AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
20. JAHRGANG
Jahresthema: Infrastruktur
Vernetzung und Wettbewerb
Schienengebundener
Regionalverkehr und
lokaler ÖPNV
S. 5
Kommunalwirtschaft aktuell
Nur noch ein Torso?
Theorie und Realität der
kommunalen Selbstverwaltung
S. 20
Forum Neue Länder
25 Jahre Ostdeutscher
Sparkassenverband
Festveranstaltung in Potsdam
S. 40
Aus Forschung und Lehre
Kommunale Implikationen der
Integration von Flüchtlingen
Die VfkE-Jahresstudie 2016
S. 49
Inspirationen/Informationen
Die Asyleinwanderung der
vergangenen zehn Jahre in Zahlen
Analyse der regionalen
Verteilung und nach
individuellen Merkmalen
S. 53
Eher föderal denn kommunal
Blick über den Gartenzaun auf
die Verwaltungsstrukturen
in Kanada
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Inhaltsverzeichnis
Prolog
4
JAHRESTHEMA: INFRASTRUKTUR
Digitalisierung und Daseinsvorsorge
Vernetzung, Abstimmung und Kooperation
ÖPNV wie am Fließband
5
Mehrere Ortskennzahlen für eine Gemeinde und falsche Versorgungsprämissen
Erfolgreicher Breitband-Hürdenlauf über mehrere Etappen
10
Auf dem Weg ins digitale Zeitalter
14
Landwerke M-V GmbH – Gemeinsam. Regional. Stark.
Acht kommunale Energieversorger schließen sich
zu Plattform zusammen
18
KOMMUNALWIRTSCHAFT AKTUELL
Grundrechtliche Verpflichtung und politische Realität
Nur noch ein Torso?
ÖÖP oder KKP?
20
27
Öffentlich-Private Partnerschaften auf kommunalwirtschaftlicher Ebene
Die GASAG-Gruppe entwickelt integrierte Messkonzepte der Energienutzung
Alles aus einer Hand
Zwei Kürzel für ein Unikat: „Das Weimarer Modell“
26
Eine Möglichkeit zur Mehrung kommunalen Vermögens?
31
FORUM NEUE LÄNDER
ÖPP für gestaltende kommunale Mitwirkung bei Erneuerbaren Energien
Die kommunalen Implikationen der Flüchtlingskrise
Gewogene Werte
33
25 Jahre Ostdeutscher Sparkassenverband
Fest an der Seite der Ostdeutschen
Know-how von E.dis, strategische Führung bei Kommunen
43
Weit über dem Durchschnitt liegende Flüchtlingskonzentration
40
„Wir können Flüchtlingen noch ordentliche Wohnungen bieten“ 45
AUS FORSCHUNG UND LEHRE
Das Verbundnetz für kommunale Energie präsentiert die Jahresstudie 2016
Die Integration von Flüchtlingen
49
INSPIRATIONEN / INFORMATIONEN
Deutlich verstärkte Asylmigration seit dem Jahr 2014
Auf dem Weg zum Einwanderungsland?
53
Personalien / Bücher
66
Epilog / Impressum
74
Die politischen und Verwaltungsstrukturen in Kanada
Britische Verfassungstradition in einem föderalen Gewand
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
58
Zum Titelbild:
Die alte Agfa-Zentrale und das heutige Rathaus von Bitterfeld-Wolfen – Denkmal
der Industriegeschichte und Austragungsort der VfkE-Jahresveranstaltung 2016.
3
Prolog
Liebe Leserin, lieber Leser,
Gesprächsrunden und Veranstaltungen zu kommunalen Themen sind ein
Markenzeichen von UNTERNEHMERIN KOMMUNE. In diesem Heft dokumentieren wir davon gleich fünf: In Naumburg gab es einen Austausch
zur Zukunft des ÖPNV als optimal vernetztes System von unterschiedlichen
Verkehrsmitteln, Aufgabenträgern und Leistungserbringern. In Bitterfeld-Wolfen und Neubrandenburg stand die Flüchtlingsintegration im Zentrum. Die
Runde in Teterow hatte die Überschrift Digitalisierung und Daseinsvorsorge.
In Halberstadt schließlich gab es einen kontroversen Disput darüber, ob die
kommunale Selbstverwaltung in Deutschland diesen Namen noch verdient.
In der Rückschau auf diese sachkundig und leidenschaftlich geführten Debatten fiel mir auf, dass wir bei allen Themen – also nicht nur in Halberstadt, wo
dies schon als Titel gesetzt war – immer schnell auch beim Artikel 28 und dessen Absatz 2 unseres Grundgesetzes landeten. Erstes Stichwort: Integration.
Vollständige Übereinstimmung gab es zur Interpretation der Merkelschen
Formel vom „wir schaffen das“: Wir – das ist ein fast schon zynischer Pluralis
Majestatis. Faktisch sind es eben nicht die da „oben“, sondern es sind die
Kommunen, die es schaffen mussten, und die es ja auch tatsächlich schafften
und schaffen. Die Akteure sind zuvorderst Ehrenamtler, Mitarbeiter kommunaler Verwaltungen und Unternehmen. Die gaben auch folgendes zu Protokoll: wenn oft quasi über Nacht die Ankunft von Hunderten von Flüchtlingen
organisiert werden musste, fragten jene, die bei Bund und Ländern mit fanatischem Eifer darüber wachen, dass der von ihnen „erdachte“ gigantische Regelkatalog – viele dieser Vorschriften sind unsinnig, unnötig, widersprüchlich
– befolgt wird, plötzlich nicht mehr nach Gesetzeskonformität. Da musste von
jetzt auf gleich ein leerstehender Supermarkt zur Flüchtlingsunterkunft umfunktioniert werden. Ohne Antrag und ohne Bauaufsicht. Darauf, dass dieses
vernünftige „Wegschauen“ Bestandskraft hat, vertrauen indes die meisten Entscheidungsträger in den Kommunen und Unternehmen nicht. Wenn genug
Zeit verstrichen ist, wird es vermutlich akribische Beamte in Kommunalaufsichten und Landesrechnungshöfen geben, die etwa beanstanden, dass Stellenpläne überdehnt oder Dolmetscherhonorare falsch gezahlt und gebucht
wurden. Wer aber sanktioniert jene,
die die Aufnahme und Betreuung
der Flüchtlinge erschweren und behindern? Zum Beispiel dadurch, dass
sie sich ein Asylverfahren ausgedacht
haben, dass zu Recht als Bürokratiemonster bezeichnet werden muss.
Deswegen dauert die Bearbeitung
viele Monate. Erst mit dem positiven
Bescheid kann mit der Integration ja
erst richtig begonnen werden. Davor
sind Arbeitstätigkeiten im Regelfall
verboten. Verständnis dafür gibt es
in den Kommunen und bei den Bürgern nicht. Es ist ja auch keinem vernunftbegabtem Wesen zu vermitteln,
warum im Herbst das Laub nicht richtig beseitigt wird, weil im Bauhof Leute
fehlen, andererseits aber junge Leute aus Syrien und anderswo qua Gesetz
zur Untätigkeit verurteilt sind. Dabei sind sie in übergroßer Mehrheit bereit,
etwas für das Land zu tun, das sie aufgenommen hat.
Die Kommunen beweisen gerade in Extremsituationen, dass sie am besten
wissen, wie vor Ort Aufgaben gelöst werden müssen. Darauf basiert das
Prinzip der Subsidiarität. Das wird im Alltag mit Füßen getreten. Der Autor
dieser Zeilen nennt das neben der strukturellen Unterfinanzierung und der
unerträglichen Überregulierung den dritten Totengräber der kommunalen
Selbstverwaltung.
4
Das konnte mit eindeutigen Fakten am Beispiel Flüchtlinge gerade gezeigt
werden. Das trifft aber ebenso auf das unspektakulär scheinende Thema „geschlossene ÖPNV-Mobilitätsketten zu. Richtig war es, dass der Bahnverkehr 1999
regionalisiert wurde. Und wenn es – wie in Sachsen-Anhalt mit der Nahverkehrsgesellschaft Sachsen-Anhalt – einen engagagierten und kompetenten Verbund
gibt, klappt auch die Vernetzung mit dem kommunalen ÖPNV. Aber am Ende
wird die junge Frau, die aus dem abgelegenen Dorf täglich zur Arbeitsstelle in der
Kreisstadt pendeln muss, nur dann darauf verzichten, den ganzen Weg mit dem
Auto zu absolvieren, wenn am Haltepunkt der Regionalbahn ein gut beleuchteter
Parkplatz eingerichtet wird. Das zahlt aber nicht der Besteller dieser Züge, sondern das Geld muss aus dem kommunalen Säckel bereitgestellt werden.
Die Teilnehmer der Diskussionsrunde zur kommunalen Selbstverwaltung
in Halberstadt waren sich ungeachtet mancher Kontroverse einig, dass es
in unserem Land einen Trend zum Zentralismus gibt, verbunden mit weiter
wachsendem Argwohn gegenüber den Kommunen. Dass es anders geht,
zeigt mal wieder Dänemark. Dort wurden im Jahr 2007 die schon zuvor mit
vielen Rechten ausgestatteten Kommunen auf eine Weise gestärkt, die beim
deutschen Nachbarn unvorstellbar wäre. In Dänemark sind die Gemeinden
die zentrale Ebene der Verwaltung und mit hohen Kompetenzen bei der
Finanzierung und der Aufgabenerledigung ausgestattet. Das Zentrale-OrtePrinzip wurde konsequent umgesetzt: Jede der 2007 gebildeten 98 Gemeinden des Landes hat im Durchschnitt 56.000 Einwohner. Zwischen diesen
Kommunen und dem Staat gibt es keine Zwischenebene.
Das System funktioniert. Und da es mit hohen Kompetenzen und gesunden
Finanzen etwas zu gestalten gibt, gehen bei Kommunalwahlen seit vielen
Jahren durchschnittlich 70 Prozent der Wahlberechtigten an die Urne. Hoffentlich werden diese Sätze auch von den Politikern gelesen, die gerade in
Brandenburg und Thüringen an Gebietsreformen „werkeln“.
Allen, die jetzt das letzte Heft von UNTERNEHMERIN KOMMUNE im Jahr
2016 in den Händen halten, wünsche ich ein wunderschönes Weihnachtsfest
und alles erdenklich Gute für 2017.
