zur Schulsanierung: die komplette Privatisierung war vom Tisch. Es gab aber doch auch in Weimar Ideen, die Sanierung und den Betrieb per PPP – Lebenssanierungsmodelle waren gerade bei Schulen damals in aller Munde – zu realisieren. Der Landkreis Offenbach, der 2004 alle 90 Schulen einem privaten Investor für einen langen Zeitraum zur Sanierung und zum Betrieb übertrug, um diese dann zu einem regelmäßigen Gebührensatz, der die damit verbundenen Kosten nebst 28 Wolf: Ein Professor unserer Bauhaus-Universität war einer der geistigen Väter dieser PPP-Lebenszyklusmodelle. Auch deshalb gaben sich in Weimar die Bieter aus der Privatwirtschaft die Klinke in die Hand. Für uns war es aber nur logisch, dass wir mit der Entscheidung zum Erhalt des kommunalen Wohnungsbestandes auch bei der Schulsanierung die Potenziale unserer Wohnungsgesellschaft, der Weimarer Wohnstätte GmbH, nutzen, auch um „Herr im eigenen Hause“ hinsichtlich der inhaltlichen und finanziellen Auswirkungen der Instandsetzung und Modernisierung zu bleiben. UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Was heißt das? Wolf: Die Stadt kann bei notwendigen Veränderungen, die sind bei Schulen viel häufiger als man gemeinhin denkt, direkt steuern und eingreifen und alle Gewinne verbleiben im städtischen Regelkreis. UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Nun müssen wir noch einmal das Stichwort „Rückzahlung der Kulturstadtanleihe“ aufgreifen. Da standen Sie doch zu diesem Zeitpunkt mit allen Ihren Entscheidungen gegen Verkäufe und PPP noch immer im Obligo? Wolf: Aus dieser Schuldnersituation haben wir uns befreit, indem wir einen Teil der städtischen Schulen an die Weimarer Wohnstätte verkauft haben. Natürlich zu realen Preisen, belegt durch Gutachten, und mit dem Votum der Kommunalaufsicht, die diese Transaktion doch eher argwöhnisch betrachtete und deshalb auch sehr genau hinsah. Für die Rückzahlung der Anleihe war das ein guter Weg. Ohne diesen Druck wäre auch eine Veräußerung in der „Ein-Euro“-Variante unter Einrechnung des immensen Investitionsbedarfs darstellbar gewesen. Das wäre für unser „Weimarer Modell“ der Veräußerung an eine städtische Gesellschaft, also quasi an uns selbst, wegen der deutlich geringeren Kapitaldienstbelastung der betriebswirtschaftlich deutlich bessere Weg gewesen. Diese hier genannten Optionen setzen aber – vor allem aus vergaberechtlichen Aspekten – voraus, dass das städtische Wohnungsunternehmen als Käufer zu 100 Prozent in kommunalem Eigentum sein muss. Beim „Weimarer Modell“ gibt es keinen Verlierer UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Stichwort Kapitaldienst. Sie profitieren doch auch von den niedrigen Zinsen. Wolf: Das ist richtig. Aber da dies nicht so bleiben wird, ist noch wichtiger, dass die Finanzierungslasten nicht im Verwaltungs-, sondern im Vermögenshaushalt angesiedelt sind. UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Grundstrukturen des gerade skizzierten PPPProjekts finden sich im Weimarer Sanierungsmodell wieder. Nur mit dem Unterschied, dass der Partner nicht ein privates Unternehmen, sondern eine hundertprozentige Tochter der Stadt ist. Bitte beschreiben Sie uns das Modell etwas genauer? Wolf: Im Rahmen des Weimarer Modells hat Weimar bis heute neun Schulen und Sporthallen an die Weimarer Wohnstätte verkauft. In diesem Zusammenhang wurden langfristige vertragliche Regelungen zur Sanierung und Bewirtschaftung der Objekte mit Laufzeiten von 25 bzw. 40 Jahren getroffen. Es gibt ein Kalkulationsschema zur Ermittlung der zu zahlenden Miete unter Berücksichtigung langfristig wirtschaftlicher und steuerrechtlich notwendiger Ansätze. UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Nun wissen wir ja auch aus dem Scheitern privater PPP-Modelle, dass solche langfristigen Kostenprojektionen schwierig sind. Wolf: Das ist richtig. Aber das ist allenthalben eine eher marginale Erfahrung aus dem Lebenszyklusansatz, den private Anbieter den Kommunen „verkauft“ haben. Der Hauptgrund für das Scheitern ist doch ein ganz anderer. Sie können mit diesem Ansatz eben nicht seriös eine Kapitalverzinsung von 20 Prozent erreichen. Das genau war die Erwartungshaltung der Privaten, und um dieses Ergebnis zu erreichen, mussten vermutlich, ich sage das ganz vorsichtig, die Renditen in die Kosten eingepreist werden. Renditen in dieser Höhe sind gegenüber dem Weimarer Modell von einem anderen Stern. Wir haben mit einer marktüblichen Verzinsung kalkuliert, und auch hier am unteren Rand der von-bis-Skala. Ich hatte an anderer Stelle gesagt, dass Schulen ein sehr lebendiger Organismus sind. Das hat auch zur Folge, dass man mit langfristigen betriebswirtschaftlichen Szenarien nicht auf dem Punkt landet. Das ist aber im Weimarer Modell kein Problem. Immer vorausgesetzt – das können wir der Weimarer Wohnstätte mit hundertprozentiger Sicherheit annehmen UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 KOMMUNALWIRTSCHAFT AKTUELL Wohnungswirtschaft / Schulen Die ersten zwei Sanierungen von Schulen wurden noch genehmigt. Danach wurde die Ampel auf rot gestellt. Das hat uns nicht gehindert, den erfolgreichen Weg fortzusetzen. Die Weimarer Wohnstätte durfte aber keine Kommunalkredite mehr aufnehmen. Das war angesichts des Zinsniveaus zu verschmerzen. Eröffnung der sanierten Schulcampus „Am Paradies“ im August 2015. Von links nach rechts: Peter Kleine, Bürgermeister Stadt Weimar, Reinhard Mäder, Schulleiter Albert-Schweitzer Grundschule, Udo Carstens, Geschäftsführer Weimarer Wohnstätte GmbH, Thomas Fleischer, Schulleiter Carl-August-Musäus Regelschule – das mit höchster Effizienz gearbeitet wird, sind höhere Kosten gegenüber dem kalkulierten Verlauf ja kein Problem. Die Gesellschaft wird dann weniger Gewinn erwirtschaften, aber die Stadt bleibt von ebendiesen Kosten verschont. Das ist eine rundum positive Anwendung des ja manchmal auch verpönten Prinzips „linke Tasche, rechte Tasche“. In diesem Fall gibt es eben keinen Verlierer. UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Wir haben uns, auch in Abgrenzung zu PPP oder ÖPP beim Weimarer Modell an einem neuen Begriff versucht: „Kommunalkommunalwirtschaftliche Partnerschaft“. Den Begriff gibt es in der Wissenschaft noch nicht. Auch die Abkürzung funktioniert mit „KKP“. Was halten Sie davon? Klärung inhaltlicher Aufgabenstellungen für die ersten Projekte und der Zeitdruck. Was uns aber am nachhaltigsten beschäftigt und tatsächlich auch gestört hat, waren die Vorstellungen der Kommunalaufsicht: wie häufig fern von der Wirklichkeit! Von dort wurde ernsthaft gefordert, dass wir nachweisen sollen, dass der Verkauf an die städtische Gesellschaft und die langfristige Vertragsgestaltung zur Sanierung und Bewirtschaftung besser ist als die Erledigung in den Verwaltungsstrukturen. Das geht im konkreten Fall aber theoretisch gar nicht, schon unter Hinweis auf die langen Vertragszeiträume. Auch die solitäre Sicht auf die Entwicklung der Verschuldung ist falsch, denn dagegen stehen ja auch größere Vermögenswerte. UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Sie haben unter anderem auf das Erfordernis verwiesen, die Verträge der Stadt mit der Wohnungsgesellschaft mit einer Laufzeit von mindestens 25 Jahren abzuschließen. Das ist ein Vierteljahrhundert. Im Gegensatz dazu gelten die städtischen Schulnetzpläne jeweils nur fünf Jahre. Über so lange Zeiträume sind doch Investitions- und Instandhaltungsbedarfe gar nicht zu planen. Wie entwickelt man unter diesen Umständen, die man als Quadratur des Kreises charakterisieren könnte, ein Kalkulationsmodell? Wolf: Das vereinbarte Kalkulationsschema zum Zeitpunkt der Beschlussfassung des Stadtrates war das einzig praktikable Modell der Zusammenführung einer „schmalen“ technischen Informationsbasis – Investitionskosten und Bewirtschaftung –, dem nur noch kurzzeitig gültigen Schulnetzplan und dem Bemühen um die Sicherung der beiderseitigen wirtschaftlichen Interessen von Kommune und kommunalem Wohnungsunternehmen. UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Die Stadt zahlt ihrer Gesellschaft – das ist eine formale Analogie zu den erwähnten PPP-Modellen – eine Miete, mit denen alle Wolf: Gefällt mir, aber ich habe auch einen alternativen Vorschlag: ÖÖP, also Öffentlich-Öffentliche Partnerschaft. Und für das, was wir in Weimar quasi erfunden haben, steht natürlich der Begriff „Weimarer Modell“. Kommunalaufsicht blieb skeptisch bis behindernd UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Jetzt kennen wir das Modell in seinen grundlegenden Strukturen und können uns der Umsetzung zuwenden. Was waren hier die größten Stolpersteine? Wolf: Ich nenne einige Stichworte: die Informationsbeschaffung zu Objekten und die Grundlagenermittlung der betriebswirtschaftlichen Kalkulation, die juristische Aufbereitung des Vorhabens, vor allem die Ausgestaltung eines Vertragswerkes, die Unser Foto zeigt den Schulcampus „Am Paradies“. Dazu gehören Schule, Mensa und eine Turnhalle. Die Sanierung wurde in der bemerkenswert kurzen Zeit von April 2014 bis August 2015 realisiert. Die Sanierungskosten betrugen 13,6 Millionen Euro. UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 29 Wohnungswirtschaft / Schulen Kosten gedeckt und eine marktübliche Verzinsung dargestellt werden muss. Diese Kosten sind Bestandteil des Haushalts, und der wird im Stadtrat beschlossen. Funktioniert das konfliktfrei oder kursiert bei den Stadträten für die städtische Gesellschaft die Vermutung, „die verdient sich eine goldene Nase?“ Das war in der Vergangenheit in der Verwaltungszuständigkeit nicht selbstverständlich. Das lag aber nicht an der Bereitschaft der Mitarbeiter, sondern war der Tatsache geschuldet, dass wir für die laufenden Instandhaltungen nicht die Finanzmittel in den Haushalt einstellen konnten, die vonnöten waren. Wolf: Wir haben derzeit eine Eigenkapitalverzinsung auf dem gesetzlich niedrigsten Niveau in der Vertragskonstruktion mit der Weimarer Wohnstätte in Höhe von zwei Prozent. Da diskutiert niemand darüber, dass sich das Unternehmen eine goldene Nase verdient. UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Dieses „Weimarer KKP-Modell“ wird inzwischen auch von Kollegen aus anderen Städten besichtigt. Was sagen die und was sagt das Land, das regelmäßig zutiefst misstrauisch ist, wenn sich Kommunen selbst etwas einfallen lassen? „Es gibt das Wasser nicht, das wir in den Wein gießen könnten“ Wolf: Das Weimarer Modell ist leider über die Region hinaus kaum bekannt. In Erfurt hat man ähnliches vor. Dazu sind wir im Austausch. Ich bin ganz sicher, dass unser Beispiel Schule machen sollte. UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Wir müssen ein Fazit ziehen. Wie lautet es in Summe für das „Weimarer Modell“, und würden Sie ggfls. etwas anders machen, wenn Sie es heute noch einmal starten könnten? Wolf: Es klingt unwirklich, aber es gibt das Wasser nicht, das wir hier in den Wein gießen müssten. Das Weimarer Modell ist ein Erfolg. So sehen wir das als Stadt, die Weimarer Wohnstätte und der Stadtrat in großer Übereinstimmung. Ich bin ganz sicher, dass unser Beispiel Schule machen sollte. „ ______________________ Stefan Wolf “ Energetisch haben wir allerdings etwas gelernt: die Hoffnung, dass man mit sanierten Schulen Energiekosten spart, hat sich nicht erfüllt. Ganz im Sinne des Energieerhaltungssatzes müssen wir das, was wir an Heizkosten sparen, an Lüftungskosten hinzusetzen. UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Wir haben vor allem die ökonomische und strukturelle Seite beleuchtet. Was bedeuten sanierte Schulen darüber hinaus? Wolf: Wir haben im besten Sinne auch die soziale Infrastruktur verbessert, und mit sanierten Schulen die Attraktivität vieler Wohngebiete erhöht. Dort treffen wir zufriedene Eltern, Kinder und Lehrer. Das liegt auch daran, dass wir den sanierten Status erhalten. Das ist Bestandteil der Verträge, und vor Ort wird mit Freude registriert, dass etwas, was kaputt geht, sehr schnell auch repariert wird. 30 UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Ihr kommunales Wohnungsunternehmen, die Weimarer Wohnstätte GmbH, hat mit Erfolg – und der ist mit gutem Recht auch dauerhaft zu nennen, denn seit Projektstart sind immerhin schon neun Jahre vergangen – ein knappes Drittel der Weimarer Schulen saniert und tut dies ebenso positiv auch als Betreiber und Eigentümer. Warum überträgt die Stadt dem Unternehmen nunmehr nicht auch alle weiteren Schulen, Sporthallen und auch – das würde strukturell doch passen – die Kindertagesstätten? Wolf: Natürlich gab es die Überlegung, die Schulen und Turnhallen komplett in die Hand der Weimarer Wohnstätte zu geben. Was uns gehindert war, das war die leider auch beim Thema Schulen inkonsistente Förderpolitik. Niemand kann mir doch ernsthaft erklären, dass es für die Sanierung einer Schule Fördermittel gibt, wenn sie im städtischen Bestand ist, nicht aber, wenn sie einer zu 100 Prozent städtischen Wohnungsgesellschaft gehört. Da wir auf Fördermittel aber nicht verzichten können, gibt es die große Lösung nicht. Wir verzichten damit auf viele positive Effekte, die man unter den Überschriften Synergie und Kosteneffizienz zusammenfassen könnte. Ein zweiter Aspekt besteht darin, dass man solche Übergänge nicht auf einen Ritt, sondern Schritt für Schritt gestalten muss. Unsere städtische Wohnungsgesellschaft war ja nicht per se ein Schulsanierungsträger und Schulbetreiber. In diese Aufgaben ist sie auf bemerkenswerte Weise hineingewachsen. Damit hat sie die Statur, auch Folgeprojekte mit Bravour zu meistern. UNSER Gesprächspartner Stefan Wolf wurde am 6. Dezember 1961 in Berlin geboren. Nach dem Abitur und einer Ausbildung zum Bankkaufmann folgte 1984 das Studium der Rechtswissenschaften an der Freien Universität Berlin, das Wolf 1992 mit dem 2. Juristischen Staatsexamen abschloss. Bis 2001 war er Richter und Staatsanwalt bei der Staatsanwaltschaft Berlin mit dem Schwerpunkt Wirtschaftskriminalität. Zudem fungierte er als Geldwäschebeauftragter der Berliner Staatsanwaltschaft. Von 2001 bis 2006 war er Bürgermeister und Beigeordneter für Wirtschaft, Stadtentwicklung und Bauen der Stadt Weimar. Seit Juli 2006 ist er dort Oberbürgermeister und Dezernent für Stadtentwicklung, Kultur und Wirtschaft. Wolf ist Vorsitzender bzw. stellvertretender Vorsitzender des Verwaltungsrates der Sparkasse Mittelthüringen, Aufsichtsratsvorsitzender u.a. der Stadtwerke Weimar StadtversorgungsGmbH, der Weimarer Wohnstätte GmbH und Vorsitzender des Wasserversorgungsversorgungszweckverbands Weimar. Er ist Mitglied in weiteren Aufsichtsräten und Kuratorien, u.a. Stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender der Deutschen Nationaltheater und Staatskapelle Weimar GmbH – Staatstheater Thüringen und Mitglied im Aufsichtsrat der Kommunale Energie Beteiligungsgesellschaft Thüringen AG. Stefan Wolf ist Vizepräsident des Gemeindeund Städtebundes Thüringen und Mitglied im Vorstand der Landesgruppe Thüringen des Verbands kommunaler Unternehmen e.V. (VKU). UNTERNEHMERIN KOMMUNE: „Weimarer KKP-Modell“. Taugt das nur in der direkten Nachbarschaft zu Goethe und Schiller oder halten Sie es für einen Ansatz, der auch anderswo funktioniert? Wenn ja, wann gibt es zur weiteren Anwendung eine „Handreichung“? Wolf: Goethe und Schiller, um diese Stichworte aufzugreifen, haben in der Republik den besten Ruf und einen guten Klang. Das wünschen wir auch dem Weimarer Modell. Es ist eine gute Idee, dieses Modell auch wissenschaftlich strukturiert aufzuarbeiten und auf dieser Grundlage eine praktikable Handreichung für eine Nachnutzung zu entwickeln. n Das Gespräch führte Michael Schäfer i infos stadtverwaltung@stadtweimar.de www.weimarer-wohnstaette.de UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 KOMMUNALWIRTSCHAFT AKTUELL ÖPP Öffentlich-Private Partnerschaften auf kommunalwirtschaftlicher Ebene Eine Möglichkeit zur Mehrung kommunalen Vermögens? Von Christian Monreal, Remondis Assets & Services GmbH & Co. KG D ie Diskussion zur Sinnhaftigkeit kommunaler und privater Kooperationen, den sogenannten Öffentlich-Privaten Partnerschaften (ÖPP), wird seit Jahren kontrovers geführt. Gerade in Zeiten großer kommunaler Herausforderungen aber auch großer Verunsicherung gegenüber der Privatwirtschaft empfiehlt sich, statt der üblichen emotionalen Diskussion, eine rationale Auseinandersetzung mit der Thematik. Denn was zählt, ist die Antwort auf die Frage: Können Kommunen durch Öffentlich-Private Partnerschaften kommunales Vermögen mehren? Beispiele für Öffentlich-Private Partnerschaften finden sich in nahezu allen Lebensbereichen unserer Gesellschaft. Ob in Schulen oder Kindertagesstätten, beim Bau eines neuen Autobahnteilstücks, beim Bau und Betrieb einer Altenpflegeeinrichtung, bei der Versorgung mit Energie und Wasser oder bei der Entsorgung von Abfall und Abwasser – überall dort werden heute bereits Leistungen in Zusammenarbeit von öffentlicher Hand und privater Wirtschaft erbracht. Sogar die bedeutendste nationale Normungsorganisation, die DIN e.V., ist schon seit 1975 eine ÖPP. Sie verantwortet beispielsweise, dass alle Normungen im Sinne des öffentlichen Interesses festgelegt werden. Definition und Merkmale ÖPP Unter Öffentlich-Privaten Partnerschaften versteht man alle Formen der Zusammenarbeit zwischen einer kommunalen Einrichtung und einem privatwirtschaftlichen Unternehmen. Diese Partnerschaften leben vor allem von einer engen Zusammenarbeit, aber auch von ihrer Langfristigkeit, der Risikoteilung, von der gemeinsamen Weiterentwicklung und nicht zuletzt auch von der gemeinsamen Finanzierung. Denn für die öffentliche Hand stellt die ÖPP vor allem eine alternative Beschaffungsvariante dar. Genauso vielfältig wie die Tätigkeitsbereiche von ÖPP, ist auch ihre Wahrnehmung in der Öffentlichkeit. Während die Befürworter immer wieder auf den wirtschaftlichen Erfolg dieser Gemeinschaftsunternehmungen hinweisen, vermitteln Medien vermehrt ein negatives Bild von ÖPP. Woran liegt das? Fehlende Informationen sind sicherlich ein Grund, handwerkliche Fehler bei der Ausgestaltung ein anderer. Motive der öffentlichen Hand Für den kommunalen Partner gibt es zahlreiche Gründe, die für eine ÖPP sprechen: Die Ressourcen privater Unternehmen für öffentliche Aufgaben nutzen zu können, das geteilte Risiko bei Investitionsentscheidungen, die Nutzung von Markt- und Wettbewerbsstrukturen oder auch der Vorteil, dass Aufgaben verlässlich und ökonomisch effizient erfüllt werden, können der Anlass für die Gründung einer ÖPP sein. Oft ist zudem auch die Sicherung stabiler Gebühren ein Motiv. Aus der jeweiligen Motivlage heraus, kann sich die öffentliche Hand zwischen einer vertraglichen oder einer institutionellen ÖPP entscheiden: Das erste Modell basiert ausschließlich auf einer vertraglichen Beziehung zwischen den Partnern, wie dies beispielsweise bei einem Konzessionsmodell der Fall ist. Die Gestaltung des Vertrags bzw. die Einhaltungskontrolle, sind bei diesem Modell für die öffentliche Hand die einzige Möglichkeit die wunschgemäße Leistungserbringung festzulegen und erfolgreich umzusetzen. Dem Abbau eines vorliegenden Investitionsstaus und damit der Verbesserung der Infrastruktur stehen zukünftige Zahlungsverpflichtungen an den Partner gegenüber. Das Modell der institutionellen ÖPP basiert auf der Gründung eines gemeinsamen Wirtschaftsgebildes oder durch die Beteiligung eines privaten Partners an einem bestehenden Unternehmen. Damit ist für die öffentliche Hand, die in der Regel sogar die Mehrheit der Gesellschaftsanteile behält, die Wahrung der Kontrolle sichergestellt. Sie kann gemeinsam mit dem privaten Partner an der Weiterentwicklung der Gesellschaft arbeiten. Neben dem einmaligen Ve r k a u f s e r l ö s der Anteile am Gemeinschaftsunternehmen, erhält die öffentliche Hand außerdem ihre Gewinnbeteiligung. Gestaltung institutioneller ÖPP UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 Christian Monreal Auch wenn beide Formen der ÖPP auf Grund ihrer großen Unterschiede differenziert zu bewerten sind, ist beiden gemein, dass die Auswahl des richtigen Partners von entscheidender Bedeutung ist. Dieser Tatsache ist im Vergabeverfahren entsprechend Rechnung zu tragen. Der deutsche und der europäische Gesetzgeber haben daher bewusst preisfremde Zuschlagskriterien im Gesetz verankert, um die öffentliche Hand nicht zu zwingen, den „billigsten“ oder bei einer ÖPP den 31 ÖPP „Höchstbietenden“ als Partner nehmen zu müssen. Als Partner eignet sich nämlich vielmehr derjenige, der ähnliche strategische Ziele verfolgt. Dazu gehören neben der nachhaltigen Unternehmensausrichtung und der Unternehmensführung, vor allem die Sicherstellung einer durch Referenzen belegten hochwertigen Leistungserbringung. Abschließend lässt sich die Ausgangsfrage, ob ÖPPs das kommunale Vermögen mehren können, dann klar mit Ja beantworten, wenn über institutionelle ÖPPs gesprochen wird. Der Beschaffungsvorgang wird so optimiert, dass er neben dem Einmalerlös sowohl ein laufendes Ergebnis als auch einen Finanzwert generiert. Positives Beispiel: REMONDIS ÖPP // Qualität und Wirtschaftlichkeit seit 20 Jahren Eine der größten und erfolgreichsten ÖPP betreibt die Firma REMONDIS (49 Prozent) zusammen mit der Stadt Frankfurt am Main (51 Prozent). Zusammen haben sie 1998 die Frankfurter Entsorgungs- und Service GmbH (FES) gegründet. Heute ist die FES der führende Komplettdienstleister für Entsorgung und Reinigung in der gesamten Rhein-Main-Region. Mit insgesamt sechs Tochter- und Beteiligungsgesellschaften bietet die FES Serviceleistungen für Während die Befürworter immer wieder auf den wirtschaftlichen Erfolg dieser Gemeinschaftsunternehmungen hinweisen, vermitteln Medien vermehrt ein negatives Bild von ÖPP. „ ______________________ Christian Monreal “ 700.000 Frankfurterinnen und Frankfurter und zusätzlich 4,8 Millionen Touristen und Geschäftsreisende auf insgesamt sechs Millionen Quadratmeter. Diese ÖPP bietet Arbeitsplätze für inzwischen mehr als 1.700 Menschen, besitzt rund 800 Spezial- und Sammelfahrzeuge und betreibt acht Aufbereitungsanlagen. Seit der Gründung erweiterte die FES ständig ihre Geschäftsfelder und Kompetenzen. Ihr Portfolio reicht heute von der Erfassung von Haushalts-, Gewerbe- und Industrieabfällen über die Bioabfallbehandlung und Stadtreinigung bis hin zur Abfallaufbereitung. Die Zuverlässigkeit, Kompetenz und die ökonomische Stabilität der FES sind für die Stadt Frankfurt am Main heute kaum noch zu entbehren. n UNSER AUTOR Christian Monreal wurde am 10. Mai 1982 in Viersen geboren. Nach dem Abitur und der Absolvierung des Zivildienstes begann er im Jahre 2002 seine duale Berufsausbildung bei der damaligen RWE Umwelt AG, die er im Jahre 2004 abschloss. Berufsbegleitend studierte er bis 2006 an der FOM Fachhochschule für Ökonomie und Management, Neuss, und schloss dieses Studium als Diplom-Kaufmann (FH) ab. Von 2014 bis 2016 absolvierte Monreal – ebenfalls nebenberuflich – den Studiengang „Kommunalwirtschaft“ an der HNE Hochschule für Nachhaltige Entwicklung, Eberswalde, den er im Februar 2016 als Master of Arts Kommunalwirtschaft abschloss. Nach dem Verkauf der RWE Umwelt AG an die REMONDIS-Gruppe arbeitet er seit 2005 für die REMONDIS Assets & Services GmbH & Co. KG im Bereich Vertriebssteuerung. Schwerpunkte sind die Koordinierung des kommunalen Vertriebs der Unternehmensgruppe sowie der Bereich Public Affairs. i infos christian.monreal@remondis.de Rotes Kreuz SCHENKEN SIE Menschen auf der Flucht Zuversicht! 32 IBAN: DE63370205000005023307 BIC: BFSWDE33XXX Stichwort: Flüchtlingshilfe UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 www.Spenden-DRK.de/Flüchtlinge FORUM NEUE LÄNDER FORUM NEUE LÄNDER nachgeschlagen Der Ostdeutsche Sparkassenverband (OSV) vertritt alle 45 öffentlichen Sparkassen in den Bundesländern Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Sachsen. Er wurde im Jahr 1991 als Nachfolger des DDR-Sparkassenverbandes gegründet. Die Mitgliedssparkassen verfügen über 1.440 Geschäftsstellen und beschäftigen mehr als 20.000 Mitarbeiter. Der OSV ist der einzige deutsche Sparkassenverband, der mehr als zwei Bundesländer vereinigt. Die kommunalen Implikationen der Flüchtlingskrise Gewogene Werte VfkE-Jahresveranstaltung vom 30. November in Bitterfeld-Wolfen D ie Flüchtlingskrise hat dieses Jahr 2015 geprägt, wie kaum ein anderes Thema. Fast alle Kommunen in Deutschland waren betroffen. Schließlich sind die zu uns kommenden Menschen nach dem Königsteiner Schlüssel auf die Länder und dann möglichst gleichmäßig auf die Kommunen verteilt worden. Zwischen September 2015 und November 2016 reisten mehr als 1,5 Millionen Flüchtlinge ein. Allein im Jahr 2015 betrug der Migrationssaldo 1,25 Millionen Menschen. Die Bundesrepublik erfährt damit eine Einwanderung in historisch ungekannten Dimensionen, womit sich für die Kommunen enorme Herausforderungen, einige Chancen, aber auch gewisse Risiken verbinden. Die simple Betreuung, Verpflegung und Unterbringung wurde geschafft. Vollkommen offen ist allerdings, ob in einigen Jahren die Integration gelungen sein wird. Aktuell ist zu konstatieren, dass die Flüchtlingskrise zu einer erheblichen Spaltung der Gesellschaft beigetragen hat. Kommunen stehen in der Verantwortung für ein stabiles gesellschaftliches Klima vor Ort zu sorgen, weshalb es naheliegend und nahezu unausweichlich war, das Thema Flüchtlingskrise auf die Agenda des Verbundnetz für kommunale Energie zu setzen. Grundlage der Debatte in Bitterfeld-Wolfen war die Jahresstudie des VfkE 2016. Sie wurde an Sachsen-Anhalts Ministerpräsidenten Dr. Reiner Haseloff übergeben. Lesen Sie im Folgenden eine Zusammenfassung der Veranstaltung vom 30. November in Bitterfeld-Wolfen. Petra Wust ist seit Gründung der Doppelstadt Bitterfeld-Wolfen deren Oberbürgermeisterin. Nach zehn Jahren im Amt wird sie im kommenden Frühjahr den Staffelstab an ihren bereits gewählten Nachfolger Armin Schenk übergeben. Es sei ein schöner Abschluss, am Ende der Amtszeit noch einmal das Verbundnetz für kommunale Energie (VfkE) in Bitterfeld-Wolfen begrüßen zu können, so die Oberbürgermeisterin. „Die alte Agfa-Konzernzentrale ist das neue Rathaus der Stadt und repräsentiert deren reiche Industriegeschichte. Der alte Hörsaal wiederum vermittelt damals wie heute die Verbindung zwischen grundlegenden Strategiebildungen auf der einen sowie Forschung und Lehre auf der anderen Seite. Das VfkE als politische Plattform mit wissenschaftlichem Anspruch ist hier bestens aufgehoben.“ An diesem Ort mit seinem erfolgreich bewältigten Strukturwandel manifestiere sich die enorme Bedeutung der kommunalen Unternehmen für die Lebensqualität der Menschen und für die Ansiedlung von Gewerbe. Mit Blick auf die Zukunft richtet Petra Wust zwei Wünsche an die Politik. Sie möge erstens ein Einwanderungsgesetz schaffen, welches das gravierende Fachkräftedefizit lösen hilft und sie solle den erheblichen Investitionsstau in der Infrastruktur aufgreifen. Beides seien Vorbedingungen für einen prosperierenden Industriestandort. Als größtes ostdeutsches Unternehmen und angesichts einer starken kommunalen Komponente stützt die VNG – Verbundnetz Gas AG seit mehr als einem Jahrzehnt das VfkE. Ulf Heitmüller repräsentiert das Unternehmen Die kommunale Familie der Neuen Bundesländer traf sich im historischen Hörsaal der alten Agfa-Zentrale. Heute ist dort das Rathaus von Bitterfeld-Wolfen. UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 33 VfkE Die Politik soll endlich ein Einwanderungsgesetz schaffen und sie soll den gravierenden Investitionsstau bei der Infrastruktur aufgreifen. „ Bitterfeld-Wolfens Oberbürgermeisterin Petra Wust bei ihrem Grußwort seit Oktober 2016. „Die VNG ist fest im Osten Deutschlands und in den Kommunen verwurzelt. Das Engagement für eine Plattform der Kommunalwirtschaft liegt somit auf der Hand“, so der neue Vorstandschef. Herwart Wilms vertritt den zweiten Förderer der diesjährigen VfkE-Jahresstudie. REMONDIS ist ein traditionsreiches Familienunternehmen, welches als Entsorger und Versorger deutschlandweit – meist in Minderheitsbeteiligungen – mit Kommunen kooperiert und auf jahrzehntelange Erfahrungen bei der Daseinsvorsorge verweisen kann. „Wir erbringen Leistungen für mehr als 30 Millionen Menschen und sind mit 44 Beteiligungen der größte private Partner der Kommunen im Bereich der Daseinsvorsorge“, so Herwart Wilms. Die Unterstützung des VfkE entspräche einer Unternehmenskultur, die sich nicht nur an wirtschaftlichen Erfolgen, sondern auch an ethisch-moralischer Verantwortung messen lasse, so der Geschäftsführer der Remondis Assets & Services GmbH & Co. KG. Die Flüchtlinge in Deutschland würden mit enormen Erwartungen konfrontiert, so Wilms. „Wenn im Zusammenhang mit den zu uns gekommenen Menschen vom demografischen Wandel oder vom Fachkräftemangel gesprochen wird, bin ich mir unsicher, ob das Asylrecht dazu den passenden Rahmen bietet.“ Humanitäre Pflicht vs. wirtschaftlicher Eigennutz Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Dr. Reiner Haseloff war es vorbehalten, den ersten Impulsvortrag des Tages zu halten. Der promovierte Physiker verweist zunächst auf seine lange kommunale Prägung. Von 1990 bis 1992 war er stellvertretender Landrat des Landkreises Wittenberg, von 34 ______________________ Petra Wust “ 1992 bis 2002 Leiter des Arbeitsamtes Wittenberg und bis 2004 ehrenamtlich in Kreistag und Stadtrat aktiv. Die Auszeichnung zum „Kommunalpolitiker h.c.“ wisse er daher zu schätzen. Aus dieser kommunalen Perspektive heraus dankte Haseloff der VNG und REMONDIS für ihr Engagement. Das Verbundnetz für kommunale Energie (VfkE) leiste seit mehr als zehn Jahren einen wichtigen Beitrag für ein gemeinsames Problembewusstsein und für die Bildung von politischen, gesellschaftlichen und versorgungswirtschaftlichen Strategien der ostdeutschen kommunalen Familie. In dieser Funktion werde die Plattform auch in Zukunft dringend benötigt und verdiene jede Unterstützung. „Für die Integration der ankommenden Flüchtlinge gibt es keine Patentrezepte“, verweist der Ministerpräsident auf die Komplexität der Herausforderungen. Letztlich werde sich im alltäglichen Leben vor Ort entscheiden, ob die Eingliederung in die Gesellschaft gelingen kann. Voraussetzung sei jedoch, dass möglichst schnell diejenigen in ihre Heimatländer zurückgeführt werden, die keinen Anspruch auf Aufenthalt begründen konnten. Damit seien emotionale Härten verbunden, die man aber zur Sicherung des Rechtstaates und im Hinblick auf die begrenzten Ressourcen ertragen können muss. Der überwiegende Teil der Flüchtlinge sei allerdings aus Konfliktgebieten gekommen, in die aktuell und vermutlich auch in naher Zukunft nicht zurückgeführt werden kann. Die Gesellschaft müsse sich darauf einstellen, dass diese Menschen eine gewisse Zeit in Deutschland bleiben werden. Eine Verknüpfung von Asyl- und Einwanderungsrecht sieht der Ministerpräsident eher skeptisch. Das Asylrecht fuße auf humanen Erwägungen und sei nicht dazu da, die Wirtschaftskraft des Ziellandes zu stärken. Fachkräfteeinwanderung hingegen sollte sich am Aspekt der Nützlichkeit orientieren. Hierzu müssten zunächst grundlegende Prämissen definiert werden, die hoffentlich recht bald in ein neues Einwanderungsgesetz münden. Wenn man langfristig auf gut ausgebildete Asylberechtigte aus Konfliktgebieten setze, müsse man sich des Umstands bewusst sein, dass diese für den dringend notwendigen Wiederaufbau in der Heimat fehlen werden. In Sachsen-Anhalt sei der Anteil von Medizinern aus dem Nahen und Mittleren Osten schon jetzt recht hoch, was angesichts der Kriegsbilder aus Syrien und anderswo für alle Beteiligten ein moralisches Dilemma darstellt. Die deutsche Gesellschaft müsse die komplexe Frage beantworten, in welchem Maße eigennützliche Erwägungen im Umfeld des rein humanbasierten Asylrechts gelten dürfen, so der Ministerpräsident. Mit Blick auf die vorhandenen Ressourcen und die zunehmende Polarisierung der Gesellschaft müssten auch Grenzen der Zumutbarkeit bedacht werden. Kommunen und auch die Länder sollten konkret benennen, wenn sie sich überfordert fühlen. Die außenpolitische Verantwortung läge beim Bund und bei der EU und dort sollten die Aufwände der Flüchtlingsintegration auch finanziert werden. In den vergangenen 15 Monaten wurden mehr als eine Million Menschen in der Bundesrepublik aufgenommen, so Haseloff. Sachsen-Anhalt hätte die daraus resultierenden Herausforderungen vergleichsweise gut bewältigt. So sei eine Vielzahl der Asylverfahren Das Verbundnetz für kommunale Energie (VfkE) leistet seit mehr als zehn Jahren einen wichtigen Beitrag für ein gemeinsames Problembewusstsein und für die Bildung von politischen, gesellschaftlichen und versorgungswirtschaftlichen Strategien der ostdeutschen kommunalen Familie. „ ______________________ Dr. Reiner Haseloff “ Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Dr. Reiner Haseloff UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 FORUM NEUE LÄNDER VfkE bereits abgeschlossen und zahlreiche Flüchtlinge befänden sich nun im Wirkungsbereich des SGB II. Damit verbänden sich zwar klarere Finanzierungswege, jedoch sei es nur in Einzelfällen gelungen, in eine reguläre Beschäftigung zu integrieren. Mit den derzeit zur Verfügung stehenden Mitteln werde es kaum möglich sein, diesen Zustand zeitnah zu ändern. „Das Ausbildungs- und Arbeitsrecht muss auf die besonderen Voraussetzungen und auf den deutlich höheren Betreuungsaufwand bei der beruflichen Integration von Flüchtlingen eingehen“, so der Ministerpräsident. Zudem sei die Wirtschaft gefragt, sich noch stärker zu engagieren. „Wir wissen, wie schwierig allein die Integration der vielen deutschen Langzeitarbeitslosen fällt. Bei einer durchschnittlichen Analphabetenrate von 30 Prozent stellen sich bei den Flüchtlingen noch Die Flüchtlinge sind nicht nach Deutschland gekommen, um dem deutschen Arbeitsmarkt zu nutzen. „ ______________________ Hans-Joachim Herrmann “ komplexere Herausforderungen, denen man nur mit einer ausgeprägten sozialen Begleitung beikommen wird.