Ihr Michael Schäfer
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
JAHRESTHEMA: INFRASTRUKTUR
JAHRESTHEMA:
INFRASTRUKTUR
übrigens
Im Juni 2016 leitete die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren
gegen Deutschland ein, da man die PkW-Mautgesetze, die sogenannte
Ausländer-Maut, für europarechtswidrig hielt. Nach Gesprächen mit der
Bundesregierung gab die Kommission jedoch zu erkennen, dass sie sich
mit einigen kleineren Gesetzesmodifikationen einverstanden erklären kann.
Spekuliert wird allerdings nach wie vor, ob die Einnahmen die Kosten übersteigen
werden. Bundesverkehrsminister Dobrindt hält eine Einführung der PkW-Maut
noch in dieser Legislaturperiode für äußerst unwahrscheinlich.
Vernetzung, Abstimmung und Kooperation
ÖPNV wie am Fließband
Roundtable-Gespräch zur Zukunft des schienengebundenen ÖPNV
D
er ÖPNV in Deutschland ist deutlich vielfältiger und komplexer geworden. Neue Anbieter beleben den Wettbewerb, innovative
Konzepte verknüpfen unterschiedlichste Verkehrsträger und eine digitalisierte Kundenführung ermöglicht Informationen in Echtzeit.
Um diese technologischen und innovativen Potentiale nutzen zu können, braucht es mehr Abstimmung unter einer wachsenden
Zahl von Anbietern und Trägern. UNTERNEHMERIN KOMMUNE wollte wissen, wie vernetzte Konzepte dieser deutlich gestiegenen Komplexität
Rechnung tragen können. In Naumburg an der Saale diskutierten ÖPNV-Anbieter von Schiene und Straße, aus Stadt, Region und darüber
hinaus. Die kommunale Ebene vertraten der Oberbürgermeister der ehrwürdigen Domstadt und dessen Stellvertreter.
Am Tisch versammelt sind eine kreiseigene Gesellschaft, ein privater ÖPNV-Anbieter der Stadt und ein
überregional operierendes Schienenverkehrsunternehmen, das letztlich der Regulierung durch die
Länder unterliegt, so Prof. Dr. Michael Schäfer. Diese
verschiedenen Akteure operierten in unterschiedlichen Trägerschaften, genügten unterschiedlichen
Rahmenbedingungen und wiesen unterschiedliche
Kundenstrukturen auf, sie müssten aber dennoch
bereit sein für ein hohes Maß an Kooperation.
Der Moderator der Runde schließt die Frage
an, wie in solch divergenten Strukturen eine
Abstimmung im Sinne der Kunden und der
jeweiligen Träger bestmöglich erfolgen kann.
„Wir müssen bedarfsorientierte Angebote
Die Runde traf sich im Amtszimmer des Oberbürgermeisters im Naumburger Rathaus.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
5
ÖPNV
Dirk Ballerstein (l.) und Armin Müller
Naumburgs Oberbürgermeister Bernward Küper (l.) und Prof. Dr. Michael Schäfer
Lutz Däumler, Andreas Messerli und Andreas Plehn (v.l.n.r.)
entwickeln, was sowohl den Trägern als auch
den Anbietern eine gewisse Flexibilität abverlangt“, antwortet Bernward Küper. Die lokalen
Verkehrsgesellschaften seien aufgefordert, ganz
verschiedene Bedarfe möglichst optimal zu verknüpfen. Dies umfasse die Schülerbeförderung,
den Stadtverkehr oder auch die Stadt-UmlandRelationen. Darüber hinaus werde mit der
Naumburger Straßenbahn ein vornehmlich
touristisches Angebot mit verkehrshistorischer
Relevanz vorgehalten. Naumburg profitiere
von der Einbindung in den Mitteldeutschen
Verkehrsverbund. Solche länderübergreifenden
Kooperationen könnten für die Stadt im Dreiländereck zwischen Sachsen-Anhalt, Sachsen
6
und Thüringen einen
enormen Mehrwert
entfalten. Der Tarifverbund zwischen Leipzig
und
Naumburg
habe die öffentliche
Mobilität zwischen
beiden Städten deutlich erhöht. Es wäre
zu wünschen, dass
zeitnah auch in der
Relation zwischen Jena
und Naumburg ein
solches Angebot entwickelt werde, so der
Oberbürgermeister.
Armin
Müller
ergänzt, dass Naumburg rein flächenmäßig
eine der größten Städte
Mitteldeutschlands ist.
„In 31 Ortsteilen leben
34.000 Menschen auf
130
Quadratkilometern“, so der Stellvertreter im Amt des
Oberbürgermeisters.
Aus dieser Siedlungsstruktur
ergäbe
sich eine besondere
Relevanz für den Busverkehr. Da die geringe
Siedlungsdichte im
Umland der Kernstadt Naumburg einen
regelmäßigen Linienverkehr mit Bussen
und festen Fahrplänen
zunehmend weniger
rechtfertige, müssten
in der Zukunft alternative, innovative und
flexible Bedienformen
entwickelt werden.
Verkehrsknoten Mitteldeutschlands
„Naumburg ist ein zentraler Knotenpunkt im Netz
der Abellio Mitteldeutschland“, sagt Dirk Ballerstein. „Fünf Linien führen durch die Stadt und wir
halten dort 36.000 Mal im Jahr“, unterstreicht der
Geschäftsführer von Abellio Rail Mitteldeutschland die Bedeutung des Standortes für sein Unternehmen. Innerhalb Mitteldeutschlands hätten
sich die verkehrlichen Kooperationen zwischen
den beteiligten Bundesländern recht positiv entwickelt. Dem Grenzraum zwischen Leipzig in
Sachsen, Halle in Sachsen-Anhalt über Naumburg bis in die zentralen Glieder der Thüringer
Städtekette nach Jena, Weimar und Erfurt werde
Naumburg ist ein zentraler
Knotenpunkt im Netz der Abellio
Mitteldeutschland.
„
______________________
Dirk Ballerstein
“
eine zunehmend zentrale Rolle in den regionalen
Verkehrskonzepten eingeräumt.
Schließlich zeige sich hier die größte Siedlungsdichte der Region. Aktuell sei es fast überall gelungen,
eine Durchbindung in die benachbarten Bundesländer
herzustellen. Das Netz der Abellio Mitteldeutschland
erstrecke sich mittlerweile über fünf Bundesländer,
was wiederum den verkehrspolitischen Konzeptionen
innerhalb Mitteldeutschlands entspricht. Damit
umfasse das Angebot mitunter Relationen von mehr
als 200 Kilometern Streckenlänge, so Ballerstein.
Prof. Dr. Schäfer fragt, wie die Kommunen an
der Erstellung von Verkehrskonzepten und an der
Bestellung von Verkehrsleistungen noch besser beteiligt
werden können. In Sachsen-Anhalt funktioniere
die Abstimmung zwischen dem Land und den
kommunalen Verkehrsgesellschaften grundsätzlich sehr
gut, antwortet Lutz Däumler. Alle Beteiligten würden
auf Augenhöhe und in enger Frequenz beteiligt. Dank
der Digitalisierung könnten sich die unterschiedlichen
Verkehrsarten zunehmend in Echtzeit untereinander
koordinieren. Verspätungen hätten immer weniger zur
Folge, dass der Anschluss verpasst wird.
Der regionale Schienenverkehr in
Mitteldeutschland hat sich in den
vergangenen Jahren hervorragend
entwickelt, nunmehr kommt es
darauf an, die Verkehrskette bis in die
Ortsteile noch besser zu knüpfen.
„
______________________
Andreas Plehn
“
All diese Kooperationen und Vernetzungen hätten
im Bereich des Mitteldeutschen Verkehrsverbunden
schon jetzt ein deutliches Fahrgastplus bewirken
können. So werde die neue Nahverkehrsverbindung
zwischen Naumburg und Leipzig ausgesprochen gut
angenommen. „Wer früher von Naumburg in das
Oberzentrum Leipzig wollte, der musste den ICE
In Sachsen-Anhalt funktioniert
die Abstimmung zwischen dem
Land und den kommunalen
Verkehrsgesellschaften
grundsätzlich sehr gut.
„
______________________
Lutz Däumler
“
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
JAHRESTHEMA: INFRASTRUKTUR
ÖPNV
nehmen und auch bezahlen.“ Mit der Integration
in den Mitteldeutschen Verkehrsverbund sei es
nun möglich, für deutlich weniger als zehn Euro
von der Saale an die Pleiße zu kommen, so der
Geschäftsführer der PVG Personenverkehrsgesellschaft Burgenlandkreis.
Wir müssen uns in die Lage des
Pendlers versetzen und uns fragen,
wie wir ihn aus seinem Auto
herausbekommen.
„
______________________
Bernward Küper
“
Auch Naumburgs Oberbürgermeister ist mit
der Kooperation zwischen den Kommunen und der
Nahverkehrsgesellschaft des Landes vollauf zufrieden.
Hier würden die Belange und auch die Einwände
der Kommunen ernst genommen, im Gegenzug aber auch erwartet, dass die lokalen Verkehre
so organisiert werden, dass sie mit überregionalen
Angeboten korrespondieren. Auch in schwierigen
Situationen oder bei möglichen Interessenskollisionen
werde sich eng mit den betroffenen Kommunen
abgestimmt. Oberbürgermeister Küper erinnert
in diesem Zusammenhang an die Einstellung der
Die Naumburger Straßenbahn fährt ausschließlich mit historischen Zügen und kann so eine Förderung durch
das Land begründen.
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UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
7
ÖPNV
Schienenverbindung zwischen Naumburg und
Zeitz. „Wir hoffen, im kommenden Jahr endlich als
UNESCO-Welterbestätte anerkannt zu werden“, sagt
Andreas Plehn. Mit den touristischen Potentialen verbinde sich eine zusätzliche Motivation, den ÖPNV
möglichst optimal zu gestalten, so der Geschäftsführer
der Naumburger Straßenbahn. Für die kommenden
Jahre wünscht er sich im Stadtzentrum eine bessere
Verknüpfung zwischen Bus und Straßenbahn.
Bindeglied Bahnhof
Nach dem Gewinn einer Ausschreibung und der
Übernahme bestellter Verkehre ist die Bezahlung
doch garantiert, ganz unabhängig, wie voll die
Züge sind, sagt Prof. Dr. Schäfer. Er fragt, wieso
Das alte Rathaus am Naumburger Markt
es Abellio dennoch nicht egal ist, wie die Züge
auf das kommunale Angebot abgestimmt sind. So
einfach sei die Rechnung nicht, antwortet Ballerstein. „Schließlich wollen wir auch in Zukunft
noch Ausschreibungen gewinnen und unser Netz
ausbauen.“ Der Geschäftsführer von Abellio
Mitteldeutschland stimmt ein in das allgemeine
DIE TEILNEHMER DER GESPRÄCHSRUNDE
(in namensalphabetischer Reihenfolge)
Ballerstein, Dirk, Geschäftsführer Abellio Rail Mitteldeutschland GmbH, Halle (Saale)
Däumler, Lutz, Geschäftsführer PVG Personenverkehrsgesellschaft Burgenlandkreis mbH, Weißenfels
Küper, Bernward, Oberbürgermeister der Stadt Naumburg
Messerli, Andreas, Geschäftsführer Naumburger Straßenbahn GmbH, Naumburg
Müller, Armin, Stellvertreter des Oberbürgermeisters der Stadt Naumburg
Plehn, Andreas, Geschäftsführer Naumburger Straßenbahn GmbH, Naumburg
Die Runde wurde moderiert von Prof. Dr. Michael Schäfer.
Lob für die Nahverkehrsgesellschaft des Landes
Sachsen-Anhalt. Auch im deutschlandweiten Vergleich gäbe es kaum einen Aufgabenträger, der
sich so eng, detailliert
und professionell mit
den Kommunen und
den Verkehrsunternehmen abstimmt. Teil
dieses Ansatzes sei ein
strenges Monitoring
der bestellten Verkehre
und
der
entsprechenden Fahrgastströme.
Offenbar habe Abellio gute
Leistungen erbracht,
denn ab 2018 werde
das
Unternehmen
etwa 50 Prozent des
Schienen-Regionalverkehrs in SachsenAnhalt fahren, so
Ballerstein.
Andreas Plehn stimmt zu. Mit Abellio habe
sich das Angebot im Schienen-Regionalverkehr
spürbar verbessert. Die Züge führen pünktlicher,
der Service sei besser, die Taktzeiten koordinierter
und das Personal freundlicher als beim Branchenprimus. Der regionale Schienenverkehr in Mitteldeutschland hätte sich in den vergangenen Jahren
hervorragend entwickelt, nunmehr komme es
darauf an, die Verkehrskette bis in die Ortsteile
noch besser zu knüpfen. Andererseits werde man
in entlegenen und sich entleerenden Siedlungsstrukturen auch über Grenzen der Daseinsvorsorge
nachdenken müssen, so Plehn.
Bernward Küper will die lokalen Verkehrskonzepte zunächst auf die Kernstadt konzentrieren.
In diesem Zusammenhang plädiert er für eine bessere
Verknüpfung zwischen Auto und Bahn. Park and
Ride spiele hier eine zentrale Rolle. „Wir müssen uns
in die Lage des Pendlers versetzen und uns fragen, wie
wir ihn aus seinem Auto herausbekommen. Wenn
er gleich am Bahnhof parken und über die Straße
hinweg den Stadtexpress nach Leipzig erreichen kann,
wird er das vielleicht machen, wenn er erst einen Parkplatz suchen und hunderte Meter laufen muss, dann
sicher nicht.“
Am Naumburger Bahnhof sei die Verknüpfung
recht gut gelungen, in der Kernstadt bestehe allerdings
noch Optimierungsbedarf. Bei einem optimalen Mix
der Verkehrsträger dürfe das Fahrrad nicht vergessen
werden. Die Stadt müsse dafür sorgen, dass man
auch mit dem Rad sicher und bequem in die Ortsteile gelangen kann. Es könne niemandem zugemutet
werden, sich in den dichten Verkehr einer Bundesstraße einzufädeln. Insgesamt sei die Verkehrsinfrastruktur in Naumburg und Umgebung auf höchstem
Niveau. Mit der neuen Trasse zwischen Halle/Leipzig
und Erfurt entfiele zwar der ICE-Halt, dank Abellio
Die Naumburger StraSSenbahn
Die Straßenbahn Naumburg verkehrt mit einigen Unterbrechungen seit 1892.
Mit der Wiedervereinigung brachen die Beförderungszahlen stark ein. Zudem
waren die vorhandenen Anlagen in sehr schlechtem Zustand und ließen nur
den Einsatz von zweiachsigen Straßenbahnwagen zu. Im März 1991 lief die
Konzession aus, im August wurde der Betrieb vorläufig eingestellt.
1994 gründeten einige Enthusiasten die Naumburger Straßenbahngesellschaft mbH, die in erster Linie eine touristische Vermarktung der einzigen
Ringstraßenbahn Europas anstrebte und bald darauf mit der Wiederherstellung einiger Abschnitte begann. Im November konnte die Gesellschaft Fahrzeuge und Anlagen von der Stadt pachten, der auf 20 Jahre befristete Vertrag
sah auch die Wiederinbetriebnahme der gesamten Ringstrecke vor.
2007 wurde zwischen Ostern und Oktober wieder ein täglicher Regelbetrieb aufgenommen. Dabei sei es zunächst einmal sekundär gewesen,
ob dieser kostendeckend erfolgen kann, schildert Andreas Messerli. „Im
8
Zweifelsfall hätten wir auch die Insolvenz der Gesellschaft in Kauf genommen, doch das Landesverkehrsministerium unter Dr. Karl-Heinz Daehre
sprang mit einem Zuschuss ein.“ Daraus wiederum sei mit der „Lex Naumburgensis“ ein einzigartiges Fördermodell für touristische Bahnen entstanden,
so der Geschäftsführer der Naumburger Straßenbahn GmbH.
Der Landtag verabschiedete einen Zusatzartikel für das Landes-ÖPNVGesetz, wonach Straßenbahnen, die ausschließlich mit historischen Fahrzeugen operieren, gesondert gefördert werden können. Somit ist erstmals
seit der De-facto-Stilllegung im Jahr 1991 wieder ein unbefristet finanziell
gesicherter Betrieb möglich.
2014 begannen die Bauarbeiten zur Verlängerung der Straßenbahn
bis zum Naumburger Salztor. Die Gleise der Straßenbahn sind Eigentum der Stadt, der Betrieb wird von der Naumburger Straßenbahngesellschaft mbH geführt.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
JAHRESTHEMA: INFRASTRUKTUR
ÖPNV
könne man jedoch schnell, oft, bequem und sicher
in die umgebenden Oberzentren gelangen, so Küper.
Dirk Ballerstein teilt diesen angebotsorientierten
Ansatz. Im Gegensatz zum Fernverkehr als eigenwirtschaftlicher Leistung der DB AG gehe es in der
Region und in der Kommune um Daseinsvorsorge
und dieses Konzept impliziere ein gewisses Grundangebot. „Im Sinne der Ökologie, der Sicherheit und
der Lebensqualität sollten wir uns alle zusammen
überlegen, wie wir die Menschen in die Züge bringen.
Die Vielzahl und Vielfalt entsprechender Mobilitätskonzepte wird in Zukunft zunehmen“, so Ballerstein.
Lutz Däumler ist überzeugt, dass der Bürger
immer weniger Wert auf bestimmte Verkehrsträger
legt. Es ginge ihm lediglich um möglichst praktische
und angenehme Mobilität. Den Kommunen müsse
bewusst sein, dass die Daseinsvorsorge im ÖPNV auch
etwas kostet. Ballerstein ergänzt, dass es in Leipzig
schon jetzt eine Mobilitäts-App gibt, die unter Berücksichtigung sämtlicher Verkehrsträger dem Nutzer in
Echtzeit Mobilitätsketten von A nach B erstellt. Dieser
Trend aus den Großstädten werde in Zukunft sicher
auch in Mittelstädten wie Naumburg relevant werden.
Grenzen der Daseinsvorsorge
Wenn in vielen Kommunen Daseinsvorsorge nach
Kassenlage erbracht wird, werde das Konzept
Es ist gut, dass der Wettbewerb im Schienenpersonennahverkehr deutlich an Intensität zugelegt hat. Die Standards bei Komfort, Schnelligkeit und Service sind deutlich gewachsen. Abellio
hat daran einen großen Anteil, der auch andere Marktteilnehmer zu verstärkten Anstrengungen motiviert. Die Digitalisierung
ermöglicht eine einfache und schnelle Information für den Kunden. Die ist auch nötig, denn in erster
Linie konkurriert der ÖPNV noch immer mit dem Individualverkehr. Die Aufgabenträger sind aufgerufen, ihre Angebote weiter zu optimieren und miteinander zu verzahnen. Damit der Kunde mindestens
genauso schnell und sicher ans Ziel kommt wie mit dem eigenen Auto.
Falk Schäfer
konterkariert. Andererseits gäbe es faktische Grenzen
der Belastbarkeit, so Prof. Dr. Schäfer. Daran
schließt er die Frage an, ob der Bus in Zukunft
auch in entlegene Ortschaften mit nur sehr wenigen
Einwohnern fahren muss oder ob man nicht an
deren Bewohner appellieren sollte, sich entweder
selbst zu helfen oder an zentralere Orte zu ziehen.
„Gerade in den kleinen Ortsteilen lässt sich die Entwicklung nur schwer prognostizieren“, sagt Bernward Küper. Aktuell gehe der Trend in Richtung
einer Reurbanisierung, das sei vor wenigen Jahren
aber noch ganz anders gewesen und könne sich
angesichts der in den urbanen Zentren deutlich steigenden Mietpreise auch jederzeit wieder
ändern. „Wir werden nach wie vor auch in der
Fläche einen Mobilitätsbedarf haben, dem wir als
Kommune genügen müssen. Wir werden dabei
aber verstärkt auf flexible und dezentrale Konzepte
setzen.“ Lutz Däumler stimmt zu. Allerdings
sollten die Menschen in peripheren Siedlungen
nicht die gleiche Angebotsdichte erwarten, wie in
den Zentren. Zusätzlich gelte es, das bestehende
Angebot noch bekannter zu machen.
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Die Gesprächsrunde dokumentierte Falk Schäfer
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UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
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Breitbandversorgung
Mehrere Ortskennzahlen für eine Gemeinde und falsche Versorgungsprämissen
Erfolgreicher Breitband-Hürdenlauf
über mehrere Etappen
Interview mit Kerstin Hoppe, Bürgermeisterin Gemeinde Schwielowsee
D
aseinsvorsorge-Infrastrukturen – das ist das Jahresthema 2016 von UNTERNEHMERIN KOMMUNE. Diesen Gegenstand können
wir unmöglich in seiner ganzen Breite erschöpfend behandeln. Deshalb haben wir uns bewusst auf zwei Segmente konzentriert:
den ÖPNV und die Breitbandversorgung. In Beitragsserien nähern wir uns deduktiv, also vom Allgemeinen zum Konkreten, am
Ende einzelnen Projekten auf der kommunalen Ebene.