“ Bürgerarbeit sei ein geeigneter Ansatz für den Übergang in Beschäftigung, so Haseloff, der das Konzept einst selbst entwickelte und in die politische Debatte einbrachte. Damit könnten sich sowohl für die Kommunen, als auch für SGB II-Empfänger schnell realisierbare Mehrwerte verbinden. Nicht zuletzt ließe sich auf diese Weise die gesellschaftliche Akzeptanz sowohl von Flüchtlingen als auch von Transferempfängern stärken. Der Ministerpräsident hofft, dass in den kommenden drei Jahren die Grundlagen geschaffen werden, um einen signifikanten Anteil REMONDIS bildet schon jetzt Flüchtlinge aus und will dies weiter verstärken. Selbstverständlich wollen wir daraus aber auch für uns etwas Gutes schöpfen. „ ______________________ Herwart Wilms “ Ich habe es als Landrat durchaus bedauert, nicht über eigene Wohnungsgesellschaften zu verfügen. „ ______________________ Matthias Jendricke “ neue Masseneinwanderung werde angesichts der begrenzten finanziellen wie personellen Ressourcen unweigerlich dazu führen, dass die Integration der bereits in Sachsen-Anhalt lebenden Flüchtlinge erschwert wird. der Flüchtlinge in den ersten Arbeitsmarkt zu bekommen. Mit 440 Sprachförderklassen allein in Sachsen-Anhalt werde aktuell vor allem an der sprachlichen Basis gearbeitet. Eine umfassende Integration werde jedoch nur gelingen, wenn die private Wirtschaft ihre Erwartungen an die Berufseinsteiger dämpft und die Qualifikationsstandards insgesamt flexibel angepasst werden. „Wenn wir die Herausforderungen bewältigen, lässt sich mit einer gewissen Berechtigung die Stärkung des Wirtschaftsstandortes Sachsen-Anhalt erwarten. Umgekehrt muss aber auch ständig Acht gegeben werden auf die gesellschaftliche Stabilität.“ Haseloff wünscht sich, dass die Flüchtlingszahlen auf dem derzeit mäßigen Niveau verbleiben. Eine mögliche Auszüge aus der Podiumsdiskussion Im Anschluss an die Präsentation der VfkEJahresstudie 2016 sollten deren zentrale Ergebnisse auf dem Podium diskutiert werden. Mit dabei waren Vertreter der kommunalen und der privaten Unternehmen sowie der Kommunalpolitik. „Eines der zentralen Ergebnisse war die herausragende Gewichtung der kommunalen Unternehmen bei der Integration von Flüchtlingen“, zitiert Prof. Dr. Michael Schäfer aus der gerade veröffentlichten Jahresstudie 2016. Diese Wertschätzung seitens der befragten Hauptverwaltungsbeamten sei schon allein ein bemerkenswerter Befund, doch wie lassen sich die Funktionen der kommunalen Wirtschaft im Hinblick auf die Integration konkret beschreiben, fragt der Moderator der Runde und deutschlandweit einzige Professor für Kommunalwirtschaft. Auf dem Podium diskutierten v.l.n.r.: Uwe Schulze, Matthias Jendricke, Hans-Joachim Herrmann, Herwart Wilms und Jürgen Voigt. Ganz rechts im Bild der Moderator der Runde: Prof. Dr. Michael Schäfer UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 35 VfkE „Jeder Bürger hat einen Bezug zu seinen kommunalen Unternehmen. Sie agieren vor Ort und für die Region“, antwortet Uwe Schulze, Landrat von Anhalt-Bitterfeld. Insbesondere die kommunalen Wohnungsgesellschaften leisteten jenseits von Gewinnerwartungen einen ganz erheblichen Beitrag für eine dezentrale Integration in das Wohnumfeld. Sie würden den Neubürgern dabei konkrete Werte und Normen des Zusammenlebens in Deutschland vermitteln. Daneben könnten auch die kommunalen Beschäftigungsgesellschaften erhebliche Impulse entfalten. Matthias Jendricke stimmt seinem Kollegen zu. „Ich habe es als Landrat durchaus bedauert, nicht über eigene Wohnungsgesellschaften zu verfügen“, so der Landrat des Landkreises Nordhausen. „Wir mussten die kreiseigene Servicegesellschaft nutzen, um Gemeinschaftsunterkünfte zu betreiben und Objekte zu kaufen.“ Eigene Gesellschaften böten die Möglichkeit einer flexiblen Anpassung an sich verändernde Rahmenbedingungen. Bei externen Anbietern müssten die finanziellen Verpflichtungen auch bei der aktuell deutlich abgesunkenen flüchtlingsbedingten Wohnraumnachfrage erfüllt werden. Hans-Joachim Herrmann führte lange Jahre den Verband kommunaler Unternehmen in Sachsen-Anhalt, ist heute dessen Stellvertreter und agiert seit deren Gründung im Jahr 1991 als Geschäftsführer der Stadtwerke Wittenberg. Herrmann ordnet den Wohnungsgesellschaften ebenfalls eine herausragende Rolle bei der Integration zu. Doch auch die Stadtwerke könnten ihren Beitrag leisten – etwa bei der Bereitstellung von Infrastruktur für provisorische Wohneinheiten. Daneben hätten viele kommunale Unternehmen Anstrengungen unternommen, möglichst viele Flüchtlinge möglichst schnell in Arbeit zu integrieren. „Leider sind Die Teilnehmer der PODIUMSDISKUSSION (in namensalphabetischer Reihenfolge) ˆˆ Hans-Joachim Herrmann, stellv. Vorsitzender der VKU-Landesgruppe Sachsen-Anhalt, Geschäftsführer Stadtwerke Lutherstadt Wittenberg und Mitglied der VfkE-Koordinierungsgruppe ˆˆ Matthias Jendricke, Landrat des Landkreises Nordhausen ˆˆ Uwe Schulze, Vize-Präsident Landkreistag Sachsen-Anhalt, Landrat des Kreises Anhalt-Bitterfeld ˆˆ Jürgen Voigt, Geschäftsführer Wohnungs- und Baugesellschaft Wolfen mbH ˆˆ Herwart Wilms, Geschäftsführer Remondis Assets & Services GmbH & Co. KG Die Runde wurde moderiert von Prof. Dr. Michael Schäfer, Professor für Kommunalwirtschaft an der Hochschule für nachhaltige Entwicklung in Eberswalde (HNEE). die Erfolge bislang äußerst begrenzt“, bedauert er. Mit den benötigten Qualifikationen verbänden sich offenkundig noch zu hohe Hürden. Insgesamt bemängelt Herrmann, dass die Debatte um Flüchtlinge und um deren Integration viel zu häufig ohne und über die tatsächlich Betroffenen hinweg geführt werde. Herwart Wilms will die Fokussierung auf eine rein kommunalwirtschaftliche Aufgabenerledigung im Bereich Flüchtlinge und Integration nicht unwidersprochen lassen. Es gäbe durchaus viele Beispiele, wo kommunales und privates Engagement ineinandergegriffen und zu ähnlichen befriedigenden Ergebnissen geführt hätte, so der Geschäftsführer Remondis Assets & Services GmbH & Co. KG. Ganz abgesehen von den Eigentümerstrukturen müssten sich die Unternehmen vor Ort vollkommen unklaren Perspektiven stellen, wenn sie Flüchtlinge in Ausbildung und Arbeit bringen wollen, so Prof. Dr. Schäfer. Schließlich verfügten auch anerkannte Asylbewerber in der Regel nur über einen temporären Aufenthaltsstatus, der an das Fortbestehen der politischen Verwerfungen im Heimatland gebunden ist. Daran schließt die Frage an, wie sich dieses Dilemma im Sinne Es besteht ein eklatantes Missverhältnis zwischen der Verantwortung und den Aufgaben, die Kommunen in diesem Land wahrnehmen, sowie den Kompetenzen, die sie entfalten dürfen. Nicht zuletzt im Rahmen der Flüchtlingskrise haben die Kommunen ihre Gestaltungs-, Innovations- und Schaffenskraft bewiesen. Die Bundesebene traf eine umstrittene Entscheidung und die Kommunen leisten die Arbeit. Dass mehr als eine Million Menschen urplötzlich Unterkunft, Betreuung und Verpflegung fanden, ist eine enorme Leistung, die vor allem in den Kommunen erbracht wurde. Vor Ort wird sich letztlich auch entscheiden, wie gut die Integration so vieler Menschen aus teilweise recht unterschiedlichen Kulturen gelingt. Und vor diesem Hintergrund ist es mehr als nur bedauerlich, dass mit der Neuordnung des Länderfinanzausgleiches schon wieder eine Chance für eine angemessene kommunale Finanzierung vertan wurde. Die Kommunen werden auch weiterhin am Tropf des Bundes und der Länder hängen und auf vermeintlich „großzügige“ Sonderleistungen angewiesen sein. Falk Schäfer 36 beider Seiten – der Migranten und der Unternehmen – lösen lasse. Hans-Joachim Herrmann antwortet, dass sich diese Frage angesichts der geringen Qualifikationen der Flüchtlinge derzeit vornehmlich theoretisch stellt. Zudem seien die Flüchtlinge nicht nach Deutschland gekommen, um dem deutschen Arbeitsmarkt zu nutzen. „Wenn wir die Menschen hier bei uns ausbilden, damit sie nach einer Befriedung im Heimatland am Wiederaufbau mitwirken können, dann haben wir das Richtige getan. Gerade DDRBürger kennen diese Solidaritätshilfe aus der Vergangenheit“, so Herrmann. „Etwa drei Viertel der bei uns im Landkreis registrierten Asylbewerber besitzt keine Ausbildung und zwar weder beruflich noch schulisch“, ergänzt Uwe Schulze. Viele könnten nicht einmal in ihrer Muttersprache lesen und schreiben. Für eine fachliche Integration in den deutschen Arbeitsmarkt müssten bei diesen Menschen nicht drei, sondern zehn bis 15 Jahre veranschlagt werden. Ob diese zeitlichen und finanziellen Aufwände sich lohnen, müsse vor dem Hintergrund der konkreten Rahmenbedingungen und der möglichen Alternativen gewogen werden. „Sicherlich kostet eine Integration in Arbeit viel Zeit und Geld“, so Herwart Wilms. Doch gerade in der Entsorgungswirtschaft böten sich durchaus Gelegenheiten, einen gemeinsamen Mehrwert für Flüchtlinge und die Unternehmen zu realisieren. REMONDIS bildet schon jetzt Flüchtlinge aus und will dies weiter verstärken. „Selbstverständlich wollen wir daraus aber auch für uns etwas Gutes schöpfen“, so Wilms. „Einwanderung ist doch schon heute Realität“, sagt Jürgen Voigt. „Aus diesem Erfahrungsschatz können wir bei der aktuellen Migrationswelle schöpfen.“ Die Gastarbeiter seien damals schlecht untergebracht, dafür aber gut in Arbeit integriert worden. Heute sei es umgekehrt, so der Geschäftsführer Wohnungsund Baugesellschaft Wolfen mbH. n Die Veranstaltung dokumentierte Falk Schäfer i infos www.vfke.org UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 FORUM NEUE LÄNDER VfkE Oberbürgermeisterin Petra Wust und Ministerpräsident Dr. Reiner Haseloff wurden bei der VfkE-Jahresveranstaltung 2016 als „Kommunalpolitiker h.c.“ ausgezeichnet „Kommunalpolitiker h.c“. Diese Auszeichnung gibt es seit dem Jahr 2007. Die originäre Idee hatte Prof. Dr. Michael Schäfer, der dann das Detailkonzept gemeinsam mit Oberbürgermeistern und Bürgermeistern entwickelte. Weil wirklich nur erfolgreiche und allseits anerkannte Kommunalpolitiker das Recht haben, diese Amtsbezeichnung ehrenhalber, also „honoris causa“ (h.c.), zu verleihen, bat Professor Schäfer genau solche Amtsinhaber um Mitwirkung in einem Auszeichnungsgremium. Diesem gehören aktuell an: ˆˆ OB Dr. Dietlind Tiemann, Brandenburg an der Havel ˆˆ OB Torsten Zugehör, Lutherstadt Wittenberg ˆˆ Bürgermeister Dr. Reinhard Dettmann, Stadt Teterow, Präsident Städte- und Gemeindetag Mecklenburg-Vorpommern ˆˆ Bürgermeister Joachim Kreyer, Stadt Sondershausen ˆˆ Bürgermeister a.D. Wolfgang Sedner, Stadt Lichtenstein ˆˆ Prof. Dr. Michael Schäfer, Professor für Kommunalwirtschaft an der Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde (FH) und Herausgeber von UNTERNEHMERIN KOMMUNE Wer kann die Auszeichnung erhalten? Kurzum: Jeder, der sich in herausgehobener Weise für die „kommunale Familie“ engagiert, kann „Kommunalpolitiker h.c.“ werden. Das gilt beispielsweise für Unternehmer, die das kommunale Leben personell und finanziell unterstützen, für Bundes- und Landespolitiker, die dafür sorgen, dass die kommunale Selbstverwaltung tatsächlich auch gelebt werden kann oder für Wissenschaftler, die zu Kommunen und kommunalen Unternehmen forschen und belastbar zeigen, welche herausragende Rolle die Kommunen und die dort tätigen Unternehmen für den Bestand unseres Landes spielen. Symbol für die Auszeichnung ist eine handgeschnitzte Figur. Diese wurde nach Vorgaben des Ideengebers und Initiators in den Kunstgewerbewerkstätten Olbernhau im Erzgebirge – sie gehören zu den führenden Unternehmen der Holzkunst in Deutschland und liefern ihre kleinen Kunstwerke in die ganze Welt, u.a. in die USA, nach Japan und China – eigens für diese Auszeichnung von Künstlern und Holzschnitzern entwickelt. Die einzige Möglichkeit, diesen „Kommunalpolitiker h.c“ zu bekommen, besteht darin, Seit wann gibt es den „Kommunalpolitiker h.c.“ und wie muss man sich die Ehrung vorstellen? Die erste Auszeichnung gab es am 23. April 2007 in Bernburg. Die Ehrung in BitterfeldWolfen eingeschlossen, wurde der Ehrentitel erst achtmal vergeben. Das Auszeichnungsgremium ist sich einig, diese Würdigung wirklich nur bei herausragenden Beiträgen für die kommunale Sache zu vergeben. „Kommunalpolitiker h.c“ – das soll und muss etwas ganz Besonderes sein und bleiben! UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 damit ausgezeichnet zu werden.Er wird nur für diese Auszeichnung gefertigt. Raubkopien wären strafbar, denn der „Kommunalpolitiker h.c“ ist beim Deutschen Patentamt in München geschützt. Genau besehen, ist der kleine Oberbürgermeister mit der Amtskette auch ein erzgebirgischer Räuchermann. Die Idee dahinter: erfolgreiche Kommunalpolitik hat die Intention, „der Schornstein muss rauchen“. Und das gilt natürlich gleichermaßen für jene, die dabei kräftig mit anheizen und sich mithin den Titel „Kommunalpolitiker h.c.“ verdienen. Das Auszeichnungsgremium bezieht sich auf die hohe Akzeptanz, die das „honoris causa“ genießt. Der ideelle Wert dieses „h.c.“ wurde auf die Würdigung von herausragendem kommunalen Engagement übertragen. Wer und warum wurde am 30. November 2016 in BitterfeldWolfen als „Kommunalpolitiker h.c.“ ausgezeichnet? Die Auszeichnung erhielten vor dem würdigen Forum der Jahresveranstaltung des „Verbundnetz für kommunale Energie“ Petra Wust, Oberbürgermeisterin von Bitterfeld-Wolfen, und Dr. Reiner Haseloff, Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt. Wir veröffentlichen nachfolgend (auszugsweise) die sehr umfangreichen Begründungen der Auszeichnungsvorschläge, auf deren Grundlage die Mitglieder des Auszeichnungsgremiums einstimmig für die Vergabe des Ehrentitels votierten. Dr. Reiner Haseloff Dr. Reiner Haseloff, begann sein „kommunales Leben“ nach der Wende als stellvertretender Landrat des Landkreises Wittenberg. Von 1992 bis zum Jahre 2002 gestaltete er auf dieser kommunalen Ebene als Direktor des Arbeitsamtes der Lutherstadt Wittenberg maßgeblich die schwierige Transformation des Arbeitsmarktes unter den komplizierten Bedingungen von ökonomischem Umbau und tendenzieller Deindustrialisierung. Mit diesen Erfahrungen und Erkenntnissen entwickelte er – da war er schon Wirtschaftsminister des Landes SachsenAnhalt (bereits 2002 wurde er zunächst als Staatssekretär ins Kabinett berufen) in den Jahren 2006 und 2007 das bundesweit stark beachtete Konzept „Bürgerarbeit“. Dieser Ansatz sollte es erstmals ermöglichen, dass Langzeitarbeitslose mit ihren eher geringen Chancen für eine Re-Integration in den ersten Arbeitsmarkt dauerhaft in die kommunale Aufgabenerledigung einbezogen werden können. In mehreren Pilotprojekten wurde die Praxistauglichkeit der Idee mit großem Erfolg und 37 VfkE ohne „wenn und aber“ nachgewiesen. Zudem wurde gezeigt, dass die immer wieder ideologisch beschworenen negativen Auswirkungen auf die Privatwirtschaft entfallen, wenn die Langzeitarbeitslosen Tätigkeiten ausüben, für die es dringende kommunale Bedarfe gibt, deren Finanzierung aus den Haushalten aber nicht oder nicht ausreichend dargestellt werden kann. Mit großer Beharrlichkeit engagierte sich Dr. Haseloff dafür, diesen unter vielerlei zentralen Aspekten – Kompensation der strukturellen kommunalen Unterfinanzierung, Befreiung der Langzeitarbeitslosen aus der frustrierenden Situation dauernder Perspektivlosigkeit, Durchsetzung des vernünftigen Prinzips, Arbeit zu finanzieren statt Arbeitslosigkeit – dringend gebotenen Paradigmenwechsel auf Bundesebene durchzusetzen. Leider gelang es nicht, das Konzept in Gänze auf Bundesebene zu implementieren. Nicht zuletzt die mangelnde Unterstützung durch die Bundespolitik und die leider generell zunehmende Scheu, grundlegende Reformen parteiübergreifend ins Werk zu setzen, waren dafür zentrale Ursachen. Gleichwohl setzte Haseloff mit seinem Konzept wichtige Impulse für die Optimierung der Integration von Langzeitarbeitslosen, die jetzt auch für die erfolgreiche Integration von Flüchtlingen genutzt werden sollten. Dr. Reiner Haseloff, seit 2011 Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt, stellte immer wieder unter Beweis, dass er mutig und ohne ideologische und parteipolitische Scheuklappen vor allem auch die Interessen der Kommunen seines Landes an vorderster Stelle zum Maßstab seines Handelns machte. So etwa indem er klar formulierte, dass die Integration der Flüchtlinge kein abstraktes Mandat ist, sondern in ganz entscheidendem Maße davon abhängt, in welchem Umfang auf kommunaler Ebene und mit Unterstützung von Bund und Ländern personelle und finanzielle Ressourcen für diese Aufgabe bereitgestellt werden können. Für die Formulierung und für die Debatte seiner kommunalen Positionen – an dieser Stelle sei ausdrücklich sein Einsatz bei der Novellierung des Kommunalwirtschaftsrechts in SachsenAnhalt unter umfassender Berücksichtigung der Belange der Kommunen und ihrer Unternehmen im Jahr 2007 genannt – hat Dr. Haseloff immer wieder auch das „Verbundnetz für kommunale Energie“ (VfkE) genutzt. Es ist durchaus nicht selbstverständlich, die kommunalen Interessen als wohl wichtigste Prämisse für landespolitische Entscheidungen zu berücksichtigen. Für Dr. Haseloff war diese Prioritätensetzung immer unstrittig. Auch deshalb ist die erstmalige Ehrung eines Landespolitikers mit dem ehrenvollen Titel eines „Kommunalpolitiker h.c.“ mehr als gerechtfertigt. URKUNDE Für beispielhaftes kommunales Engagement wird Herr Dr. REINER HASELOFF Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt mit dem Titel KOMMUNALPOLITIKER h.c. ® ausgezeichnet. Diese Würdigung basiert auf dem Vorschlag von Herrn Prof. Dr. Michael Schäfer UNTERNEHMERIN KOMMUNE Für das Auszeichnungsgremium: Dr. Dietlind Tiemann Oberbürgermeisterin Stadt Brandenburg a. d. Havel / Land Brandenburg Dr. Reinhard Dettmann Bürgermeister Stadt Teterow / Land Mecklenburg-Vorpommern Vorstand Städte- und Gemeindetag Mecklenburg-Vorpommern Wolfgang Sedner Bürgermeister a.D. Stadt Lichtenstein / Freistaat Sachsen Joachim Kreyer Bürgermeister Stadt Sondershausen / Freistaat Thüringen Torsten Zugehör Oberbürgermeister Lutherstadt Wittenberg / Land Sachsen-Anhalt Prof. Dr. Michael Schäfer Herausgeber UNTERNEHMERIN KOMMUNE / Professor für Kommunalwirtschaft Berlin Brandenburg a. d. Havel, Teterow, Lichtenstein, Sondershausen, Lutherstadt Wittenberg, Berlin, den 03. November 2016 Diese Urkunde erhielt der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt Die Auszeichnung für den Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt, Dr. Reiner Haseloff, überreichte Prof. Dr. Michael Schäfer 38 UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 FORUM NEUE LÄNDER VfkE Petra Wust, die Oberbürgermeisterin, von Bitterfeld-Wolfen, beginnt ihren wohlverdienten Ruhestand Anfang März 2017. Dann ist sie Oberbürgermeisterin a.D. Als „Kommunalpolitikerin h.c.“ wurde sie bereits am 30. November 2016 in Bitterfeld-Wolfen ausgezeichnet. Ihr gratulierten Ministerpräsident Dr. Reiner Haseloff, Prof. Dr. Michael Schäfer und Ulf Heitmüller, Vorstandsvorsitzender der VNG – Verbundnetz Gas AG, Leipzig, die das „Verbundnetz für kommunale Energie“ seit dessen Gründung im Jahr 2003 umfassend unterstützt (v.l.n.r.). URKUNDE Für beispielhaftes kommunales Engagement wird Frau PETRA WUST Oberbürgermeisterin der Stadt Bitterfeld-Wolfen mit dem Titel KOMMUNALPOLITIKER h.c. ® ausgezeichnet. Diese Würdigung basiert auf dem Vorschlag von Herrn Prof. Dr. Michael Schäfer UNTERNEHMERIN KOMMUNE Für das Auszeichnungsgremium: Dr. Dietlind Tiemann Oberbürgermeisterin Stadt Brandenburg a. d. Havel / Land Brandenburg Dr. Reinhard Dettmann Bürgermeister Stadt Teterow / Land Mecklenburg-Vorpommern Vorstand Städte- und Gemeindetag Mecklenburg-Vorpommern Wolfgang Sedner Bürgermeister a.D. Stadt Lichtenstein / Freistaat Sachsen Joachim Kreyer Bürgermeister Stadt Sondershausen / Freistaat Thüringen Torsten Zugehör Oberbürgermeister Lutherstadt Wittenberg / Land Sachsen-Anhalt Prof. Dr. Michael Schäfer Herausgeber UNTERNEHMERIN KOMMUNE / Professor für Kommunalwirtschaft Berlin Brandenburg a. d. Havel, Teterow, Lichtenstein, Sondershausen, Lutherstadt Wittenberg, Berlin, den 03. November 2016 Die Oberbürgermeisterin nahm diese Urkunde entgegen Petra Wust Petra Wust, geboren im Jahr 1952, gehört zu denjenigen ostdeutschen Persönlichkeiten, die die kommunale Geschichte ihrer Stadt quasi von der ersten Stunde an, also schon ab dem Jahr 1990, unmittelbar nach der friedlichen Revolution in der DDR maßgeblich geprägt haben. 1990 begann sie ihre kommunale Laufbahn als Finanzdezernentin in der Stadtverwaltung Wolfen. In dieser Funktion war sie mehr als zehn Jahre erfolgreich tätig. In dieser Dekade verwandelte sich die Stadt von einer der am stärksten von Umweltverschmutzung geprägten Industrieorte in Sachsen-Anhalt zu einem modernen Chemiezentrum. Die Umweltsünden der Vergangenheit wurden vergleichsweise schnell überwunden, und die Region erhielt als einer der wichtigsten Standorte deutscher Industriegeschichte ein völlig neues Antlitz. An diesem Wandel wirkte Petra Wust in bemerkenswerter Kontinuität und mit ihrem beinahe schon sprichwörtlichen Optimismus und Tatendrang federführend mit. Dieses Engagement prägte sich nachhaltig in das Bewusstsein der Bürger. Anders kann nicht erklärt werden, dass die gebürtige Wolfenerin – 2001 wurde sie ständige Vertreterin des Oberbürgermeisters – im Jahr 2003 selbst in dieses Amt gewählt wurde. Mit Gründung der Doppelstadt Bitterfeld-Wolfen im Jahr 2007 erhielt sie auch als Stadtoberhaupt dieser neuen Chemiemetropole das Votum der Bürger. Jeder, der sich mit den Problemen und den vielen auch irrationalen Besonderheiten von kommunalen Fusionen auskennt, wird es als bemerkenswerten Ausnahmefall würdigen, dass Petra Wust im Jahr 2009 mit großer Mehrheit in diesem Amt bestätigt wurde. UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 Seit dem Jahr 2010 arbeitet die Oberbürgermeisterin in der Koordinierungsgruppe des „Verbundnetz für kommunale Energie“ mit und vertritt dort gemeinsam mit ihrem OBKollegen Bernward Küper aus Naumburg das Land Sachsen-Anhalt. Das VfkE insgesamt, und speziell auch die Arbeit der Koordinierungsgruppe, hat vom Elan und vom Ideenreichtum von Petra Wust sehr profitiert. Sie stand in diesem Gremium für ein typisches ostdeutsches Mittelzentrum mit den ebenso typischen Problemen, etwa den demografischen Strukturveränderungen oder auch den Schieflagen der wenigen großen Industrieansiedlungen. Auch in Bitterfeld-Wolfen ist die kommunale Wirtschaft das prägende und stabile Element in einem eher unruhigen und nicht immer verlässlich zu kalkulierenden Umfeld. Die dazu auch für Bitterfeld-Wolfen mit tatkräftiger Mitwirkung der Oberbürgermeisterin vorgenommenen Bestandsaufnahmen und Analysen haben die Findung von Themen und Inhalten des VfkE sehr befördert. Ende Oktober 2016 gab es in BitterfeldWolfen planmäßig die Wahlen zum Oberbürgermeister. Petra Wust kandidierte nicht mehr für dieses Amt. Sie wird aber weiterhin mit ihrem reichen Erfahrungsschatz u.a. an der Arbeit des VfkE mitwirken. n 39 Sparkassen 25 Jahre Ostdeutscher Sparkassenverband Fest an der Seite der Ostdeutschen Bundespräsident a.D. Horst Köhler gratulierte zum Jubiläum S eit dem 17. September 1991 sind Sparkassen und kommunale Träger gleichberechtigte Partner im Ostdeutschen Sparkassen- und Giroverband, 1999 umbenannt in „Ostdeutscher Sparkassenverband“ (OSV). Damit gründete sich erstmals ein überregionaler Sparkassenverband aus mehr als zwei Bundesländern. Die Thüringer schlossen sich mit den Hessen zusammen, doch davon abgesehen gelang die Integration ganz Ostdeutschlands in einen Verband. Entstanden ist bis heue eine schlagkräftige Sparkassenorganisation mit einem Bewusstsein für die spezifischen regionalen Interessen und für eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung. Mit den Rostocker Leitsätzen haben sich die Sparkassen zwischen Kap Arkona und Fichtelberg 1999 eine Richtschnur gegeben. Dass sie sich bis heute glaubhaft daran orientieren, unterstreicht den gemeinwohlorientierten Auftrag. Darüber hinaus wurde in 25 Jahren eine ökonomische Erfolgsgeschichte geschrieben, sodass die Sparkassen bis heute als potente Förderer des regionalen Mittelstandes wirken können. Gelungen ist der schwierige Spagat zwischen sozialem Auftrag und betriebswirtschaftlicher Effizienz. Am 27. Oktober wurde in Potsdam das Vierteljahrhundert des Ostdeutschen Sparkassenverbandes begangen. Prominenter Gratulant war Prof. Dr. Horst Köhler. Seine Gedanken vermittelten sowohl Optimismus als auch Nachdenklichkeit. Lesen Sie im Folgenden eine Zusammenfassung der Festveranstaltung. Umfeld oder die etlichen Kreisgebietsreformen, die im Regelfall Fusionen der betreffenden Sparkassen nach sich zogen. Im Jahr 1990 startete man mit 196 Sparkassen, heute seien es noch 45. Weitere Themen waren die Gründung der Landesbausparkassen oder der Aufbau einer neuen Datenverarbeitung. Vor nunmehr 20 Jahren wurde die Ostdeutsche Dr. Michael Ermrich, Geschäftsführender Präsident des Ostdeutschen Sparkassenverbandes Sparkassenstiftung Foto: Michael Gottschalk/photothek.net/Ostdeutscher Sparkassenverband gegründet, mit ihren Dr. Michael Ermrich war den Sparkassen in Ostvielfältigen Aktivitäten zur Förderung von Sport, deutschland seit der Wende kontinuierlich verKultur und sozialem Engagement. Die Rostocker bunden – zuerst als Oberkreisdirektor, dann ab Leitsätze bilden seit 1999 eine konkrete Richt1994 über fast zwei Jahrzehnte als Landrat im Harz schnur für das Handeln der Sparkassen. „Sie umreißen die Grundsätze eines modernen, und schließlich ist er im Juni 2013 zum Geschäftsführenden Präsidenten des Ostdeutschen Sparsozial verantwortlichen Sparkassenwesens und kassenverbandes berufen worden. Damit trat er sie zeigen, dass den ostdeutschen Sparkassen die Nachfolge von Rainer Voigt und des 2013 verschon zehn Jahre vor der Finanzkrise bewusst storbenen Claus-Friedrich Holtmann an. In seiner war, dass die Finanzindustrie auch gesellschaftlichen Ansprüchen genügen muss. Die Aufgabe Begrüßung verweist Ermrich auf die positive Entwicklung des Verbandes, der nach einem Viertelder Sparkassen liegt nicht in der kurzfristigen jahrhundert durchaus mit Stolz auf das Erreichte Gewinnmaximierung, sondern in der zuverzurückblicken könne. lässigen Erfüllung ihres öffentlichen Auftrags“, so Ermrich. Vor 25 Jahren seien Sparkassen und deren Träger gleichberechtigte Mitglieder im Verband geworden. Die vergangenen zweieinhalb Jahrzehnte seien nicht frei von Konflikten gewesen. Man habe sich Dies sei eines von mehreren Alleinstellungsmerkmalen des OSV und ein Schlüssel des Erfolges. Der OSV erfolgreich gegen die Privatisierung einer Sparkasse gehe zurück auf den kurz nach der ersten freien gewehrt und auch mit der Landespolitik sei der Volkskammerwahl im März 1990 gegründeten Spareine oder andere Händel bereinigt worden. Die kassenverband der DDR. In der Phase des Umbruchs wenigen Situationen, in denen Sparkassen in eine Schieflage gerieten, hätten sämtlich innerhalb des hätten viele Experten nur eine kurze Lebensdauer vorausgesagt. Umso bemerkenswerter sei die EntVerbandes gelöst werden können. „Zwischen 2003 wicklung bis heute. Große Herausforderungen seien und 2008 gab es auch einige betriebswirtschaftbewältigt worden – die Einführung der D-Mark, lich schwierige Jahre“, blickt Ermrich zurück. „Wir die Neuausrichtung in einem marktwirtschaftlichen haben gehandelt, bestehende Strukturen überdacht, 40 Synergien genutzt und Risiken minimiert.“ So hätten die Sparkassen stärker aus der Finanzkrise heraustreten können, als sie hineingeraten sind. Die nach wie vor große Innovationskraft der ostdeutschen Sparkassen sei in erster Linie den Mitarbeitern zu verdanken. Gemeinsam habe man Erfolge erarbeitet und Probleme bewältigt, war nie Bank, sondern immer Sparkasse. Abschließend äußert sich Ermrich zu einem tagesaktuellen Thema und verweist auf die Umsetzung der Wohnimmobilienkreditrichtlinie. Die deutsche Praxis erschwere die Kreditvergabe für Eigenheime erheblich und gehe weit über die Handhabung in anderen EU-Staaten hinaus. Das Immobiliengeschäft sei das Brot- und Butter-Geschäft von Sparkassen und Bausparkassen. „Wir hätten so ein Gesetz wahrlich nicht benötigt“, sagt Ermrich. Ausdrücklich begrüßte er die Bundesratsinitiative zu einer Änderung. Geburtshelfer der kommunalen Selbstverwaltung Prof. Dr. Horst Köhler war nach der politischen Wende in der DDR als Staatssekretär im Bundesfinanzministerium maßgeblich an der Vollendung deutschen Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion beteiligt. Von 1993 bis 1998 leitete er als Präsident den Deutschen Sparkassen- und Giroverband. 2004 wurde Köhler dann zum neunten deutschen Bundespräsidenten gewählt, ein Amt, von dem er im Jahre 2010 zurücktrat. „Der Ostdeutsche Sparkassenverband hat in den 25 Jahren seines Bestehens sehr viel Gutes erstrebt und erreicht“, so Köhler. Die Sparkassen in Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern seien aus dem Bild der Städte und Gemeinden nicht mehr fortzudenken. Dahinter stehe eine enorme Aufbau- und Gemeinschaftsleistung. „Die Ausgangslage war nicht sonderlich rosig“, so Köhler. In der DDR hätten die Sparkassen als Teil des planwirtschaftlichen Systems keinen guten Ruf genossen, nach der Wende UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 FORUM NEUE LÄNDER Sparkassen und für die Akzeptanz der neuen politischen Ordnung. Der Kern unseres Wertegefüges sei eine Freiheit, die sich in Verantwortung binde, so Köhler. Die Bürger der DDR hätten sich bei ihrer friedlichen Revolution für die soziale Marktwirtschaft und für das Grundgesetz entschieden und nicht für ordnungspolitisches Wildwest. Georg Fahrenschon, Präsident des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes Mit ihrer finanziellen Foto: Michael Gottschalk/photothek.net/Ostdeutscher Sparkassenverband Solidität, ihrer Ortsmussten sie sich mit westdeutschen Privatbanken verbundenheit und ihrem öffentlichen Auftrag auseinandersetzen, die energisch in den ostdeutschen errichteten die Sparkassen tragfähige Brücken in Markt drängten. Dennoch sei es gelungen, Vertrauen ein neues System. Zeitgleich hätte man jedoch erleben müssen, wie andere Teile des Finanzzu schaffen und zu einem verlässlichen Partner des Mittelstandes zu werden. sektors ein ganz anderes Gebaren an den Tag legten. Das Fundament dieser Erfolge sei gemeinsam Begünstigt durch eine unbedachte Regulierung seien wesentliche Elemente der Finanzindustrie von ost- und westdeutschen Sparkässlern gelegt worden. „Es gibt so manche Lagerfeuergeschichte in Maßlosigkeit, Gier und Zukunftsvergessenheit darüber, wie die Teams zusammenarbeiteten und verfallen. Köhler ist überzeugt, dass die Wirtschaftswie sie gegenseitig voneinander lernten“, so Köhler. und Finanzkrise dem Westen und der Strahlkraft Mittlerweile kämen von den ostdeutschen Sparseiner Ideale schwersten Schaden zugefügt habe. kassen viele innovative Impulse, die die gesamte „Mit diesen materiellen und ideellen Verirrungen leben wir noch heute.