Im Juniheft haben wir grundsätzlich geklärt, welchen Platz die Breitbandversorgung im Kanon der Daseinsvorsorge hat. Dem folgte im
September eine umfassende Bestandsaufnahme für Brandenburg. Hier zeigten wir die Verzahnung der Förderprogramme auf Bundesund Landesebene und stellten dar, welche Rolle die Landkreise bei der Schaffung der technischen Infrastrukturen für das schnelle Internet
spielen. Im vorliegenden Dezemberheft berichten wir, wie es eine kleine Gemeinde in Brandenburg geschafft hat, eine große Lücke in
der Breitbandversorgung zu schließen, und zwar ohne Förderung von Bund und Land und ohne Einbindung in Programme, die von den
Landkreisen für ausgewählte Regionen umgesetzt werden. Über dieses Beispiel sprachen wir am 1. Dezember mit der Bürgermeisterin
der Gemeinde Schwielowsee, Kerstin Hoppe.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
„Telekom nimmt schnelles Internet in
Schwielowsee in Betrieb. Surfen mit bis zu
100 Megabit pro Sekunde für weitere 2.100
Haushalte ab sofort / Jetzt auch Fernsehen über
Internet möglich“.
Mit diesen Sätzen war eine Pressemitteilung
der Telekom getitelt, die uns im November
erreichte. Der Text unter diesen Überschriften
machte uns neugierig, denn daraus ging unter
anderem hervor, dass das Projekt offenbar
nicht Teil der derzeit verfügbaren Förderprogramme war.
Frau Bürgermeisterin, haben wir richtig
gelesen, dass für die Breitbanderschließung
in Schwielowsee keine Mittel vom Bund und
dem Land Brandenburg flossen?
Kerstin Hoppe:
Ja, das jetzt kürzlich in Betrieb gegangene
Vectoring-Ausbaugebiet im Ortsteil Caputh
und der Ortslage Kammerode hat die Deutsche
Telekom mit eigenen Investitionsmitteln ohne
öffentliche Förderung ausgebaut.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Im Vorgespräch haben Sie uns erläutert, dass
Sie seit mehr als zehn Jahren für schnelles Internet in Ihrer Gemeinde kämpfen. Können Sie
uns diese Geschichte bitte konkret schildern?
Hoppe:
Dazu muss ich noch drei weitere Jahre zurückgehen. 2003 entstand Schwielowsee im Ergebnis der Gemeindegebietsreform in Brandenburg
aus mehreren zuvor selbstständigen Gemeinden.
Ferch, wo wir uns zu unserem Interview treffen,
liegt in der Mitte und ist der Sitz der Verwaltung und der Bürgermeisterin. Als unsere
10
Kerstin Hoppe
neue Kommune startete, bestand der IT- und
Telekommunikations-Standard aus einer ISDNLeitung. Mit diesem Netz, quasi aus dem vorigen
Jahrhundert, mussten wir die IT-Kommunikation
zwischen dem Rathaus und mehreren Bürgerbüros organisieren. Viel mehr als Telefonieren
war auf diesem Niveau nicht möglich. An den
Austausch großer Dateien zwischen dem Rathaus
und den Außenstellen war nicht zu denken.
Das aber war das Ziel. Wir wollten unseren
Bürgern lange Wege ersparen. Dazu musste
der schnelle Transfer solcher Datenmengen
technisch ermöglicht werden. Unseren 2003
aufgenommenen Kampf um die Anbindung
an das DSL-Netz haben wir am 1. November
2006 gewonnen. Wären wir nicht selbst aktiv
geworden, hätte das deutlich länger gedauert,
denn wir waren schlichtweg nicht dran, ja nicht
einmal geplant. Um den Prozess voranzutreiben,
haben wir in eigener Regie Bedarfe ermittelt und
der Telekom übergeben. Im Ergebnis erhielten
800 Privat- und Geschäftskunden den Zugang
zur breitbandigen Internetnutzung. Für die
Gemeinde mindestens ebenso wichtig: Rathaus
und Bürgerbüros in den Ortsteilen konnten vernetzt, eine Standleitung installiert werden.
Die Breitbanderschließung von Schwielowsee
ist der schwierige Weg von Lückenschluss zu
Lückenschluss. Wir aber wollten von vornherein
eine komplexe Erschließung. Denn es ist doch
keinem Bürger in einer Gemeinde zu vermitteln,
dass er im Ortsteil A mit Überschall im Netz unterwegs ist und in B mit der Postkutsche. Wir haben
immer wieder Druck gemacht: auf den Landkreis,
auf das Wirtschaftsministerium in Potsdam, ja
sogar auf den Bund einschließlich seiner Netzagentur. Da wir eine ganzheitliche Lösung nicht
durchsetzen konnten, haben wir uns im Interesse
unserer Bürger immer einen Platz in der ersten
Reihe erkämpft, wenn die Breitbanderschließung
weiterer Areale im Gemeindegebiet möglich war.
So im Jahr 2014 als im Rahmen des Programms
„Glasfaser 2020“ der Brandenburger Landesregierung weitere Teile von Schwielowsee Gegenstand von Ausschreibungen waren.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
In Brandenburg, so haben wir es im Septemberheft beschrieben, wird die regionale Breitbanderschließung im Regelfall über die Landkreise
realisiert, die dazu Förderanträge stellen und
Ausschreibungen auf den Weg bringen. Warum
hat das für Schwielowsee nicht funktioniert?
Hoppe:
Neben dem Eigenausbau der Telekommunikationsanbieter gibt es bekanntlich auch
Förderprogramme. Dabei sind die Förderkriterien
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
JAHRESTHEMA: INFRASTRUKTUR
Breitbandversorgung
der jeweiligen Programme einzuhalten. Im
Landesprogramm Brandenburg Glasfaser 2020
war es zum Beispiel so, dass eine Förderung nur
möglich war, wenn die Mehrheit der Haushalte
im Versorgungsbereich mit weniger als sechs
MBit/s Bandbreite versorgt war. Hatte also die
Mehrheit der Haushalte bereits sechs MBit/s war
der Breitbandausbau nicht förderfähig.
Dieses Kriterium von Durchschnittswerten ist
für mich mehr als fragwürdig, denn es gibt ja bei
der Internetanbindung keine Ausgleichsmöglichkeiten. Der Bürger, der mit sechs Mbit/s oder mehr
versorgt ist, kann davon seinem Nachbarn, der mit
einer ISDN-Leitung leben muss, nichts abgeben.
Falsche Informationen führten zu
ablehnenden Bescheiden
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Im Umkehrschluss stellt sich die Frage, warum
die Telekom die Lücke geschlossen hat? Haben
sich zum Beispiel die Rahmenbedingungen in
Gestalt höherer Einwohnerzahlen und damit
auch einem größeren Kundenpotenzial geändert?
Hoppe:
Natürlich hat die Telekom die jetzt für Caputh und
die Ortslage Kammerode erfolgreich realisierte
Breitbanderschließung auch vorgenommen, weil
die Hoffnung besteht, dass sich das wirtschaftlich
rechnet. Aber diese Perspektive gibt es in etlichen
Regionen und der Ausbau der Infrastruktur für
das schnelle Internet ist auch für den Großkonzern nur Schritt für Schritt möglich. Insofern
ist es aus heutiger Sicht sinnvoll gewesen, dass wir
nach der erwähnten DSL-Erschließung von Ferch
im Jahr 2006 im Kontakt mit der Telekom immer
wieder ausgelotet haben, was neben geförderten
Projekten an Erschließungsmaßnahmen möglich
ist, die das Unternehmen mit eigenen Mitteln
und dem vollen wirtschaftlichen Risiko auf den
Weg bringen kann. Das Ergebnis, das wir jetzt
am 14. November präsentieren konnten, ist Ausdruck des konstruktiven Zusammenwirkens.
Ich will bei dieser Gelegenheit anmerken, dass
die Telekom auch bei lukrativsten Standorten in
Die Gemeinde Schwielowsee
Schwielowsee ist eine amtsfreie Gemeinde
im Landkreis Potsdam-Mittelmark (Brandenburg). Sie entstand 2002 durch den
Zusammenschluss der drei Gemeinden des
früheren Amtes Schwielowsee (Caputh,
Ferch, Geltow sowie dem bewohnten Gemeindeteil Wildpark-West).
Die Gemeinde erstreckt sich auf einer Fläche
von 58,3 Quadratkilometern und hat rund
10.500 Einwohner. Schwielowsee ist Staatlich anerkannter Erholungsort.
Bürgermeisterin Kerstin Hoppe und Uwe Klawitter, Regio-Manager der Telekom Deutschland im Landkreis PotsdamMittelmark, bei der Inbetriebnahme des neuen Breitbandnetzes in der Gemeinde Schwielowsee am 14. November 2016.
dicht besiedelten Großstadtquartieren nicht selbst
entscheiden darf, ob sie dort investiert. Das letzte
Wort hat immer die Bundesnetzagentur. Für das
jetzt erschlossene Gebiet in Schwielowsee war
der dortige Informationsstand in dieser Behörde
so, dass die Versorgungssituation ausreichend
sei. Wir haben unseren Status, der genau dies
eben nicht zeigte, immer sach- und termingerecht kommuniziert. Zu den verschlungenen
Wegen, auf denen solche Informationen von den
Kommunen über die Kreise und das Land zur
Netzagentur gelangt, erspare ich mir an dieser
Stelle einen Kommentar.
Noch eine kurze Anmerkung zu den Rahmenbedingungen. In unserem Landkreis PotsdamMittelmark gibt es nach meinem Kenntnisstand
zwei Kommunen mit wachsender Einwohnerzahl. Das sind Schwielowsee und Teltow. Unsere
neuen Bürger arbeiten vor allem in Potsdam und
Berlin. Sie sind jung, haben Kinder und bauen
sich hier ihr Einfamilienhaus. Aber die herrliche,
wald- und wasserreiche Umgebung reichen heute
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
allein nicht aus, um den Lebensmittelpunkt nach
Schwielowsee zu verlegen. Schnelles Internet
gehört einfach dazu. Das gilt natürlich auch für
viele kleine, aber sehr feine Unternehmen, die von
hier aus, oft am Anfang aus dem Wohnzimmer,
weltweit agieren.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Die Breitbandinfrastruktur für das schnelle
Internet ist jetzt verfügbar. Was bedeutet das
für die Bewohner von Schwielowsee und die
Unternehmen, die hier tätig sind?
Hoppe:
Eine Verbesserung der Infrastruktur und eine
Aufwertung der nun bestens mit Breitband
erschlossenen Wohn- und Gewerbegrundstücke. Darüber hinaus sind Investitionen
in Infrastruktur immer auch Wirtschaftsförderung: Neuansiedlungen, neue Wohnungsbauprojekte, zusätzliche Arbeitsplätze, höhere
Steuereinnahmen.
11
Breitbandversorgung
Breitbandversorgung in Schwielowsee.
Daten und Fakten
Die Telekom versorgt seit dem 14. November 2016 rund 2.100 Haushalte und Betriebe in der
Gemeinde Schwielowsee (dort im Ortsteil Caputh und der Ortslage Kammerode) mit schnellem
Internet mit Geschwindigkeiten von bis zu 100 Megabit pro Sekunde (MBit/s). Um die Breitbandversorgung sicherzustellen, hat die Telekom 17 neue Knotenpunkte aufgebaut und Glasfaserkabel neu verlegt. Das neue Netz ist so leistungsstark, dass Telefonieren, Surfen und Fernsehen
gleichzeitig möglich sind. Auch das Streamen von Musik und Videos oder das Speichern in der
Cloud ist bequemer. Das maximale Tempo beim Herunterladen steigt auf bis zu 100 Megabit pro
Sekunde (MBit/s) und beim Hochladen auf bis zu 40 MBit/s.
Uwe Klawitter, Regio-Manager der Telekom Deutschland im Landkreis Potsdam-Mittelmark, ordnete
dieses Projekt in die deutschlandweiten Infrastrukturaktivitäten des Unternehmens ein: „Wir investieren
Jahr für Jahr bis zu vier Milliarden Euro in den Netzausbau in Deutschland. Unser Netz wächst täglich. Mit mehr als 400.000 Kilometern betreibt die Telekom bereits heute das größte Glasfasernetz
in Deutschland. Zum Vergleich: Das deutsche Autobahnnetz ist insgesamt 13.000 Kilometer lang.“
Fusionen haben Auswirkungen
auf Daseinsvorsorgestrukturen,
die oft nicht im Blick sind
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Breitband gibt es jetzt für den Ortsteil Caputh
und die Ortslage Kammerode. Schwielowsee
ist also offenbar noch nicht komplett
erschlossen. Wie geht es weiter und warum
umfasste das aktuelle Projekt nicht gleich die
komplette Gemarkung?
Hoppe:
Der Breitbandausbau muss sich an den technischen
Grenzen ausrichten, die leider nicht mit den
Gemeindegrenzen harmonieren. Dieses technische
Raster ist räumlich definiert durch unterschiedliche
Ortsnetzkennzahlen (03327 und 033209). Das
ist eben auch eine Konsequenz, wenn man früher
eigenständige Gemeinden zusammenführt. In dieser
neuen Gebietskörperschaft müssen Erschließungen
im Regelfall diesen technischen Prämissen folgen,
sind also a priori weder konsistent noch homogen.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Betreffen die von Ihnen gerade geschilderten
Netzzuständigkeiten nur das Internet oder
auch andere Infrastrukturen?
Hoppe:
Selbst eine gemeinsame neue Postleitzahl für
die fusionierte neue Gemeinde bekommt man
nicht etwa automatisch. Was da alles geregelt
und beantragt werden muss, übersteigt das
Vorstellungsvermögen von „Otto-Normalverbraucher“. Hier haben wir es geschafft. Bei den
Ortskennzahlen ist uns das auch nach nunmehr
13jährigem Kampf noch nicht gelungen.
Wenn Breitbandversorgung
zur Daseinsvorsorge gehört,
dann muss sie dort, wo die
dazugehörige Infrastruktur
aus betriebswirtschaftlicher
Perspektive nicht errichtet werden
kann, öffentlich finanziert
werden.
„
______________________
Kerstin Hoppe
“
Die Gemeinde Schwielowsee ist nicht zuletzt wegen ihrer landschaftlichen Lage bei gleichzeitiger Nähe zu Potsdam und Berlin eine gefragte Adresse für „Häuslebauer“,
die in Berlin und Potsdam arbeiten, für ihren Wohnsitz aber eine naturnahe und ruhige Lage bevorzugen.
12
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
JAHRESTHEMA: INFRASTRUKTUR
Breitbandversorgung
Ein drittes Beispiel: vor der Bildung der
neuen Gemeinde im Jahr 2003 gehörte die
Gemeinde Caputh, heute ein Ortsteil von
Schwielowsee, zum Berliner ÖPNV-Tarif, der
auch das unmittelbar anliegende Brandenburger Umland, dafür steht das „C“, umfasst.
Die Gemeinde Ferch, seit 2003 ebenfalls Teil
von Schwielowsee, gehörte tariflich schon zu
Brandenburg. Mit der Fusion hatten wir also
in der neuentstandenen Kommune plötzlich
zwei Tarife. Erklären Sie mal einem Bürger des
Ortsteils Ferch, warum er mehr zahlen muss
als ein Caputher, wenn er nach Berlin fahren
will, obwohl in den Personalausweisen beider
als Wohnort Schwielowsee steht.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Wir haben im bereits erwähnten Juniheft sehr
eindeutig die Frage bejaht, ob schnelles Internet zur Daseinsvorsorge gehört. Ist das auch
Ihre Einschätzung?
Hoppe:
Uneingeschränkt ja.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Wenn
Privatunternehmen
für
die
Implementierung von Infrastrukturen zuvorderst die unternehmerische Frage stellen, ob
mit der Nutzung die Refinanzierung dieser
Investitionen gesichert ist, muss man das ohne
Der Ausflug in die kleine Gemeinde Schwielowsee in
Sachen Breitbanderschließung war für den Autor in
mehrfacher Hinsicht aufschlussreich:
Erstens zeigt das Beispiel – und das ist für die Fläche durchaus repräsentativ – dass der Versorgungsgrad nicht nach einem Kriterium wie „mehrheitlich über dem Standard X“ liegend, beurteilt
werden kann. Wenn in einer Kommune eine große oder auch kleine Minorität nur deshalb nicht
erschlossen werden kann, weil eine Mehrheit schon den guten oder besten Standard bereits hat,
so ist das schlicht falsch. Wir reden über Daseinsvorsorge. Dass dieses gerade kritisierte Entscheidungskriterium geradezu grotesk ist, leuchtet schnell ein. Man ersetze nur die Daseinsvorsorgeleistung „Schnelles Internet“ durch das Daseinsvorsorgeangebot „Trinkwasser“. Dann wäre es
legitim 51 Prozent der Einwohner Wasser bester Güte (wie überall in Deutschland gewährleistet)
anzubieten, dem „Rest“ von 49 Prozent aber ein Nass, das allenthalben kühl ist, aber selbst per
Abkochen nicht genussfähig wird……….
Zweitens und das sollte man aktuell vor allem in Brandenburg und Thüringen bedenken, wo
derzeit nach dem Prinzip „Augen zu und durch“ Gebietsreformen auf den Weg gebracht werden
– sollte man kommunale Reformen immer unter Beachtung der Prämisse auf den Weg bringen,
dass unter allen kommunalen Aufgaben die Daseinsvorsorge die höchste Priorität hat. Dass man
kommunale Funktionalitäten und Strukturen regelmäßig auf den Prüfstand stellen muss, ist unstrittig. Aber dabei geht es doch bestenfalls auch um Verwaltungsoptimierung. Vorrangiges Ziel aber
muss es sein, Daseinsvorsorge auch dann zu gewährleisten, wenn sich die Rahmenbedingungen,
hier geht es vor allem um den demografischen Wandel, dramatisch verändern.
Drittens: Auch das Beispiel Schwielowsee zeigt, dass der fast pervers zu nennende Drang, auch
das allerletzte Detail zu regulieren, zur Strangulierung verkommt. Dass eine tüchtige Bürgermeisterin wie Kerstin Hoppe zehn Jahre ihrer Energie verschwenden muss, um den Einwohnern ihrer Gemeinde einen einheitlichen ÖPNV-Tarif zu verschaffen, zeigt, dass viele Bundes- und Landespolitiker
sich endlich dem realen Leben zuwenden müssen, anstatt als in Sonntagsreden über Kommune
4.0 zu schwafeln. Frau Hoppe zeigt, dass es geht. Aber wieviel Kraft muss sie beim Kampf gegen
Windmühlenflügel regelrecht verschwenden. Dabei ist es viel wichtiger, dass sie es geschafft hat,
die Pro-Kopf-Verschuldung der seit 2003 bestehenden Gemeinde Schwielowsee (sie führt den Ort
seit dessen Gründung) von 1.100 auf 330 Euro pro Kopf zu reduzieren.
Viertens: Die Telekom muss sich bei Strafe des Unterganges unternehmerisch verhalten: Dass
sie dabei als Marktführer auch ins vertretbare Risiko geht, und dies nicht nur in Schwielowsee, ist
offenbar in Deutschland nicht mehr selbstverständlich. Also dürfen wir es am Schluss erwähnen.
Und uns wünschen, dass es auf diesem Wege noch mehr an Kooperationen vor Ort gibt, zum
Beispiel mit Stadtwerken, die sich die Geschäftsfelder Telekommunikation und Informationstechnologie gerade erschließen oder auch schon zu den Akteuren gehören.
Prof. Dr. Michael Schäfer
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
UNSER
Gesprächspartner
Kerstin Hoppe wurde am 9. August 1965
in Luckenwalde (Land Brandenburg) geboren. Ihr Studium an der Ingenieurschule für
Bauwesen und Ingenieurpädagogik Magdeburg schloss sie 1988 als Diplom-Ingenieurin
für Hochbau (FH) ab.
Danach war Kerstin Hoppe u.a. im Brückenbau, in der Tragwerksplanung und in der
Bauleitung tätig. Seit 2003 ist sie Bürgermeisterin der Gemeinde Schwielowsee. Im
Zusammenhang mit diesem Amt ist sie u.a.