“ Sparkassenorganisation voranbringen. Beispielhaft nennt der Bundespräsident a.D. das Privatvorsorgekonzept für Standardkunden. Die ostdeutschen Freiheit und Verantwortung Sparkassen hätten maßgeblich zum wirtschaftlichen Wiederaufbau in den Neuen Bundes„Freiheit braucht Bindung – die Bindung an ländern und zur Ausprägung einer schlagkräftigen Regeln, an persönliche Verantwortung und an kommunalen Selbstverwaltung beigetragen. Nicht gemeinsame moralische Maßstäbe“, so Köhler. vergessen werden sollte das umfassende Engagement Was passiert, wenn die Freiheit in Bindungsfür soziale Belange, für Kultur und Sport – all dies losigkeit umschlage, hätte man seit 1990 an den von enormer Bedeutung für die Legitimation internationalen Beziehungen nachvollziehen Aus dem Vortrag von Georg Fahrenschon, Präsident des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes Das deutsche Sparkassenwesen verbindet regionale Verbundenheit mit der Internationalität des deutschen Wirtschaftsstandortes. Die Sparkassen bundesweit haben sich in schwierigen Zeiten als verlässliche Partner des Mittelstandes erwiesen, sie genießen unverändert das Vertrauen der Privatkunden, sie sind mit einem engen Vertriebs- und Beraternetzwerk regional fest verankert und sie wirken vor Ort als die wichtigsten Förderer von Kultur, Sport und sozialem Engagement. Aktuell werden sie jedoch mit bemerkenswerten und teilweise vollkommen widersprüchlichen Forderungen konfrontiert. Sie sollen ihr Geschäftsmodell ändern, aber weiter in der Fläche bleiben. Sie sollen sich vom zinsgebundenen Geschäft trennen, aber weiter für alle da sein. Sie sollen Entgelte hochsetzen, weil sie mehr Erträge brauchen, sie sollen Entgelte senken, weil sie dem Verbraucherschutz folgen. Sie sollen umbauen, aber verlässlich bleiben. Sie sollen Eigenkapital bilden, während einige Akteure schon wieder Ausschüttungen fordern. Es spricht für die innere Agilität und die Innovationskraft der Sparkassen, dass sie sich in diesem Dickicht noch immer angemessen orientieren können. In den ostdeutschen Bundesländern ist das Sparkassenwesen erst vor 25 Jahren zum Leben erweckt worden. Es ist bemerkenswert, was bis heute erreicht wurde. In unsicheren Zeiten haben die ostdeutschen Sparkassen Millionen Menschen unterstützt und sind bis heute zu tragenden Pfeilern der regionalen Wirtschaftsstruktur gereift. Gemeinsam mit ihren Trägern haben sie wirtschaftliche, soziale und kulturelle Perspektiven geschaffen. UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 können. Die Welt sei nach dem Ende der Blockkonfrontation nicht zu einem friedlicheren Ort geworden. „Wir haben erlebt, wie anderen Völkern und Kulturen die Demokratie mit dem Schwert beigebracht wurde, wie Staaten die Urteile der internationalen Gerichtshöfe ignorierten und wie Autokraten ihre Nachbarländer destabilisierten. Wir wurden Zeuge, wie Freiheitsbewegungen in Anarchie und neuer Gewaltherrschaft versanken und wie mörderische Glaubensfanatiker sich anderen gegenüber an überhaupt keine moralischen Normen mehr gebunden fühlten“, fasst der Bundespräsident a.D. zusammen. Angesicht der massiven Fluchtbewegungen weltweit fragten sich immer mehr Menschen, ob die Ordnungsleistung der westlichen Demokratien den Herausforderungen noch gewachsen ist. Dazu würden weitere gravierende Veränderungen auf die Die Aufgabe der Sparkassen liegt nicht in der kurzfristigen Gewinnmaximierung, sondern in der zuverlässigen Erfüllung ihres öffentlichen Auftrags. „ ______________________ Dr. Michael Ermrich “ Gesellschaften Europas einströmen. Köhler nennt den demografischen Wandel, die umfassende Digitalisierung und die Individualisierung der Lebensstile. Viele Menschen hierzulande würden zwar einen gewissen Wohlstand konzedieren, gleichzeitig aber auch eine ausgeprägte Zukunftsunsicherheit empfinden. „Es gibt keinen vernünftigen Zweifel an der Richtigkeit der Wiedervereinigung, auch nicht an den im vergangenen Vierteljahrhundert errungenen Erfolgen“, so Köhler. Der Aufholprozess der Neuen Länder könne sich wahrlich sehen lassen. Niemand leugne, dass es noch immer Lücken gibt, doch fast alle seien sich einig, dass auch diese verschwinden sollen. Zugleich müsse man erkennen, dass viele internationale Konflikte unserer Zeit eine Folge eben jener tektonischen Veränderungen sind, die die deutsche Einheit erst möglich machten. „Sie sind Ergebnis einer Freiheit, die in Bindungs- und Regelungslosigkeit umgeschlagen ist“, resümiert Köhler. Wenn jeder an sich denke, sei mitnichten an alle gedacht. Eine Schlussfolgerung aus der globalen Interdependenz sei, dass Eigensicherung nur mit Sorge um das Wohlergehen des jeweils anderen gelingen kann. Heutzutage könne kein Land – so mächtig es auch sein möge – Prosperität erstreben und bewahren, ohne den anderen das Gleiche zuzubilligen. 41 Sparkassen Wachstum und Ökologie Eine wesentliche Bindung des Finanzsektors sei seine dienende Rolle gegenüber den Privatkunden und der Realwirtschaft gewesen. Es war ein Auslöser der Finanz- und Wirtschaftskrise, dass viele Institute diese Bindung abgestreift hätten. Sie widmeten sich nicht mehr vorrangig der Aufgabe, Ersparnisse zu sammeln und zu belohnen, sie in die Erzeugung realwirtschaftlicher Produktivität zu lenken und den Zahlungsverkehr in der Gesellschaft zu organisieren, sondern sie erfanden und vertrieben eigene Papiere, finanzierten die Staatsverschuldung, kreditierten sich gegenseitig und koppelten sich immer stärker von realen Werten ab, fasst Köhler zusammen. „Ziel war nicht die Güter-, sondern allein die Geldproduktion. Begünstigt wurden diese Fehlentwicklungen durch eine Wachstumsratenpolitik, die mit billigem Notenbankgeld die Staatsverschuldung immer weiter ausbaute.“ Die damit verbundenen Risiken würden noch immer von einem ausgeprägten Lobbyismus recht erfolgreich kleingeredet. Der Crash habe bewiesen, dass dieses finanzkapitalistische Modell unsere Gesellschaft unakzeptabel belastet. Die Folgen der Krise begleiteten uns bis heute – historische Verschuldungsgrade, extrem gewachsene Zentralbankbilanzen, Wachstums- und Investitionsschwäche, Negativzinsen sowie ein ausgreifendes Schattenbankenwesen. „Als Reaktion auf die Krise war es anfangs gewiss sinnvoll, die Zinsen zu senken, um einer Depression vorzubeugen“, so Köhler. Doch mittlerweile würden die Nachteile einer extrem weichen Geldpolitik die Vorteile überwiegen, seien die Niedrigzinsen zum Dauerunterstützungsprogramm für politische Trägheit mutiert. Wenn keine endogenen Wachstumskräfte vorhanden seien, dann könne auch eine kontinuierliche Stimulation keine Besserung bringen. Nach dem erfolgreichen Krisenmanagement 2008 sei es nunmehr an der Zeit, eine langfristig überzeugende Wachstumspolitik zu finden. Die Sparkassen können als Transmissionsriemen wirken, der die Anforderungen der globalisierten, interdependenten Welt auf das Getriebe und die regionalen Kerne unserer Volkswirtschaft überträgt. „ ______________________ Prof. Dr. Horst Köhler “ Die Suche nach einem globalen Wohlstandsmodell werde die Sparkassen nur mittelbar, aber nicht minder deutlich prägen. Der westliche Lebensstil nehme sich deutlich mehr als ihm zustehe. 20 Prozent der Weltbevölkerung verbrauchten 80 Prozent der Ressourcen und so finanziere der Westen seinen Wohlstand sowohl ökonomisch, als auch ökologisch auf Pump. Wenn wir darauf nicht reagieren, dann gäbe es zwei katastrophale Alternativen. „Entweder wir ruinieren den Planeten oder wir lassen es zu, dass weite Teile der Welt in wachsender Unsicherheit und Armut verharren, letzteres mit absehbaren Folgen für die weltweiten Migrationsströme.“ Bundespräsident Köhler verweist auf das jüngst in Kraft getretene Pariser Klimaabkommen und auf die 2030-Agenda der Vereinten Nationen. Beide Entschließungen zusammen würden eine Richtschnur bilden, die die Welt vor dieser schlechten Strukturreformen müssten gezielt die endogenen Wachstumskräfte stärken und auch in Deutschland seien mehr Investitionen in Bildung, Digitalisierung und ökologische Innovation vonnöten. Zwei umfassende Entwicklungen werden die Gesellschaft und damit das Geschäftsumfeld der Sparkassen in Zukunft deutlich prägen, so Köhler. Erstens gingen mit der Digitalisierung eine technische und auch eine kulturelle Umwälzung einher. Zweitens werde global nach einem Wohlstandsmodell gesucht, welches allen Menschen ein würdevolles Leben ermöglicht, den Planeten Erde dabei aber nicht überfordert. Im Hinblick auf die Digitalisierung empfiehlt Köhler den Sparkassen eine Dr. Horst Köhler, Bundespräsident a. D. und ehemaliger Präsident des Deutschen Sparkassenambivalente Strategie. und Giroverbandes Foto: Michael Gottschalk/photothek.net/Ostdeutscher Sparkassenverband Sicherlich müssten die technischen Effizienzpotentiale möglichst Wahl bewahren könnte. Unsere Produktions- und umfassend genutzt werden, andererseits dürften die Konsummuster müssten sich allerdings ändern, Sparkassen darüber keinesfalls die Bindung zu den unsere Energieerzeugung, die Landwirtschaft, die Kunden gefährden. Denn deren Vertrauen, Nähe Mobilität, aber auch die Handels- und Steuerund Verständnis sei der zentrale Wettbewerbsvorteil. politik. Angesichts der Grenzen unseres Planeten wäre es verhängnisvoll, wenn das Funktionieren unserer Gesellschaft prinzipiell von hohen Wachstumsraten abhängig gemacht würde. Lebensfreude und Glück ließen sich schließlich nicht nur in materiellen Parametern bemessen. Kommunale Unternehmen und die Sparkassen spielen in Die Sparkassen könnten als Transmissionsriemen der Wirtschaftsstruktur der Neuen Bundesländer eine herwirken, der die Anforderungen der globalisierten, ausgehobene Rolle. Dies gilt auch im Unterschied zum Altinterdependenten Welt auf das Getriebe und die Bundesgebiet mit seiner deutlich dichteren Gewerbe- und regionalen Kerne unserer Volkswirtschaft überträgt. Industriestruktur, der höheren Kaufkraft und Produktivität. „Ich wünsche mir Sparkassen als Ermöglicher, die Starke Stadtwerke und Sparkassen waren eine Vorbedinden hidden champions bei ihren Innovationen gung für eine funktionsfähige kommunale Selbstverwaltung. Zusammen mit ihren kommunalen unter die Arme greifen.“ Die deutsche DezentraliTrägern und Gesellschaftern leisteten sie ein enormes Aufbauwerk – nicht nur im Hinblick auf die tät sei ein großer Vorteil im internationalen WettInfrastruktur, sondern vor allem mit Blick auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Der Ostdeutbewerb, allerdings nur insoweit, dass sie aus der sche Sparkassenverband hat sein Rollenverständnis in den Rostocker Leitsätzen des Jahres 1999 Provinzialität herauswachse. n zusammengefasst. Dieser Katalog steht exemplarisch für den Stellenwert und für das Verantwortungsbewusstsein der ostdeutschen kommunalen Wirtschaft. Zum 25jährigen Jubiläum lässt sich resümieren, dass die ostdeutschen Sparkassen den dort formulierten Ansprüchen gerecht werden konnten – ein Umstand, der Wertschätzung verdient. Falk Schäfer 42 i infos www.osv-online.de UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 FORUM NEUE LÄNDER Kommunalwirtschaft ÖPP für gestaltende kommunale Mitwirkung bei Erneuerbaren Energien Know-how von E.dis, strategische Führung bei Kommunen Interview mit dem Geschäftsführer der BMV Energie GmbH & Co. KG, Sebastian Noster R egionale Energieversorger mit kommunalen Bündelbeteiligungen oder inzwischen sogar komplett in kommunalem Eigentum prägen ganz maßgeblich die Energiewirtschaft in Ostdeutschland. Die Struktur – sie unterscheidet sich deutlich von der in den alten Bundesländern– ist ganz wesentlich vom sogenannten „Stromvergleich“ des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1992 geprägt. Im Zuge dieser Entscheidung erhielten die ostdeutschen Kommunen zunächst das Strom- später auch das Gasvermögen zurück. Damit war die Option verbunden, eigene Stadtwerke zu gründen oder sich alternativ an den schon bestehenden Regionalversorgern zu beteiligen. Die Namen dieser Unternehmen haben sich bis heute zum großen Teil geändert. Geblieben aber sind die Strukturen. Es handelt sich zum einen um gemischtwirtschaftliche Unternehmen: die in Chemnitz beheimatete Enviam AG mit RWE als Hauptaktionär und die E.dis AG mit Sitz in Fürstenwalde, die zum Eon-Konzern gehört. Alle weiteren in Ostdeutschland bestehenden Regionalversorger wurden in den letzten Jahren vollständig rekommunalisiert. Das betrifft die Schweriner Wemag und die in Erfurt beheimatete TEAG. Die kommunalen Miteigentümer an E.dis und Enviam sehen diesen Status nicht als reine Finanzbeteiligung, sondern machen von den Möglichkeiten der Mitgestaltung Gebrauch. Über das entsprechende Gewicht verfügen sie vor allem auch deshalb, weil die meisten Kommunen sich zu Beteiligungsgesellschaften formiert haben. Darüber, wie in diesen Konstellationen beispielsweise das Zusammenwirken mit den Stadtwerken funktioniert, berichteten wir im Juniheft. Dort dokumentierten wir eine Gesprächsrunde, die sich auf Initiative des Städte- und Gemeindebundes Brandenburg in Potsdam getroffen hatte. Im Septemberheft führten wir in Fortsetzung der im Juni gestarteten Serie ein Interview mit einem der Vorstände der E.dis, Dr. Andreas Reichel. In der vorliegenden letzten Ausgabe des Jahrgangs 2016 dokumentieren wir ein Gespräch, das wir mit einem der Geschäftsführer der BMV Energie GmbH & Co. KG, Sebastian Noster, führten. Die BMV wurde zunächst im Jahr 2012 als Unternehmen der E.dis AG Fürstenwalde gegründet. Inzwischen halten kommunale Partner aber bereits 75 Prozent der Kommanditanteile. UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Herr Noster, die BMV Energie GmbH & Co. KG wurde im Dezember 2012 gegründet und zwar zunächst als hundertprozentige E.dis-Tochter. Gegenstand des Unternehmens waren aber von vornherein die Erneuerbaren Energien. War bereits bei der Gründung klar, dass die BMV vor allem auch ein Angebot der E.dis an die Kommunen sein soll, sich in diesem im Bereich unternehmerisch zu engagieren? Sebastian Noster: Ganz eindeutig ja. Bereits bei den Vorbereitungen im Jahr 2012 war die Zielstellung einer kommunalen Mehrheit bei der Kooperation zwischen der E.DIS AG und kommunalen Partnern definiert worden. Dieser Aspekt war allen Beteiligten wichtig: für die operative Geschäftsführung sollte auf das Know-how der E.DIS-Gruppe zurückgegriffen werden, die strategischen Entscheidungen über die Entwicklung der Gesellschaft liegen aber auf kommunaler Seite. Auf diese Weise sollte den Kommunen die Möglichkeit gegeben werden, wirklich gestaltend auf dem Gebiet der Förderung und Entwicklung der Erneuerbaren Energien tätig zu werden und nicht nur als Zaungast. Denn genau diesen Wunsch hatten kommunale Partner immer wieder an die E.DIS herangetragen und dem wurde dann durch die Gründung unserer Gesellschaft Rechnung getragen. UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Die BMV hat Anfang 2013 mit dem Erwerb von zwei Windparks die operative Geschäftstätigkeit aufgenommen. Nahezu zeitgleich wurden 48 Prozent der Anteile an Kommunen verkauft. Im Juni 2013 gingen weitere zehn Prozent, im Januar 2016 nochmals 16 Prozent in kommunale Hände, die damit die schon erwähnten 75 Prozent der Kommanditanteile halten. Hatten Sie damit gerechnet, dass der konzeptionelle Ansatz der E.dis, die BMV zu einer mehrheitlich kommunalen Gesellschaft zu entwickeln, in einem vergleichsweise kurzen Zeitraum umgesetzt werden kann? Noster: Aufgrund der geführten Gespräche mit potentiellen Partnern auf kommunaler Seite sind wir von Anfang an davon ausgegangen, dass die kommunale Mehrheit kurzfristig erreicht wird. Jedoch mussten wir hier auch ganz praktisch den Nachweis erbringen, dass die Idee der Kooperation funktioniert und der wirtschaftliche Erfolg sich einstellt. Trotz überwiegend widriger externer Einflüsse zu Beginn der operativen Tätigkeit der BMV – der Wind wehte in den Jahren 2013 und 2014 unterdurchschnittlich – ist es gelungen, die Gesellschaft erfolgreich zu starten. Nachdem sich der wirtschaftliche Erfolg einstellte, waren die Kommunen vom Konzept und der Strategie der Gesellschaft endgültig überzeugt. Inzwischen hat keiner der Beteiligten mehr Zweifel daran, dass UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 Sebastian Noster das Engagement in dieser Gesellschaft einerseits die Energiewende voranbringt, der Umwelt nutzt und sich andererseits aber auch finanziell in barer Münze für die beteiligten Kommunen auszahlt. UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Sie verwenden den Begriff „kommunale Partner“ für die kommunalen Miteigentümer. Können Sie das für unsere Leser bitte übersetzen. Um wieviel kommunale Gebietskörperschaften handelt es sich, sind es nur Städte und Gemeinden oder auch Landkreise, aus welchen 43 Kommunalwirtschaft Bundesländern kommen sie, und sind es nur Kommunen, die auch E.dis-Miteigentümer sind, oder auch darüber hinaus? heute ziemlich kompliziert, Aktivitäten auf dem Gebiet der Erneuerbaren zu starten und mit Erfolg zu realisieren. Noster: Unter dem Begriff kommunale Partner fassen wir die beteiligten Stadtwerke – insgesamt sieben Stadtwerke, alle mit kommunalem Mehrheitsgesellschafter – sowie zwei kommunale Verbände zusammen. Alle Gesellschafter haben ihren Sitz in Brandenburg bzw. Mecklenburg-Vorpommern. Die beiden kommunalen Verbände vertreten Kommunen aus Ostbrandenburg bzw. aus den Regionen Müritz und Vorpommern, die auch an der E.DIS beteiligt sind. Ausdrücklich laden wir aber auch gern Einzelkommunen ohne Stadtwerke und auch Landkreise dazu ein, sich an der BMV zu beteiligen. All diese betrachten wir als unsere kommunalen Partner. UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Es war und ist die Intention der Kommunen, die Anteile an ostdeutschen Regionalversorgern halten, an der Energieversorgung auch gestaltend mitzuwirken. Welchen Stellenwert hat unter diesem Aspekt die BMV innerhalb der E.dis-Gruppe? Vom Start an schwarze Zahlen UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Die BMV feiert zum Zeitpunkt des Erscheinens dieser Dezemberausgabe von UNTERNEHMERIN KOMMUNE ihren vierten Geburtstag. Die berühmten ersten hundert Tage sind mithin schon lange verstrichen, und es ist deshalb legitim, sie um eine Bilanz der ersten vier Jahre im Leben der BMV zu bitten. Noster: Unser bald vierjähriges Kind hat längst das Laufen und Sprechen gelernt, auch rechnen kann es gut. Die körperliche Entwicklung lässt also keine Wünsche offen – zu den drei Projekten mit denen wir 2013 gestartet sind, sind zwischenzeitlich zwei weitere Windprojekte dazugekommen. Zwar hat die erwähnte schwache Windsituation der Jahre 2013 und 2014 sowie im aktuellen Jahr die wirtschaftliche Bilanz ein wenig getrübt. Die BMV konnte dennoch in allen Jahren positive Ergeb- Unser bald vierjähriges Kind hat längst das Laufen und Sprechen gelernt, auch rechnen kann es gut. „ ______________________ Sebastian Noster “ nisse erzielen und entsprechend Gewinne an die Gesellschafter ausschütten. Das ist unser erklärtes Ziel auch für die Zukunft und wir sind sehr zuversichtlich, dass wir dieses erreichen werden. Schließlich kennen wir uns auf dem immer komplexer werdenden Gebiet der Erneuerbaren Energien sehr gut aus – sowohl was die technischen als auch was die wirtschaftlichen Aspekte anbelangt. Und ohne diese langjährige Erfahrung und Kompetenz ist es 44 Noster: Ein wesentlicher Grund für die Gründung und Aufstellung der BMV war ja das Interesse der Kommunen, direkteren Einfluss auf das zukunftsträchtige Geschäft der Erneuerbaren Energien zu bekommen. Man wollte vom Beobachter zum Mitgestalter der Energiewende werden – selbstverständlich unter Abwägung der (kommunal)rechtlichen und wirtschaftlichen Aspekte. Hier haben die Kommunen und kommunalen Unternehmen einen erfahrenen und vertrauenswürdigen Partner gesucht und mit der E.DIS-Gruppe, die 2012 bereits seit über zehn Jahren im Bereich der Erneuerbaren Energien aktiv war, auch gefunden. Wie schon erwähnt, liegt die strategische Steuerung der BMV bei der kommunalen Mehrheit. Die Gesellschafter beschließen mehrheitlich über die Wirtschaftspläne und entscheiden über die Umsetzung von neuen Projekten und die künftige Ausrichtung der Gesellschaft. Das hat sich bisher als echtes Erfolgsmodell erwiesen. UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Keine Bilanz ohne Ausblick! Sagen Sie uns bitte etwas über die weitere strategische Ausrichtung der BMV und darüber, wie die Mitwirkung der Kommunen auch qualitativ weiter ausgebaut werden soll? Noster: Die BMV war von Beginn an auf Wachstum ausgerichtet. Über die jährlichen Gewinnausschüttungen erhalten die Gesellschafter eine Verzinsung des eingesetzten Kapitals. Die darüber hinaus in der Gesellschaft erwirtschafteten Kapitalzuflüsse werden in neue Projekte investiert. So konnten in den Jahren 2014 und 2015 bereits zwei neue Projekte in Betrieb genommen werden. Auch für die Folgejahre ist ein weiteres Wachstum durch den Erwerb von bzw. die Beteiligung an regenerativen Projekten geplant. Vorschläge für künftige Projekte kommen dabei sowohl von kommunaler Seite als auch über die Kontakte der E.DIS-Gruppe. UNTERNEHMERIN KOMMUNE. Was Sie uns berichtet haben, klingt gerade aus der kommunalen Perspektive überzeugend. Warum werden diese Ergebnisse nur so UNSER Gesprächspartner Sebastian Noster wurde am 29.März 1978 in Templin (Land Brandenburg) geboren. Sein Studium an der Technischen Universität Berlin schloss er 2004 als DiplomIngenieur im Studiengang Wirtschaftsingenieurwesen ab. Danach begann Sebastian Noster seine berufliche Laufbahn als Projektingenieur für Windenergieprojekte bei der e.disnatur Erneuerbare Energien GmbH, einer 100 % Tochtergesellschaft der E.DIS AG. Nach verschiedenen Aufgaben im Unternehmen übernahm er 2010 die kaufmännische Leitung  der Gesellschaft und ist seit 2013 Geschäftsführer der e.disnatur Erneuerbare Energie GmbH. 2012 übernahm Sebastian Noster, gemeinsam mit Thomas Borchers zunächst die Vorbereitung, Gründung und später die Führung der BMV. spärlich kommuniziert, denn etwa im Internet – und dies ist nun einmal inzwischen eine sehr wichtige Plattform – hinterlässt die BMV kaum „Spuren“. Noster: Wir waren in dieser Hinsicht tatsächlich bisher sehr zurückhaltend und haben die Kommunikation lediglich auf Ebene der Gesellschafter geführt. Inwiefern dieser konservative Ansatz auch künftig bei veränderten gesetzlichen und energiewirtschaftlichen Randbedingungen fortgesetzt wird und ob und in welcher Form wir als BMV selbst aktiver in die Kommunikation gehen, wird im Kreise der Gesellschafter aktuell intensiv diskutiert. Bisher laufen unsere werblichen Aktivitäten in der Regel bei direkten Gesprächen bzw. Kontakten mit Kommunen vorrangig im Netzgebiet der E.DIS, die aus unserer Sicht potentiell in Frage kommen für eine Beteiligung an der BMV. Damit haben wir durchaus gute Erfahrungen gemacht. Zumal die von der BMV bearbeiteten Themen durchaus komplex sind und erfahrungsgemäß auch intensiver individueller Erläuterungen und Beratungen bedürfen. Das heißt natürlich nicht, dass wir andere Kommunikationswege oder -plattformen für die Zukunft ausschließen wollen. Deshalb laufen ja auch ensprechende Diskussionen im Kreise unserer Gesellschafter. Und auch mit diesem Interview in Ihrer kommunalen Zeitschrift eröffnet sich rein praktisch ein weiterer Informationskanal. n Das Gespräch führte Michael Schäfer i infos www.e-dis.de UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 VfkE / Integration / Wohnungswirtschaft FORUM NEUE LÄNDER Weit über dem Durchschnitt liegende Flüchtlingskonzentration „Wir können Flüchtlingen noch ordentliche Wohnungen bieten“ Gespräch mit dem Oberbürgermeister der Stadt Neubrandenburg, Silvio Witt, und dem Geschäftsführer der NEUWOGES Neubrandenburger Wohnungsgesellschaft mbH, Frank Benischke D ie Aktivitäten des „Verbundnetz für kommunale Energie“ (VfkE) stehen 2016 unter dem Thema „Flüchtlingsintegration – Eine kommunale Mammutaufgabe. Lösungsansätze, Hindernisse, Ressourcenbedarf, spezifische Beiträge der Kommunalwirtschaft“. Neben der traditionellen Jahresveranstaltung am 30. November in Bitterfeld-Wolfen – darüber berichten wir in dieser Ausgabe ausführlich – nähern wir uns dieser Materie mit zwei Gesprächsrunden unter gemeinsamer Federführung von VfkE und UNTERNEHMERIN KOMMUNE. Der erste Meinungsaustausch fand am 6. September in Weimar statt. Darüber haben wir im Septemberheft ausführlich berichtet. Der zweite Vor-Ort-Termin führte uns am 22. November nach Neubrandenburg, wo wir den Oberbürgermeister der Stadt, Silvio Witt – er ist auch Mitglied der VfkE-Koordinierungsgruppe –, und den Geschäftsführer der Neubrandenburger Wohnungsgesellschaft, Frank Benischke, trafen. Dass Kommunen und deren Unternehmen bei der Betreuung, vor allem aber auch bei der Integration der Flüchtlinge Außergewöhnliches leisten, wird wohl von Niemandem mehr bestritten. Ebenso, dass die Umsetzung des „wir schaffen das“ in den Städten und Gemeinden unseres Landes stattfindet. Uns interessierte in Weimar und in Neubrandenburg vor allem das „Wie“. Zudem wollten wir uns darüber austauschen, ob jene Rahmenbedingungen zur Integration, für die der Bund und die einzelnen Länder verantwortlich sind, den Erfordernissen vor Ort genügen bzw. was hier noch nachjustiert werden muss. UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Damit unsere Leser wissen, wovon wir konkret reden, bitten wir am Anfang um einige Fakten zum Status quo in Neubrandenburg: wieviele Flüchtlinge leben in der Stadt, woher kommen sie, wie ist der Stand bei der Bearbeitung der Asylanträge und wie sind die sicher sehr differenzierten Voraussetzungen zur Integration zu beschreiben? Silvio Witt: Ich kann mich sehr gut daran erinnern, dass wir am 7. September 2015 in Berlin bei einer Gesprächsrunde – UNTERNEHMERIN KOMMUNE lud dazu nach Berlin ein – über das 25jährige Jubiläum der Deutschen Einheit aus kommunaler Perspektive diskutierten. Einer der Disputanten war Dr. Lothar de Maiziere, letzter und erster frei gewählter Ministerpräsident der DDR. Er würdigte als eines der wichtigsten Ergebnisse dieses politischen Umschwunges die Tatsache, dass mit der friedlichen Revolution die DDR-Kommunen ihre Selbstverwaltungsexistenz zurückgewannen. Die Bewertung von Dr. de Maiziere habe ich für unseren kommunalen Alltag übersetzt, insbesondere für die aktuelle Flüchtlingswelle. Ich habe mir den Text bei der Vorbereitung auf das heutige Interview erneut herausgesucht. Damals stellte ich fest, dass die Kommunen, und das gelte auch für Neubrandenburg, diese im Jahr 1990 neu gewonnene Gestaltungskraft bei der Lösung des Flüchtlingsproblemes deutlich unter Beweis stellen konnten. Wörtlich sagte ich am 7. September: „Im Rathaus haben wir die Halbtagsstelle eines Integrationsbeauftragten geschaffen und wir haben das Ehrenamt finanziell gestärkt. Es gibt ein Arbeitsgremium zur Flüchtlingsintegration, das wöchentlich tagt und somit auch Außenstehenden einen Einblick in die Anforderungen ermöglicht. In Neubrandenburg ist die größte Gemeinschaftsunterkunft aller fünf Neuen Bundesländer entstanden. Aktuell leben mehr als 1.000 Flüchtlinge in der Stadt. In den vergangenen Jahren hat sich die Stadt um einen wirtschaftlich vertretbaren Leerstand gekümmert. Nun müssen Wohnungen, die eigentlich für den Abriss vorgesehen waren, wieder ertüchtigt werden”. Beim Interview in Neubrandenburg. Oberbürgermeister Silvio Witt, Frank Benischke, Geschäftsführer Neubrandenburger Wohnungsgesellschaft mbH, und Prof. Dr. Michael Schäfer (v.l.n.r.) UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 45 VfkE / Integration / Wohnungswirtschaft Anspruchsberechtigte nach Sozialgesetzbuch II Dr. de Maiziere warf an dieser Stelle ein, dass dann müssten auf jede dieser acht Gebietskörper(SGB II). Für diese Gruppe gilt: die Kosten der bei aller gut und richtig gemeinten Hilfsbereitschaften – die Aufgabenträger für die Flüchtlinge sind schaft die Toleranzgrenze der Bürger beachtet – 12,5 Prozent entfallen. Ich will auf die Tatsache, Unterkunft werden übernommen, sind also nicht werden müsse. Dies gelte sowohl für die dass in unserem Kreis aber doppelt so viele leben, aus den Geldzuwendungen zu finanzieren. Diese Kommunikation als auch für die tatsächliche nämlich ein Viertel aller Flüchtlinge des Landes Weichenstellung hat zu einer verstärkten Nachfrage Zahl der unterzubringenden Flüchtlinge. Ich nicht näher eingehen. Eines aber ist mir wichtig: Zu nach Mietwohnungen in den Städten geführt, die vor stimmte dem ausdrücklich zu und sagte, dass Beginn der großen Flüchtlingsbewegungen nach allem bei den kommunalen Wohnungsgesellschaften „ein transparenter Umgang mit Anforderungen Deutschland im vergangenen Jahr gab es die durchlanden, die über größere Bestände vor allem auch an und Kosten ein wichtiger Schlüssel beim aus plausible Überlegung, Flüchtlinge dorthin zu bezahlbaren Quartieren verfügen. Die Interessenten Werben um Akzeptanz ist, und wies darauf bringen, wo die besten Bedingungen für deren Untersind also nicht nur Flüchtlinge, es sind auch viele hin, dass die Ausländerquote in Neubrandenbringung bestehen. Das sind in Ostdeutschland die Deutsche, die aus den Dörfern der Umgebung nach burg mit 2,5 Prozent noch immer verhältnisNeubrandenburg ziehen, weil dies für sie die ökostrukturschwachen Regionen, mit besonders großen mäßig gering sei. Abwanderungsbewegungen der dortigen Bewohner nomisch bessere Variante ist. und in der Folge mit erheblichen Leerständen von Das war der Stand am 7. September 2015. Als ich nach Wohnungen. Für Mecklenburg-Vorpommern trifft der Gesprächsrunde ins Auto stieg, erreichte mich ein In Berlin war die Couch schon belegt diese Einschätzung für viele Kommunen zu. Anruf unseres Innenministers Lorenz Caffier. Er teilte mir mit, dass am nächsten Abend weitere 250 FlüchtAber das Leben hat gezeigt, dass die gerade UNTERNEHMERIN KOMMUNE: linge in Neubrandenburg eintreffen werden. Mit nur formulierte theoretische Annahme erstens lebensIn vielen Regionen Deutschlands hat es sich inzwischen herumgesprochen, dass die auf zwei Zahlen will ich die Dynamik veranschaulichen: fremd ist, und zweitens den Anforderungen für eine dem Papier sehr gute Idee, Flüchtlinge dort Ende 2015 lebten 1.800 Flüchtlinge und Migranten erfolgreiche Integration nicht ausreichend genügt. in Neubrandenburg, Stand heute sind es 3.200. Wir Die dezentrale Unterbringung in Wohnungen hat unterzubringen und zu betreuen, wo vor allem sind froh, dass wir diese ausreichender Wohnraum vorhanden ist, in der Betreuung von Kindern mit Migrationshintergrund in Neubrandenburg Menschen alle kennen Praxis nicht funktioniert. Konzentrationspunkte und im Landkreis Mecklenburgische Seenplatte (MSE) Stand: Okt. 2016 und dass sie erfasst sind. sind überall in Deutschland die Ballungszentren, prozentualer Bei über 2.500 sind die Metropolen wie Berlin, Hamburg oder Köln, Landkreis davon in der Anteil für Verfahren abgeschlossen. mit Wohnungsmangel und bereits bestehenden Neubrandenburg Neubrandenburg MSE in Relation zu MSE Demnach wissen wir, Trends zur Ghettoisierung, wie etwa im vielGesamtzahl betreute Kinder 16.565 4.264 25,7% dass diese Menschen zitierten Bezirk Neukölln in der Bundeshauptüber einen längeren Zeitstadt. Wie manifestiert sich dieser Trend in Davon mit Migrationshintergrund 398 199 50% raum bei uns bleiben. In Mecklenburg-Vorpommern? der Folge können wir planen, welche personellen in diesem Kanon einen hohen Stellenwert, aber und finanziellen Ressourcen bereitgestellt werden mindestens ebenso wichtig sind Arbeits- und AusBenischke: müssen. Ziel ist, alle angemessen betreuen zu können. bildungsmöglichkeiten, Schulen und Kitas sowie Natürlich orientieren sich die Flüchtlinge dorthin, eine angemessene soziale Betreuung. Das ist in wo bereits Landsleute leben und mit Wohnraum versorgt sind. Diesen Trend haben wir gerade in Wohnungen allein reichen nicht dieser Komplexität und Vollständigkeit nur in den Städten verfügbar. Deshalb halte ich es für den Gemeinschaftsunterkünften auch in NeuUNTERNEHMERIN KOMMUNE: richtig, dass unser Land in Abstimmung mit der brandenburg erlebt. Aber es gab viele Rückkehrer. Würden Sie bitte diese Neubrandenburger kommunalen Ebene genau dort den Schwerpunkt Diese Menschen haben in Hamburg oder Berlin – das waren die wichtigsten Zielpunkte – erlebt, Bestandsaufnahme in den Maßstab des Landes der Flüchtlingsunterbringung setzt. Mecklenburg-Vorpommern einordnen, etwa dass andere schon eher auf diesen Gedanken in Relation zur Gesamtzahl der Flüchtlinge in Frank Benischke: gekommen sind. Die noch freie Couch im Wohnihrem Bundesland und zu deren Allokation in Ich will auf die Zahlen zurückkommen, die der zimmer war bereits belegt und auch das im Keller der Fläche, in den Mittel- und Oberzentren? Oberbürgermeister für Neubrandenburg genannt aufgestellte Notbett. Da war die Perspektive, in hat. Bei 2.500 der insgesamt 3.200 hier lebenden einer Stadt wie Neubrandenburg, die in Aleppo Flüchtlinge sind die Verfahren abgeschlossen. Wir Witt: nicht in aller Munde ist wie die deutschen merken, dass das Bearbeitungstempo erfreulicherMetropolen, eine ordentliche Wohnung zu Im Land Mecklenburg-Vorpommern leben rund zwei Prozent der Flüchtlinge, die Deutschland weise zunimmt, daran, dass pro Woche zwischen bekommen, die deutlich bessere. aufgenommen hat. Diese Zahl entspricht dem 15 und 20 neue Wohnungsanträge von FlüchtDiese Möglichkeit konnten wir hier bieten. Die definierten Verteilschlüssel. Viel interessanter ist lingen bei uns gestellt werden. Hier kommen wir von mir geleitete Neubrandenburger Wohnungsdie Allokation im Bundesland selbst. In unserem übrigens langsam an Grenzen. Wir haben derzeit gesellschaft verfügt über 30 Prozent des GesamtLandkreis Mecklenburgische Seenplatte (MSE) einen Leerstand von nur noch 2,5 Prozent. Das bestandes an Mietwohnungen in unserer Stadt. Diese ist Neubrandenburg die Kreisstadt und das eingilt in der Wohnungswirtschaft als Vollvermietung. Bestände sind gut in der Stadt verteilt. Das heißt, wir zige Oberzentrum. 