Vorsitzende der Verbandsversammlung des
Wasser- und Abwasserzweckverbandes Werder/Havelland, Vorsitzende des Aufsichtsrates
der Gesellschaft kommunaler E.dis-Aktionäre
und Mitglied im Präsidium der Städte- und
Gemeindebundes Brandenburg.
Kerstin Hoppe ist Mitglied der CDU. Seit 2003
ist sie Vorstandsmitglied im CDU-Kreisverband
Potsdam-Mittelmark. 2007 wurde sie zum
1. Stellvertreter des Landesvorsitzenden der
Kommunalpolitischen Vereinigung der CDU
Brandenburg gewählt und im selben Jahr
zur Stellvertretenden Bundesvorsitzenden der
Kommunalpolitischen Vereinigung von CDU/
CSU. Dort vertritt sie die Interessen der Gemeinden, die 10.000 und weniger Einwohner
haben. Beide Ämter übt sie nach mehrfacher
Wiederwahl auch aktuell aus.
„wenn und aber“ akzeptieren. Heißt das in der
Konsequenz, dass dort, wo die Refinanzierung
nicht dargestellt werden kann – also in strukturschwachen Regionen wie der Uckermark –
öffentliche Forderung unabdingbar ist?
Hoppe:
Das ist die Konsequenz. Wenn die Breitbandversorgung zur Daseinsvorsorge gehört, dann muss
sie dort, wo die dazugehörige Infrastruktur aus
rein betriebswirtschaftlicher Perspektive weder
errichtet noch betrieben werden kann, öffentlich
finanziert werden. Auch hier gibt es kein schwarzweiß, sondern fließende Übergänge. Es verdient
Anerkennung, wenn ein sehr großer Anbieter
wie die Telekom auch dort investiert, wo eine
Refinanzierung aktuell nicht garantiert werden
kann. Solche vertretbaren Risiken sollten Marktführer auch eingehen. Die Telekom tut es. Nach
meinem Kenntnisstand hat sie in der von Ihnen
gerade genannten Uckermark unter anderem die
Stadt Prenzlau im Jahr 2013 im Rahmen ihres
Vectoring-Ausbauprogramms erschlossen.
n
Das Gespräch führte Michael Schäfer
i
infos
www.schwielowsee.de
13
Digitalisierung
Digitalisierung und Daseinsvorsorge
Auf dem Weg ins digitale Zeitalter
Roundtable-Gespräch zu den Potentialen für kleinere und mittlere Stadtwerke
D
ie Digitalisierung wird derzeit vor allem mit Bezug auf große Metropolenräume und industrielle Anwendungen diskutiert. Tatsächlich
verbinden sich mit der kommunikationstechnologischen Vernetzung auch für Kleinstädte und den ländlichen Raum enorme
Möglichkeiten. Eine leistungsfähige Breitbandverbindung vorausgesetzt, wird es immer leichter werden, das beschauliche Landleben
mit der Globalisierung zu verknüpfen. Im Hinblick auf die Daseinsvorsorge und auf eine geringer werdende Siedlungsdichte können mittelfristig
nur die Effizienzpotentiale der Digitalisierung eine Versorgung auf gleichbleibend hohem Niveau und mit angemessenem Aufwand sicherstellen.
Lesen Sie zu diesem Themenkomplex die Zusammenfassung einer Diskussionsrunde im mecklenburgischen Mittelzentrum Teterow.
Vertreten waren die wichtigsten kommunalen Unternehmen der Stadt, der Bürgermeister – in Personalunion auch Präsident des Städteund Gemeindetages im nordöstlichsten Bundesland – sowie ein kommunales Unternehmen aus den Niederlanden, welches seit einigen
Jahren auch in deutschen Kommunen mit innovativen Konzepten überzeugen kann.
Der Prozess der Digitalisierung wird nicht aufzuhalten sein, beginnt Prof. Dr. Michael Schäfer. In
diesem Zusammenhang würden immer wieder Analogien zu früheren Epochenwenden bemüht, sei es
die Industrielle Revolution, die Deutsche Einheit
oder der Beginn einer automatisierten Produktion
an den Fließbändern der Detroiter Ford-Werke. Der
Herausgeber dieser Zeitschrift und Moderator der
Debatte fragt, wie die Digitalisierung von den Disputanten am Tisch in den sozialhistorischen Kontext
eingeordnet wird.
Digitalisierung und Globalisierung sind zwei
Seiten der gleichen Medaille, sagt Manuela Hilse.
Die Wirkungen auf die einzelnen Kommunen seien
äußerst komplex. Einerseits könnten Kleinstädte wie
Teterow von einer digitalisierten und zunehmend
flexibler werdenden Arbeitswelt profitieren,
andererseits trage die noch immer unzureichende
Breitbandversorgung dazu bei, den Unterschied zu
den prosperierenden Metropolregionen weiter zu
vertiefen, so die Geschäftsführerin der Teterower
Wohnungsgesellschaft.
Caspar von Ziegner wirft ein, dass man sich
abseits von Attributen und Analogien eines
umfassenden und tiefgreifenden Wandels bewusst
sein muss. Dies sei die Voraussetzung, um die
technischen Möglichkeiten bestmöglich für die
Menschen nutzbar zu machen. Die Übertragungsraten mögen sich vervielfacht haben, doch das Zeitbudget und die menschliche Aufnahmekapazität
nicht. Kommunikations- und Informationsprozesse
bedürften daher weiterhin einer aktiven Selektion,
so der Unternehmensentwickler der Alliander AG.
Der Bürgermeister von Teterow stimmt zu:
Zentrale Prämisse bei einer Implementierung
digitaler Prozesse müsse der Nutzwert für den
Menschen und für seine alltägliche Lebenswelt
sein. Die Digitalisierung solle Arbeit abnehmen
und nicht neue schaffen. Sie müsse es ermöglichen, auch mal zur Ruhe zu kommen, und dürfe
nicht dazu führen, von immer neuen Angeboten
und Informationen getrieben zu sein, so Dr. Reinhard Dettmann. Bei der Datensicherheit hätten
einige benachbarte Kommunen bereits schlechte
14
Erfahrungen sammeln müssen. Daher habe die
Stadt Teterow eigens zwei IT-Fachleute eingestellt,
um Daten besser schützen und Prozesse besser verknüpfen zu können. Zwar sei eine leistungsfähige
Breitbandanbindung für den ländlichen Raum eine
zentrale Entwicklungsvoraussetzung, damit allein
sei es jedoch noch lange nicht getan. Manuela Hilse
ergänzt, dass in Teterow Vieles schon umgesetzt
ist. So seien Auftragsvergabe, -abwicklung und
Rechnungslegung zwischen der Wohnungsgesellschaft und den mittelständischen Handwerksbetrieben der Region bereits vollständig digitalisiert.
Kluge Konzepte
Digitalisierung ist kein Selbstzweck, so Prof. Dr.
Michael Schäfer. Die Oberfläche dürfe nicht die
Inhalte bestimmen, sondern müsse als Instrument
zur Erreichung gesetzter Prämissen dienen. Die
Kommunen dürften sich der Digitalisierung nicht verweigern, doch sie müssten auch den Mut aufbringen,
Grenzen zu definieren, was sinnvoll ist und was nicht.
Nicht alles, was technisch möglich ist, sei auch notwendig. „Im Zentrum aller Überlegungen müssen die
Bedürfnisse der Kunden stehen“, stimmt Caspar von
Ziegner zu. Gerade auf dem Land könnten digitale
Lösungen zu einer erheblichen Steigerung der Lebensqualität beitragen. Dr. Dettmann sieht das ähnlich.
Allerdings würden viele Dörfer schneller schrumpfen,
als sich die älteren Mitbürger mit der Digitalisierung
arrangieren. Und nur weil es möglich ist, würden sich
nicht automatisch neue Menschen ansiedeln.
„Letztlich ist es auch eine Frage des Preises“,
sagt Manuela Hilse. Assistenzsysteme seien sicherlich geeignet, das Leben im Alter auf dem Land
zu erleichtern, allerdings ließen sich die teilweise
erheblichen Implementierungskosten mit den zu
erwartenden Nutzerzahlen kaum rechtfertigen.
„Smart Meter sind an sich eine gute Sache“,
sagt Klaus Reinders. Doch auch die innovativsten
Angebote müssten sich an ihrem Nutzen messen
lassen. Zusätzlich werde der Kostenaufwand durch
eine vielfach unangemessene Regulierung erhöht,
so der Geschäftsführer der Teterower Stadtwerke.
Reinders stemmt sich gegen einen Automatismus,
dass das was technisch möglich ist, auch umgesetzt
Der direkte Kontakt und Austausch mit den Kunden ist für uns
von großem Wert. Auch deshalb
versorgen wir noch 95 Prozent der
Netzkunden selbst.
„
______________________
Klaus Reinders
“
Die Runde traf sich am Sitz der Stadtwerke Teterow.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
JAHRESTHEMA: INFRASTRUKTUR
Digitalisierung
Caspar von Ziegner (l.) und Dr. Reinhard Dettmann
Klaus Reinders und Manuela Hilse
werden muss. „Der normale Haushaltskunde im
Reihenhaus oder Plattenbau braucht keinen Smart
Meter. Dagegen lässt sich für das Eigenheim mit
Garten durchaus ein Mehrwert denken.“ Eine flächendeckende Implementierung empfindet Reinders als
unfair. Es könne nicht sein, dass lediglich wohlhabende
Haushalte spürbare Vorteile generieren können, die
Kosten aber unter allen Nutzern solidarisiert werden.
Selbstverständlich würden sich auch die Stadtwerke
Teterow den Anforderungen der Digitalisierung
stellen. So hätte man sich mit den Kollegen aus Neustrelitz zusammengetan, um ein gemeinsames Rechenzentrum aufzubauen.
Aktuell werde an einem neuen IT-Sicherheitskonzept gefeilt, so der Stadtwerke-Geschäftsführer.
„Sowohl Erzeugung als auch Verbrauch werden
immer dezentraler“, sagt Caspar von Ziegner.
Dieser Trend zu komplexeren Strukturen sei für
die Datensicherheit eher vorteilhaft. Die Stadtwerke mit ihrer engen Bindung an die Kunden
und an die Region seien prädestiniert, den
Zentrale Prämisse bei einer
Implementierung digitaler
Prozesse muss der Nutzwert für
den Menschen und für seine alltägliche Lebenswelt sein.