24 Prozent aller Flüchtlinge Die Nachfrage ist in Mecklenburg-Vorpommern leben in diesem gleichwohl ungebrochen, Entwicklung des Anteils ausländischer Bevölkerung mit Hauptwohnsitz in Neubrandenburg von Januar 2015 bis Oktober 2016 Landkreis. Davon wiederum hat rund die Hälfte und sie betrifft nicht Bevölkerung Ausländeranteil in ihren Lebensmittelpunkt in Neubrandenburg. nur die Flüchtlinge. davon Ausländer Monat/Jahr Insgesamt Prozent Wenn deren Verfahren Es gibt also eine Konzentration von FlüchtJanuar 2015 64.024 1.877 2,9% positiv beschieden lingen in unserem Landkreis, denn MecklenburgDezember 2015 64.379 2.594 4,0% wurden, werden Vorpommern hat insgesamt sechs Kreise und zwei Oktober 2016 64.586 3.106 4,8% aus Asylbewerbern kreisfreie Städte. Wenn ich den Durchschnitt bilde, 46 UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 FORUM NEUE LÄNDER VfkE / Integration / Wohnungswirtschaft können die Flüchtlinge in vielen Stadtteilen unterbringen und vermeiden Ghettobildung oder gar Parallelgesellschaften. Ein wichtiges Kriterium sind Infrastrukturen für die schulische und vorschulische Betreuung. Wo das ausreichend vorhanden ist, vergeben wir natürlich Wohnungen bevorzugt an kinderreiche Flüchtlingsfamilien. Über eine weitere Prämisse wird aus rational nicht nachvollziehbaren Gründen öffentlich nur ungern gesprochen: wir wissen, dass bestimmte Nationalitäten oder auch Religionszugehörigkeiten besser separiert werden sollen. Etwa Iraker und Iraner, Russen und Tschetschenen, Christen und Muslime aus gleichen Konfliktregionen. Diesen Aspekt beachten wir so gut wie möglich. Je „ausgebuchter“ unsere Bestände sind, umso schwieriger wird das. Als der Flüchtlingsstrom begann, lag der Leerstand bei über vier Prozent. Jetzt, diese Zahl wurde schon genannt, liegt er bei 2,5. Tendenz weiter abnehmend. Es ist ein gravierender Unterschied, ob ich über Integration für einen temporären Abschnitt rede, oder ob ich davon ausgehe, dass es auch Flüchtlinge geben wird, die dauerhaft in Deutschland bleiben wollen. „ ______________________ Frank Benischke “ Witt: Dass es bei uns noch Wohnungen gibt, im Gegensatz zu den Ballungszentren und Metropolen, ist ein ganz wichtiger Aspekt. Aber ebenso bedeutend sind die Ressourcen für die soziale Betreuung. Das scheint nach meinen Kenntnissen in Städten mit weniger als 100.000 Einwohnern besser zu funktionieren als in den Großstädten. Zu merken ist das schon beim Übergang von Gemeinschaftsunterkünften hin zu eigenen Wohnungen. Dieser Wechsel bringt es mit sich, dass Menschen sich eigenverantwortlich selbst voll versorgen müssen. Dieser Schritt ist viel größer als gemeinhin vermutet wird. Und er wird unweigerlich zum Fehltritt, wenn er nicht begleitet wird. Diese Begleitung organisiert aber nicht irgendein Vermieter. Dies setzen die kommunalen Wohnungsunternehmen ins Werk. In Neubrandenburg und überall in Deutschland. Bei uns sehen Sie das schon optisch. Informationstafeln vor der „NEUWOGES“ – so die gängige Neubrandenburger Kurzbezeichnung des Unternehmens – gab es vor 2015 verständlicherweise nur in Deutsch. Heute kann man die Texte auch auf arabisch, russisch und englisch lesen. Benischke: Wir organisieren die Betreuung zusammen mit freien Trägern und eigenen Kräften. Wir haben einen schon lange in Neubrandenburg lebenden Tunesier als Dolmetscher eingestellt, wir haben einen sozialen Dienst und es gibt regelmäßige interkulturelle Schulungen unserer Mitarbeiter. Alles in allem müssen wir dafür rund 100 000 Euro zusätzlich pro Jahr aufwenden. „Aktuell werden die Kosten gedeckt, Sorgen macht mir die Langzeitperspektive“ UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Dass Integration nur gelingen kann, wenn so wichtige Ressourcen wie Wohnungen oder Kapazitäten zur Kinderbetreuung ausreichend verfügbar sind, ist eine Binsenweisheit. Ebenso die Tatsache, dass die Flüchtlinge in kommunalen Strukturen und Kiezen leben sollten, die unsere Kultur abbilden. Ein Vorschlag um dies zu gewährleisten lautet, dass man das Bleiberecht und die damit verbundene Gewährung von Leistungen mit einer Residenzpflicht verbinden sollte. Was halten Sie von diesem Ansatz? Witt: Das Ressourcenthema muss man für zwei Ebenen sehen. Aktuell werden unsere Kosten durch die verschiedenen Zuflüsse weitestgehend gedeckt – zumindest stellt das Land dies so in Aussicht. Sorgen macht mir die Langzeitperspektive. Wir wissen ja inzwischen, dass viele Flüchtlinge eben nicht über die Qualifikationen verfügen, die anfangs, also in der euphorischen Phase des „wir schaffen das“, angenommen wurden. Bei Menschen, die selbst in der eigenen Sprache nicht lesen und schreiben können, dauert die Qualifizierung und Integration für den ersten Arbeitsmarkt länger. Bei diesen zeitlichen Dimensionen macht die Residenzpflicht selbstverständlich Sinn, denn wir können auf Ressourcen für eine erfolgreiche Integration ja nicht einfach nur zugreifen, sondern müssen sie in Teilen erst mobilisieren. Dafür brauchen wir Planungssicherheit. Und wir benötigen auch mehr Finanzmittel. Das sehen wir schon sehr deutlich bei unserem Landkreis, der Mitarbeiter speziell für Integrationsaufgaben eingestellt hat. Menschen, die über längere Zeit bei uns sind, die wir aber maximal unterbringen, keinesfalls aber integrieren können, verurteilen wir doch zu Perspektivlosigkeit. „ ______________________ Silvio Witt “ Aber er ist gültig, und schon das spricht für eine Residenzpflicht, allerdings eine, die im Gegensatz zur aktuellen Praxis auch durchgesetzt wird. Wir werden auch weiterhin alles tun, um die Flüchtlinge in unseren Wohnquartieren unterzubringen. Dazu konnten wir schon jetzt nicht nur auf den Bestand zugreifen. Vielmehr mussten und konnten wir in Wohnungen, die wir schon für den Abriss vorgesehen hatten und demzufolge auch nicht mehr saniert haben, investieren. Das Volumen beläuft sich derzeit auf rund 900 000 Euro, knapp 50 Prozent davon bezuschusst das Land Mecklenburg-Vorpommern. Wenn wir darauf verweisen, dass wir im Kontext mit der Unterbringung der Flüchtlinge den Leerstand bei unseren städtischen Wohnungen von vier auf 2,5 Prozent reduziert haben, dann muss man also auch die reaktivierten Bestände einrechnen, die wir wieder dem Markt zugeführt haben. „Wir brauchen schnellstens ein Einwanderungsgesetz“ UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Wenn wir über die Voraussetzungen zur Integration reden, die vor Ort, konkret also hier in Neubrandenburg, bestehen oder geschaffen werden müssen, dann stellt sich doch schon jetzt die Frage nach Zeiträumen und auch nach Perspektiven des Bleibens oder wieder Gehenmüssens? Benischke: Ihre Frage zeigt, dass wir konsequent zwischen dem Status von Flüchtlingen und Einwanderern unterscheiden müssen. Natürlich ist der Übergang fließend. Aber es ist eben schon ein gravierender Unterschied, ob ich über Integration für einen Benischke: temporären Abschnitt – derzeit wird ja das BleibeDer „Königsteiner Schlüssel“ wurde nicht für das recht im Regelfall auf drei Jahre begrenzt – rede, Flüchtlingsproblem erdacht, denn er kann schon oder ob ich davon ausgehe, dass es auch Flüchtlinge objektiv nicht die sehr unterschiedlichen Möglichgeben wird, die dauerhaft in Deutschland bleiben keiten zur Integration in den Kommunen abbilden. wollen. Dieses Wollen sollte dann zum Werden führen, wenn die FlüchtStruktur der ausländischen Bevölkerung mit Hauptwohnsitz in linge über die VorausNeubrandenburg von Januar 2015 bis November 2016 setzungen verfügen, Ausländische Bevölkerung die wir endlich für eine Monat/Jahr gesteuerte Zuwanderung Insgesamt afghanisch eritreisch syrisch ukrainisch definieren müssten. Januar 2015 1.877 104 35 121 141 Hier sind die ÜberDezember 2015 2.594 142 61 426 222 gänge fließend: es gibt November 2016 (46. Kw.) 3.137 158 64 916 228 genügend Flüchtlinge, UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 47 VfkE / Integration / Wohnungswirtschaft UNSERE Gesprächspartner Silvio Witt wurde am 13. Mai 1978 in Neu- Oberbürgermeister Witt im Gespräch mit Bewohnern einer Gemeinschaftsunterkunft in Neubrandenburg. Bewohner und Nachbarn lernten sich bei einem Nachbarschaftsfest näher kennen und kochten gemeinsam. die derzeit noch nicht über diese Qualifikationen verfügen, aber extrem motiviert und auch ausreichend talentiert sind, diese schnell zu erwerben. Wenn auch noch familiäre Bindungen zu Landsleuten bestehen, die schon dauerhaft in Deutschland leben, dann werden aus Flüchtlingen mit begrenztem Bleiberecht Migranten, und so sollten wir das auch regeln. dieses Paket noch einmal auf- und neugeschnürt wird. Das wäre aber gerade unter dem Aspekt der Flüchtlingsfinanzierung dringend nötig. Witt: Volle Zustimmung: wir brauchen schnellstens ein konkreteres Einwanderungsgesetz. Ein Gesetz, das eindeutig definiert, was für Flüchtlinge gilt, wo die Schnittstellen liegen und wie wir den Übergang vom Flüchtling zum Einwanderer kennzeichnen. Witt: Jedes System hat seine Grenzen. Ich muss eine ehrliche Bestandsaufnahme darüber machen, über welche Ressourcen für eine erfolgreiche Integration ich verfüge. Auf dieser Grundlage muss ich dann auch über Zahlen reden. Menschen, die über längere Zeit bei uns sind, die wir aber maximal unterbringen, keinesfalls aber integrieren können, verurteilen wir doch zu Perspektivlosigkeit. Das entspricht nicht meinem Menschenbild. UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Karola Pablich, Kämmerin und Beigeordnete der Landeshauptstadt Erfurt, hat bei unserer Gesprächsrunde in Weimar die Auffassung vertreten, dass die Integration der Flüchtlinge eine übertragene Aufgabe auf der Grundlage einer nationalen Entscheidung ist, und demzufolge auch die vollumfängliche Finanzierung durch den Bund gewährleistet werden muss. Würden Sie dieser Einschätzung zustimmen? Witt: Frau Pablich hat Recht. Das Flüchtlingsproblem basiert auf außen- und völkerrechtlichen Entscheidungen. Deshalb müssen Unterbringung und Integration komplett durch den Bund finanziert werden. Ich sehe aber ziemlich schwarz, dass das auch umgesetzt wird. Die Prämissen sowie Eckpunkte für den Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern ab 2020 sind gesetzt. Ich sehe nicht, dass 48 UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Kann man sagen, dass es neben den personellen auch monetäre Grenzen für eine erfolgreiche Integration gibt? Benischke: Ich denke immer wieder an den Oberbürgermeister von Bautzen. Er steht doch beispielhaft dafür, dass anderswo schlecht oder gar nicht geregelte Abläufe auf kommunaler Ebene ausgebadet werden müssen. Dafür muss man endlich die Verursacher verantwortlich machen, und nicht jene, die sich wie der gerade erwähnte Alexander Ahrens vor Ort redlich und engagiert bemühen, die Scherben zu kitten, die ihnen andere hinterlassen haben. n Das Gespräch führte Michael Schäfer i infos www.neubrandenburg.de www.neuwoges.de strelitz geboren. Nach dem Abitur im Jahr 1996 am Sportgymnasium Neubrandenburg leistete er ab 1997 Zivildienst beim Pommerschen Diakonieverein in Züssow. In den Jahren 1997 bis 2000 ließ er sich bei der Sparkasse Mecklenburg-Strelitz in Neustrelitz zum Bankkaufmann ausbilden. Dort arbeitete er bis 2002 im Bereich Medien- und Öffentlichkeitsarbeit. Im gleichen Jahr begann er ein Studium für Internationales Handelsmanagement an der Hochschule Worms und der Wirtschaftshochschule Budapest und schloss dieses 2006 als Diplom-Betriebswirt ab. Von 2007 bis 2009 arbeitete Witt als Redakteur des Nordkuriers in Prenzlau und Demmin. Danach war er als Unternehmer tätig und führte eine Agentur für Kommunikation, über die er Seminare, Textarbeiten und Beratung anbot. Zudem war er auch Kabarett-Veranstalter. Von 1999 bis 2002 war Witt Gemeindevertreter in Groß Nemerow. 2015 trat er als parteiloser Bewerber bei der Wahl zum Oberbürgermeister von Neubrandenburg an und erreichte bei der Stichwahl 69,7 Prozent der Stimmen. Das Amt übernahm er im April 2015. Silvio Witt ist Mitglied im Hauptausschuss des Deutschen Städtetages. Frank Benischke wurde am 5. Januar 1964 in Aschersleben (Sachsen-Anhalt) geboren. Seit dem Jahr 1991 war er beim kommunalen Wohnungsunternehmen der Stadt Neubrandenburg, der Neubrandenburger Wohnungsgesellschaft mbH (NEUWOGES) in verschiedenen Funktionen tätig, bevor er im Jahr 2002 zum Geschäftsführer bestellt wurde. Der diplomierte Wohnungs- und Immobilienwirt (FWI) ist darüber hinaus im Rahmen des NEUWOGESKonzerns auch als Geschäftsführer mehrerer Tochtergesellschaften tätig. Frank Benischke ist Vizepräsident der Industrie- und Handelskammer Neubrandenburg für das östliche Mecklenburg-Vorpommern und Mitglied des Aufsichtsrates der Theater- und Orchester GmbH Neubrandenburg/Neustrelitz. Überdies ist er in vielfältiger Hinsicht in Ehrenämtern der Politik (Kreistag Mecklenburgische Seenplatte) und des Sports (Sportclub Neubrandenburg e. V.) engagiert. Die NEUWOGES bewirtschaftet mit über 12 000 Wohnungen circa 30 Prozent des Wohnungsbestandes in der Stadt Neubrandenburg. Zudem erbringt der Konzern mit über 400 Mitarbeitenden in seinen fünf Tochtergesellschaften immobilienwirtschaftliche Leistungen u. a. in der Bewirtschaftung von Gewerbeimmobilien und Stellflächen, in der Altenpflege und in der Schülerunterbringung, in der Verwaltung und Bewirtschaftung von Immobilien dritter Eigentümer sowie in der Wohnbaulanderschließung und in der Modernisierung und dem Neubau von Wohngebäuden. UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 AUS FORSCHUNG UND LEHRE AUS FORSCHUNG UND LEHRE zitiert „Die Kommunen haben bei der Aufnahme und Integration von Flüchtlingen Enormes geleistet. Und sie verdienen dafür jede Unterstützung. Das sind für mich die zentralen Ergebnisse der diesjährigen VfkE-Studie.“ Dr. Reiner Haseloff, Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt anlässlich der Jahrestagung des Verbundnetz für kommunale Energie (VfkE) am 30. November in Bitterfeld-Wolfen. Das Verbundnetz für kommunale Energie präsentiert die Jahresstudie 2016 Die Integration von Flüchtlingen Übersicht zu personellen und finanziellen Ressourcen sowie repräsentative Befragung in ostdeutschen Kommunen zu den lokalen Implikationen der Flüchtlingskrise. O hne jeden Zweifel gehört die Flüchtlingskrise zu den größten Herausforderungen der Nachwendezeit. Neben materiellen und personellen Aufwänden ist das Thema überdies geeignet, den sozialen und politischen Frieden zu beeinträchtigen. Nach den dramatischen Szenen aus Griechenland, Ungarn und aus etlichen deutschen Kommunen blieb der Koordinierungsgruppe des Verbundnetz für kommunale Energie im Herbst vergangenen Jahres kaum eine andere Möglichkeit, als den Umgang mit der Flüchtlingskrise zum Jahresthema des Folgejahres 2016 zu erheben und sich nach den bewegten Monaten seit Sommer 2015 deren vielfältigen Implikationen für die Kommunen vor Ort zu widmen. Es scheint banal, bedarf bei aller Fokussierung auf die Person der Kanzlerin aber durchaus einer Erwähnung. Die Herausforderungen der Integration werden nicht in den Ländern und erst recht nicht auf der Ebene des Bundes bewältigt. Es sind die Kommunen, die am Ende dafür Sorge tragen müssen, dass Integration gelingt. Sie müssen informieren, organisieren, zusammenführen und überzeugen. Hier wird umgesetzt, was anderswo beschlossen und in Gang gebracht wurde und hier werden sich am Ende Erfolg und Misserfolg der politischen Weichenstellungen entscheiden. Dies war auch der Tenor der Jahresveranstaltung des Verbundnetz für kommunale Energie am 30. November 2016 in Bitterfeld-Wolfen. Die VfkEStudie wurde Sachsen-Anhalts Ministerpräsidenten Rainer Haseloff übergeben, der bei dieser Gelegenheit die Kommunen als unersetzlich für Integration und soziale wie politische Stabilität bezeichnete. Lesen Sie im Folgenden eine Zusammenfassung der VfkE-Studie 2016. Die VfkE-Studie 2016 sollte auf der Basis der sozialen, rechtlichen, wirtschaftDanach entsteht den Kommunen in dieser Phase des Asylaufenthalts ein lichen, finanzpolitischen und volkswirtschaftlichen Rahmenbedingungen die monatlicher Mehraufwand von mehr als 300 Euro pro Person, der durch Auswirkungen der rasant gestiegenen Asyleinwanderung auf die Kommunen die Länder im Regelfall nicht ansatzweise abgegolten wird. in den Neuen Bundesländern beleuchten. Ein erster deskriptiver Teil widmete sich den verschiedenen Einwanderungsarten und den konkreten Zahlen der vergangenen Jahre. Im Folgenden wurde der Asylprozess nach Kompetenzen und Aufgaben der verschiedenen politischen Ebenen abgegrenzt. Im Gegensatz zum Großteil der wissenschaftlichen Befassungen mit dem Thema ist dabei insbesondere auf den Zeitraum nach einer Anerkennung der Asylberechtigung eingegangen worden. Von besonderer Relevanz ist dabei der Umstand, dass in einer Kosten- und Kompetenzbetrachtung der verschiedenen Ebenen nach Zuerkennung der Asylberechtigung aus einem Asylbewerber ein SGB II-Empfänger wird. Für die Kommunen verbinden sich damit erhebliche Mehraufwände. Dieser Zusammenhang ist anhand einer Fallstudie aus der Landeshaupt- Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Dr. Reiner Haseloff diskutiert mit dem Verbundnetz für kommunale Energie stadt Schwerin beispielhaft dargestellt worden. die Ergebnisse der Jahresstudie 2016. Links im Bild: Prof. Dr. Michael Schäfer. UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 49 VfkE Dieser Teil leitete über in eine breite Diskussion der finanziellen Ausgleichsmechanismen zwischen verschiedenen politischen Ebenen, zwischen den Bundesländern und seitens der Länder unter ihren Kommunen. Hier ging es zuvorderst um die Neuordnung der föderalen Finanzbeziehungen, um die Bundeszuschüsse für kommunale Aufgaben sowie um das Verhältnis der politischen Ebenen. Fraglich war, inwiefern das strikte Kooperationsverbot zwischen dem Bund und den Kommunen den vielfältigen Inkongruenzen von Aufgabenübernahmen und Finanzierungsmechanismen gerecht wird. Ein Novum in der wissenschaftlichen Befassung Wie bewerten Sie den aktuellen Stand der Integration in Ihrer Kommune? – in Prozent 60 52,5 50 60 52,5 40 50 35 30 40 35 20 30 10 20 12,5 0 12,5 0 Das Gelingen der Integration derart vieler Menschen wird vornehmlich in 100 den Kommunen entschieden. Hier werden Helfer akquiriert, hier können 0 sehr gut gut befriedigend schlecht sehr0 schlecht sich aufgrund politischer Fehlorientierungen oder ungenügender Trans0 parenz politische Missstimmungen entwickeln, hier wohnen Nachbarn sehr gut gut befriedigend schlecht sehr schlecht DieseVersäumnisse Versäumnisse werden keiner schuldhaft zugerechnet. und Freunde, hier wird Kultur und Sprache vermittelt und insgesamt ein Diese werden keiner SeiteSeite schuldhaft zugerechnet. SowohlSowohl die Integrationsber als auch die Aufnahmebereitschaft erhalten im Mittel die Integrationsbereitschaft der Flüchtlinge,der alsMehrheitsgesellschaft auch die Aufnahmebereitlebenswertes Umfeld geschaffen. Mit der VfkE-Jahresstudie 2016 sollte Flüchtlinge, bessere Noten. Die Hauptverwaltungsbeamten der ostdeutschen Kommunen vergeben im Sc Diese Versäumnisse werden keiner Seite schuldhaft zugerechnet. Sowohl die Integrationsber schaft der Mehrheitsgesellschaft erhalten im Mittel deutlich bessere Noten. die kommunale Sicht auf Zusammenhänge und Organisationsstrukturen beide Seiten eine Drei plus. Flüchtlinge, als auch die Aufnahmebereitschaft der Mehrheitsgesellschaft erhalten Die Hauptverwaltungsbeamten der ostdeutschen Kommunen vergeben im im Mittel durch eine repräsentative Befragung ermittelt werden. Dies ist ein Novum bessere Noten. Die Hauptverwaltungsbeamten der ostdeutschen Kommunen vergeben im Sc Schnitt für beide Seiten eine Drei plus. in der wissenschaftlichen Befassung mit diesem Thema. Und da sich auch beide Wie bewerten Sie die Integrationsbereitschaft der Flüchtlinge? – in Prozent Seiten eine Drei plus. dieGelingen politische bislang weitgehend auf die wird Ebene der Länderinund Das derDebatte Integration derart vieler Menschen vornehmlich dendes Kommunen entschieden. Prozent bewerten Sie die Integrationsbereitschaft Wie bewerten Sie die Integrationsbereitschaft der– inFlüchtlinge? Bundes beschränkte, steht die Aufmerksamkeit für diepolitischer kommunalen Belange Wie Hier werden Helfer akquiriert, hier können sich aufgrund Fehlorientierungen oder 39 der Flüchtlinge? 37 – in Prozent 40 ungenügender Transparenz politische Missstimmungen entwickeln, hier wohnen Nachbarn und Freunde, in einem eklatanten Missverhältnis zu den tatsächlichen Aufgabenstrukturen hier wird Kultur und Sprache vermittelt insgesamt ein lebenswertes Umfeld geschaffen. und Leistungsübernahmen. Dieses und Defizit zu beheben, war ein zentraler 35 Mit der VfkE39 Jahresstudie 2016 sollte die kommunale Sicht auf Zusammenhänge und Organisationsstrukturen durch 37 40 Impuls für die Erhebung der VfkE-Jahresstudie 2016. 30 eine repräsentative Befragung ermittelt werden. Dies ist ein Novum in der wissenschaftlichen Befassung 24 Eine umfassende Befragung sich Debatte an die Hauptverwaltungsmit diesem Thema. Und da sich auch richtete die politische bislang weitgehend auf die 35 Ebene der Länder 25 beamten der ostdeutschen Städte, kreisangehörigen Gemeinden und des Bundes beschränkte, kreisfreien steht die Aufmerksamkeit für die kommunalen Belange in30einem eklatanten 20 24 Missverhältnis zu den tatsächlichen Aufgabenstrukturen und Leistungsübernahmen. Dieses Defizit zu und Landkreise. Die repräsentative Stichprobe ermöglichte ein aussage25 15 beheben, war ein zentraler Impuls für die Erhebung der VfkE-Jahresstudie 2016. kräftiges Meinungsbild der ostdeutschen kommunalen Familie. Eine umfassende Befragung richtete sich an die Hauptverwaltungsbeamten der ostdeutschen kreisfreien 20 10 Städte, kreisangehörigen Gemeinden und Landkreise. Die repräsentative Stichprobe ermöglichte ein 155 0 Hier die wichtigsten Ergebnisse: aussagekräftiges Meinungsbild der ostdeutschen kommunalen Familie. (ZÜ) Kommunale Unternehmen spielen bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise Hier die wichtigsten Ergebnisse: eine zentrale Rolle. Mehr als ein Drittel der Befragten äußerte die Ansicht, 100 5 sehr gut 0 0 gut befriedigend schlecht 0 sehr0 schlecht gut gut befriedigend schlecht sehr dass die Flüchtlingskrise diebei kommunale Wirtschaft überhaupt nicht zuzentrale Rolle.sehr Kommunale Unternehmen ohne spielen der Bewältigung der Flüchtlingskrise eine Mehr als Hieraus ergibt sich ein Mittelwert von 2,9. schlecht bewältigen 60 Prozent ordneten Wohnungsgesellschaften, Stadtwerken undkommunale Wirtschaft ein Drittel dersei. Befragten äußerte die Ansicht, dass die Flüchtlingskrise ohne die überhaupt nicht zu bewältigen sei. 60 Prozent ordneten Wohnungsgesellschaften, Stadtwerken und anderen kommunalen Unternehmen eine entscheidende Unterstützung zu. Wie bewerten Sie die Aufnahmebereitschaft der Mehrheitsgesellschaft? – in Prozent anderen kommunalen Unternehmen eine entscheidende Unterstützung zu. Hieraus ergibt sichsich ein ein Mittelwert von 2,9. Hieraus ergibt Mittelwert von 2,9. Welche Rolle spielen die kommunalen Unternehmen bei der Integration? – in Prozent Welche Rolle spielen die kommunalen Unternehmen bei der Integration? – in ProzentWie bewerten Sie die Aufnahmebereitschaft der Mehrheitsgesellschaft? – in Prozent 60 45 60 40 35 40 35 30 25 30 20 20 0 45 45 50 10 Wie bewerten Sie die Aufnahmebereitschaft der Mehrheitsgesellschaft? – in Prozent 15 5 5 keine Rolle 10 10 hilfreiche Unterstützung ohne komm. Unt. nicht zu bewältigen 0 0 sehr gut 0 gut befriedigend schlecht sehr schlecht Lediglich dasdas Ehrenamt erhielt noch höhere Zustimmungswerte. Hier Hier sahensahen mehr alsHieraus 80 Prozent eine Hieraus ergibt sich Mittelwert Lediglich Ehrenamt erhielt noch höhere Zustimmungswerte. ergibt sich einein Mittelwert von von 2,65.2,65. existenzielle Rolle für das Gelingen der Integration. Der Integrationserfolg insgesamt wird eher skeptisch mehr als 80 Prozent eine existenzielle Rolle für das Gelingen der Integration. Der bewertet. Lediglich 13 Prozent waren der Meinung, dass dies „sehr gut“ oder „gut“ gelänge. Der Großteil Allerdings wird den Flüchtlingen vor Ort eine tendenziell geringe Qualifikation attestiert. Meh Allerdings wird den Flüchtlingen vor Ort eine tendenziell geringe QualiIntegrationserfolg insgesamt wirdauf eherdieskeptisch bewertet.„befriedigend“ Lediglich 13 Prozent der Antworten verteilte sich indes Zuschreibungen und „schlecht“. Prozent entfallen auf die Zuschreibungen „ungebildet“ und „adäquat zum deutschen fikation attestiert. Mehr als 60 Prozent entfallen auf die Zuschreibungen waren der Meinung, dass dies „sehr gut“ oder „gut“ gelänge. Der Großteil der Hauptschulabschluss“. – in Prozent„ungebildet“ und „adäquat zum deutschen Hauptschulabschluss“. Wie bewerten Sie den Stand der Integration in Ihrer Kommune? Antworten verteilte sichaktuellen indes auf die Zuschreibungen „befriedigend“ und „schlecht“. Geschätzter Bildungsgrad der aufgenommenen Flüchtlinge – in Prozent 50 UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 Hieraus ergibt sich ein Mittelwert von 2,65. VfkE wird den Flüchtlingen vor Ort eine tendenziell geringe Qualifikation attestiert. Mehr als 60 Allerdings Prozent entfallen auf die Zuschreibungen „ungebildet“ und „adäquat zum deutschen Hauptschulabschluss“. AUS FORSCHUNG UND LEHRE Geschätzter Bildungsgrad der aufgenommenen Flüchtlinge – in Prozent Geschätzter Bildungsgrad der aufgenommenen Flüchtlinge – in Prozent 8,8 25,9 28 ungebildet/Analphabeten Hauptschule Kommunale Implikationen für die Neuen Länder Im Ergebnis der finanzwirtschaftlichen, strukturellen sowie politischen Analysen sowie als Schlussfolgerung zur empirischen Bestandsaufnahme in den ostdeutschen Kommunen wurden folgende Implikationen formuliert. Personal: Es erscheint außerordentlich schwierig, Strategien für eine Überbrückung der personellen Engpässe zu finden. Die Kohorte der Schulabgänger ist in den Neuen Bundesländern so gering wie nie zuvor. 37,3 Letztlich speist sich die niedrige Jugendarbeitslosigkeit nahezu ausschließlich aus diesem Umstand. Erschwerend kommt hinzu, dass nach wie vor deutlich mehr qualifizierte junge Deutsche die Region verlassen, als Obgleich es sich bei den Aufwendungen für Asyl und Integration eindeutig dorthin zuwandern. Ganz ähnlich werden es auch die meisten Flüchtlinge halten. Schließlich bieten sich insbesondere in den kleinen und mittleren um Aufgaben aus dem übertragenen Wirkungskreis handelt, bleiben die Obgleich es sich bei den Aufwendungen für Asyl und Integration eindeutig um Aufgaben aus dem Kommunen der Neuen Bundesländer weniger familiäre und auch weniger Kommunen auf einem nennenswerten der Kosten auf sitzen undnennenswerten erhalten übertragenen Wirkungskreis handelt, bleibenTeil die Kommunen einem Teil der Kosten keinen angemessen Ausgleich seitensAusgleich der Länder undder desLänder Bundes. zehn Nur wirtschaftliche sitzen und erhalten keinen angemessen seitens undNur des Bundes. zehn Prozent Anknüpfungspunkte, die eine dauerhafte Ansiedlung derProzent Kommunen formulierenformulieren einen vollständigen Kostenausgleich. Etwa 90 Prozent von einer Bei aktuell sinkenden Asylbewerberzahlen wird der derzeit der Kommunen einen vollständigen Kostenausgleich. Etwagehen begünstigen. teilweise erheblichen Unterdeckung aus. Neben finanziellen Defiziten werden auch hinsichtlich 90 Prozent gehen von einer teilweise erheblichen Unterdeckung aus. Neben enormeder Bedarf an Integrationsleistungen bald wieder merklich zurückPersonalausstattung deutliche Lücken identifiziert. Nur etwa ein Fünftel der Kommunen in finanziellen Defiziten der Personalausstattung deutgehen. Der Trend der vergangenen Jahre und Jahrzehnte hat schließlich Ostdeutschland äußert diewerden Ansicht,auch dasshinsichtlich die Personaldecke den Aufwänden entspricht. liche Lücken identifiziert. Nur etwa ein Fünftel der Kommunen in Ostdeutschgezeigt, dass Migranten dorthin streben, wo entweder der bereits bestehende in Prozent Reicht Personal aus, um dass den Anforderungen derden Integration gerecht zu werden? – Migrantenanteil landdas äußert die Ansicht, die Personaldecke Aufwänden entspricht. besonders hoch ist oder wo die wirtschaftlichen Strukturdaten besonders günstig sind. Reicht das Personal aus, um den Anforderungen der Integration Ehrenamt und soziale Arbeit: Voraussetzung für ein ehrenamtliches gerecht zu werden? – in Prozent Engagement ist eine konstruktive und offene Stimmung in der Bevölkerung. Gerade bei erwartbar kontroversen politischen Entscheidungen ist es 42 unabdingbar, möglichst transparent und zeitnah über die einzuleitenden 45 37 Maßnahmen zu informieren. In jedem Fall sollten wertevermittelnde 40 soziale Institutionen möglichst schnell eingebunden werden – die Kirchen, 42 35 45 die gemeinnützigen Sozialverbände, die demokratischen Parteien und 37 30 21 40 die Moscheegemeinden. Um zeitnah mobilisieren und über anstehende 25 35 Aufgaben informieren zu können, sind die Kommunen gehalten, ihre 20 30 Kommunikation über die sozialen Netzwerke weiter auszubauen. Zudem 21 15 25 sind die rechtlichen Grundlagen insoweit zu flexibilisieren, dass Trans10 20 ferempfänger in Notsituationen zur bürgerschaftlichen Arbeit heran5 15 gezogen werden können. Sollten sie dem nicht entsprechen, ist mit dem 0 10 reicht aus reicht aus, lässt sich reicht deutlich nicht Entzug von Zuwendungen zu sanktionieren. Im Kontext einer schnellen 5 dennoch leisten aus Mobilisierung von Tatkraft muss auch die Bundeswehr stärker wirken 0 dürfen. Es mutet grotesk an, doch die Abschaffung der Wehrpflicht hat reicht aus reicht aus, lässt sich reicht deutlich nicht Insgesamt Jahre eine Entspannungaus prognostiziert.DeutDeutlich mehr als 90 Prozent dennoch die sozialen Dienste stärker getroffen als die Armee selbst. Hier ist über Insgesamtwird wirdfür fürdie diekommenden kommenden Jahre leisten eine Entspannung prognostiziert. erwarten geringere oder deutlich geringere Asylbewerberzahlen in 2016 und 2017. Zudem die einen gehen verpflichtenden Ersatzdienst nachzudenken. lich mehr als 90 Prozent erwarten geringere oder deutlich geringere AsylbewerberHauptverwaltungsbeamten davon aus, dass im Schnitt weniger als die Hälfte der vor Ort betreuten zahlen in 2016 und 2017. Zudem gehen dieeine Hauptverwaltungsbeamten davonKommune aus, mehr zeitnah und transparent informieren; Transferempfänger zur bürgerInsgesamt wird für nach die kommenden Jahre Entspannung Deutlich als 90 Prozent Asylbewerber auch Anerkennung ihres Asylstatus in derprognostiziert. betreffenden bleiben wird. erwarten geringere oder deutlich geringere Asylbewerberzahlen in 2016 undauch 2017. Zudem gehen die Arbeit heranziehen; Überlegungen zu einem pflichtigen schaftlichen dass im Schnitt weniger als die Hälfte der vor Ort betreuten Asylbewerber Hauptverwaltungsbeamten davon aus, dass im Schnitt weniger als– indie Hälfte der vor Ort betreuten Prozent Wie viele Flüchtlinge erwarten Sie für die Jahre 2016 und 2017? Sozialdienst für Heranwachsende nach Anerkennung ihres Asylstatus in der betreffenden Kommune bleiben wird. Asylbewerber auch nach Anerkennung ihres Asylstatus in der betreffenden Kommune bleiben wird. Finanzen: Im Oktober 2016 konnten sich Bund und Länder endlich Wieviele viele Flüchtlinge erwarten SieJahre für die 2016– inund 2017? Prozent Wie Flüchtlinge erwarten Sie für die 2016Jahre und 2017? auf die Zukunft des Länderfinanzausgleiches einigen. Inhaltlich war die 65 –70 in Prozent Reformdiskussion sehr früh auf wenige Dimensionen reduziert worden. Dadurch wurden zentrale Zukunftsfragen des deutschen Fiskalföderalismus 60 65 70 ausgeschlossen und schon wieder Chancen vertan, ein Finanzierungssystem 50 zu schaffen, das die Mittel automatisch dorthin lenkt, wo die Leistungen 60 40 überproportional stark nachgefragt und erbracht werden. 30 50 Auch bei der Vertikalisierung kommunaler Sozialleistungen lieferte die 30 40 Flüchtlingskrise etliche Impulse für ein Wiederaufgreifen der Reform30 20 debatte. Hier stellt sich die grundlegende Frage, ob der aktuell grund30 5 10 gesetzlich vorgegebene Weg, Bundesmittel „durch die Länderhaushalte“ 0 0 20 zu den Kommunen zu leiten, wirklich die einzig sinnvolle Option ist. Eine 0 5 10 0 Vertikalisierung direkt an die kommunale Ebene ist in vielerlei Hinsicht deutlich weniger gleich mehr0 deutlich weniger mehr erfolgversprechender. 0 deutlich weniger gleich mehr deutlich Kooperationsverbot zwischen dem Bund und den Kommunen aufweniger mehr weichen; Länderfinanzausgleich aufgabenbezogen neu strukturieren (ZÜ) mittlere Reife Akademiker Kommunale Implikationen für die Neuen Länder (ZÜ) Kommunale Implikationen für die •Neuen Länder UNTERNEHMERIN KOMMUNE AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 Analysen sowie als Im Ergebnis der finanzwirtschaftlichen, strukturellen sowie politischen Schlussfolgerung zur empirischen Bestandsaufnahme in den ostdeutschen Kommunen wurden folgende Im Ergebnis der finanzwirtschaftlichen, strukturellen sowie politischen Analysen sowie als Implikationen formuliert. 