„
______________________
Dr. Reinhard Dettmann
“
Prozess der Digitalisierung zu moderieren und zu
gestalten. Dazu gehörten Smart Meter, die wirklich klug sind und Informationen gemäß ihrem
tatsächlichen Nutzwert erfassen. Alliander testet
als Netzdienstleister im rheinländischen Heinsberg
solche Technik bereits erfolgreich. Dr. Dettmann
wirft ein, dass eine intelligente Steuerung auch
von den Nutzern und nicht zuletzt von den
Angestellten der Versorgungsbetriebe nachvollzogen werden müsse. Leider fehle es den mittelständischen Unternehmen in Teterow jedoch
zunehmend an geeignetem Nachwuchs.
Effizienz und Bürgernähe
„Wenn man den Prozess der Digitalisierung als derart umfassenden Wandel begreift als der er ständig
apostrophiert wird, dann wird man den daraus
Neben positiven Effizienzpotentialen hat die Digitalisierung
durchaus auch nachteilige Effekte.
„
______________________
Manuela Hilse
“
resultierenden Chancen und Herausforderungen
nur mit einer ausgefeilten Konzeption entsprechen
können“, sagt Prof. Dr. Schäfer. Das Strommarktdesign oder auch die Umlagefinanzierung werde
diesen Prämissen nicht gerecht. Beispielhaft wird die
Förderung der E-Mobilität mit ihren „lächerlichen
Verkaufszahlen“ als „Rohrkrepierer“ beschrieben.
Im Hinblick auf die Raumentwicklung sei es viel zu
einfach gedacht, dass strukturschwache Gebiete automatisch wiederbevölkert würden, nur weil dort ein
paar Glasfaserkabel anlandeten.
Manuela Hilse bringt ein Beispiel aus der
Wohnungswirtschaft. Die Energieeinsparverordnung mit ihren Anforderungen an eine möglichst energieschonende Dämmung hätte das Bauen
deutlich verteuert. Um Schimmelbildung zu verhindern, müssten nun kontrollierte Lüftungsanlagen
installiert werden, die wiederum Geld und Energie
verschlingen. „Die Wärmedämmung ist ein gutes
Die Stadtwerke mit ihrer engen
Bindung an die Kunden und an
die Region sind prädestiniert,
den Prozess der Digitalisierung zu
moderieren und zu gestalten.
„
______________________
Caspar von Ziegner
“
Beispiel, wie der Einfluss der Industrie an sich wohlmeinende Ideen konterkarieren kann“, so Prof. Dr.
Schäfer. Diese schlechten Erfahrungen sollten dazu
veranlassen, neue Entwicklungen möglichst optimal
an klar definierten Zielorientierungen auszurichten.
Die Alliander AG
Als kommunal geprägtes Technologie-Unternehmen setzt sich Alliander
aktiv für den Erfolg der Energiewende ein.
Alliander ist Innovationsführer auf dem Gebiet der digitalen Energieinfrastruktur und bietet maßgeschneiderte Produkte und Lösungen zur Umsetzung neuer lokaler Energiekonzepte. Als Dienstleister und Partner von
Netzbetreibern, Städten und Kommunen übernimmt das Unternehmen
die Planung, Installation und Betriebsführung von Infrastrukturen im Bereich Energie, Verkehr und Telekommunikation.
Alliander bietet Produkte und Lösungen für Smart Grid, Smart Home
und Smart City inklusive Ladeinfrastrukturen für Elektro-Mobilität. Auch im
Bereich der öffentlichen Beleuchtung und Lichtsignalanlagen sind intelligente und effiziente Lösungen eine Stärke des Unternehmens.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
Alliander sucht die Partnerschaft mit Kommunen und Initiativen, um
mit ihnen gemeinsam die Energiewende bezahlbar und bürgernah
umzusetzen.
Die Alliander AG ist Tochter der Alliander N.V., einem der führenden Energienetzbetreiber in den Niederlanden, der dort sechs Millionen Menschen
mit Energie versorgt und auf eine rund hundertjährige Unternehmensgeschichte zurückblickt. 2012 hat das Unternehmen das erste vollwertige
Smart Grid erfolgreich in Amsterdam installiert und in Betrieb genommen.
Seit 2001 ist Alliander auch in Deutschland aktiv.
In Deutschland hat die Alliander AG bundesweit 160 Mitarbeiter, der
Hauptsitz ist in Berlin-Adlershof, ein weiterer großer Standort befindet sich
in Heinsberg (NRW).
15
Digitalisierung
Klaus Reinders thematisiert die Datensicherheit.
Die enormen regulatorischen Anforderungen für
den Umgang mit Verbraucherdaten seien letztlich
nur in Kooperation mit Partnern zu bewältigen. „Bis
heute gibt es kein zertifiziertes System der GatewayAdministration, welches die gesetzlichen Vorgaben
erfüllt.“ Der Verband kommunaler Unternehmen
in Mecklenburg-Vorpommern arbeite aktuell an
einem Konzept, das alle Versorger im Land einschließt. „Diese Form der Überregulierung widerspricht der kommunalen Selbstverwaltung“, sagt
Dr. Dettmann. Er fragt, wo die Kommunen denn
noch frei seien in ihren Entscheidungen.
Wir reden zum einen von Prozessen, die uns von
außen aufgezwungen wurden und zweitens von freiwilligen Kooperationen, mit denen sich die enormen
Herausforderungen stemmen lassen, fasst Prof. Dr.
Schäfer zusammen. Letzteres sei im Hinblick auf die
kommunale Selbstverwaltung der richtige Weg. Die
Digitalisierung schaffe dafür zentrale Voraussetzungen.
Er fragt, ob diese
Die Teilnehmer der Gesprächsrunde
Kooperationspotentiale
(in namensalphabetischer Reihenfolge)
von den kommunalen
Dettmann, Dr., Reinhard, Vorstand Städte- und Gemeindetages
Unternehmen
ausMecklenburg-Vorpommern, Bürgermeister Stadt Teterow
reichend
genutzt
Hilse, Manuela, Geschäftsführerin Teterower Wohnungsgesellschaft mbH
werden. Schon jetzt
Reinders, Klaus, stellvertretender Vorsitzender der VKU-Landesgruppe
würden back-officeNord, Geschäftsführer der Stadtwerke Teterow GmbH
Prozesse, wie etwa
Ziegner, Caspar von, Bereich Unternehmensentwicklung,
die
Buchhaltung,
Alliander
AG, Berlin
an externe DienstDie
Diskussion
wurde moderiert von Prof. Dr. Michael Schäfer.
leister ausgelagert, sagt
Manuela Hilse. Neben
positiven Effizienzpotentialen gebe es durchaus
Auftrag aber auch zentraler Wettbewerbsvorteil
auch nachteilige Effekte – etwa ein Verlust an
der kommunalen Wirtschaft.
Kontrolle mit einem entsprechend schwierigerem
Auch die Stadtwerkekunden würden die persönFehlermanagement oder die Rationalisierung von
lich fassbare Präsenz am Ort schätzen, ergänzt Klaus
Arbeitskraft. Zudem dürften Effizienzkriterien
Reinders. „Wir schicken bewusst noch jedes Jahr
nicht dazu führen, dass die kommunalen Untereinen Kollegen in die Haushalte, um dort die Zähler
abzulesen. Der direkte Kontakt und Austausch mit
nehmen die Nähe zu Bürgern und Kunden verden Kunden ist für uns von großem Wert.“ Zudem
nachlässigen. Schließlich sei dies gleichzeitig
könnten auf diesem Wege die technischen Einrichtungen regelmäßig auf ihre Funktionsfähigkeit
überprüft werden. „Auch deshalb versorgen wir
noch 95 Prozent der Netzkunden selbst“, so der
Geschäftsführer der Stadtwerke Teterow. „Die ausgeprägte Kundenbindung wird uns auch den Einstieg in die Breitbandversorgung erleichtern“, ist sich
Dr. Dettmann sicher. Und die Wertschöpfung bleibe
vor Ort. Der Bürgermeister begreift Bürgernähe
und Gesprächsbereitschaft als Teil der kommunalen
Daseinsvorsorge. „Wir sollten gerade die älteren
Menschen nicht allein lassen.“
Caspar von Ziegner stimmt zu. Die Kommunen
müssten kontinuierlich eine Abwägung zwischen
konkreten Kosteneffekten und den geschilderten
weichen Faktoren vornehmen. Alliander als
Unternehmen der niederländischen Kommunen
hätte sich diesem vermeintlichen Widerspruch
konzeptionell angenähert. Smart City Amsterdam
sollte beantworten, wie sich sozialer Austausch und
Die 800 Jahre alte mecklenburgische Mittelstadt Teterow aus der Luft – in der rechten Bildhälfte der Teterower See
mit der Burgwallinsel.
Digitalisierung möglichst gut in Einklang bringen
lassen. Selbstverständlich müsse es Anknüpfungspunkte zu den Menschen geben, doch genauso
selbstverständlich müsse geklärt sein, wie viel diese
kosten und wer diese Aufwände bezahlt, so der UnterDie Digitalisierung wird derzeit vor allem mit Bezug auf
nehmensentwickler von Alliander.
große Metropolenräume und industrielle Anwendungen
Gerade in kleineren Kommunen, wie in
diskutiert. Tatsächlich verbinden sich mit der kommuniTeterow, sei der direkte Kontakt zum Bürger von
kationstechnologischen Vernetzung auch für Kleinstädte
enormer Relevanz. Diese besondere Atmosphäre
und den ländlichen Raum enorme Möglichkeiten. Eine
sei letztlich ein zentraler Standortvorteil des ländleistungsfähige Breitbandverbindung vorausgesetzt, wird
lichen Raums, sagt Prof. Dr. Schäfer. „Wenn
es immer leichter werden, das beschauliche Landleben mit der Globalisierung zu verknüpfen. Im
Digitalisierung richtig verstanden wird, dann soll
Hinblick auf die Daseinsvorsorge und auf eine geringer werdende Siedlungsdichte können mittelsie eben jene Ressourcen sparen, die dann für solche
fristig nur die Effizienzpotentiale der Digitalisierung eine Versorgung auf gleichbleibend hohem
Zwecke eingesetzt werden können.“
n
Niveau und mit angemessenem Aufwand sicherstellen. Lesen Sie zu diesem Themenkomplex
Die Gesprächsrunde dokumentierte Falk Schäfer
die Zusammenfassung einer Diskussionsrunde im mecklenburgischen Mittelzentrum Teterow.