51 VfkE Flüchtlinge marschieren am 4. September 2015 vom ungarischen Budapest an die ungarische Grenze. Erstaufnahmeeinrichtung im schleswig-holsteinischen Itzehoe. Die VfkE-Studie 2016 brachte vielfältige Erkenntnisse. Große Herausforderungen schärfen den Eindruck für eine grundlegende Neuorientierung politischer Strukturen. Es wird Zeit, eine in vielerlei Hinsicht gescheiterte Föderalismusreform wieder aufzugreifen und um eine Kommunalreform zu ergänzen. So ist es nur recht und billig, dass die auf Bundesebene für kommunale Zwecke ausgegebenen Gelder auch direkt in die Kommunen vermittelt werden. Auch angesichts der derzeitigen Demokratiekrise muss in Erinnerung gerufen werden, dass Systeme und Rechtsnormen sich nicht selbst legitimieren, sondern stets einer sachlichen Begründung bedürfen. Falk Schäfer 52 Fachkräftepotential: Das Asylrecht ist nicht dazu da, der deutschen Wirtschaft zu helfen. Für eine qualifizierte Einwanderung braucht es ein Einwanderungsgesetz. Einwanderung über Asyl ist dem Wesen nach grundsätzlich vorläufig, nämlich stets an das Weiterbestehen des Asylgrundes geknüpft. Doch auch abseits der grundrechtlichen Theorie sind die Potentiale der real stattfindenden Masseneinwanderung für die deutsche Wirtschaft äußerst begrenzt. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit besitzen weniger als ein Viertel der als arbeitslos registrierten Flüchtlinge eine abgeschlossene Berufsausbildung. Trotz des durchschnittlich jungen Alters der Flüchtlinge rechnet die Bundesagentur mit mindestens fünf Jahren, bis ein junger Migrant die nötigen Sprachkenntnisse erworben sowie eine Berufsausbildung abgeschlossen hat. Etwa 30 Prozent seien vermutlich auf lange Sicht nicht vermittelbar. Verzicht auf eine argumentative Verknüpfung von Asyleinwanderung und demografischem Wandel; Qualifizierte Einwanderung über ein Einwanderungsgesetz generieren Von Falk Schäfer n i infos www.vfke.org UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 INSPIRATIONEN/INFORMATIONEN INSPIRATIONEN/INFORMATIONEN nachgeschlagen Der Wanderungssaldo zwischen Deutschland und dem Ausland hat im Jahr 2015 den historischen Rekordwert von 1,25 Millionen erreicht. Allein in den vergangenen fünf Jahren ist die ausländische Bevölkerung um etwa drei Millionen Menschen auf nun 9,5 Millionen angewachsen. Die größte ausländische Minderheit hierzulande stellen die Türken. Danach folgen in dieser Reihenfolge Polen, Italiener, Syrer und Rumänen. Deutlich verstärkte Asylmigration seit dem Jahr 2014 Auf dem Weg zum Einwanderungsland? Aus unserer Serie zu Statistiken mit kommunalem Bezug M it seiner zentralen Lage inmitten Europas ist Deutschland seit Jahrhunderten Ziel-, Durch- und Ausgangsland von Migranten. So wanderten im zehnten und elften Jahrhundert jüdische Kaufleute in die Städte des Mittelrheintals, weiter bis nach Magdeburg und in den Osten des Deutschen Reiches. Mit dem Edikt von Potsdam wurde den in Frankreich verfolgten Protestanten eine freie und sichere Niederlassung im Kurfürstentum Brandenburg angeboten. Als die Religionsfreiheit auch in Böhmen endete, fanden etliche tschechische Siedler eine neue Heimstatt in Preußen. Die Industrialisierung hatte zwei Effekte. Zum einen wanderten hunderttausende Deutsche nach Übersee aus, zum anderen zog es unzählige polnische Arbeiter in die neu entstehenden Industriezentren des Ruhrgebiets. Nach dem Zweiten Weltkrieg mussten die Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten integriert werden. Mitte der 1950er begann dann die Anwerbung von Gastarbeitern aus dem Süden Europas, dem Norden Afrikas und aus Kleinasien. Diese Einwanderung prägt das Land bis heute und hat zu einer erheblichen Heterogenisierung des Staatsvolkes beigetragen. Nach der Deutschen Wiedervereinigung kamen hunderttausende deutsche und jüdische Aussiedler aus dem Osten Europas und der ehemaligen Sowjetunion. Die Balkankriege sorgten in den 1990er Jahren für eine verstärkte Asyleinwanderung. Und nun sind es die Krisen im muslimisch geprägten Kulturraum sowie das erhebliche Wohlstandgefälle, welches wieder hunderttausende Menschen zu einer Einwanderung nach Deutschland motiviert. 2015 war bei weitem ein Rekordjahr. Noch nie sind so viele Menschen in kürzester Zeit in unser Land gekommen. Diese Entwicklung ist mit enormen Herausforderungen verbunden und hat schon jetzt zu einer schmerzhaften Spaltung im politischen Diskurs geführt. Einwanderung und Integration sind in erster Linie kommunale Themen, sodass wir auch an dieser Stelle darauf eingehen wollen. Lesen Sie im Folgenden einen Überblick zu den Entwicklungen der Asyleinwanderung der jüngsten Zeit. Deutschland soll Deutschland bleiben, verspricht die Kanzlerin. Dabei kommt ihr der Umstand zu Hilfe, dass niemand so genau weiß, was Deutschland ist. Beständig ist nur der Wandel. Mit diesen Veränderungsprozessen scheint auch der Zwang einherzugehen, sich als Nation immer wieder aufs Neue definieren zu müssen. Und so bestimmen die Fragen nach der Identität, nach kulturellen Leitmotiven oder nach der Zugehörigkeit einzelner Religionen seit Jahrzehnten die politische Debatte. Im Zentrum stehen das Konzept der Leitkultur und die Frage, ob die Bundesrepublik nun ein Einwanderungsland ist oder nicht. Man kann darüber streiten, wie sinnvoll es ist, sich gegenüber einem Ein-WortAttribut zu positionieren. Einerseits mangelt es an der nötigen Differenzierung, andererseits könnte ein Bekenntnis zur Vielfalt dabei helfen, das Miteinander der Kulturen besser zu organisieren und für Offenheit zu werben. Letztlich kommt es auf den Bezugsrahmen an. So ist Deutschland heute deutlich heterogener als noch im 19. Jahrhundert. Seit etwas mehr als 50 Jahren wandern kontinuierlich per anno tausende Menschen ein. Die Gesellschaft hat sich spürbar vervielfältigt. Heute nimmt die Bundesrepublik in puncto Diversität einen Platz im Mittelfeld der entwickelten Industrienationen ein – deutlich heterogener als etwa die ostasiatischen Industrienationen, aber noch immer geprägt von einer dominanten Mehrheitskultur. So sind die klassischen Einwanderungsgesellschaften Neuseelands, Australiens, Kanadas, Brasiliens, Argentiniens, Südafrikas oder der Vereinigten Staaten zu UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 wesentlichen Teilen erst durch Migration entstanden. Teil dieser sehr schmerzvollen Geschichte war nicht selten die nahezu vollständige Marginalisierung der indigenen Bevölkerung. All die genannten Länder sind bis heute signifikant europäisch geprägt, von Auswanderern aus Frankreich, Spanien, Portugal, Italien, Irland, Russland, Großbritannien, den Niederlanden oder Deutschland, die mit oft unbarmherziger Brutalität diejenigen vertrieben haben, die vorher da waren. Europäische Gesellschaften wie Frankreich, das Vereinigte Königreich, die Niederlande, Spanien oder Portugal beziehen ihre Diversität zum heutigen Tage in nicht unerheblichem Maße aus den alten Kolonien. Auch dieser Aspekt einer Rückwanderung ins europäische Mutterland spielt für Deutschland nur eine untergeordnete Rolle. 53 48.589 2010 Statistik 2009 33.033 2008 28.018 0 100000 200000 300000 400000 500000 der Asylbewerber aus Europa. Dies schließt die Also ja – Deutschland wird immer mehr männlichen Antragsteller überwiegt in allen Alterszum Einwanderungsland und dennoch ist Türkei und die UdSSR-Nachfolgestaaten mit ein.war Syrien gruppenmit unter 65 Jahren, bei den verHauptherkunftsland 37 Prozent derlediglich Registrierungen. Danach folgt die deutsche Kultur seit mehr als einem JahrSeit 2000 wurden mit Ausnahme Jahres sehrBalkanstaaten wenigen Über65jährigen ist der Prozent)des und der2013 Irak (elfgleichsweise Prozent). Die Albanien, Mazedonien, Ko Herzegowina und Serbien rangieren auf den folgenden Plätzen. Die Zahl der Antr tausend fest mit dem Landstrich zwischen mehr Anträge aus asiatischen Herkunftsstaaten als Anteil von Frauen größer. Hinsichtlich der HauptAusweitung der sicheren Herkunftsstaaten zurückgegangen. Alpen, Nord- und Ostsee verwachsen. Über die aus europäischen verzeichnet. 2014 stammten 30,8 herkunftsländer des deutlich Jahres 2015 bewegt sich derMehr als di Asylsuchenden war unter 25 Jahren und etwa drei Viertel männlich.7,3 Der Anteil d Konsequenzen, die aus diesem ambivalenten Prozent aller Antragsteller aus Europa und 43,6 ProFrauenanteil bei den Asylanträgen zwischen Antragsteller überwiegt in allen Altersgruppen unter 65 Jahren, lediglich bei den Status zu ziehen sind, wird noch zu streiten zent aus Asien. Angestiegen ist erneut der Anteil Prozent (Pakistan) und 49,0 Prozent (Serbien). wenigen Über65jährigen ist der Anteil von Frauen größer. Hinsichtlich der Haupt sein, klar ist aber auch, dass die Tendenz von Asylbewerbern aus Afrika. Dieser betrug 2014 73,1 Prozent der Asylbewerber gehören dem Jahres 2015 bewegt sich der Frauenanteil bei den Asylanträgen zwischen 7,3 Pro mittelfristig in Richtung einer wachsenden 22,7 Prozent. Von 1993 bis 2007 ließ sich ein fast Islam an. An zweiter Stelle folgen die Christen 49,0 Prozent (Serbien). Vielfalt weist. Die Kommunen stehen in kontinuierliches Absinken der Erstantragszahlen mit 13,8 Prozent. Jesiden liegen mit 4,2 Prozent 73,1 Prozent der Asylbewerber gehören dem Islam an. An zweiter Stelle folgen d der Verantwortung, das Zusammenleben zu an dritter Stelle. Bei etwa acht Prozent der Asylfeststellen. Von einem relativ niedrigen Niveau ausProzent. Jesiden liegen mit 4,2 Prozent an dritter Stelle. Bei etwa acht Prozent de organisieren. Dazu gehört auch die Integration gehend, steigt die Zahl dervergangenen Asylbewerber Jahres seitdemkonnte bewerber des vergangenen Jahres konnte keine keine Religion zugeordnet werden. von neu hinzugekommenen Menschen in wieder kontinuierlich an. Im Jahr 2014 hat sich Religion zugeordnet werden. bestehende Strukturen. Spätestens seit den die Zahl der Erstanträge Religiöses mit Bekenntnis der Asylantragsteller 2015 – in Prozent 173.072 Personen gegenüber Religiöses Bekenntnis der Asylantragsteller 2015 – in Prozent 1980er Jahren ist endlich auch von der Politik erkannt worden, dass die ehemaligen Gastdem Vorjahr um 57,9 Prozent Sonstige 8,9 arbeiter und ihre Familien in Deutschland erhöht. Nachdem bereits von Jesiden 4,2 bleiben wollen und werden und spätestens 2011 auf 2012 ein Zuwachs um 41,1 Prozent sowie von seitdem wird intensiv darüber debattiert, ob und wie andere kulturelle Hintergründe die 2012 auf 2013 um 69,8 ProChristen 13,8 deutsche Gesellschaft bereichern können. zent zu verzeichnen war, wurde im vergangenen Jahr 2015 ein Sarrazins Thesen äußerten schon vor der absoluter Höhepunkt erreicht. großen Flüchtlingskrise grundlegende Zweifel an der Integrationsfähigkeit der in Deutschland Selbst mit den annähernd lebenden Muslime. Die öffentliche Resonanz 500.000 im vergangenen Jahr war genauso erheblich wie die Verkaufszahlen. gestellten Asylerstanträgen wäre Mit der Flüchtlingskrise des vergangenen Jahres, der ohnehin schon hohe Wert Muslime 73,1 den islamistischen Anschlägen in Frankreich, aus 2014 verdoppelt worden. Tatsächlich war die Zahl der Belgien und der Türkei sowie den sexuellen über das Asylverfahren nach Übergriffen in Köln und anderen Städten hat Deutschland gekommenen Menschen deutlich sich der Streit deutlich intensiviert. DeutschAuch 2014 war Syrien das Hauptherkunftsland höher. Im EASY-System Auch wurden mehr eine dasvon land ist gespalten zwischen denjenigen, die Asylantragstellern. Der lag jedoch nur Der Anteil 2014 waralsSyrien Hauptherkunftsland vonAnteil Asylantragstellern. Flüchtlingen und Asylbewerbern bedingungsMillion Registrierungen gezählt. bei 22,7 zwischen Prozent. Schon im Vergleich zwischen 22,7 Prozent. Schon im Vergleich 2013 und 2014 stieg die Zahl der Erst los offen gegenund 2014 stiegEindieVergleich Zahl derzwischen Erstanträge syrischen Asylbewerbern2013 um 164,2 Prozent. 2014 und 20 ü b e r s t e h e n Entwicklung der Asylanträge zwischen 2008 und 2015 von syrischen Asylbewerbern um 164,2 Prozent. und jenen, die Ein Vergleich zwischen 2014 und 2015 hinkt 476.649 humanistische deshalb, weil im vergangenen Jahr längst nicht 2015 Werte oder auch alle Asylsuchenden einen Antrag stellen konnten. 202.834 2014 althergebrachte 2014 war Serbien das zweitstärkste Herkunfts127.023 Traditionen in land. An Nummer drei folgte Eritrea. Bei einer 2013 Gefahr sehen, die Betrachtung des Fünf-Jahres-Zeitraums von 77.651 2012 die kulturellen 2010 bis 2014 zeigt sich hinsichtlich der Her53.347 2011 Differenzen kunftsstruktur, dass aus Syrien mit 14,2 Prozent zwischen dem die meisten Asylbewerber stammten, gefolgt von 48.589 2010 muslimisch Serbien mit 10,7 Prozent, Afghanistan mit 8,8 33.033 2009 geprägten Raum Prozent und dem Irak mit sechs Prozent. Seit und Mitteleuropa der Einstufung des gesamten Balkans als sicheres 28.018 2008 für unüberbrückHerkunftsgebiet hat sich das Herkunftsschema 0 100000 200000 300000 400000 500000 bar halten. deutlich auf den Nahen und Mittleren Osten verengt. EinwanderungHauptherkunftsland über Asyl Hauptherkunftsland war Syrien mit 37 Prozent den Hauptherkunftsländern lassen sich war Syrien mit 37 Prozent der Registrierungen. Danach folgtenUnter Afghanistan (13 der Registrierungen. Danach folgtenMazedonien, Afghanistan Kosovo, deutliche Unterschiede in der Geschlechtsstruktur Prozent) und der Irak (elf Prozent). Die Balkanstaaten Albanien, BosnienWährend vorherigeHerzegowina Migrationswellen geprägtrangieren (13 Prozent) der Irak (elf Prozent). der Asylbewerber Während der Anteil und Serbien auf denund folgenden Plätzen. Die Zahl Die der Antragsteller ist mit erkennen. der Balkanstaatendeutlich Albanien, Mazedonien, Kosovo, waren von Gastarbeiteranwerbung, vonHälfte Frauen Ausweitung derFachkräftesicheren Herkunftsstaaten zurückgegangen. Mehr als die derund Mädchen im Jahr 2014 bei migration und Rücksiedlung erhielt Ein-25 Jahren Bosnien-Herzegowina und Serbien rangieren auf der mazedonischen Asylsuchenden wardie unter und etwa drei Viertel männlich. Der Anteil männlichen (49,1 Prozent), serbischen (48,6 überwiegt in allenden Altersgruppen unterDie 65 Zahl Jahren, bei denProzent), vergleichsweise sehr folgenden Plätzen. der lediglich Antragsteller wanderung über dasAntragsteller Asylgesetz seit den 1990er bosnischen (46,6 Prozent), albanischen wenigen Über65jährigen ist der Anteil von Frauen größer. Hinsichtlich der Hauptherkunftsländer des Jahren eine besondere Relevanz. Von 1990 bis ist mit der Ausweitung der sicheren Herkunfts(43,6 Prozent), kosovarischen (43,4 Prozent) JahresMillionen 2015 bewegt sich der Frauenanteil bei den Asylanträgen Mehr zwischen 7,3 Prozent Ende 2014 haben 2,757 Menschen staaten deutlich zurückgegangen. als die sowie (Pakistan) irakischen und (42,3 Prozent) Asylbewerbern 49,0 Prozent (Serbien). Hälfte der Asylsuchenden war unter 25 Jahren in Deutschland um Asyl nachgesucht. Bis zum über dem Durchschnitt lag, betrug er bei eri73,1stammte Prozentder dergrößte Asylbewerber gehören demViertel Islam an. An zweiter Christen mit 13,8 nur 20,3 Prozent. Ende der 1990er Jahre Teil und etwa drei männlich. Der Stelle Anteil folgen der die treischen Antragstellern Prozent. Jesiden liegen mit 4,2 Prozent an dritter Stelle. Bei etwa acht Prozent der Asylbewerber des vergangenen Jahres konnte keine Religion zugeordnet werden. UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 54 Religiöses Bekenntnis der Asylantragsteller 2015 – in Prozent Viertel aller Erstantragsteller (120.882; 27,4 Prozent). Der Anteil der zehn Haupt der Gesamtzahl der Asylerstanträge erreichte 2006 den bislang niedrigsten Wert INSPIRATIONEN/INFORMATIONEN weil im vergangenen Jahr längst nicht alle Asylsuchenden einen Antrag stellen konnten. 2014 war und stieg im weiteren Verlauf auf einen zwischenzeitlichen Höchstwert von 72,8 Serbien das zweitstärkste Herkunftsland. An Nummer drei folgte Eritrea. Bei einer2012. Betrachtung des mit einem Anteil von 82,3 Prozent ein neuer Rekordwert erre 2015 wurde Fünf-Jahres-Zeitraums von 2010 bis 2014 zeigt sich hinsichtlich der Herkunftsstruktur, dass aus Syrien mit 14,2 Prozent die meisten Asylbewerber stammten, gefolgt von Serbien mit 10,7 Prozent, Hauptherkunftsstaaten 2015 – nach Asylerstanträgen in Prozent Afghanistan mit 8,8 Prozent und dem Irak mit sechs Prozent. Seit der Einstufung des gesamten Kongo (ehemals Zaire) Unbegleitete minderjährige Hauptherkunftsstaaten 2015 Balkans als sicheres Herkunftsgebiet hat sich das Herkunftsschema deutlich auf den Nahen und mindestens einmal MittlerenAsylantragsteller Osten verengt. Sonstige 17,5 dazu – Nigeria Unter den Hauptherkunftsländern lassen sich deutliche Unterschiede in derwar Geschlechtsstruktur der Jahrenim2004 Im Jahrerkennen. 2015 haben 14.439 unbegleitete MinderAsylbewerber Während der Anteil von Frauen in undden Mädchen Jahr 2014 bei Syrien 35,9 jährige (49,1 in Deutschland einen Asylerstantrag 2009 durchgängig mazedonischen Prozent), serbischen (48,6 Prozent),bis bosnischen (46,6 Prozent), albanischen Pakistan 1,9 (43,6 Prozent), (43,4 Prozent) sowie irakischen (42,3 nach Prozent) Asylbewerbern über2,1 gestellt.kosovarischen Darunter waren 4.143 Personen (28,7 vertreten, 2010 Mazedonien dem Durchschnitt lag, betrug er bei eritreischen Antragstellern nur 20,3 Prozent. war Somalia auch Prozent) unter 16 Jahren und 10.296 Personen Eritrea 2,5 2013 und 2014 in (71,3 Prozent) im Alter von 16 bis unter 18 ungeklärt 2,7 (ZÜ) der Liste zu finden, Jahren. 2014 waren es noch 4.399 unbegleitete Serbien 3,8 Unbegleitete minderjährige Asylantragsteller Eritrea kontinuierlich minderjährige Flüchtlinge insgesamt. seit 2013. Unter den Die meisten unbegleiteten Minderjährigen Im Jahr 2015 haben 14.439 unbegleitete Minderjährige in Deutschland einen Asylerstantrag gestellt. stellten ihren Asylerstantrag im Freistaat Bayern, asiatischen Staaten sind Irak 6,7 Darunter waren 4.143 Personen (28,7 Prozent) unter 16 Jahren und 10.296 Personen (71,3 Prozent) gefolgt von Nordrhein-Westfalen und Hessen. seit Mitte der 1980er im Alter von 16 bis unter 18 Jahren. 2014 waren es noch 4.399 unbegleitete minderjährige Albanien 12,2 Mit 34,4 Prozent kamen ein Drittel der Jahre Afghanistan, der Afghanistan 7,1 Flüchtlinge insgesamt. Kosovo 7,6 unbegleiteten Minderjährigen aus Afghanistan, Iran und ab 1995 Die meisten unbegleiteten Minderjährigen stellten ihren Asylerstantrag imauch Freistaat Bayern, gefolgt gefolgt von Syrien und (31,1Hessen. Prozent) sowie Eritrea der Irak fast ständig von Nordrhein-Westfalen unter den Hauptherkunftsländern. Seit 1998 demkamen Irak (jeweils acht der Prozent). Mehr als Minderjährigen Klageverfahren Mit 34,4 und Prozent ein Drittel unbegleiteten aus Afghanistan, von (ZÜ) gefolgt Syrien ebenfalls dazu. war von vier Prozent) Fünftel der Jugendlichen Prozent) Syrien (31,1 sowie Eritrea und(81,5 dem Irak (jeweils zählt acht Prozent). Mehr als vierVietnam Fünftel der Klageverfahren stammten diesen stammten vier Herkunftsländern. 1998 bis 2009 in der Liste. Es zeigen sich gravierende Unterschiede bei der Jugendlichen (81,5aus Prozent) aus diesen vier Herkunftsländern. zeigen sich Unterschiede bei der Beklagung der Entscheidungen ü 82,3 Es Prozent der gravierende ErstBeklagung der Entscheidungen über Asylanträge. nach Herkunftsland werden zwischen 2,8 Prozent (Syrien) und 46,1ProProzent (Kos Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge nach Hauptherkunftsstaaten im Jahr 2015 – in Prozent Je nach Herkunftsland werden zwischen 2,8 Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge nach Hauptherkunfts- antragsteller des Jahres 2015 angefochten. Insgesamt wurden 16,1 Prozent der Entscheidungen auf staaten im Jahr 2015 – in Prozent stammen aus den zehn zent (Syrien) und 46,1 Prozent (Kosovo) juristisch dem Rech 2014 waren es noch 40,2 Prozent. DerInsgesamt Anteil der beklagten Entscheidungen über Hauptherkunftsländern. Vier angefochten. wurden 16,1 Prozent der Sonstige 13,5 davon sind asiatische Staaten, Entscheidungen auf dem Rechtsweg überprüft. 2014 weitere1 vier europäisch. Mit waren es noch 40,2 Prozent. Der Anteil der beklagten Anm.: Zu den neun Hauptherkunftsländern kommen 2,7 Prozent ungeklärte Fälle. Eritrea ist ein afrikanischer Entscheidungen über Erstanträge ist mit 15,4 ProSomalia 4,5 Afghanistan Staat in der Liste. Die zent um sieben Prozentpunkte geringer als der Anteil 34,4 Zusammensetzung der zehn der beklagten Entscheidungen über Folgeanträge. Eritrea 8,1 zugangsstärksten HerkunftsWerden nur die abgelehnten Erst- und Folgeanträge länder hat sich im Vergleich betrachtet, ergibt sich eine Anfechtungsquote von 31,9 zum Jahr 2014 nicht wesentProzent. 2015 wurden seitens der Verwaltungsgerichte, Irak 8,4 lich verändert. Die HerOberverwaltungsgerichte bzw. Verwaltungsgerichtskunftsländer Bosnien und höfe sowie dem Bundesverwaltungsgericht insgesamt 66.648 Entscheidungen getroffen. Diese Gesamtzahl Herzegowina sowie Somalia setzt sich wie folgt zusammen: sind im Gegensatz zum Vorjahr nicht mehr enthalten, • 62.592 erstinstanzliche Urteile (95,2 Prozent) Syrien 31,1 stattdessen gehört Pakistan • 2.859 Entscheidungen über Anträge auf Zulassung der Berufung (4,4 Prozent) wieder dazu. Ansonsten sind (ZÜ) • 227 Urteile in Berufungsverfahren (0,3 Prozent), Die zehn zugangsstärksten alle Top-Ten-Länder des Jahres 2014 auch in den Die zehnHerkunftsländer zugangsstärksten Herkunftsländer (Erstanträge) Top-Ten von 2006 2015 (Erstanträge) desbis vergangenen Jahres vertreten, wenn• 32 Entscheidungen in Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren (0,05 Prozent), von 2006 bis 2015 gleich in unterschiedlicher Reihung. Veränderungen in der Zusammensetzung der Herkunftsländer sind Ausdruck politischer, • neun Urteile in Revisionsverfahren (0,01 Prozent). Wie bereits im Vorjahr belegte Syrien auch wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Verhältnisse. Während zwischen 1986 und 1994 europäische 2015 den ersten Rang, gefolgt von Albanien Veränderungen in der Zusammensetzung der Bei allen Gerichtsentscheidungen überwogen im Staaten wie vor allem Polen, Ungarn, Rumänien und Bulgarien zu den Hauptherkunftsländern zählten, Herkunftsländer sind Ausdruck politischer, (Vorjahr Rang 5) und dem Kosovo (Vorjahr Jahr 2015 die Entscheidungen über Asylerstanträge. spielen sie seitdem eine untergeordnete Rolle. Die damaligen Hauptherkunftsländer sind inzwischen wirtschaftlicher und gesellschaftlicher VerRang 6). Den höchsten Zuwachs verzeichnete Die Anteile lagen zwischen 83 und 89 Prozent. Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Im Anschluss dominierten einige Westbalkanstaaten, wie hältnisse. Während zwischen 1986 und 1994 Albanien (+584,1 Prozent), danach der Irak Ende 2015 waren insgesamt 58.974 Asyleuropäische Staaten wie vor allem Polen, Ungarn, (+457,2 Prozent), Kosovo (+383,9 Prozent) gerichtsverfahren bei den zuständigen Gerichten Rumänien und Bulgarien zu den Hauptherund Syrien (+303,4 Prozent). Aus den sechs anhängig. Darunter fielen beklagte Entscheidungen kunftsländern zählten, spielen sie seitdem eine Balkanländern Serbien, Mazedonien, Bosnien zu Erst- und Folgeantragsverfahren, Widerrufsprüfuntergeordnete Rolle. Die damaligen Hauptherund Herzegowina, Kosovo, Montenegro sowie verfahren sowie zu Wiederaufgreifensanträgen. kunftsländer sind inzwischen Mitgliedstaaten der Albanien kam 2015 mehr als ein Viertel aller Europäischen Union. Im Anschluss dominierten Erstantragsteller (120.882; 27,4 Prozent). Der Entscheidungen und Entscheidungseinige Westbalkanstaaten, wie Albanien, Kosovo, Anteil der zehn Hauptherkunftsländer an der quoten der letzten zehn Jahre Serbien und Mazedonien. Die Türkei gehörte Gesamtzahl der Asylerstanträge erreichte 2006 durchgängig von 1986 bis 2011 zu den Hauptden bislang niedrigsten Wert von 55,3 ProDas Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) hat in den vergangenen zehn Jahren herkunftsländern, die Russische Föderation von zent und stieg im weiteren Verlauf auf einen zwischenzeitlichen Höchstwert von 72,8 Pro2000 bis 2013. über Asylanträge von circa 755.000 Personen entUnter den afrikanischen Staaten zählten in zent im Jahr 2012. 2015 wurde mit einem schieden, wovon rund 266.000 Personen Schutz als den Jahren 1986 bis 1996 Algerien, Ghana, Anteil von 82,3 Prozent ein neuer Rekordwert Asylberechtigter, als Flüchtling, als subsidiär SchutzNigeria, Togo und die Demokratische Republik erreicht. bedürftiger oder in Form eines Abschiebungsverbotes Statistik UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 55 Statistik gewährt wurde. Im Betrachtungszeitraum ist bis zum Jahr 2008 zunächst ein Rückgang der Entscheidungszahlen – in Abhängigkeit zur Rückläufigkeit der Zugangszahlen – zu verzeichnen. Seither zeigt sich wieder ein Anstieg. Nach etwa 129.000 Personen im Jahr 2014 wurde im Jahr 2015 über circa 283.000 Personen entschieden. Die Gesamtschutzquote berechnet sich aus der Anzahl der Asylanerkennungen, der Flüchtlingsanerkennungen, der Gewährungen von subsidiärem Schutz und der Feststellungen eines Abschiebungsverbotes bezogen auf die Gesamtzahl der Entscheidungen im betreffenden Zeitraum. Die Entwicklung der Schutzquote wird allgemein von verschiedenen Faktoren beeinflusst: 1. Sie ist zu einem wesentlichen Teil abhängig von den Fällen, die vom Bundesamt im Betrachtungszeitraum entschieden werden konnten. 2. Bei einer bestehenden bzw. ergangenen Aussetzung von Entscheidungen handelt es sich nicht um ein Steuerungsinstrument des Bundesamtes, sondern um eine Reaktion auf die Situation in den betreffenden Herkunftsländern. 3. Darüber hinaus nehmen auch gesellschaftspolitische Änderungen im Herkunftsland der Antragsteller Einfluss auf die Schutzquote, so z. B. die sich langsam bessernde medizinische Versorgung eines Landes oder der Zusammenbruch einer staatlichen Herrschaft. 4. Die Auswertung neuer Erkenntnisse von anderen Institutionen (Auswärtiges Amt, UNHCR, usw.) kann ebenfalls zur Änderung der Spruchpraxis und damit der Schutzquote führen. Die Gesamtschutzquote lag 2015 bei 49,8 Prozent. Dies ist der höchste Wert, der überhaupt je erreicht worden ist. Die Ausweitung der sicheren Herkunftsländer und die daraus folgende, deutlich verringerte Asylzuwanderung vom Balkan wird vermutlich in diesem Jahr zu einer noch höheren Schutzquote beigetragen haben. Die höchste Schutzquote hatten 2015 Flüchtlinge aus Syrien (96 Prozent). Dahinter folgten Eritrea (92,1 Prozent) und der Irak (88,6 Prozent). Eine zunehmend heterogene Gesellschaft Zu den in Deutschland lebenden Menschen, die entweder ein Asylverfahren betreiben oder als Asylberechtigte anerkannt wurden, lassen sich mit Hilfe des Ausländerzentralregisters detaillierte Angaben machen. Zum Stichtag Ende 2015 waren dies 447.000 Personen. Ein Viertel von ihnen kam aus Syrien, ein Zehntel aus Afghanistan und etwa ein Zwölftel aus Albanien, 5,9 Prozent aus dem Irak und 4,4 Prozent aus Eritrea. Die restlichen 50 Prozent verteilen sich auf alle anderen Staaten. Allerdings ist das Asylgesetz nur eine Quelle der Zuwanderung nach Deutschland. Insgesamt kamen im vergangenen Jahr fast zwei Millionen Menschen nach Deutschland. Hier sind neben der Asylmigration auch die EU-Binnenmigration, der Familiennachzug, 1.400.000 die Fachkräftezuwanderung und andere Quellen enthalten. Im gleichen Zeitraum haben etwa 1.200.000 600.000 Menschen die Bundesrepublik verlassen, womit der 1.000.000 Migrationssaldo bei 1,25 Millionen Menschen liegt. Seit dem Jahr 2003 800.000 überwiegen die Zuzüge die Fortzüge. Allein in den vergangenen zehn Jahren hat sich ein Migrationssaldo von 3,8 Millionen Menschen ergeben, die mehr in die Bundesrepublik eingewandert als ausgewandert sind. Zu- und Fortzüge von Ausländern in den vergangenen zehn Jahren Jahr Zuzüge Fortzüge 2006 361.562 257.659 + 103.903 2007 393.885 267.553 + 126.332 2008 394.596 311.536 + 83.060 2009 396.983 294.383 + 102.600 2010 475.840 295.042 + 180.798 2011 622.506 302.171 + 320.335 2012 738.735 317.594 + 421.141 2013 884.493 366.833 + 517.660 2014 1.149.045 472.315 + 676.630 2015 1.810.904 568.639 + 1.242.265 1.400.000 1.200.000 1.000.000 0 800.000 1.242.265 Syrien stellte 2015 die meisten Einwanderer. Neben den klassischen Herkunftsstaaten der Asyleinwanderung finden sich in dieser Liste mit Rumänien, Polen, Bulgarien, Kroatien und 676.730 600.000 Entwicklung der Wanderungssalden zwischen 2006 und 2015 400.000 200.000 Wanderungssaldo 517.660 421.141 320.335 1.242.265 126.332 180.798 102.600 83.060 103.903 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 676.730 600.000Syrien stellte 2015 die meisten Einwanderer. Neben den klassischen Herkunftsstaate 517.660Polen, Bulgarien, Kroatie Asyleinwanderung finden sich in dieser Liste mit Rumänien, 421.141 400.000auch einige östliche EU-Mitgliedsstaaten. Bei der Abwanderung dominieren rumänisc 320.335 polnische Staatsangehörige vor Albanern, Bulgaren, Serben, Ungarn, Kosovaren und I 200.000 126.332 180.798 den meisten Hauptherkunftsländern konnte ein Anstieg des positiven Wanderungssa 102.600 83.060 103.903 Vergleich zu 2014 festgestellt werden. 0 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 Einwanderung nach Deutschland 2015 nach Herkunftsstaaten – in Prozent Syrien stellte 2015Einwanderung die meisten Einwanderer. Neben den klassischen Herkunftsstaaten nach Deutschland 2015 nach Herkunftsstaaten – in Prozent der Quoten der einzelnen Entscheidungsarten im Jahr 2015 – in Prozent Asyleinwanderung finden sich in dieser Liste mit Rumänien, Polen, Bulgarien, Kroatien und Unga formelle auch einige östliche EU-Mitgliedsstaaten. Bei der Abwanderung dominieren rumänische und Entscheidungen polnische Staatsangehörige vor Albanern, Bulgaren, Serben, Ungarn, und Italienern. B Syrien Kosovaren 18,4 17,8 den meisten Hauptherkunftsländern konnte ein Anstieg des positiven Wanderungssaldos im Vergleich zu 2014 festgestellt werden. Sonstige 37,9 Rechtsstellung Einwanderung nach Deutschland 2015 nach Herkunftsstaaten – in Prozent als Flüchtling Rumänien 9,7 48,5 Ablehnungen 32,4 Abschiebeverbot 0,7 (ZÜ) 56 Eine zunehmend heterogene Gesellschaft Syrien 18,4 Sonstige 37,9 subsidiärer Schutz 0,6 Italien 2,6 Afghanistan5,4 Ungarn 2,7 Kroatien 2,8 Polen 8,2 Irak 4,6 9,7 Rumänien Albanien 3,7 Bulgarien4 Unter den Unionsbürgern dominiert eindeutig der ost-, Polen 8,2 mitteleuropäische Raum. Die KOMMUNE • AUSGABEWanderungssaldo 04 / DEZEMBER 2016 konnte mit allenUNTERNEHMERIN EU-Mitgliedsstaaten einen positiven erzielen. Italien 2,6 Afghanistan5,4 Bei der qualifizierten Einwanderung dominieren die USA, Indien, Russland, Bosnien-H Statistik Ausländeranteil deutschlandweit liegt damit derzeit bei etwa zwölf Prozent. Die Verteilung über die INSPIRATIONEN/INFORMATIONEN Bundesländer ist recht unterschiedlich. In Nordrhein-Westfalen hat etwa jeder Vierte keinen deutschen Pass. In Bayern und Baden-Württemberg ist es jeder Sechste. In den Neuen Bundesländern liegt der Ausländeranteil lediglich bei einem Prozent. 2016 2015 2014 2013 2012 2011 2010 2009 2008 2007 2006 2005 2004 2003 2002 2001 2000 1999 1998 1997 In Deutschland lebende Ausländer zwischen 1997 und 2016 In Deutschland lebende Ausländer zwischen 1997 und 2016 Ungarn auch einige östliche EU-Mitgliedsstaaten. Bei der Abwanderung dominieren 9,45 9.500.000 rumänische und polnische Staatsangehörige 9,11 vor Albanern, Bulgaren, Serben, Ungarn, 9.000.000 Kosovaren und Italienern. Bei den meisten Hauptherkunftsländern konnte ein Anstieg 8.500.000 8,15 des positiven Wanderungssaldos im Vergleich zu 2014 festgestellt werden. 8.000.000 7,63 Unter den Unionsbürgern dominiert ein7.500.000 7,37 7,32 7,34 7,3 7,32 7,34 7,33 deutig der ost-, mitteleuropäische Raum. Die 7,21 6,93 Bundesrepublik konnte mit allen EU-Mitglieds7.000.000 6,72 6,76 6,75 6,74 6,73 6,75 staaten einen positiven Wanderungssaldo erzielen. 6,69 Bei der qualifizierten Einwanderung 6.500.000 dominieren die USA, Indien, Russland, BosnienHerzegowina, Serbien und China. Beim 6.000.000 Familiennachzug sind es Syrien, die Türkei, die 5.500.000 Westbalkanstaaten, Russland, Indien und die USA. Fast alle Einwanderungsquellen konnten 5.000.000 in den vergangenen Monaten teilweise recht deutliche Zugewinne erzielen. Damit hat sich auch die ausländische Bevölkerung in Deutschland signifikant erhöht. Von 6,7 Millionen Bei Dieden größten Ausländergruppen in Deutschland – 2015 häufigsten Staatsangehörigkeiten von Ausländern in Deutschland dominiert deutlich die im Jahr 2009 ist die Zahl der Ausländer bis Türkei mit 16 Prozent der hier lebenden Ausländer. Dahinter folgen Polen mit acht Prozent, Italien 1.600.000 1.502.298 zum März 2016 auf 9,5 Millionen gestiegen. mit 6,4 Prozent, Syrien mit 5,2 Prozent undImRumänien mit fünf Prozent. 43,2 Prozentgeboren der 9,45 Ausland geboren In Deutschland 1.400.000 Millionen Ausländer besaßen eine Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der Europäischen Union. Dies entspricht einem Anstieg von etwa 30 Prozent in nur sieben Jahren. Der Ausländer1.200.000 größten Ausländergruppen in Deutschland – 2015 anteil deutschlandweit liegt damit derzeit bei Die1.000.000 etwa zwölf Prozent. Die Verteilung über die 751.600 800.000 Bundesländer ist recht unterschiedlich. In 600.236 600.000 Nordrhein-Westfalen hat etwa jeder Vierte 492.014 473.837 keinen deutschen Pass. In Bayern und Baden400.000 Württemberg ist es jeder Sechste. In den Neuen 200.000 Bundesländern liegt der Ausländeranteil ledig0 lich bei einem Prozent. Türkei Polen Italien Syrien Rumänien Bei den häufigsten Staatsangehörigkeiten von Ausländern in Deutschland dominiert deutlich die Türkei mit 16 Prozent der hier fünf Prozent. 43,2 Prozent der 9,45 Millionen lebenden Ausländer. Dahinter folgen Polen Ausländer besaßen eine Staatsangehörigkeit www.bamf.de (angemerkt) mit acht Prozent, Italien mit 6,4 Prozent, www.destatis.de eines Mitgliedstaates der Europäischen Union. i nfos Wie hoch der Nutzen des Einzelnen für unsere Gesellschaft ist, das ist letztlich eine philosophische Syrien mit 5,2 Prozent und Rumänien mit Frage, Vonder Falk Schäfer wedernmateriell noch ideell eindeutig beantwortet lässt. die sich angesichts Datenlage Einerseits wird man in einigen Jahren an Indizien ablesen können, ob die Migrationswelle der vergangenen Monate und Jahre diesem Land eher genutzt oder geschadet hat. Andererseits werden auch diese Interpretationen auf subjektiven Wertungen fußen. Wer mag sich schließlich heute anmaßen, die Anwerbung von Gastarbeitern in den 1950er und 1960er Jahren als Fehler zu bezeichnen und welchen Wert hätte eine solch rückwärtsgewandte und hypothetische Geschichtsschreibung? In der Rückschau wird allerdings klar, dass die Ergebnisse noch deutlich besser hätten sein können, wenn Bildung und Integration aktiv gefördert und gefordert worden wären. Und Wie hoch der Nutzen des Einzelnen für unsere Gesellschaft ist, das ist Mischung in den Dörfern und Kieauch heute gilt, dass jeder frühzeitig investierte Euro sich später amortisieren wird, dass eine gesunde letztlich eine philosophische Frage, die sich angesichts derethnische Datenlage zen vor Ort Dörfern die besten soziale und Mischung in den undAussichten Kiezen vor Ort die besten Aussichten auf Erfolg weder materiell noch ideell eindeutig beantwortet lässt. Einerseits wird auf Erfolg bietet. bietet. man in einigen Jahren an Indizien ablesen können, Migrationsist, dassinDeutschland Sicherob ist,die dass DeutschlandSicher wirtschaftlich der Lage ist, wirtdie aktuellen Aufwände zu stemmen. Schließlich Steuerschätzung fürder dieses vonaktuelweiter und noch stärker sprudelnden welle der vergangenen Monate und Jahre diesem Land geht eher die genutzt schaftlich in LageJahr ist, die Einnahmen aus. Damit auch in bewegten Zeiten die Schwarze Null werden. der oder geschadet hat. Andererseits werden auch diese Interpretationen aufwirdlen Aufwände zu stemmen. Schließlich geht dieverteidigt Steuerschätzung fürBei dieses Beantwortung der Frage, ob wir das schaffen oder eher nicht, sind allerdings nicht nur pekuniäre subjektiven Wertungen fußen. Wer mag sich schließlich heute anmaßen, Jahr von weiter und noch stärker sprudelnden Einnahmen aus. Damit wird Aspekte Bedeutung, Integrationsfähigkeit und die grundsätzliche die Anwerbung von Gastarbeitern in den 1950er und von 1960er Jahren dieauch in bewegten Zeitender dieAnkommenden Schwarze Null verteidigt werden. Bei der BeOffenheit der Mehrheitsbevölkerung spielen eine mindestens genauso gewichtige Rolle. In beiden als Fehler zu bezeichnen und welchen Wert hätte eine solch rückwärts- antwortung der Frage, ob wir das schaffen oder eher nicht, sind allerdings Richtungen gibt es offenkundig Belastungsgrenzen. i gewandte und hypothetische Geschichtsschreibung? In der Rückschau wird allerdings klar, dass die Ergebnisse noch deutlich Info: besser hätten sein können, wenn Bildung und Integration aktiv gefördert und gefordert worwww.bamf.de www.destatis.de den wären. Und auch heute gilt, dass jeder frühzeitig investierte Euro sich später amortisieren wird, dass eine gesunde soziale und ethnische UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 nicht nur pekuniäre Aspekte von Bedeutung, die Integrationsfähigkeit der Ankommenden und die grundsätzliche Offenheit der Mehrheitsbevölkerung spielen eine mindestens genauso gewichtige Rolle. In beiden Richtungen gibt es offenkundig Belastungsgrenzen. Falk Schäfer 57 Blick über den Gartenzaun Die politischen und Verwaltungsstrukturen in Kanada Britische Verfassungstradition in einem föderalen Gewand Aus unserer Serie „Blick über den Gartenzaun“ K anada ist vielleicht das europäischste Land außerhalb Europas. Es wurde geprägt von europäischen Einwanderern vornehmlich von den britischen Inseln und aus Frankreich, und es teilt bis heute den europäischen Wertekonsens einer Freiheit, die sich in Verantwortung bindet. Nicht zuletzt durch die Debatten zum europäisch-kanadischen Freihandelsabkommen CETA sind die vielfältigen kulturellen Analogien zwischen Kanada und der EU wieder ins Blickfeld gerückt. Kanada ist uns deutlich näher als dessen südlicher Nachbar und man kann davon ausgehen, dass CETA weitaus weniger Widerstand ausgelöst hätte, wenn nicht gleichzeitig ein ähnliches Abkommen mit den USA in Rede gestanden hätte. Kanada ist das zweitgrößte Land der Erde, findet sich unter den zehn stärksten Wirtschaftsmächten der Welt, ist Mitglied der G8 und gibt seit Jahrzehnten ein Beispiel, wie sich äußerst unterschiedliche Kulturen und Ethnien sozial verantwortlich und wirtschaftlich prosperierend in einem Gemeinwesen vereinen lassen. Lesen Sie im Folgenden einen Beitrag aus unserer Rubrik „Blick über den Gartenzaun“. Ein Überblick über die Verwaltungsstrukturen und die kommunale Selbstverwaltung in Kanada. Nordamerika und damit auch Kanada wurde vor etwa 12.000 Jahren von Asien her besiedelt. Spätestens um das Jahr 1.000 n. Chr. erreichten die ersten europäischen Siedler das heutige Kanada. Nachgewiesen sind einige Wikingersiedlungen an der Küste Neufundlands, die allerdings nur wenige Jahre bestanden. Ein prägender europäischer Einfluss zeigte sich erst in der kolumbischen Phase. In diesem Sinne gilt Giovanni Caboto, ein italienischer Seefahrer in englischen Diensten, als der „Entdecker“ Nordamerikas. Im 16. Jahrhundert entwickelten sich erste Tauschhandelskontakte mit den indigenen Stämmen, im frühen 17. Jahrhundert entstanden die ersten Kolonien. Französische Siedler gründeten die Stadt Quebec, Engländer ließen sich in Neufundland nieder. Im weiteren Verlauf entspann sich eine starke Konkurrenz zwischen Siedlern aus beiden Nationen. England hatte infolge der Glorreichen Revolution von 1688 den Feudalismus deutlich abgeschwächt. Eigentum wurde individualisiert, Freizügigkeit galt für alle, die keine Sklaven waren, und Arbeit wurde zunehmend zur Ware. Dies galt in gleicher Weise für die nordamerikanischen Kolonien. Alte Wikingersiedlung im neufundländischen L’Anse aux Meadows 58 UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 INSPIRATIONEN/INFORMATIONEN Blick über den Gartenzaun In den französischsprachigen Gebieten wurden die feudalen Strukturen erst Mitte des 19. Jahrhunderts aufgehoben. Daraus entsprang eine starke Abhängigkeit von wenigen Familien, die zudem ihren Mittelpunkt in Frankreich sahen. Franzosen, Engländer und die indigenen Völker kämpften im 17. Jahrhundert um Handelsprivilegien und Jagdrechte. Dabei kam es immer wieder zu kriegerischen Auseinandersetzungen. Häufig setzten sich auch die Konfrontationen unter den europäischen Großmächten in den überseeischen Kolonien fort. 1759 erlitten die Franzosen eine entscheidende Niederlage in der Schlacht auf der Abraham-Ebene. Die Briten eroberten Quebec und im Pariser Frieden von 1763 trat Frankreich alle kanadischen Besitzungen an Großbritannien ab. Frankreich seinerseits unterstützte den Kampf der US-Amerikaner gegen Großbritannien im Unabhängigkeitskrieg, doch als US-Truppen nach Montreal vordrangen, wurden sie von franko-kanadischen Siedlern zurückgeschlagen. Die französisch-katholische Mehrheit Kanadas geriet in die Minderheit, als nach dem Ende des US-amerikanischen Unabhängigkeitskrieges mehr als 50.000 Loyalisten angesiedelt wurden. Da sie überwiegend an den Großen Seen lebten, bildete sich ein zweiter Siedlungskern, der sich in Konfession, Wirtschaftsweise, Kultur und Sprache unterschied. Das Verfassungsgesetz von 1791 richtete zwei selbstständige Provinzen ein – das englisch geprägte Oberkanada und das französische Niederkanada. Die Grenze zwischen beiden Gebieten bildete der Ottawa-Fluss. Die Mehrheit der irokesischen Stämme, die auf der Seite der Briten gekämpft hatten, verblieb in Kanada oder zog dorthin. Ihre Gebiete bildeten zunächst einen weiteren Siedlungsraum, doch durch die anhaltende Zuwanderung aus Europa wurden die Irokesen zunehmend marginalisiert. Krankheiten, allen voran die Pocken, eilten den Europäern voraus westwärts und trafen Stämme, die noch gar nicht mit den Einwanderern in Berührung gekommen waren. Insgesamt fiel mehr als die Hälfte der indigenen Bevölkerung eingeschleppten Krankheiten zum Opfer. Handels- und Entdeckungsfahrten führten ab 1770 erste Spanier und Briten an die kanadische Pazifikküste. Ab den 1830er Jahren übernahm die Hudson-Bay-Handelsgesellschaft mit Einverständnis der britischen Krone die kolonialstaatlichen Aufgaben an der Westküste. Die Ausformung des Bundesstaates Im Britisch-Amerikanischen Krieg von 1812 bis 1814/15 scheiterte ein zweiter Versuch der USA, Kanada zu erobern. Der Widerstand gegen die Invasoren spielte eine wichtige Rolle bei der Entstehung eines gemeinsamen Nationalgefühls. 1818 legten die Kriegsgegner ihre Konflikte im Londoner Vertrag bei. Nachdem sich sezessionistische Tendenzen auch in Kanada Bahn brachen, schlug Generalgouverneur Lord Durham der Krone eine verstärkte Selbstverwaltung und eine parlamentarische Regierungsform vor. Gleichzeitig sollte das Englische zur alleinigen Amtssprache erhoben werden. Diese Vorschläge wurden mit dem Act of Union 1840 umgesetzt. Aus der Vereinigung von Ober- und Niederkanada entstand 1841 die gemeinsame Provinz Kanada. Als 1849 eine neue Steuer eingeführt wurde, kam es in Montreal zu zweitägigen Straßenkämpfen. Einen Monat später beschloss die Regierung, die Hauptstadt zu verlegen. Zuerst wechselten sich Toronto und Québec ab. 1857 dann entschied Königin Victoria, dass Ottawa an der Grenze zwischen französischem und englischem Sprachgebiet die neue Hauptstadt werden soll. Ab 1793 wurde die Sklaverei in Oberkanada Schritt für Schritt abgeschafft. Mit der 1780 gegründeten Underground Railroad wurden bis 1862 über dreißigtausend Sklaven aus den Südstaaten der USA befreit und nach Kanada gebracht. Zeitweise kamen pro Jahr 1.000 Sklaven. Nachdem Großbritannien und die USA sich 1846 auf den 49. Breitengrad als Grenze von den Großen Seen bis zum Pazifik geeinigt hatten, schuf die britische Regierung mit British Columbia und Vancouver Island zwei weitere Kolonien. Beide wurden 1866 vereinigt. Weil sich das Verhältnis zwischen Großbritannien und den USA in den 1860er Jahren erneut bis knapp an den Ausbruch eines Krieges verschlechtert hatte, sollte möglichen Angriffen der USA ein starker Bundesstaat entgegengestellt werden. Ab 1866 wurde in drei Konferenzen über die Schaffung einer Kanadischen Konföderation verhandelt. Zur Provinz Kanada aus den heutigen Provinzen Ontario und Québec kamen New Brunswick und Nova Scotia. Das Parlament erklärte den 1. Juli zum Nationalfeiertag; zuerst als Dominion Day und ab 1982 als Canada Day. Die neue Bundesregierung kaufte 1869 von der Hudson Bay Company weite Gebiete im Norden, die zu den Nordwest-Territorien vereinigt wurden. Bis in die 1920er Jahre wurden mit den indigenen Völkern verschiedene Verträge geschlossen, die ihnen immer größere Gebiete abtrotzten. Die Stämme gingen vor allem deshalb darauf ein, weil ihnen mit der Ausrottung der Büffel ihre Lebensgrundlage genommen war. 1871 schloss sich British Columbia an der Pazifikküste dem Bundesstaat an, 1873 trat auch Prince Edward Island im Atlantik der Konföderation bei. Unter teils konservativen, teils liberalen Regierungen erlebte Kanada einen rapiden Aufschwung. Eine wichtige Rolle spielte der Eisenbahnbau, der die Prärieprovinzen, die Rockies und die Westküste erschloss. Die UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 Canadian Pacific Railway vollendete 1886 die transkontinentale Eisenbahnverbindung und stieg zum wichtigsten Unternehmen Kanadas auf. Das ausgehende 19. Jahrhundert war darüber hinaus gekennzeichnet von intensiven innerstaatlichen Auseinandersetzungen. In den Provinzen Manitoba, Ontario und New Brunswick brach der Sprachenstreit zwischen französisch- und englischsprachigen Siedlern wieder auf. Zudem rebellierten die vornehmlich französischsprachigen Mestizen, weil sie zunehmend in Konkurrenz zu einer extensiven Viehwirtschaft treten mussten. Der Goldrausch am Klondike lockte zeitweise über 100.000 Menschen in die Region. In direkter Folge wurde 1898 das Yukon-Territorium von den Nordwest-Territorien abgetrennt. Aus weiteren Teilen der NordwestTerritorien entstanden 1905 die Provinzen Alberta und Saskatchewan. Gegenüber den indigenen Völkern verfolgte man eine Politik der Missionierung und Segregation. 1918 wurde das aktive und passive Wahlrecht für Frauen auf Provinz- und Bundesebene eingeführt. Die indigenen Stämme mussten darauf bis zum Jahr 1960 warten. Die Öffnung des Panamakanals ermöglichte es der Westküstenregion British Columbia erstmals, ihre Produkte auch an der deutlich dichter besiedelten Ostküste anzubieten. Insgesamt zeigte sich im beginnenden 20. Jahrhundert eine rasante Verstädterung insbesondere am Sankt-Lorenz-Strom und an den Großen Seen. Mit dem Statut von Westminster wurde Kanada 1931 ein souveräner Staat, an dessen Spitze der König bzw. die Königin von Großbritannien steht und der dadurch Teil des britischen Commonwealth of Nations blieb. Damit war nach dreihundert Jahren europäischer Siedlungsgeschichte die Unabhängigkeit der kanadischen Provinzen besiegelt. Das moderne Kanada Obwohl die kanadische Politik auf eine völlige Unabhängigkeit abzielte, wurde das Mutterland Großbritannien sowohl im Burenkrieg als auch im Ersten Weltkrieg unterstützt. 330.000 von rund acht Millionen Kanadiern standen unter Waffen, über 60.000 starben. In der Zwischenkriegszeit wurde das Land von der Weltwirtschaftskrise hart getroffen. Sie barg nicht nur soziale und politische, sondern auch sezessionistische Sprengkraft. Die Provinzen British Columbia und Quebec standen kurz vor einer Abspaltung. Letztlich wurde die Krise durch eine enge wirtschaftliche Bindung an die USA und durch Währungsabwertungen bewältigt. Die USA lösten in der Folge Großbritannien als engsten Handelspartner ab. Ähnlich wie US-Präsident Franklin D. Roosevelt veröffentlichte auch der kanadische Premierminister Richard Bennett 59 Blick über den Gartenzaun Die Forderung nach einem freien Quebec wurde in zwei Referenden jeweils sehr knapp mit einem „pour Canada“ beantwortet. einen sozialpolitischen New Deal zur Überwindung der Krise im eigenen Land. Im Gegensatz zum südlichen Nachbarn war die Wende zum Wohlfahrtsstaat in Kanada nachhaltig. Auch im Zweiten Weltkrieg engagierte sich Kanada wieder an der Seite der Alliierten. In Asien und Europa waren mehr als eine Million kanadische Soldaten im Einsatz. Fast 50.000 von ihnen verloren ihr Leben. Englischsprachige Kanadier forderten eine aktive Beteiligung, während die Frankokanadier jeden Einsatz außerhalb Kanadas ablehnten. Die französischsprachigen Einwohner Québecs leisteten gewaltsamen Widerstand gegen jede Einberufung. Nach dem Angriff Japans auf Pearl Harbor wurden alle 22.000 japanischstämmigen Kanadier entschädigungslos enteignet und bis Kriegsende in Lagern interniert. 1949 wurde das bislang selbstständige Dominion Neufundland nach einer Volksabstimmung zur zehnten kanadischen Provinz. Im mehrheitlich französischsprachigen Quebec entwickelte sich nach dem Ende des Krieges eine starke Unabhängigkeitsbewegung. Sie erhielt zusätzlichen Auftrieb als Charles de Gaulle 1967 die Provinz besuchte und ein freies Quebec forderte. Die „Front für die Befreiung Quebecs“ verübte seit 1963 mehr als 200 Bombenanschläge. Politischer Arm der Separatisten war die Parti Québécois, die 1976 auch die Regierung übernahm. Sie setzte das Französische als alleinige Amtssprache durch und leitete ein Unabhängigkeitsreferendum ein. Bei letzterem votierten allerdings 60 Prozent für einen Verbleib beim kanadischen Bundesstaat. Seit den 1970er Jahren betreibt Kanada eine aktive Einwanderungspolitik. Insbesondere aus Ost- und Südasien kamen seitdem hunderttausende Migranten. Vancouver, das Zentrum der kanadischen Westküste, ist heute eine 60 mehrheitlich asiatische Stadt. Mit dem Verfassungsgesetz von 1982 verzichtete das britische Parlament auf das Recht, für Kanada Gesetze zu erlassen. Diese Verfassung machte auch den Multikulturalismus zum Staatsprinzip. Es sollte die Aufnahme der in jüngerer Zeit eingewanderten Kanadier erleichtern. Unter dem konservativen Premierminister Brian Mulroney band sich Kanada in den 1980er Jahren wieder stärker an die USA. Das nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA wurde geschlossen und mit neoliberalen Wirtschaftsreformen der sozialpolitische New Deal aufgekündigt. Armut und Obdachlosigkeit sind seither auch in kanadischen Metropolen sichtbare Phänomene. Bei einem zweiten Québec-Referendum 1995 votierte nur eine äußerst knappe Mehrheit von 50,6 Prozent der Québecer für einen Verbleib bei Kanada. 1999 wurde mit Nunavut das erste kanadische Territorium mit mehrheitlich indigener Bevölkerung geschaffen. Seit den 1990er Jahren gibt es einen beständigen Wechsel zwischen liberalen und konservativen Regierungen. Letztere suchen regelmäßig eine engere Bindung an die USA, eine Verschärfung der Sicherheitsgesetze und einen Abbau wirtschaftlicher Regulierung. Mit der Wahl des sozialliberalen Premierministers Justin Trudeau ist im vergangenen Jahr wieder eine progressivere Phase angebrochen. Demografie Kanadas Kanada hat etwas mehr als 36 Millionen Einwohner. Seit der Gründung des Bundesstaates im Jahr 1866 bis heute liegt das Bevölkerungswachstum durchgängig bei mehr als zehn Prozent im Zehn-Jahres-Verlauf. Zuwachsraten von jeweils mehr als 30 Prozent gab es in den ersten zehn Jahren des 20. Jahrhunderts während der sprunghaften Industrialisierung des kanadischen Südens sowie in den 1950er Jahren. Seit den 1970er Jahren betreibt das Land eine aktive Einwanderungspolitik, was bis heute für ein stabiles Wachstum sorgt. Aufgrund der klimatischen Bedingungen konzentrieren sich die Siedlungsschwerpunkte auf den Süden des Landes. Die bei weitem bevölkerungsreichste Provinz ist Ontario oberhalb der fünf großen Seen. Hier liegt mit Toronto auch die größte Metropolregion. In und um die Stadt leben mehr als fünf Millionen Menschen. Die nach Bevölkerung zweitgrößte Provinz ist das französischsprachige Quebec. Hier konzentriert sich die Bevölkerung entlang des Sankt-Lorenz-Stroms, der die Großen Seen mit dem Atlantik verbindet. Die Metropolregion Montreal hat knapp vier Millionen Einwohner. Ontario und Quebec entsprechen in etwa auch den ersten kanadischen Provinzen Ober- und Niederkanada. Deren Grenze markiert den Übergang vom englisch- zum französischsprachigen Kanada. Hier liegt die kanadische Hauptstadt Ottawa, in deren Metropolenraum 1,2 Millionen Menschen leben. Insgesamt konzentriert sich fast die Hälfte der kanadischen Bevölkerung in einem Gürtel von den Nordufern der Großen Seen über den Sankt- Lorenz-Strom bis zum Sankt-Lorenz-Golf. Mit Fertigstellung der Canadian Pacific Railway konnten seit Beginn des 20. Jahrhunderts auch die westlichen Provinzen ein massives Wachstum generieren. Mit viereinhalb Millionen Einwohnern ist die Westküstenprovinz British Columbia die drittbevölkerungsreichste des Landes. Allein in der Metropolregion Vancouver UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 Blick über den Gartenzaun leben etwa zweieinhalb Millionen Menschen. Auf Rang vier liegt die Provinz Alberta mit Anteilen an den Rocky Mountains und an der kanadischen Prärie. Deren 3,6 Millionen Einwohner verteilen sich zu großen Teilen auf die Metropolregionen Calgary und Edmonton mit jeweils 1,2 Millionen Einwohnern. des 21. Jahrhunderts stabil auf etwa zwölf Prozent im Zehnjahreszeitraum einzupendeln. Allerdings liegt die Fruchtbarkeitsrate in Kanada bei lediglich 1,6 Kindern pro Frau. Bereits seit Mitte der 1970er Jahre wird das bei sonst stabilen Einflüssen für eine gleichbleibende Einwohnerzahl nötige Reproduktionsniveau von 2,1 Kindern pro Frau nicht Die 20 kanadischen Metropolregionen mit mehr als 200.000 mehr erreicht. Seit Einwohnern Mitte der 1990er lag Einwohner die Geburtenziffer recht Bundesstaat Metropolregion in Mio. stetig zwischen 1,5 und Toronto Ontario 5,584 1,7 Kindern pro Frau. Kanada rangiert damit Montreal Quebec 3,824 deutlich hinter den Vancouver British Columbia 2,313 nordamerikanischen Nachbarn USA (1,88 Ottawa-Gatineau Ontario / Quebec 1,236 in 2014) und Mexiko Calgary Alberta 1,215 (2,22 in 2014). Um dieses seit Generationen Edmonton Alberta 1,160 anhaltende GeburtenQuebec Ville Quebec 0,766 defizit auszugleichen Winnipeg Manitoba 0,730 und dennoch die Wa c h s t u m s r a t e n Hamilton Ontario 0,721 nochmals zu erhöhen, Kitchener-Cambridge-Waterloo Ontario 0,477 müsste die ohnehin schon hohe EinLondon Ontario 0,475 wanderung nach St. Catherines-Niagara Ontario 0,392 Kanada nochmals verHalifax New Brunswick 0,390 vielfacht werden. Angesichts Oshawa Ontario 0,356 stagnierender demoVictoria British Columbia 0,345 grafischer Potentiale in den Quellregionen Windsor Ontario 0,319 der Immigration nach Saskatoon Saskatchewan 0,261 Kanada (Ostasien) ist dies kaum zu erwarten. Regina Saskatchewan 0,211 Realistischer und auch Sherbrooke Quebec 0,202 unabhängiger erscheint St. John’s Neufundland und Labrador 0,200 daher die Projektion der US-amerikanischen Statistikbehörde. Auch hier wird ein signifikantes Mit einem Bevölkerungswachstum von 20,4 Wachstum erwartet, das allerdings ab Mitte des Prozent zwischen 1990 und 2008 liegt Kanada zwar etwas hinter den nordamerikanischen NachJahrhunderts stagniert. Der Peak wäre nach dieser barn USA (21,7 Prozent) und Mexiko (31,2 Vorhersage zwischen 2050 und 2060 mit dann etwa Prozent) zurück, allerdings noch immer deutlich 43 Millionen Kanadiern erreicht. Langfristig wird vor der Europäischen Union in ihrem aktuellen ab diesem Zeitpunkt eine leichte Schrumpfung Zuschnitt (4 Prozent) und der Bundesrepublik prognostiziert. Deutschland (2,7 Prozent). Für die kommenden Die Verstädterung in Kanada liegt mit 80,7 Jahre ist ein weiteres Wachstum zu erwarten. Prozent etwa im Mittelfeld der entwickelten Allerdings unterscheiden sich die Projektionen der Industriestaaten. Gleiches gilt für das Mediannationalen kanadischen Statistikbehörde sowie alter. Hier rangiert Kanada etwas unterhalb des des US-Zensus-Büros recht deutlich voneinander. EU-weiten Schnitts – mit 42 Jahren fast fünf Die Kanadier gehen für das Jahr 2050 von einer Jahre unter dem deutschen Wert, allerdings vier Einwohnerzahl um 56 Millionen aus. Die VorJahre über dem US-amerikanischen. Mit 84,1 hersage der US-amerikanischen Statistikbehörde Jahren für Frauen und 80,2 Jahren für Männer liegt dagegen nur bei 41 Millionen. Glaubt man hat Kanada eine der höchsten Lebenserwartungen den kanadischen Statistikern, werden sich die weltweit. Auch hier wird der deutsche VerWachstumsraten in den kommenden Jahren gleichswert recht deutlich übertroffen, der USnochmals deutlich ausweiten um sich gegen Mitte amerikanische ohnehin. Allerdings weist Kanada UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 INSPIRATIONEN/INFORMATIONEN mit fast fünf Fällen auf tausend Kleinkinder eine im Industrieländervergleich überdurchschnittliche Kindersterblichkeit auf. Kanada ist ein kulturell und ethnisch sehr heterogenes Land, die Nachfahren der europäischen Siedler bilden allerdings noch immer die mit Abstand größte Gruppe. Grundsätzlich muss beim Vergleich der ethnischen Herkunft berücksichtigt werden, dass die Angaben auf Selbstauskünften beruhen. Hier war es neben anderen auch möglich, die Zuschreibung „kanadisch“ anzukreuzen, wobei unklar bleibt, was sich dahinter verbirgt – die indigenen Minderheiten der First Nations und der Inuit jedenfalls nicht. Mit 32,2 Prozent bezeichnete sich in der aus dem Jahre 2013 stammenden Umfrage des Kanadischen Statistikamtes ein Drittel der Befragten als Kanadier. Dahinter rangieren mit England (19,8 Prozent) und Frankreich (15,4 Prozent) die Mutternationen der kanadischen Amtssprachen. Weitere 14,4 Prozent ordnen sich als schottisch und 13,8 Prozent als irisch ein. Damit liegt der Anteil der Kanadier von den Britischen Inseln bei 48 Prozent. Etwa zehn Prozent sehen sich noch immer als deutschstämmig. Dahinter folgen mit jeweils 4,5 Prozent Italo- und Sinokanadier. Etwa 4,2 Prozent ordnen sich den First Nations, also den indigenen Minderheiten zu. Sie sind besonders im sehr dünn besiedelten Norden des Landes mit vergleichsweise hohen Anteilen vertreten und stellen in den Nordwest-Territorien sowie in Nunavut die größte Bevölkerungsgruppe. Die Mestizen kommen landesweit auf 1,4 Prozent. In Kanada wird zwischen fünf Einwanderungswellen differenziert. Die fünfte und letzte begann mit der Revision des Einwanderungsgesetzes 1976 unter dem linksliberalen Premierminister Pierre Trudeau und hält bis heute an. Von den vier vorherigen Wellen unterscheidet sie sich insofern, dass sie insbesondere nicht-weiße Bevölkerungsgruppen betrifft. Nachdem über mehrere Jahrzehnte politischer Konsens zu einer verstärkten Einwanderung bestand, sind sich die kanadischen Parteien seit dem Jahr 2005 weitgehend einig bezüglich einer Eindämmung. Im Gegensatz zu den USA kommt die Mehrzahl der Einwanderer nicht aus Lateinamerika, sondern aus Ostasien. Insgesamt konzentriert sich die Einwanderung auf die großen Ballungsräume Toronto, Vancouver und Montreal. Etwa zwei Drittel der Einwanderer entfallen auf das kanadische Fachkräfteanwerbungsprogramm. Hier werden jährlich Quoten, berufliche Hintergründe und Qualifikationen definiert. Im Jahre 2013 war China mit 13,1 Prozent das Hauptquellland für Einwanderung. Dahinter folgten Indien (11,8 Prozent), die Philippinen (10,5 Prozent), Pakistan (4,4 Prozent), die USA (4,1 Prozent) und der Iran (3,9 Prozent). 61 Blick über den Gartenzaun Ausnahmen ist dieser Proporz aktuell jedoch Anteil Absolut Bundesstaat mit dem höchsten Anteil Herkunft nicht mehr gewährin % in Mio. leistet. Der Senat hat 19,8 6,510 Neufundland und Labrador (43,4 %) Englisch im Normalfall 75 Mit15,4 5,066 Quebec (29,1 %) Französisch glieder, kann allerdings um acht weitere 14,4 4,715 Prince Edward Island (39,3 %) Schottisch Abgeordnete erweitert 13,8 4,545 Prince Edward Island (30,4 %) Irisch werden, solange dies einer gleichmäßigeren 9,8 3,203 Saskatchewan (28,6 %) Deutsch regionalen Verteilung 4,5 1,488 Ontario (7 %) Italienisch dient. 4,5 1,488 British Columbia (10,7 %) Chinesisch Das Unterhaus besteht aus 338 Mit4,17 1,369 Nordwestterritorien (37 %) First Nations gliedern. Diese werden 3,81 1,251 Manitoba (14,9 %) Ukrainisch in ebenso vielen Wahlkreisen nach dem Mehr3,55 1,165 British Columbia (6,3 %) Indisch heitswahlrecht bestimmt. 3,25 1,165 Alberta (5,1 %) Niederländisch Um ein Mandat zu 3,08 1,011 Manitoba (7,3 %) Polnisch erringen ist nur die relative Mehrheit als 2,02 0,663 Manitoba (5,2 %) Philippinisch stärkster Kandidat und 1,68 0,551 Manitoba (4,3 %) Russisch nicht die absolute Mehrheit der absoluten Wahl1,40 0,459 Yukon (2,8 %) Walisisch stimmen notwendig. 1,38 0,453 Saskatchewan (6,9 %) Norwegisch Die Mandate werden für maximal fünf Jahre 1,36 0,448 Nordwestterritorien (6,7%) Mestizen erteilt. Bis zum Ablauf Die Daten beruhen auf Selbstauskünften. 32,2 Prozent der Befragten ordneten sich selbst die Zudieser Zeitspanne muss schreibung „kanadisch“ zu. Da dies nichts über die Herkunft aussagt, wurde dieser Punkt ausgespart. In Kanada leben etwa 50.000 Inuit. Dies entspricht 0,14 Prozent der Gesamtbevölkerung. In eine Neuwahl erfolgen. Nunavut stellen sie 85,4 Prozent der Bevölkerung. Die Größe des UnterDas politische System hauses, der Zuschnitt der Wahldistrikte und die Zahl der Wahlkreise pro Bundesstaat werden nach jedem Zensus der demografischen Entwicklung angepasst. Kanada ist eine parlamentarische Demokratie mit einer langen föderalen Tradition. Staatsoberhaupt ist die Königin von Großbritannien und Nordirland bzw. der von ihr eingesetzte Generalgouverneur. Der kanadische Parlamentarismus zeigt deutliche Einflüsse der Westminster-Demokratie, allerdings ist die Rolle der Parteien in Kanada stärker ausgeprägt. Im Jahre 1931 wurde Kanada und anderen Kronbesitzungen die volle Autonomie zugesprochen. Allerdings konnten sich die kanadischen Parlamentarier lange nicht auf einen einheitlichen Verfassungsgebungsprozess einigen, sodass erst ab 1982 eine vollständige legislative Autonomie von Westminster besteht. Die ethnische Struktur der kanadischen Bevölkerung Die Kanadier können lediglich für ihren lokalen Direktkandidaten und nicht für eine bestimmte Partei votieren. Die Parteien wählen ihre Vorsitzenden im Regelfall in zwei Wahlgängen unter ihren Mitgliedern. Jene Partei, die im Unterhaus die meisten Mandate erringen konnte, stellt normalerweise auch den Premierminister. Wenn eine Partei eine absolute Mehrheit unter sich vereinigt, wird in Kanada von einer Mehrheitsregierung gesprochen. Hält die betreffende Partei nur eine relative Mehrheit oder ist sie gar auf eine Mehrparteienkoalition angewiesen, wird von einer Minderheitsregierung gesprochen. Grundsätzlich beauftragt der Generalgouverneur den Führer der stärksten Fraktion im Unterhaus mit der Bildung der Regierung. Hält diese Partei keine eigene Mehrheit, muss sie zumindest die Aussicht auf eine Koalitionsmehrheit begründen können. Die Exekutive wird auf Bundesebene vom Premierminister und den Ministerien gebildet. Unterschieden wird zwischen Querschnittsministerien (Geheimdienstkoordination, Finanzen) und Ressortministerien (Außen, Arbeit, Verteidigung, Innen, Öffentliche Sicherheit, Einwanderung etc.) Aktuell sind folgende Parteien im kanadischen Unterhaus vertreten: Die Liberale Partei Kanadas ist die klassische Partei der Mitte. Im politischen Spektrum befindet sie sich links von den Konservativen und rechts von den Sozialdemokraten. Sie wird oft als natürliche Regierungspartei Kanadas angesehen, da sie an den meisten Regierungen seit Beginn des 20. Jahrhunderts beteiligt war. Parteivorsitzender ist Justin Trudeau, der aktuell auch als Verwaltungsgliederung Kanadas Demokratische Legitimation auf Bundesebene Das kanadische Zweikammerparlament besteht aus drei Bestandteilen, der Monarchin, dem Senat und dem Unterhaus. Der Senat soll als regionale Vertretung wirken. Die 75 Mitglieder werden auf Empfehlung des kanadischen Premierministers durch den Generalgouverneur ernannt. Ursprünglich sollten Ontario, Quebec, die westlichen Provinzen und die Atlantikregionen gleichmäßig repräsentiert sein, im Zuge von Absprachen, Kompromissen und 62 UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 INSPIRATIONEN/INFORMATIONEN Blick über den Gartenzaun Premierminister amtiert. Die Liberalen sind die einzige Partei, die seit Gründung der kanadischen Konföderation im Jahre 1967 ununterbrochen existiert. Bei der Unterhauswahl 2015 konnten die Liberalen unter Justin Trudeau erstmals nach 2004 wieder die stärkste Kraft im Parlament werden und zudem auch die absolute Mehrheit erringen. Die Konservative Partei Kanadas entstand im Dezember 2003 aus der Fusion der Progressivkonservativen Partei mit der Kanadischen Allianz. Nach der Unterhauswahl 2011 stellte sie mit 167 von 308 Sitzen im Unterhaus eine Mehrheitsregierung unter der Führung des Parteivorsitzenden und Premierministers Stephen Harper. Seit der Niederlage bei den Wahlen 2015 befindet sie sich in der Opposition. In Anlehnung an die britische Conservative Party werden die kanadischen Konservativen meist als „Tories“ bezeichnet. Die Konservativen werden derzeit kommissarisch von Rhona Ambrose geführt. Die Neue Sozialdemokratische Partei Kanadas (NDP) besetzt klar linke Positionen. Die NDP entstand 1961 aus der Fusion zweier Gewerkschaften. Bei den Wahlen 2011 steigerte die Partei ihren Stimmenanteil von 18 auf 30 Prozent sowie die Zahl ihrer Parlamentssitze von 34 auf 102. Sie löste damit die Liberale Partei als klassischen Gegenspieler der Konservativen ab. Diese Entwicklung konnte 2015 aber nicht bestätigt werden, die NDP verlor deutlich Sitze und die Liberalen erreichten die absolute Mehrheit. Derzeit hält die NDP 44 Sitze im Unterhaus. Der Bloc Québécois ist eine sozialdemokratische und separatistische Partei. Sie tritt ausschließlich in der französischsprachigen Provinz Québec an. Bei der Unterhauswahl 2015 errang der Bloc zehn der 78 Sitze, die der Provinz Québec zustehen. In seiner heutigen Form entstand der Bloc Québécois 1990 aus einer informellen Verbindung von Abgeordneten der Progressiv-konservativen Partei und der Liberalen Partei, die aus ihren Parteien austraten, um die Unabhängigkeit Quebecs zu fördern. Die Grüne Partei Kanadas vertritt vor allem ökologische Positionen. Parteivorsitzende ist seit 2006 Elizabeth May. Die Partei wurde 1983 gegründet und konnte erstmals 2011 einen Sitz im Unterhaus gewinnen. Dieser Wahlkreis in British Columbia konnte auch 2015 verteidigt werden. Die Provinzen und Territorien Kanadas John A. Macdonald, Kanadas erster Premierminister, favorisierte zunächst einen Einheitsstaat. Nachdem er jedoch Zeuge des amerikanischen Bürgerkrieges wurde, unterstützte er einen föderalen Zuschnitt. Schließlich besaß der Gegensatz zwischen dem französischsprachigen Unterkanada und dem englischsprachigen Oberkanada erhebliche sezessionistische Sprengkraft. Am 1. Juli 1867 schlossen sich die Kolonien in Britisch-Nordamerika zur Kanadischen Konföderation zusammen und begründeten das Dominion Kanada. Es entstanden die vier Provinzen Ontario, Québec, New Brunswick und Nova Scotia. Im Verlaufe der folgenden sechs Jahre kamen drei weitere Provinzen hinzu: Manitoba, British Columbia sowie Prince Edward Island. 1905 entstanden aus dem südlich des 60. Breitengrads gelegenen Teil der Nordwest-Territorien die Provinzen Alberta und Saskatchewan. Aus dem westlichen Teil wurde 1898 das Yukon-Territorium geschaffen. 1912 verschoben sich die Grenzen Ontarios, Manitobas und Québecs nordwärts. Die Neufundländer befürworteten erst 1949 mit knapper Mehrheit den Beitritt zur Konföderation. Das Nordwest-Territorium wurde 1999 erneut verkleinert und es entstand zusätzlich das Territorium Nunavut. Die Provinzen verfügen über einen hohen Grad an Autonomie gegenüber der Bundesregierung. Sie besitzen legislative Kompetenzen in den Bereichen öffentliche Einrichtungen, Iqaluit ist der Hauptort des jüngsten kanadischen Territoriums. Nunavut wurde erst im Jahre 1999 aus den Nordwestterritorien herausgelöst. Es wird zu mehr als 85 Prozent von Inuit besiedelt. UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 63 Blick über den Gartenzaun Gemeindewesen, Beamtenbesoldung, direkte Steuern, Schulwesen, Gast- und sonstiges lokales Gewerbe, Eigentum und bürgerliches Recht, Gerichtsverfassungsrecht, Zivilprozessrecht, Bergbau, Forstwirtschaft und Energie. Die Ebene der Bundesstaaten verfügt über umfangreiche Möglichkeiten der Besteuerung. Sie erhält einen nennenswerten Anteil der Einkommensteuer und darf eigene Umsatzsteuern erheben. Neben anderen Einkünften werden im Rahmen eines Finanzausgleichsystems auch Gelder der Bundesebene auf die Bundesstaaten verteilt. Der Bund tätigt Ausgleichszahlungen und nimmt dadurch Einfluss auf die Gesetzgebung der Provinzen, damit die Unterschiede zwischen reicheren und ärmeren Provinzen bei der Besteuerung nicht allzu groß ausfallen und der Standard der Dienstleistungen gleich bleibt. Zu den Aufgaben der Bundesstaaten zählen Bildungswesen, Kultur, Gerichtswesen, Polizei, Gesundheitswesen, Sozialhilfe und Wirtschaftsentwicklung. Sie kontrollieren auch die Nutzung der natürlichen Ressourcen. Die Provinzen können während einer bestimmten Frist die Nichtanwendung neuer Bundesgesetze beschließen, was aber in der Praxis nur selten geschieht. In den Territorien übernimmt die Bundesregierung zahlreiche Verwaltungsaufgaben selbst. Als Repräsentant der Krone fungiert in den Provinzen ein Vizegouverneur als Vize-Staatsoberhaupt, der überwiegend zeremonielle Aufgaben übernimmt. Die Kommissare in den Territorien üben die gleichen Funktionen aus, vertreten aber die Bundesregierung und nicht den Monarchen, da die Territorien keine eigenständigen Rechtssubjekte sind. Jede Provinz und jedes Territorium besitzt ein Einkammerparlament. Ursprünglich existierte in allen Provinzen eine zweite Kammer, diese Oberhäuser wurden jedoch sukzessive abgeschafft, zuletzt in Québec im Jahr 1968. Die Parlamente haben ähnliche Geschäftsordnungen wie das kanadische Unterhaus. In allen Provinzen ist der als Premierminister bezeichnete Regierungschef üblicherweise der Vorsitzende jener Partei mit den meisten Sitzen. Dies ist auch im Territorium Yukon der Fall, nicht aber in den Nordwest-Territorien und in Nunavut, da es dort keine Parteien auf Territorialebene gibt. Jede Provinz hat ihr eigenes Gerichtssystem. Oberstes Gericht ist jeweils der Court of Appeal. Der wesentliche Unterschied zwischen Provinzen und Territorien liegt darin, dass die Provinzen ihre Kompetenzen aus dem Verfassungsgesetz des Jahres 1867 beziehen. So stehen die Provinzen neben der Zentralregierung, während die Territorien eindeutig unter der Bundesebene anzusiedeln sind. Das kanadische Unterhaus kann per Gesetz Aufgaben und Kompetenzen an die Ebene der Territorien transferieren. Alle drei Territorien zusammen repräsentieren den extrem 64 Die zehn kanadischen Bundesstaaten und die drei Territorien Bundesstaat / Territorium Hauptstadt Einwohner Fläche in km² Größte Ethnie in Mio. Beitritt Ontario Toronto 13,572 1.076.395 Engländer 1867 Quebec Quebec Ville 8,028 1.542.056 Franzosen 1867 Victoria 4,606 944.735 Engländer 1871 Alberta Edmonton 3,847 661.848 Engländer 1905 Manitoba Winnipeg 1,261 647.797 Engländer 1870 Saskatchewan Regina 1,072 651.036 Deutsche 1905 Nova Scotia Halifax 0,945 55.284 Schotten 1867 New Brunswick Fredericton 0,755 72.908 Franzosen 1867 Neufundland und Labrador St. John’s 0,509 405.212 Engländer 1949 Charlottetown 0,146 5.660 Schotten 1873 Nordwestterritorien Yellowknife 0,043 1.346.106 First Nations 1870 Yukon Territorium Whitehorse 0,035 482.443 Engländer 1898 Iqaluit 0,034 2.093.190 Inuit 1999 36,286 9.984.670 British Columbia Prince Edward Island Nunavut Territorium Kanada Ottawa dünn besiedelten Norden Kanadas, auf den oftmals schlicht mit „the north“ rekurriert wird. Jedes der Territorien wählt einen Abgeordneten des kanadischen Unterhauses. Mit Ausnahme der Prince-Edward-Insel haben sie damit eine stärkere Vertretung pro Einwohner als die Bundesstaaten. Die Neuschaffung eines Bundesstaates kann nur per Verfassungsänderung erfolgen, während eine Neugliederung der Territorien lediglich ein Bundesgesetz erfordert. In jüngster Zeit mehren sich die Stimmen, den Territorien den Status von Bundesstaaten zu verleihen. Auslöser dieser Debatte sind der Klimawandel sowie die verstärkten Dispute um die Nutzung der Wasserstraßen der Nordwestpassage. Daneben sollen den in den nördlichen Territorien anteilig noch sehr stark vertretenen indigenen Völkern gleichwertige Kompetenzen zugestanden werden. Lokale Selbstverwaltung Die gemeindliche Ebene ist in Kanada zunächst mit Blick auf die Daseinsvorsorge und nicht als demokratische Repräsentanz gebildet worden. Die Kompetenzen zur Ausformung von Grenzen, Strukturen und Aufgaben liegen ausschließlich bei den Bundesstaaten. Der Trend der vergangenen Jahre weist jedoch in Richtung einer stärkeren kommunalen Selbstverwaltung. Da die Selbstverwaltung in Kanada nicht in der Bundesverfassung garantiert ist, mittlerweile aber auch die gemeindliche Ebene über demokratisch legitimierte Institutionen verfügt, sind in dieser Struktur Konflikte zwischen Provinzial- und Engländer Kommunalebene bereits angelegt. Grundsätzlich wird die gemeindliche Ebene vollständig durch Provinzialrecht reguliert. Daraus wiederum ergeben sich erhebliche Unterschiede zwischen den Gemeinden in verschiedenen Provinzen. Es bestehen ein- und zweistufige Verwaltungen, verschiedene Wahlsysteme sowie recht unterschiedliche rechtliche Rahmenbedingungen. In den einwohnerstärksten Provinzen Ontario, Quebec und British Columbia sind Distrikte gebildet worden, die die Arbeit der in ihren Grenzen liegenden Gemeinden beaufsichtigen. Andere Provinzen – wie etwa Manitoba – sind zu einer einstufigen Verwaltung zurückgekehrt. Viele kleinere Städte verfolgen ein Ratsmodell, innerhalb dessen gewählte Räte die Erbringung der Daseinsvorsorge – mitunter in eigens zu diesem Zweck gebildeten Subkomitees – überwachen. Andere Kommunen bestimmen per Wahl einen Manager, der wiederum die gesamte Verwaltung bestellt und deren Arbeit überwacht. In vielen westkanadischen Gemeinden ernennt die Ratsverwaltung Beauftragte zur Überwachung der verschiedenen Verwaltungen und zur Erbringung der Daseinsvorsorge. Im Regelfall sind ländliche und städtische Siedlungsgebiete durch Gemeindegrenzen voneinander getrennt. Einige Ausnahmen bestehen in den östlichen Bundesstaaten am Atlantik. In den vergangen Jahren vollzog sich ein deutlich erkennbarer Trend zu größeren Gemeinden. Oft sind es die Provinzverwaltungen, die einzelne Gemeinden neu strukturieren oder verschmelzen, nur sehr selten sind derartige Prozesse durch lokale UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 INSPIRATIONEN/INFORMATIONEN Blick über den Gartenzaun Mit fünfeinhalb Millionen Einwohnern ist Toronto die größte kanadische Metropolregion. Referenden in Gang gesetzt worden. Insbesondere die großen Metropolen Kanadas streben nach mehr Unabhängigkeit von ihren Provinzen. Der Bürgermeister von Toronto hat in diesem Zusammenhang das Konzept von Stadtstaaten ins Gespräch gebracht. Kernziel aller Gemeinden ist die Erbringung von Daseinsvorsorgeleistungen. Ein zweites Thema ist die wirtschaftliche Entwicklung vor Ort. Nur noch in Ontario sind die Gemeinden auch für die soziale Versorgung zuständig. Überall sonst wurden diese Aufgaben an die Provinzen transferiert. Die kommunale Ebene in Kanada besitzt keinerlei eigene Rechte auf das Generieren von Einnahmen. Steuerliche und anderweitige Das System der demokratischen Vertretung in Kanada entstammt der Tradition von Westminster. Dies ist bis heute deutlich zu erkennen. Die kanadische Verfassung beschränkt sich in einigen grundlegenden Aussagen. Vorherrschender Rechtskreis ist das Common Law, das sich insbesondere auf maßgebliche richterliche Urteile der Vergangenheit stützt. Den wesentlichen Unterschied zur britischen Tradition markiert der kanadische Föderalismus. Hier diente eher der südliche Nachbar als Vorbild und weniger das britische Mutterland. Bundesstaatliche Strukturen passen zur Größe des Landes und zu seiner ethnisch/sprachlichen Heterogenität. Sie haben sich in den vergangenen Jahrzehnten bewährt. Im Hinblick auf die kommunale Ebene besteht allerdings intensiver Reformbedarf. Die Gemeinden verharren in finanzieller und politischer Ohnmacht, von einer kommunalen Selbstverwaltung kann kaum die Rede sein. Zu umfassend und direkt sind in die Einwirkungsmöglichkeiten der Provinzen. Die Debatte ist im Gange. Als Vorbilder könnten die skandinavischen Kommunalstaaten mit einer ähnlichen Siedlungsdichte und einer vergleichbaren politischen Kultur dienen. Falk Schäfer UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 Kompetenzen werden sämtlich von der Provinzebene ausgegeben und können von dieser Seite auch wieder eingeschränkt werden. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich kanadaweit die Grundsteuer zur typischen Kommunalsteuer entwickelt. Diese Einnahmen decken einen Großteil der kommunalen Budgets. Weitere Quellen sind direkte Subventionen der Provinzebene oder Nutzergebühren für die Erbringung von Leistungen. Ein wesentlicher Teil der Einnahmen entstammt dem kommunalen Finanzausgleich in den Provinzen. Allerdings agieren die Provinzen zunehmend zögerlicher bei der Ausgabe dieser Mittel. Die Föderation der kanadischen Gemeinden, die analog zu den kommunalen Spitzenverbänden in Deutschland die kommunale Ebene auf Bundes- und Provinzebene vertritt, identifiziert einen kommunalen Investitionsstau von 60 Milliarden Kanadischen Dollar und beklagt in diesem Zusammenhang die Ohnmacht der gemeindlichen Ebene. Vor diesem Hintergrund wird aktuell intensiv über eine Kommunalreform debattiert. So ist im Gespräch, den Kommunen einen Anteil an der Mineralölsteuer zu überlassen. Von Falk Schäfer n i infos www.canada.ca www.fcm.ca 65 Personalien / Bücher Personalien Ulf Heitmüller neuer Vorstandsvorsitzender bei VNG Ulf Heitmüller Seit Anfang Oktober ist Ulf Heitmüller Vorstandsvorsitzender der VNG – Verbundnetz Gas AG. Er wurde 1965 in Nienburg geboren. 1993 schloss er an der Leibniz Universität Hannover sein Studium der Elektrotechnik mit dem akademischen Grad eines Diplom-Ingenieurs ab. In den Jahren von 1994 bis 2010 hatte Ulf Heitmüller verschiedene Fach- und Führungspositionen in der deutschen und europäischen Gaswirtschaft inne – zuerst bei der BEB in Hannover, später für die Royal Dutch Shell, wo er zuletzt den Verkauf von Erdgas in NordwestEuropa verantwortete. Seit 2010 war er in geschäftsführenden und leitenden Funktionen für die EnBW Energie Baden-Württemberg AG tätig, zuletzt als Executive Director Trading & Supply. Heitmüller äußerte sich bei der Übernahme des Vorstandsmandats wie folgt: „Die VNG ist ein wichtiger Player in der Gaswirtschaft mit Kompetenz und Ausdauer. Gemeinsam mit den hochqualifizierten Mitarbeitern werden wir den Herausforderungen im Markt mit Veränderungsbereitschaft und Umsetzungsstärke begegnen“, sagte Heitmüller. Der neue VNG-Vorstandsvorsitzende ist davon überzeugt, dass Erdgas und die Gasinfrastruktur mit Blick auf das Gelingen der Energiewende eine entscheidende Rolle spielen werden. „Erdgas kann mit all seinen Vorzügen zu einer günstigen und effizienten CO2-Reduzierung beitragen. Der zukünftige Energiemix wird daher ein Mix aus Erneuerbaren Energien und Erdgas sein. Darüber hinaus sind unsere Netze und Speicher bestens dafür geeignet, Erneuerbare Energien zu speichern und zu transportieren. Das macht sie zur Kerninfrastruktur der Energiewende“, betonte Heitmüller. 66 Neuer Sprecher des „Forum Kommunalwirtschaft Thüringen“ Seit dem 23. November ist Jörg Reichl neuer Sprecher des „Forum Kommunalwirtschaft Thüringen“. Er tritt die Nachfolge von Willibald Böck an. Der Thüringer Innenminister a.D. hatte dieses Diskussionsforum maßgeblich mitbegründet und war am 2. August verstorben. UNTERNEHMERIN KOMMUNE erinnerte in der Septemberausgabe an den beliebten und über alle Lager hinweg geachteten Thüringer Politiker. Jörg Reichl wurde 1963 in der Hansestadt Greifswald geboren. Nach dem Abitur besuchte er bis 1987 eine Offiziershochschule der Nationalen Volksarmee (NVA), die er mit dem akademischen Grad eines DiplomÖkonomen abschloss. Danach diente er bis zum Rang eines Oberleutnants als Offizier der Rückwärtigen Dienste in der NVA und wurde mit diesem Rang 1990 in die Bundeswehr übernommen. Nach seinem Ausscheiden aus dem Militärdienst arbeitete er bis 1997 als selbstständiger Einzelhändler in Rudolstadt. Danach war er von 1997 bis 1999 Projektleiter bei der Handwerkskammer Ostthüringen zu Gera und von 1999 bis 2006 Marketingmitarbeiter bei der Volksbank Saaletal eG. Reichl lebt seit 1987 in Rudolstadt. Seine kommunalpolitische Laufbahn begann er 2004 als Mitglied des Stadtrates von Rudolstadt. 2006 wurde er zum Bürgermeister gewählt und 2012 mit klarer Mehrheit in diesem Amt bestätigt. Als Bürgermeister ist er Vorsitzender wichtiger Aufsichtsgremien. Im Bereich der Kommunalwirtschaft betrifft dies in erster Linie die Energieversorgung Rudolstadt GmbH (EVR) und die Rudolstädter Wohnungsverwaltungs- und Baugesellschaft mbH (RUWO) sowie die Rudolstädter Stadtentwicklungsgesellschaft mbH (SER) und die SAALEMAXX Freizeit- und Erlebnisbad Rudolstadt GmbH. Über die Grenzen seiner Kommune hinaus ist Reichl in weiteren kommunalen und kommunalwirtschaftlichen Gremien maßgeblich engagiert. So ist er Erster Stellvertreter der Präsidentin der Regionalen Planungsgemeinschaft Ostthüringen und dort Vorsitzender des Strukturausschusses. Er gehört zudem dem Vorstand der Landesgruppe Thüringen des Verbands kommunaler Unternehmen an. Er ist Mitglied der kommunalen Beiräte der TEAG und der Thüga AG. Neben seinem Amt als Bürgermeister ist er Mitglied des Kreistages Saalfeld-Rudolstadt und führt dort als Fraktionsvorsitzender die Fraktion Bürger für den Landkreis SaalfeldRudolstadt. Jörg Reichl ist parteilos. Bei der Amtsübernahme als Sprecher des „Forum Kommunalwirtschaft Thüringen“ am 23. November in Nordhausen sagte Jörg Reichl unter anderem: „Unser Forum ist mit seiner ersten Veranstaltung am 25. November 2011 in Erfurt gestartet. Fast auf den Tag genau feiern wir heute also das fünfjährige Jubiläum. Für eine Veranstaltungsreihe ist das in der heutigen so schnelllebigen Zeit bereits ein durchaus stattliches Alter. Seit 2011 gab es zehn Treffen unter Leitung von Willibald Böck. Dass unser Diskussionskreis zu kommunalwirtschaftlichen Fragen ein solcher Erfolg wurde, ist maßgeblich dessen Verdienst. Er hatte die Fähigkeit, Brücken zu bauen und Ideologie aus allen Debatten herauszuhalten. Für mich ist dies der wichtigste Grund dafür, dass sich zweimal im Jahr ein stets hochkarätiger Teilnehmerkreis zum bewusst informellen Diskurs Jörg Reichl trifft. Genau dies will ich fortsetzen. Die, die mich kennen, wissen, dass mein Verständnis von kultiviertem Austausch dem von Willibald Böck sehr ähnlich ist. Mein Bürgermeisteramt und viele andere Funktionen nehme ich genau mit dieser Haltung wahr. Ich habe mich ganz bewusst dafür entschieden, mich nicht parteipolitisch zu engagieren. Das ist für ein parteiübergreifendes Verständnis nützlich, aber keinesfalls Voraussetzung. Das CDU-Mitglied Willibald Böck hat das immer sehr eindrucksvoll gezeigt.“ Reichl sagte weiter, dass er an den wesentlichen Eckpunkten im Konzept von „Forum Kommunalwirtschaft Thüringen“ festhalten werde, wobei er sich noch stärker auf den Erfahrungsaustausch zu kommunalwirtschaftlichen Fragen konzentrieren wolle. UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 INSPIRATIONEN/INFORMATIONEN Personalien / Bücher Deren Leiterin, Marion Hecker-Voß, zugleich auch Chefin der Landesbibliothek in der Stiftung Zentral und Landesbibliothek, und Marion Nockert, stellvertretende Referatsleiterin, haben für das Dezember-Heft folgende Auswahl getroffen. Bücher In dieser Rubrik stellen wir Ihnen seit Juni 2015 Publikationen zu kommunalen Themen vor, die neu auf dem Markt sind, und die wir Ihnen aus inhaltlich-thematischen Gründen ganz besonders an Herz legen wollen. „Aufgespürt“ werden diese Titel von der Senatsbibliothek Berlin, die sich als einzige Spezialeinrichtung deutschlandweit auf kommunale Themen spezialisiert hat. Kommunalwissenschaft aktuell: Dzudzek, Iris: Kreativpolitik: über die Machteffekte einer neuen Regierungsform des Städtischen. Bielefeld: transcript, 2016 ISBN 978-3-8376-3405-1 Senatsbibliothek: Kws 740/213 Die »kreative Stadt« ist in den vergangenen Jahren zu einer global zirkulierenden mobile policy geworden, deren Programme und Strategien auch in Deutschland von vielen Städten begeistert aufgenommen wurden. Inwiefern trägt dieses Politikmodell zur Restrukturierung von Stadtpolitik und lokaler Staatlichkeit bei? Wie verändert es sich im Zuge seiner Artikulation und Implementierung auf städtischer Ebene? Führt es zum Ausverkauf demokratischer Teilhabe in der Stadt? Welche Formen des Widerstandes und des Unvernehmens lassen sich beobachten? Theoretisch versiert und empirisch fundiert untersucht Iris Dzudzek am Beispiel der Stadt Frankfurt am Main die lokale Artikulation und Aushandlung globaler Prozesse. Findeisen, Jens; Trommer, Friederike: Kommunale Finanzwirtschaft (Doppik). Wiesbaden: Kommunal- und Schul-Verlag, 2016 ISBN 978-3-8293-1243-1 Senatsbibliothek: Kws 704/987 Die Neunte Auflage des Lehrbriefs basiert auf dem Rechtsstand des Jahres 2013, wobei in der überarbeiteten Auflage auch ausgewählte spätere Änderungen im Rechtsrahmen berücksichtigt wurden. Der Lehrbrief ist damit eine sehr gute Hilfestellung für die Vor- und Nachbereitung des Unterrichts in den Aus- und Fortbildungsberufen im Verwaltungsbereich sowie für das Studium an der Fachhochschule i infos der Sächsischen Verwaltung Meißen. Er soll aber auch eine Grundlage für Mitarbeiter in den kommunalen Verwaltungen sein, die sich erstmalig oder vertiefend mit Fragen des kommunalen Haushaltsrechts befassen wollen. Für diesen Zweck werden die Grundlagen des kommunalen Haushaltsrechts von den Autoren in einer einfach verständlichen Systematik und anhand vieler Beispiele und Muster dargestellt. Ergänzt wird der Lehrbrief durch zahlreiche Übungsfragen und -aufgaben. Die Autoren sind bereits seit vielen Jahren in der Aus- und Fortbildung, der Beratung der Kommunen und in verschiedenen Veröffentlichungen mit den Fragen des kommunalen Haushaltsrechts befasst und bringen ihre umfassenden Erfahrungen in den Lehrbrief ein. Zimmermann, Horst: Kommunalfinanzen: eine Einführung in die finanzwissenschaftliche Analyse der kommunalen Finanzwirtschaft. Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag, 2016 ISBN 978-3-8305-3697-0 Senatsbibliothek: Kws 704/9a Die Einführung erläutert verständlich und unter Einbeziehung zahlreicher Praxisbeispiele, - welche Aufgaben die kommunale Ebene aus Sicht des Ökonomen erfüllen soll, - welche Einnahmen (insbesondere Steuern) hierfür geeignet sind, - wie ein Finanzausgleich unter den Kommunen aussehen kann und - welche Regeln bei der Gestaltung des kommunalen Haushalts grundsätzlich zu beachten sind, und sie erfüllt so die Anforderungen an eine auf die deutschen Gegebenheiten zugeschnittene Darstellung aus finanzwissenschaftlicher Perspektive. Das Buch verschafft damit Entscheidungsträgern in Kommunalverwaltungen und Kommunalparlamenten, Mitarbeitern von Kammern und Verbänden, Referenten in Ministerien sowie Studierenden der Wirtschafts-, UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 Senatsbibliothek Berlin in der Stiftung Zentral- und Landesbibliothek Berlin, Breite Straße 30-36, 10178 Berlin www.senatsbibliothek.de Rechts- und Verwaltungswissenschaften einen einzigartigen Zugang zu den spezifischen Problemen der kommunalen Finanzen. In der neuen Auflage wurden Neuerungen aus Forschung und Finanzpolitik aufgenommen. Das betrifft beispielsweise den sog. Zoo-Effekt, die Folgen des demografischen Wandels für die Kommunalfinanzen oder auch die genauere Analyse der Grundsteuer. Des Weiteren werden die Folgen für die Kommunalverschuldung aus der Niedrigzinsphase, dem Schuldendeckel sowie landesspezifischen Entschuldungsprogrammen erläutert. Dickertmann, Dietrich; Strohe, Hans Gerhard: Umfang und Messung der öffentlichen Wirtschaft. Baden-Baden: Nomos, 2016 ISBN 978-3-8487-2681-3 Senatsbibliothek: Kws 580/24 Die staatliche Wirtschaft umfasst mehr als die Summe der öffentlichen Haushalte. Während diese einfach zu definieren und mit Einnahmen und Ausgaben statistisch gut belegt sind, bleibt die öffentliche Wirtschaft meist im Verborgenen: Öffentliche Fonds und Unternehmen, das „System“ der öffentlichen Kreditwirtschaft, die Zusatzversorgungskassen der Gebietskörperschaften, das „System“ der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten und das „System“ der öffentlichen Stiftungen schaffen Interventionspotentiale, die teilweise zwar der Daseinsvorsorge dienen, von politischen Akteuren aber gerne auch zur Manipulation öffentlicher Haushalte (z.B. durch die Auslagerung von Vermögenswerten) bzw. als Machtinstrumente (z.B. zur Disposition ohne direkte parlamentarische Mitsprache) genutzt werden. Deswegen ist hier eine erhöhte Transparenz durch die Messung und die Bestimmung des Umfangs derartiger Aktivitäten sowie durch eine verbesserte Datenbereitstellung dringend geboten. (Verlag) 67 Personalien / Bücher Teure Bücherwürmer, verehrte Leseratten, das Fazit jeder Rezension sollte eine Leseempfehlung sein. Sie können unter jeder Buchbesprechung mit einem Blick feststellen, ob sich der Weg zur nächsten Buchhandlung oder der Klick bei amazon.de lohnt. Und was die Symbolik – vom Fünf-Sterne-Gütesiegel bis zur Blauen Tonne – bedeutet, verrät Ihnen die folgende Legende: Labsal für Grips und Seele. Man wird deutlich schlauer. Ganz nützlich, aber es reicht, auf‘s Taschenbuch zu warten. Unschädlich, und hier und da erbaulich. Bevor man Anne Will schaut... Segensreich – aber nur für die Recyclingwirtschaft! die Blüte edelster Kultur nicht emporzusprießen vermag; über die Tragik eines Schicksals, das das aus einer wendischen Fischersiedlung zur mächtigen Millionenstadt und Reichshauptstadt emporgewachsene Berlin dazu verdammt: immerfort zu werden und niemals zu sein.“ Der dies schreibt, ist Karl Scheffler. Es ist der letzte Absatz seines 2010 erschienenen Buches „Ein Stadtschicksal“. Ich kannte bis dato weder Scheffler (Er lebte von 1869 bis 1951, war Kunstkritiker und Publizist und ab 1907 Herausgeber Karl Scheffler Und nun zu den Rezensionen und Kurzvorstellungen: Ein Stadtschicksal „Berlin aber will Liebe auch gar nicht von seinen Bewohnern. Ist der Geist dieser Stadt nicht im tiefsten national, so ist er doch nicht sentimental. Wie mit einem Witzwort der Selbstironie hilft sich dieses hart determinierte Stadtindividuum über die verborgene Tragik seines Daseins hinweg. Über die Tragik eines Schicksals, das überall dort zutage tritt, wo in einem allzu harten und allzu rastlosen Erhaltungskampf die höheren Gefühlskräfte und die Fähigkeit zum Glück verkümmern, so daß nur die profane Tüchtigkeit bleibt, woraus 68 ein Stadtschicksal Herausgegeben und mit einem Vorwort von Florian Illies Suhrkamp der einflussreichen Zeitschrift „Kunst und Künstler“, bis diese 1933 von den Nationalsozialisten verboten wurde.) noch sein Buch. Dass ich es jetzt lesen und hier vorstellen darf, verdanke ich dem Suhrkamp Verlag. Dort gibt es Lektoren, die auch nach hinten schauen. Das ist mitnichten etwas Gestriges. Darüber hat erst kürzlich – ich habe es hier vorgestellt – Peter Sloterdijk geschrieben. In „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit. Über das anti-genealogische Experiment der Moderne“, ebenfalls bei Suhrkamp erschienen, hat er notiert, dass eine Generation wie die aktuelle, die weniger als die Hälfte dessen bewahrt, was uns unsere Väter und Vorväter übergeben haben, der intellektuellen und kulturellen Deformation anheimfällt. Für die Welt der Bücher kann dies gut mit folgendem Beispiel belegt werden. Fragen Sie doch einfach einen Abiturienten nach allen deutschen Literaturnobelpreisträgern – die meisten können nicht einen einzigen nennen. Es ist also verdienstvoll, wenn die Schätze der Vergangenheit immer wieder auf ’s Neue gehoben werden. Beim Berliner Stadtporträt aus der Feder Karl Schefflers handelt es sich – so lautet mein Urteil nach der Lektüre – unzweifelhaft um einen solchen. Ich teile das Schicksal dieser Stadt seit 1970. Dass sich von 1990 bis 2014 mein Lebensmittelpunkt unmittelbar an den Stadtrand, aber schon auf Brandenburger Seite, verlagerte, hat an meinem Status als „Rucksackberliner“ kaum etwas geändert. Nun lebe ich schon wieder zwei Jahre in Schöneberg, schaue beim Schreiben dieses Textes auf den Wittenbergplatz, und bin dem Scheffler sehr, sehr dankbar, dass er mir geholfen hat, dieses Berlin nunmehr besser zu verstehen. Jetzt weiß ich zumindest, dass die Stadt für mich auch fürderhin unergründbar, rätselhaft, dunkel und mysteriös bleiben wird, und dass ich daran substantiell auch nichts ändern kann. Meine Beziehung zu Berlin ist am treffendsten mit dem Begriff der Hassliebe umschrieben. Und jeder, der einen solchen Beziehungsstatus schon einmal erlebt hat, weiß, dass diese Ambivalenz bezogen auf Berlin vermutlich etwas Ewiges hat. Ich kapiere nicht, warum sich Jahr für Jahr immer mehr Menschen aus der ganzen Welt auf den Weg machen in eine Stadt, die sich mit ihrer Bausubstanz hinter vielen europäischen Metropolen eigentlich verstecken muss, die an vielen Stellen schmutziger ist als erlaubt und die ihren Bürgern eine Verwaltung zumutet, die am besten daran täte, endlich einmal gar nicht, anstatt nur schlecht zu funktionieren. Aber wenn ich der Stadt im Urlaub für längere Zeit den Rücken gekehrt habe, zieht es mich mit Macht zurück: ich genieße voller Inbrunst meine Berliner Stammkneipe, das „Metzer Eck“ im Prenzlauer Berg, dort, wo noch Berliner in der Mehrheit sind, und nicht die Schwaben, oder genieße es, beim Gang in UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 INSPIRATIONEN/INFORMATIONEN Personalien / Bücher mein geliebtes „Deutsches Theater“ mit ein paar wenigen Schritten hinter dem S-Bahnhof Friedrichstraße das Moloch Berlin hinter mir zulassen und in das Refugium von Schumannund Reinhardtstraße einzutauchen. Schön ist, dass uns Scheffler viele Argumente dafür gibt, warum wir Berlin lieben und hassen: aus der Geschichte der Stadt, aus ihren Bauten, aus der Rolle der Künste, um nur einige der Ebenen zu nennen, die der Autor unter die Lupe genommen hat. Sein Buch ist weder ein Roman, noch ein Sachbuch. Ich würde es einen langen Essay nennen. Dieses Genre kann man kaum in Gestalt eines Inhaltsverzeichnisses auf den berühmten Punkt bringen. Es bleibt Ihnen also nur, das Buch zu lesen. Überblättern Sie dabei um Himmels willen nicht das Vorwort von Florian Illies. Er hat Recht, man muss es zweimal lesen. Vor und nach der Lektüre von Karl Scheffler. Ich bin mir sicher, dass Ihnen die folgende Kostprobe aus den Anmerkungen von Florian Illies Appetit macht: „Liest man Karl Schefflers hasserfüllte Liebenserklärung an Berlin aus dem Jahr 1910, dann versteht man, dass Berlin nie zu sich selbst finden kann, weil – wie in einer griechischen Tragödie – das Leiden dieser Stadt die Bedingung ihrer Existenz ist. Wenn also Berlin, um in der Mythologie zu bleiben, das uneheliche Kind eines griechischen Gottes mit einem Menschen ist, dann ist der Vater wahrscheinlich Dionysos und die Mutter Personalratsvorsitzende in einem Westberliner Einwohnermeldeamt.“ Rezensent: Michael Schäfer Bewertung: ***** i infos Karl Scheffler: Ein Stadtschicksal Suhrkamp, Berlin 1. Auflage 2015 ISBN 978-3-518-42511-4 www.suhrkamp.de Die Kultur der Stadt Dieses Buch aus der Feder von Walter Siebel, er ist eremitierter Professor für Soziologie an der Universität Oldenburg, las ich nach dem gerade vorgestellten Berlin-Porträt von Karl Scheffler. Das, was ich vermutet habe, als ich mir vornahm, beide Titel im vorliegenden Heft vorzustellen, hat sich bewahrheitet: Genau das, was Scheffler für Berlin aus der Perspektive des beginnenden 20. Jahrhunderts zu Papier gebracht hat, findet man an vielen Stellen bei Walter Siebel wieder. Seine Kernthese lautet, dass es die Kultur sei – also nicht politische und ökonomische Strukturen – die die Stadt vom Land unterscheide. Siebel skizziert in seinem Buch die Geschichte der Stadt von der griechischen Polis bis zur Jetztzeit und hält die kulturelle Komponente über diesen langen Zeitlauf für das prägende Element im Verständnis von Urbanität. Heute werde die urbane Lebensweise durch zwei weitere Komponenten charakterisiert: die Entlastung von notwendigen Arbeiten und die ständige Begegnung mit Fremden. In seiner historisch und theoretisch umfassenden Monographie entwirft Siebel ein detailliertes Bild dieser Kultur der Stadt, zeichnet ihre ambivalenten Entwicklungen nach und begründet daraus die Renaissance der Stadt und deren kulturelle Produktivität. Sieber bezieht sich mit dieser Einschätzung ausdrücklich auf die heutigen europäischen Städte, die mit „den Megacitys der Schwellenund Entwicklungsländer kaum etwas gemein“ hätten (S. 13). Sieber versteht diese Renaissance nicht als Wiedererstehen jener europäischen Stadt, die ihr Urbild in den freien Reichsstädten hatte. So wie die griechische Polis seien auch diese privilegierten Metropolen des Mittelalters nicht einfach in die Jetztzeit und erst recht nicht in die Zukunft quasi zu reproduzieren. „Bis ins 20. Jahrhundert“, so schreibt Siebert, „war die europäische Stadt des Bürgertums charakterisiert durch das Institut der kommunalen Selbstverwaltung und die Polarität von Öffentlichkeit und Privatheit“ (S. 12). Im ersten Teil seines Buches begründet Siebel, dass beide Merkmale ihre gesellschaftliche Basis verlieren. Im zweiten Teil stellt er die Urbanisierung als Prozess dar, in dessen Verlauf sich die Stadt zu einer Maschine entwickelt hat, die den Städter von Arbeit und Verpflichtungen befreit. „Die Leistungen der modernen Stadtmaschine und die immer engere Verflechtung von Arbeit und Leben eröffnen die Möglichkeit einer selbstbestimmten Einheit des Alltags“, fasst Siebel zusammen (S. 13). Diese Reurbanisierung werde unterstützt durch ein zunehmend innigeres Zusammenspiel von Stadtkultur, Stadtökonomie und Stadtpolitik. Mit dieser Entwicklung befasst sich der dritte Teil des Buches. Darauffolgend (Teil 4) zeigt Siebel, dass die ständige Anwesenheit von Fremden der Stadt zu ihrer besonderen und wachsenden kulturellen Produktivität verhilft. Im fünften und letzten Teil legt der Autor Überlegungen zur Planbarkeit von Urbanität dar. Mit besonderem Interesse habe ich jene Überlegungen von Siebel zur Kenntnis UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 genommen, die sich mit der Aushöhlung der kommunalen Selbstverwaltung und damit dem Ende der europäischen Stadt als politisches Subjekt befassen. Siebel schlägt zunächst den Bogen vom Verfall der freien Reichsstädte in Deutschland bis zur Wiederbelebung dieser Selbstverwaltung durch die Stein-Hardenberg-Reformen (Städteordnung aus dem Jahr 1808). Walter Siebel Die Kultur der Stadt edition suhrkamp SV Dieses Grundprinzip wurde im Artikel 28 unseres Grundgesetzes bekräftigt. Allerdings äußert Siebel umfassende Zweifel daran, ob dieser Begriff angesichts der Realitäten noch gerechtfertigt sei. „Mitwirkung“, so Siebel, „ergibt nur Sinn, wenn das Stadtregiment über relevante Handlungsspielräume verfügt“ (S. 47) und fragt, „ob angesichts der rechtlichen, finanziellen und politischen Aushöhlung der Handlungsspielräume der Städte überhaupt noch von kommunaler Selbstverwaltung die Rede sein kann“ (S. 48). Siebel skizziert diese Entwicklung anhand der Struktur der kommunalen Finanzausgaben und nennt unter anderem den Fakt, dass die exorbitante Erhöhung der Sozialleistungen einher gehe mit einem Einbruch bei den Investitionen. Laut Siebel wandele sich die Stadt vom politischen Subjekt zum Objekt überlokal determinierter Prozesse und Politiken und das Rathaus degeneriere zu einer Ortsbehörde (S. 51). Dieses Dilemma pointiert er eindrucksvoll mit folgendem Satz: „Auf kommunaler Ebene geschieht immer mehr, aber die kommunale Politik hat immer weniger Einfluss darauf“ (S. 52). 69 Personalien / Bücher In diesen Bestandsaufnahmen bin ich mit Siebel sehr einig. Die Leser dieser Zeilen kennen meine wissenschaftlichen und politischen Auffassungen zu diesem Thema, und wer neu unter den Rezipienten ist, kann sie gerafft im Prolog am Anfang dieses Heftes nachlesen. Was mich aber an Siebels Befunden stört, ist die Tatsache, dass er sie so darlegt, als ob die dargestellten Entwicklungen wie ein Naturereignis und mithin unabwendbar auf uns herniedergehen. Das sehe ich grundsätzlich anders. Die katastrophale Entmündigung der deutschen Kommunen ist doch bitte schön von Menschen gemacht. Sie ist Ausdruck einer unerträglichen Arroganz großer Teile der politischen Klasse, die in den Etagen oberhalb der Städte das Sagen hat. Semantische Spiegelung dieser arroganzgeprägten Entmündigung ist der unerträgliche Begriff „Kommunalaufsicht“. Wenn die Bürger in den Städten tatsächlich noch mitbestimmen könnten, dann wäre unsere Gesellschaft eine andere, vor allem eine menschlichere. Demokratie, das hat Siebel mit den Beispielen Polis und freie Reichsstädte gezeigt, ist doch eine Bewegung von unten, und wenn dieses Prinzip auf den Kopf gestellt wird, dann gerät unser demokratisches System ins Wanken. Das, was qua politischem Handeln falsch läuft, kann in unserem Gemeinwesen gottlob in die richtige Spur gebracht werden. Ich hoffe, dass sich in den Kommunen eine Bewegung formiert, die diesen Kurswechsel vornimmt. Manches Beispiel konstruktiver Bürgerbeteiligung (ich meine also ausdrücklich nicht solche „Initiativen“, bei denen einige Wenige ihre Minderheitsinteressen in der unseligen Mixtur aus Populismus und Demagogie leider oft sogar erfolgreich durchsetzen) kann da Mut machen. Auch der Blick über den Gartenzaun ist hilfreich. Walter Siebel hat seinen Lebensmittelpunkt im deutschen Norden. Dänemark und Schweden liegen vor der Haustür und nachweislich in Europa. Dort kann der Oldenburger Soziologe besichtigen, dass kommunale Selbstverwaltung sogar gestärkt wird. Ein Ergebnis besteht darin, dass das Gros der Bürger auch an kommunalen Wahlen teilnimmt. Rezensent: Michael Schäfer Bewertung: **** i infos 70 Walter Siebel: Die Kultur der Stadt Suhrkamp, Berlin 2. Auflage 2016 ISBN 978-8487-2681-3 www.suhrkamp.de Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung Judith Butler, geboren 1956, ist Professorin für Komparatistik und kritische Theorie an der Universität of California in Berkeley. Ich gebe zu, dass ich den Begriff Komparatistik nicht kannte. Der Wortstamm war mir schon geläufig, aber dass es um Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft geht, habe ich erst bei Wikipedia gefunden. Judith Butler Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung Suhrkamp Ich bin auf das Buch der Theodor-W.Adorno-Preisträgerin der Stadt Frankfurt am Main, verliehen im Jahr 2012, durch eine der guten Literatursendungen von Deutschlandfunk/Deutschlandradio Kultur aufmerksam geworden. Da sich die Autorin wissenschaftlich mit dem Phänomen „großer Menschenmengen“ befasst, die sich zur politischen Meinungsbildung formieren, schien mir der Gegenstand für meine kommunalen Leser interessant. Gewiss, die Zeit gewaltiger Demonstrationen scheint jedenfalls in Deutschland vorbei zu sein. Dass am 10. Juni 1982 500 000 Menschen in Bonn auf die Straße gingen, um gegen den NATO-Doppelbeschluss zu demonstrieren, ist Geschichte. Noch etwas gegenwärtiger – obwohl auch im vergangenen Jahrhundert passiert – sind die „Leipziger Montagsdemos“, mit denen Hunderttausende die SED-Herrschaft ins Wanken und schließlich zum Verschwinden brachten. Am 4. November waren auf dem Berliner Alexanderplatz gar eine Million Menschen versammelt, die „wir sind das Volk“ skandierten und damals noch mehrheitlich für einen demokratischen, einen menschlichen Sozialismus standen. An diesen Zahlen lassen sich die Dimensionen jener „Veranstaltungen“ einer Bewegung namens „Pegida“, die die politischen und intellektuellen Eliten unseres Landes ab 2014 in Unruhe versetzte, nicht einmal ansatzweise messen. Aber sind es die Zahlen, an denen wir bewerten dürfen, ob Meinungsäußerungen repräsentativ sind? Und werden sie dadurch, dass sie groß, mehrheitlich, repräsentativ und auch demokratisch? Dazu Judith Butler: „Zu sagen, eine demokratische Bewegung sei eine, die sich als solche bezeichnet, ist natürlich verlockend, doch es bedeutet, die Demokratie aufzugeben. Zwar gehört Selbstbestimmung zur Demokratie dazu, daraus folgt jedoch nicht automatisch, dass jede Gruppe, die sich selbst als repräsentativ definiert, rechtmäßig von sich behaupten kann „das Volk“ zu sein“ (S. 10). In unserer modernen Gesellschaft beobachten wir eine zunehmende Tendenz zur Inszenierung inklusive der Selbstinszenierung.Vor diesem Hintergrund wird es immer wichtiger, dass demokratische, vor allem aber auch radikaldemokratische Politik mit größtmöglicher Objektivität die Frage beantworten muss, wer das Volk tatsächlich auch repräsentiert. Das ist die zentrale Aufgabe und das ist auch die Intention des Buches, und es ist auch das wichtigste Kriterium dafür, ob eine politische Bewegung überhaupt die Legimitation und das Mandat hat, sich als Vertreter der Interessen des Volkes zu verstehen. Judith Butler setzt sich mit diesem Gegenstand oft sehr akademisch, zum Teil auch sehr abstrakt auseinander. Wer von der Autorin eine Art Kriterienkatalog erwartet, mit dessen Anwendung zum Beispiel legitime und illegitime Meinungsäußerungen qua demonstrativer Formierung unterschieden werden können, wird nach der Lektüre des Buches enttäuscht sein. Ein solches Bewertungsinstrument kann es wohl auch nicht geben. Es wird dabei bleiben, jeden konkreten Fall unter die Lupe nehmen zu müssen. Das ist mühevoll, aber es ist die Lebensrealität. Es gibt dafür aber zumindest eine Art übergreifendes Prinzip, das Butler so formuliert: „Eine gesellschaftliche Bewegung ist auch eine Sozialform, und wenn sie eine neue Lebensweise, eine lebenswertere Form des Lebens fordert, muss sie dabei selbst den Grundsätzen folgen, die sie verwirklichen will“ (S. 278). Das ist die vorletzte Seite ihres Buches, und UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 INSPIRATIONEN/INFORMATIONEN Personalien / Bücher ich habe mich nach der Lektüre schon gefragt, warum es derart langer, und oft komplizierter Herleitungen bedarf, um zu diesem Fazit zu kommen. Rezensent: Michael Schäfer Bewertung: *** i infos Judith Butler: Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung Suhrkamp, Berlin 1. Auflage 2016 ISBN 978-3-518-58696-9 www.suhrkamp.de „Erholung“ vom Sachbuch. Der etwas andere Titel zum Schluss: Aufbau Literatur Kalender 2017 Von 1990 bis 2014 habe ich im Brandenburgischen Panketal gewohnt, 50 Meter hinter der Berliner Stadtgrenze. Die Hauptstadt begann dort mit dem Ortsteil Buch, und wie der Name schon sagt, konnte es gar nicht anders sein, dass in dieser zu Pankow gehörenden Siedlung meine Lieblingsbuchhandlung beheimatet war. Ihr Name: „Buchladen in Buch“. Das Motto: „Was ich schon immer lesen wollte, und doch wieder verschenke“. Nur Bibliophile, die diesen Wahlspruch konsequent umsetzen, ermöglichen im digitalen Zeitalter die Fortexistenz deutscher Buchhändler. Ich reihe mich da ein. Es war mir immer eine fast diebische Freude, dem Inhaber, Michael Kowarsch, die Notizen zu überreichen, die ich mir im größten „Laden“ dieser Art (Insider wissen welche Einrichtung in der Mitte der Bundeshauptstadt ich meine) gemacht hatte. Dort holte ich mir beim Stöbern in den wirklich gewaltigen Bücherbergen Appetit. „Gegessen“ wurde aber stets und ständig im Berliner Norden. Dort lag natürlich, und immer rechtzeitig ab Oktober, der Aufbau Literatur Kalender aus. Mit dem Herausgeberverlag wurde eine Ossi-Leseratte wie ich gleichsam sozialisiert. Und in diesem Prozess war eine Begegnung mit dem Literatur Kalender aus dem Hause Aufbau unvermeidlich. Diese Edition hat 50. Geburtstag. Ich war 14 als der Almanach, der mit Prosa und Lyrik nationaler und internationaler Autoren dem Jahr eine literarische Struktur gab, zum ersten Mal erschien. Dass ich ihn erst – obwohl viele Titel von Aufbau, die zu DDR-Zeiten erschienen sind, in meinem Bücherschrank stehen – nach der Wende zum ersten Mal zur Kenntnis nehmen durfte, hat definitiv etwas damit zu tun, dass Kalender im realen Sozialismus ausnahmslos zur Kategorie „Bück-Dich-Ware“ gehörten. Diesen Terminus verstehen eigentlich nur Ossis: die begehrten Güter lagen eben nicht auf, sondern in kleinsten Mengen unter dem Ladentisch. Der Verkäufer musste sich also bücken, um sie hervorzuzaubern. Das geschah vornehmlich auf konspirative Weise. Der Laden musste möglichst leer sein, um nicht Begehrlichkeiten zu wecken, die schlichtweg aus Mangel an Produkten nicht erfüllbar waren. Da ich den Literatur-Kalender nicht kannte, habe ich folglich auch nicht danach verlangt. Den folgenden Kalauer kennt jeder ostdeutsche Fischverkäufer: „Aal soll in der DDR knapp gewesen sein? Das kann ich nicht bestätigen. In meinem Landen hat nie einer danach gefragt!“ Späte Lieben sind oft besonders innig. Das gilt komplett für meine Liaison mit dem Aufbau Literatur Kalender. Da ich die ersten Jahre meiner „Braut“ nicht aus eigener Erfahrung kenne, darf ich ausnahmsweise aus dem kleinen Text auf Seite 1 der diesjährigen Jubiläumsausgabe zitieren: „Vor 50 Jahren erschien der erste Literaturkalenders des Aufbau-Verlags, herausgegeben von Jürgen Jahn und gestaltet von Rudolf Grüttner. 21 Jahre lang zierte das Titelblatt die Initiale „L“ in immer neuen Formen. Kurz nach der Wende traten Fotos von Lesenden, dann Collagen und schließlich Porträts berühmter Autorinnen und Autoren an die Stelle der Initiale, die Schrift wurde immer wieder modernisiert, doch inhaltlich blieb sich der Kalender treu. 2005 wurde die bis heute UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 bestehende Struktur der Wochenblätter eingeführt: Eine Kombination aus Autorenbild, einem Zitat aus dessen Munde und einer biografischen Notiz. Seine immer neue Frische aber bezieht der Aufbau Literatur Kalender aus der Literaturbegeisterung all jener, die an seiner Entstehung mitwirken. Vor allem ihnen sei an dieser Stelle gedankt, ebenso wie den Lesern, die ihm zum Teil seit 50 Jahren die Treue halten.“ Unter diesem schönen Text steht sehr bescheiden „Ihre KalendermacherInnen“. Die letzte Textseite nennt ihre Namen. Es sind 22, und Andrea Doberenz, von ihr bekomme ich immer das Rezensionsexemplar, ist als Aufbau-Pressechefin – das habe ich mit Freude registriert – auch dabei. An dieser Stelle sei erwähnt, dass der Aufbau Literatur Kalender der mit Abstand „dienstälteste“ in diesem Genre in Deutschland ist. Die „Frankfurter Allgemeine“ attestiert: „Ein Standardwerk seiner Zunft“. Wahrlich: ein Ritterschlag. Das zeigt natürlich auch die Ausgabe 2017. Sie ist eine wunderbare Mischung aus neuen und alten (manche sehr zu Unrecht vergessen) Literaten. In der 32. Woche, die geht vom 7. bis zum 13. August, ist das Blatt Alfred Döblin gewidmet. Die neue Inszenierung von „Berlin Alexanderplatz“ (der gleichnamige Roman erschien übrigens 1929 und war ein Riesenerfolg) im „Deutschen Theater“ habe ich gerade gesehen. Was ich aber nicht wusste – und insofern ist wirklich jedes neue Kalenderblatt auch ein Wissensgewinn – ist, dass Döblin für dieses Buch als der deutsche Kandidat für den Nobelpreis der heiße Favorit war. Bekommen hat ihn aber Thomas Mann für die 30 Jahre zurückliegenden „Buddenbrocks“. Vor zwei Jahren bin ich aus Panketal ins Berliner Schöneberg gezogen. Das war auch ein sehr trauriger Abschied von meinem „Buchladen in Buch“. Ich habe aber nur fünf Minuten von meiner neuen Wohnung entfernt wieder eine ganz rührige Buchhändlerin gefunden. Die stammt, man hört’s – aus Baden-Württemberg – und teilt meine Begeisterung für den Aufbau Literatur Kalender. Natürlich liegt die Jubiläumsausgabe deshalb ganz prominent in ihrem Schaufenster. Und ist damit auch nachweislich, denn Schöneberg ist nun ein sehr überzeugter Teil des „alten“ Westberlin, eine Gesamt-Berliner und mithin – wir sind schließlich die Bundeshauptstadt – auch eine gesamtdeutsche Institution. Das hat er mehr als verdient. Wir stoßen an auf die nächsten 50 Jahre. Natürlich mit Rotkäppchen-Sekt. Der ist wie der Kalender ein echter „Ossi“, und hat es zur unangefochtenen Nummer Eins unter den deutschen 71 Personalien / Bücher Sektkellereien gebracht. Schon wegen dieser Analogie bin ich sicher, dass der Aufbau Literatur Kalender nicht nur süddeutsch in der Schöneberger Kleiststraße bei der Büchergilde Gutenberg präsentiert wird. Er liegt auch im Ländle in allen Buchhandlungen. Sie können ihn also überall kaufen. Nein, Sie müssen es. Rezensent: Michael Schäfer Bewertung: ***** i infos Aufbau Literatur Kalender 2017 Aufbau Verlag GmbH & Co. KG Berlin 2016 ISBN 978-3-351-03623-2 www.aufbau-verlag.de zur Kenntnis nehmen. Wenn es vergriffen gewesen wäre, dann hätten wir ja eine Petition direkt aus Calw an Suhrkamp geschrieben. Aber das Buch war lieferbar. Das hatten wir – Google sei Dank – schon an Ort und Stelle herausgefunden. Also haben wir es gleich zweimal bestellt. Natürlich bei unserer bereits in der vorangegangen Vorstellung des Aufbau Literatur Kalenders erwähnten Buchhändlerin in der Kleiststraße in Berlin-Schöneberg. Sie heißt Johanna Binger und stammt wie Hesse – das wissen Sie schon aus meinen Zeilen zum Kalender – aus dem „Ländle“. Ist es nicht Hermann Hesse Vom Wert des Alters Vom Wert des Alters Unsere Hochzeitstage feiern wir immer „auswärts“. Die Ehepartner wechseln sich bei der Wahl der Reiseziele ab. In diesem Jahr war ich dran. Wir machten Station in Calw. Diese Wahl war ein Volltreffer, denn für meine Frau und mich ist Hermann Hesse der Lieblingsdichter. Viele andere aus der schreibenden Zunft mögen wir fast ebenso. Aber Nummer eins ist Nummer eins. Natürlich waren wir in Hesses Geburtshaus, und wir waren begeistert von der sehr authentischen und zurückhaltend-schlichten Ausstellung über Werk und Leben im Hermann-Hesse-Museum. Das war die erste Reise nach Calw, und es gab das nachvollziehbare Bedürfnis, etwas mitzunehmen, das uns an diese Tage erinnert. Seine Bücher stehen alle in unserem Bücherschrank. Im selben Regal auch viele Bücher über ihn. Wir waren deshalb froh als wir an der Kasse auf einen Flyer stießen, der auf eine Suhrkamp-Edition hinwies, die wir noch nicht kannten: Hermann Hesse: Vom Wert des Alters. Der Flyer zeigte einige Fotos, die wir schon im Museum mit ziemlicher Bewegung betrachtet hatten. Bildautor: Martin Hesse, jüngster Sohn des Dichters und ein als „Poet der Kamera“ gerühmter Berufsfotograf. „Ja, mit EC-Karte können Sie bei uns bezahlen. Aber wir haben das Buch nicht vorrätig“, sagte uns eine Hesse-Verehrerin, die ihre Zuneigung zum Beruf gemacht hatte. Nicht nur an der Kasse, sondern auch als kundige Erklärerin. Dass die aus Belgrad stammende Serbin zur Fangemeinde gehört, ist nicht verwunderlich. Spätestens seit „Steppenwolf“ hat Hesse eine sehr stattliche Verehrerschar rund um den Globus. Dass aber ein Buch, für das man im Hause sogar per Flyer Reklame macht, dort käuflich nicht erworben werden kann, kann jeder bekennende Freund des Dichters nur mit heftigem Stirnrunzeln 72 Mit Fotografien des Dichters von Martin Hesse Suhrkamp ein wunderbarer, ja geradezu märchenhafter Umstand, dass man ein Buch von und über den Schwaben Hermann Hesse in Berlin-Schöneberg bei einer Baden-Württembergerin ordern und erwerben kann! Sie erinnern sich an das Motto des Buchladens in Buch: „Was ich schon immer lesen wollte, und doch wieder verschenke“. Das habe ich mit den zwei Exemplaren konsequent umgesetzt. Natürlich hatte ich zuvor schon ein wenig geschmökert, und mir war schnell klar, dass Suhrkamp mit dieser Mixtur aus sehr persönlichen Fotos des Dichters und ebensolchen Sätzen etwas geglückt war, dass man ohne Übertreibung eine bibliophile Kostbarkeit nennen kann. Das war ein guter Grund, das Buch in der Dezemberausgabe vorzustellen. Dieses Exemplar direkt vom Verlag bleibt in meinem Bücherschrank. Mit den üblichen Klebezetteln und Bleistiftanmerkungen, mit denen ich die Stellen markiere, die mir beim Lesen besonders wichtig waren. Und wo ich auch ein zweites oder drittes Mal nachschlagen werde. Mit Hesse bin ich seit meiner Jugend vertraut. Etliche seiner Romane und Erzählungen habe ich in verschiedenen Perioden meines Lebens immer wieder in die Hand genommen, und dabei immer auch neue Perspektiven entdeckt. Das ist es, was gute Literatur ausmacht. Ich tauschte mich erst kürzlich mit einem von mir sehr geschätzten Autoren aus: gute Theaterstücke, Essays und auch Sachbücher hat er verfasst. Ich bekannte mich zu meiner Hesse-Verehrung. Das wunderte ihn. Seiner Meinung nach passt er nicht mehr in unsere Welt. Da musste ich heftig widersprechen. Zurück zu „Vom Wert des Alters“. Der Band ist eine erweiterte und revidierte Fassung des Insel-Taschenbuches 2857: Hermann Hesse: Mit der Reife wird man immer jünger. Das schmale Bändchen steht natürlich auch in meiner Hausbibliothek, und manchen der vorwiegend kurzen Texte erkannte ich auch wieder. In Gänze ist mir aber ein doch neues Buch begegnet. Ich kann nur vermuten, dass die kluge Montage von Passagen aus Hesses Romanen, Erzählungen, Gedichten sowie aus seinen Briefen mit den wunderbaren Fotos seines Sohnes die Ursache für diese neue Anmutung ist. Was mir, anders als bei der Lektüre des Insel-Taschenbuches, das mir mit einem traurig-melancholischen Tenor in Erinnerung ist, jetzt auffiel, ist die an etlichen Stellen spürbare ironische Distanz zum Thema. Dafür mag am Ende beispielhaft der folgende Vierzeiler stehen, den ich mir auch in einer Sammlung von Ringelnatzversen vorstellen könnte: „Die Jugend ist entflohn, man ist nicht mehr gesund. Es drängt die Reflexion sich in den Vordergrund.” Rezensent: Michael Schäfer Bewertung: ***** i infos Hermann Hesse: Vom Wert des Alters Suhrkamp, Berlin 2. Auflage 2012 ISBN 978-3-518-41945-8 www.suhrkamp.de Christa Wolf. Briefe 1952 – 2011 Bevor ich dieses Buch vorstelle, möchte ich Ihnen einige Passagen noch einmal in Erinnerung rufen, die ich vor zwei Jahren bei der Vorstellung der „Moskauer Tagebücher“ zu Papier gebracht habe. Diese beeindruckende Lektüre verdanken wir ihrem Mann, der den Nachlass von Christa Wolf ausgewertet hatte, um anhand von Tagebucheintragungen ihre und auch gemeinsame Reisen nach Moskau und in die Sowjetunion von 1957 bis 1989 zu dokumentieren. „Es sind“ so Gerhard Wolf zu diesem Buch „Notate, manchmal akribisch, ausführlich, manchmal UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 INSPIRATIONEN/INFORMATIONEN Personalien / Bücher nur Momentaufnahmen, die mit unbestechlichem Blick festhalten, was sie sieht und erlebt, erfährt und denkt.“ Das reflektierte ich 2014 wie folgt: „Die Lektüre der „Moskauer Tagebücher“ hat mich von der ersten bis zur letzten Zeile gefesselt. Ich traf dort „alte Bekannte“ aus meinem Bücherschrank von Brigitte Reimann über Konstantin Simonow bis zu Erwin Strittmatter, um nur einige wenige Beispiele zu nennen. Und ich las über einen „Autoren“ wie Otto Gotsche und bekam nun auch von Christa Wolf bestätigt, dass ich richtig gehandelt habe, seine Bücher nach einer kurzen Kostprobe fortan zu verschmähen…Ich fand aber auch Zeugnisse über die sowjetische Literaturszene, die sich genauso zerrissen zwischen großen Künstlern und schreibenden Parteifunktionären der Sorte Gotsche darbot wie jene der DDR. Und das sind auch und vor allem Belege dafür, wie Christa und Gerhard Wolf überaus verlässliche Freundschaften auch zu jenen pflegten, die in der Sowjetunion verfemt und außer Landes getrieben wurden. Dafür steht in erster Linie Lew Kopolew. Dass die Wolfs zu ihm hielten, hat ihnen jahrelange Nachstellungen, Verdächtigungen, Schikanen „eingebracht“. Christa Wolf hat dieses unter anderem in ihrem kleinen Bändchen „Was bleibt“ dokumentiert. Ich befürchte, dass jene Ignoranten, die der aufrechten Dichterin auch heute noch vorhalten, dass sie in sehr jungen Jahren einen kurzen Kontakt zum DDR-Geheimdienst hatte, weder die „Moskauer Tagebücher“ noch „Was bleibt“ jemals lesen. Aber selbst wenn – sie würden sich vermutlich nicht schämen, also schäme ich mich für jene, die Christa Wolf ja nicht deshalb diffamieren, weil sie als junges Ding in einer Mischung aus Naivität und politischer Überzeugung diese kurze Liaison hatte. Sie diffamieren sie, weil sie ihren linken Überzeugungen – und das waren eben mitnichten realsozialistische Treuebekundungen – treu blieb.“ Nun liegt also in erster Auflage eine fast 1.000 Seiten umfassende Dokumentation von Briefen vor, die Christa Wolf von 1952 bis 2011, das ist das Jahr ihres Todes, geschrieben hat. Sabine Wolf, die Herausgeberin, berichtet im Nachwort zu diesem Band, dass für dieses Buch ca. 15.000 Briefe durchgesehen und evaluiert werden mussten. Ich empfehle dem geneigten Lesern, ausnahmsweise die Lektüre mit diesem gut geschriebenen und sehr informativen Nachwort zu beginnen. Dort erfährt er, dass das Briefeschreiben für Christa Wolf einen ungewöhnlich hohen Stellenwert hatte. Dass wir heute diese Zeitdokumente überhaupt vollständig zur Kenntnis nehmen – betreut werden diese Nachlässe in den Archiven der Akademie der Künste und im Deutschen Literaturarchiv Marbach – verdanken wir der akribischen Ablage von Christa Wolf. Diese habe, so schreibt Sabine Wolf (sie ist die Leiterin des Literaturarchivs der ADK) ihre Korrespondenz wie eine Wissenschaftlerin geführt: jederzeit rekonstruierbar, verwendbar als Materialfundus in strukturierter Ablage. Christa Wolf erstellte alle maschinegeschriebenen Briefe mit Durchschlag. Auch von den handschriftlichen Briefen fertigte sie mit Kohle- oder Blaupapier Durchschriften an, die heute in ihrem Nachlass zur Verfügung stehen. Etwa die Hälfte aller vorliegenden Briefe von Christa Wolf sind an Empfänger in der DDR gerichtet. In die Auswahl für diesen Band kamen 483 Briefe. Davon sind 90 Prozent dort zum ersten Mal veröffentlicht. Schon das macht das Buch zu einem literarischen und literaturwissenschaftlichen Ereignis. Ich habe – dazu war die Zeit zu kurz, denn Christa Wolf Briefe 1952-2011 Man steht sehr bequem zwischen allen Fronten Suhrkamp ich wollte den Titel unbedingt zeitnah zu dessen Erscheinen vorstellen – natürlich noch nicht alle Briefe gelesen. Ich fühle mich aber zu folgendem Fazit berechtigt: Der Titel des Auswahlbandes beschreibt natürlich nicht die Lebenswirklichkeit von Christa Wolf, die zu Recht als eine der bedeutendsten deutschen Schriftstellerinnen des 20. und 21. Jahrhunderts bezeichnet werden kann. Denn die Autorin hat ja gerade nicht bequem zwischen allen Fronten gestanden. Spätestens seit ihrem bewegenden „Was bleibt“ wissen wir das auch aus diesem ehrlichen Selbstzeugnis. Das UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 dokumentieren nun auch die vorliegenden Briefe. Christa Wolf war eine begnadete Autorin, sie war authentisch, sie hat sich gequält und sie hat uns nie mit einfachen Wahrheiten gelangweilt. Und sie war redlich. Wer das bestreitet, schätzt nicht falsch ein, interpretiert ungenau, reflektiert zu subjektiv – Nein, er lügt. Davon zeugen alle Briefe, die ich inzwischen gelesen habe – mit besonderem Interesse jene an Künstlerkollegen wie Günter Kunert, Franz Fühmann, Konrad Wolf, Günter de Bruyn, Gabriele Wohmann oder Stephan Hermlin, um nur einige zu nennen. Das sind aber mitnichten nur Selbstreflektionen (auch das wäre schon von Wert für die Sicht auf eine so bedeutende Künstlerin), sondern es sind auch Belege dafür, wie sich ostdeutsche Linke damit quälten, den Zwiespalt zwischen ihren ehrlichen Überzeugungen und den Deformationen des Realsozialismus auszuhalten. Wann endlich nehmen das jene zur Kenntnis, die vorwiegend aus westdeutscher Perspektive darüber Urteile fällen, wie man in der DDR hätte leben müssen. Das Klischee von den angepassten, opportunistischen Intellektuellen ist schlicht falsch. Ebenso wie die Unterscheidung, dass die Guten und Mutigen jene waren, die die DDR verlassen haben, und jene die Bösen sind, die im Lande blieben, um von hier aus den unbequemen, ja auch gefährlichen Kampf gegen die Borniertheit und die Mittelmäßigkeit derjenigen zu führen, die in erdrückender Mehrheit in der SED-Funktionärshierarchie das Sagen hatten. Das ist ein komplexes, ein subtiles, ja und auch ein sehr widersprüchliches Thema. Nichts für jene, die ihre ewigen Urteile nicht revidieren wollen. Das aber müssten sie, würden sie „nur“ die Briefe lesen, die Sabine Wolf ja auch für diese Ignoranten ausgewählt hat. Sie werden auch diese Texte ignorieren. Es werden sich dennoch genügend Leser finden, die im Briefwechsel von Christa Wolf Aufklärung, Inspiration und eine höchst differenzierte Reflektion zum Künstlertum in der DDR und in der Zeit danach finden. Danke, Sabine Wolf, dass Sie dieses Mammutprojekt angegangen und so souverän bewältigt haben. Rezensent: Michael Schäfer Bewertung: ***** i infos Christa Wolf. Briefe 1952 – 2011 Suhrkamp Berlin 1. Auflage 2016 ISBN 978-3-518-42573-2 www.suhrkamp.de 73 Epilog / Impressum Liebe Leserinnen, liebe Leser, Bund und Länder haben sich endlich auf die Zukunft des Bund-Länder-Finanzausgleiches einigen können. Kurz zusammengefasst sieht es so aus. Der Bund zahlt deutlich mehr und erhält einige Kompetenzen hinzu. Die finanzstarken Länder geben gar nichts mehr, doch die Verteilmasse bleibt gleich. Nach den Kosten der Integration, den Asyl- und Konjunkturpaketen und weiteren Hilfen ist dies nun die x-te Gelegenheit, bei der sich der Bund mit Milliardenhilfen den darunterliegenden politischen Ebenen gegenüber großzügig zeigen kann. Tatsächlich – und dieser Umstand ist im politischen Betrieb nahezu jedem bewusst – ist dies lediglich Ausweis der chronischen Unterfinanzierung in den Kommunen. Die Milliardenumlagen, soweit sie tatsächlich durchgeleitet wurden, haben in Windeseile eine investive Bestimmung gefunden und belegen damit anschaulich den kontinuierlichen strukturellen Aderlass. Die Einigung zum Bund-Länder-Finanzausgleich ist vor allem deshalb so enttäuschend, weil sie nur kosmetischer Natur ist. Schon wieder wurde eine Gelegenheit verpasst, die politischen Strukturen in Deutschland vom Kopf auf die Füße zu stellen und die Finanzen den Aufgaben folgen zu lassen. Die deutschen Kommunen – in Sonntagsreden zur Flüchtlingskrise oder zum Aufbau Ost werden sie regelmäßig in den Himmel gehoben – hätten es verdient, endlich über eine auskömmliche Finanzierung zu verfügen. In Erinnerung sei gerufen, dass die zu Recht gelobten skandinavischen Länder ihren Kommunen einen Erstzugriff auf die Einkommensteuer und erheblich größere Kompetenzen gestatten. Der Vorrat an Finanzen und Kompetenzen ist endlich. Und so ist es zwar betrüblich, doch kaum verwunderlich, dass sich Bund und Länder nicht zu ihrem Nachteil auf eine Stärkung der nicht verhandlungsbeteiligten Kommunen einigten. Wenn schon dieser Umstand zu konstatieren ist, so hätte man doch aber wenigstens das rigide Pauschalverbot einer jeden Kooperation zwischen Kommunen und dem Bund aufweichen können. Insbesondere die prosperierenden Länder haben erhebliche Mittel gewonnen. Es mutet geradezu grotesk an, dass es weiterhin dem Gutdünken etwa der bayerischen Staatsregierung obliegt, ob die darbenden Grenzregionen in Oberfranken und der Oberpfalz weitere Unterstützung erhalten. Es wäre das Mindeste gewesen, den Ländern eine Auflockerung des Kooperationsverbotes abzuringen. Unterm Strich steht das Ende der kommunalen Selbstverwaltung. Es kann keine Unabhängigkeit geben, wenn man sich 1. von Hilfspaket zu Hilfspaket hangeln muss und 2. die jeweiligen Länderregierungen um die Weiterleitung von Geldern anbetteln muss. Die Kommunen sollten ihre Lehren daraus ziehen. Sie sollten mit noch größerer Vehemenz und verstärkt öffentlich für ihre Interessen streiten. Wenn nun derzeit das politische Gefüge in Bewegung gerät, besteht bei einigen unschönen Entwicklungen vielleicht auch die Chance, diese strukturellen Fragen der demokratischen Verfasstheit aufs Trapez zu bringen. Die Ohren des Volkes sind geweitet und niemand kennt die Bürger besser als ihre kommunalen Amts- und Mandatsträger. In diesem Sinne wird UNTERNEHMERIN KOMMUNE auch 2017 wieder an der Seite der Kommunen streiten. Einstweilen jedoch wünschen wir unseren Lesern ein fröhliches Fest und einen Guten Rutsch. Ihr Falk Schäfer IMPRESSUM Herausgeber und Verleger: Prof. Dr. Michael Schäfer, Professor für Kommunalwirtschaft Verlag: Dr. Bernd Kahle GmbH und UNTERNEHMERIN KOMMUNE, Ansbacher Straße 6 - Dachgeschoss, 10787 Berlin HRB: 160181 B Amtsgericht Berlin-Charlottenburg, Geschäftsführender Gesellschafter: Prof. Dr. Michael Schäfer, www.unternehmerin-kommune.de Redaktion: Prof. Dr. Michael Schäfer, Chefredakteur (V. i. S. d. P.) 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Der Bezug über den definierten Bezieherkreis hinaus ist möglich. Bestellungen sind direkt an den Verlag zu richten. Einzelpreis: 4,50 € incl. 7% MwSt. (einschließlich Zustellung über Pressevertrieb). Urheber- und Verlagsrecht: Die Zeitschrift UNTERNEHMERIN KOMMUNE und alle in ihr enthaltenen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Mit Annahme des Manuskripts gehen das Recht zur Veröffentlichung sowie die Rechte zur Übersetzung, zur Vergabe von Nachdruckrechten, zur elektronischen Speicherung in Datenbanken, zur Herstellung von Sonderdrucken, Fotokopien und Mikroskopien an den Verlag über. Jede Verwertung außerhalb der durch das Urheberrecht festgelegten Grenzen ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. In der unaufgeforderten Zusendung von Beiträgen und Informationen an den Verlag liegt das jederzeit widerrufliche Einverständnis, die zugesandten Beiträge bzw. Informationen in Datenbanken einzustellen, die vom Verlag oder von mit diesem kooperierenden Dritten geführt werden. Gebrauchsnamen: Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen und dgl. in dieser Zeitschrift berechtigt nicht zu der Annahme, dass solche Namen ohne weiteres von jedermann benutzt werden dürfen; oft handelt es sich um gesetzlich geschützte, eingetragene Warenzeichen, auch wenn diese nicht als solche gekennzeichnet sind. 74 UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016 Digitalisierung der Energiewende Weil es für smarte Lösungen klare Regeln gibt. Smarte Systeme sind unverzichtbar für eine ökonomisch erfolgreiche Energiewende. Kommunale Versorger und Netzbetreiber stellen sie jedoch vor ganz neue rechtliche Fragen: Welche Pflichten hat der Gesetzgeber verankert? Wie lassen sich Datenschutz und Datensicherheit gewährleisten? Was tun, wenn Nutzer den Maßnahmen widersprechen? Profitieren Sie jetzt vom vernetzten Wissen unserer Experten! www.pwclegal.de Ihr Ansprechpartner Dr. Sven-Joachim Otto Tel. +49 211 981-2739 sven-joachim.otto@de.pwc.com © 2016 PricewaterhouseCoopers Legal Aktiengesellschaft Rechtsanwaltsgesellschaft. Alle Rechte vorbehalten. „PwC Legal“ bezeichnet in diesem Dokument die PricewaterhouseCoopers Legal Aktiengesellschaft Rechtsanwaltsgesellschaft, die zum Netzwerk der PricewaterhouseCoopers International Limited (PwCIL) gehört. Jede der Mitgliedsgesellschaften der PwCIL ist eine rechtlich selbstständige Gesellschaft. springer-gabler.de M. Schäfer, S.-J. Otto Das kommunale Nagelstudio Die populärsten Irrtümer zu Stadtwerke & Co. 2016. XIII, 233 S. Brosch. € (D) 14,99 | € (A) 15,41 | *sFr 16,00 ISBN 978-3-658-09871-1 € 9,99 | *sFr 12,51 ISBN 978-3-658-09872-8 (eBook) Klärt über weit verbreitete Irrtümer zum Thema Kommunalwirtschaft auf • Räumt mit populären Vorurteilen auf • Aktuelle Beispiele aus der kommunalen Praxis Kommunale Nagelstudios, schwerfällige Bedenkenträger, Steuerverschwendung, Beamtenmentalität, Versorgungsstation für ausgediente Politiker – viele falsche Bilder und Vorstellungen zur kommunalen Wirtschaft sind fest im ö entlichen Bewusstsein verankert. Immer wieder werden die gleichen Stigmatisierungen kolportiert, mit denen der Kommunalwirtschaft fragwürdige Zuschreibungen angeheftet werden. Das Sachbuch klärt gut verständlich und nachvollziehbar über weit verbreitete Irrtümer auf. € (D) sind gebundene Ladenpreise in Deutschland und enthalten 7 % für Printprodukte bzw. 19 % MwSt. für elektronische Produkte. € (A) sind gebundene Ladenpreise in Österreich und enthalten 10 % für Printprodukte bzw. 20% MwSt. für elektronische Produkte. Die mit * gekennzeichneten Preise sind unverbindliche Preisempfehlungen und enthalten die landesübliche MwSt. Preisänderungen und Irrtümer vorbehalten. A33186
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