Vertreten waren die wichtigsten kommunalen Unternehmen der Stadt, der Bürgermeister – in
Personalunion auch Präsident des Städte- und Gemeindetages im nordöstlichsten Bundesland –
sowie ein kommunales Unternehmen aus den Niederlanden, welches seit einigen Jahren auch in
deutschen Kommunen mit innovativen Konzepten überzeugen kann.
Falk Schäfer
16
i
infos
www.alliander.de
www.sw-teterow.de
www.teterow.de
www.teterower-wg.de
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
gültig ab 13.12.2015
gültig ab 13.12.2015
Niedersachsen
Niedersachsen
Herzberg (Harz) Harzer S
RB 80 Ellrich Wernige
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(Helme)
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Wolkramshausen
Nohra (Wipper)
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Nordhausen
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RB 75 RB 51
Gebra (Hainleite)
Sollstedt
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Hausen
RE 19
Leinefelde
RB 51
RE 9
RE 19
Sonders
RE 19
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Bodenrode
Wingerode
Bodenrode
RB 51
RB 51
RE 9
Arenshausen
Eichenberg
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Mühlhausen
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RB 51
RE 2
RB 52
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Interkommunale Kooperation
Landwerke M-V GmbH – Gemeinsam. Regional. Stark.
Acht kommunale Energieversorger
schließen sich zu Plattform zusammen
Von Caspar Baumgart, Vorstand Wemag AG und Frank Schmetzke, Geschäftsführer Stadtwerke
Neustrelitz GmbH, beide auch Geschäftsführer der Landwerke M-V GmbH
K
ommunal- und auch Landespolitiker erkennen zunehmend das Erfordernis zu einer stärkeren Regionalisierung der Daseinsvorsorge.
Dieses Postulat wird vor allem für strukturschwache Flächenregionen formuliert und ist im Jahr 2011 auch erstmals wissenschaftlich
umfassend begründet worden.1 Regionalisierung – das heißt im Regelfall auch, dass der Kooperationsgrad im Bereich der
kommunalwirtschaftlichen Betätigung deutlich erhöht werden muss. Zwischen der grundlegenden Erkenntnis und der praktischen
Umsetzung besteht auch weiterhin deutschlandweit ein deutliches Delta. Insofern erfahren Projekte, die mit der Intention gestartet werden,
dieses Defizit zu kompensieren, besondere Aufmerksamkeit. Deren publizistische Begleitung hat vor allem die folgenden Intentionen: sie
stellen Umsetzungsszenarien vor allem mit dem Ziel zur Diskussion, den Erfahrungsaustausch zu fördern. Und sie soll den Protagonisten,
die sich auf dieses bekanntlich komplizierte Terrain begeben, Mut machen.
Die Redaktion hat aus genannten Gründen die beiden Geschäftsführer der vor einem Jahr gegründeten Landwerke M-V GmbH, Caspar
Baumgart und Frank Schmetzke, gebeten, dieses neue Unternehmen im Bereich der kommunalen Energiewirtschaft im Dezemberheft
von UNTERNEHMERIN KOMMUNE vorzustellen.
Die Gesellschaft hat das Ziel, gemeinsame
Projekte zu entwickeln und zu betreiben, zunächst auf
den Feldern der Erneuerbaren Energien, der Wärmeversorgung und der Breitbandversorgung. Jedem
Gesellschafter bleibt es unbenommen, auf diesen und
allen anderen denkbaren Feldern nach wie vor auch
Caspar Baumgart
Im Dezember 2015 wurde die Landwerke M-V
GmbH gegründet. Gründungsgesellschafter sind
die Stadtwerke Malchow, die Stadtwerke Neustrelitz GmbH, die Stadtwerke Teterow GmbH,
die WEMAG AG sowie die Kommunalwind Nord
GmbH, hinter der zu gleichen Anteilen die Stadtwerke Prenzlau GmbH und die Stadtwerke Waren
GmbH stehen. Im April bzw. November 2016 traten
die Stadtwerke Pasewalk GmbH und die Stadtwerke
Rostock AG der Gesellschaft bei. Die Gesellschaft
steht weiteren kommunalen Unternehmen aus
Mecklenburg-Vorpommern offen. Frank Schmetzke,
Geschäftsführer der Stadtwerke Neustrelitz GmbH,
und Caspar Baumgart, Vorstandsmitglied der
WEMAG AG, bilden das Geschäftsführer-Team.
Die Stadtwerke Neustrelitz haben die kaufmännische
Betriebsführung der Gesellschaft übernommen.
18
Frank Schmetzke
bringen. Besonders um die Art und Weise des Miteinanders soll es im Folgenden gehen.
Die Grundbedingung für das Gelingen sehen
alle Beteiligten darin, dass man auf gleicher Augenhöhe miteinander umgeht. Das findet seinen sichtbarsten Ausdruck darin, dass alle Gesellschafter
über gleiche Anteile und damit gleiches Stimmrecht in der Gesellschaft verfügen. Und es findet
seine Fortsetzung in einem ordentlichen Umgang
miteinander. Die Gesellschafterversammlungen
werden von den Chefs der beteiligten Unternehmen wahrgenommen. Man nimmt das
gemeinsame Vorhaben ernst. Man nimmt
sich Zeit füreinander und für die Erarbeitung
gemeinsamer Sichtweisen. Man sucht nach der
optimalen Kombination der verschiedenen Fähigkeiten der Gesellschafter, wenn es darum geht,
Projekte zu bewerten, zu entwickeln und künftig
zu betreiben. So treiben gerade die Stadtwerke
Pasewalk als Ansprechpartner einer Kommune in
der Nähe von Pasewalk, die Stadtwerke Neustrelitz
als erster Ansprechpartner für einen involvierten
Windprojektierer und die WEMAG mit ihrer
Erfahrung aus anderen Projekten ein erstes
gemeinsames Windprojekt voran.
Konsensorientierter Ansatz
eigene Projekte zu verfolgen. Gleichwohl versprechen
sich die Gesellschafter vom gemeinsamen Vorgehen
Vorteile. Das wird dieser Beitrag deutlich machen.
Für alle Beteiligten sind der Zusammenschluss und
die Ausprägung der Zusammenarbeit eine spannende
Angelegenheit. Denn hier wollen acht Unternehmen
mit unterschiedlicher Größe, unterschiedlicher Ausrichtung und nicht zuletzt unterschiedlichen internen
Entscheidungsstrukturen effektiv und vertrauensvoll
zusammenarbeiten und gemeinsam etwas in Gang
Dieses Verständnis von Zusammenarbeit bedingt,
dass es Mehrheitsentscheidungen über die Durchführung von Projekten nicht geben kann. Wenn
ein Projekt umgesetzt werden soll, darf kein
Gesellschafter gezwungenermaßen mittun müssen.
Dies wiederum hat zur Folge, dass die Funktion der
1 Vgl.: Mit strukturübergreifenden Strategien die demografischen
Herausforderungen meistern. Eine Bestandsaufnahme mit dem Schwerpunkt kommunalwirtschaftliche Betätigung. Studie des „Verbundnetz
für kommunale Energie“, Berlin, 2011 (verfügbar unter www.vfke.org)
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
JAHRESTHEMA: INFRASTRUKTUR
Interkommunale Kooperation
Landwerke M-V GmbH vorrangig die einer Plattform sein wird. Hier werden Projekte identifiziert und
vorbereitet, aber nicht unbedingt umgesetzt. Es ist
zwar nicht ausgeschlossen, dass die Landwerke M-V
selbst ein Projekt realisieren, wenn alle Gesellschafter
einverstanden sind und im Fall eines zusätzlichen
Kapitalbedarfs auch zu gleichen Anteilen Kapital
bereitstellen. Wenn aber einzelne Gesellschafter
sich an einem Projekt nicht beteiligen wollen oder
die Beteiligungsquoten der Gesellschafter an einem
Projekt nicht gleich groß sein sollen, wird das Projekt
in einer gesonderten Projektgesellschaft umgesetzt.
Hier ist es dann möglich, dass der Gesellschafterkreis
nicht dem kompletten Gesellschafterkreis der Landwerke M-V entspricht oder aber die Gesellschafter
mit unterschiedlichen Anteilen beteiligt sind. Mit
dieser Vorgehensweise wird die Beachtung des
übergeordneten Ziels gewährleistet, dass die gleichberechtigten Anteilsverhältnisse in der Landwerke
M-V GmbH unbedingt erhalten bleiben müssen.
Ein erstes Beispiel für diese Vorgehensweise
bildet die Gründung der Landwerke M-V Breitband GmbH. Sie beteiligt sich an den derzeit
laufenden bzw. in Vorbereitung befindlichen
Ausschreibungen der Breitbandversorgung auf
der Grundlage von Fördermitteln des Bundes,
etwas schnoddrig als die „Dobrindt-Milliarden“
betitelt, und des Landes.
Die Landwerke M-V Breitband GmbH
wurde zunächst von drei Unternehmen aus dem
Gesellschafterkreis der Landwerke M-V GmbH
gegründet, die bereits entsprechende Gremienbeschlüsse ihrer Häuser vorliegen hatten bzw. diese
Die Landwerke M-V versprechen
sich von der Bündelung ihrer
Gesellschafter und der Bündelung
von deren Fähigkeiten, dass
auf diese Weise Projekte in der
Zusammenarbeit besser und im
Zweifel auch wirtschaftlicher
umgesetzt werden können.
„
______________________
Caspar Baumgart
“
Beschlüsse zügig herbeiführen konnten. Zwei weitere
Gesellschafter werden absehbar hinzukommen. Die
verbleibenden Landwerke-Gesellschafter werden sich
in einem angemessenen Zeitraum entscheiden. Die
Geschäftsanteile an der Breitband-Gesellschaft sind
wiederum zu gleichen Teilen von den mitwirkenden
Gesellschaftern übernommen worden.
Neben diesem strukturellen Aspekt bietet das
Breitband-Projekt ein Beispiel dafür, wie auch die
inhaltliche Zusammenarbeit im Sinne eines einerseits
fairen und gleichberechtigten, andererseits effektiven
Miteinanders gestaltet werden kann. Oberste Maxime
ist die Frage „wer kann was?“, wie können die Fähigkeiten und Ressourcen der Gesellschafter optimal
im Sinne des Projekterfolgs kombiniert werden. Die
Stadtwerke Neustrelitz und die WEMAG verfügen
über Know-how und Erfahrung in der Errichtung
und im Betrieb von Breitbandnetzen. Die Stadtwerke
Teterow sind ebenfalls gerade dabei, die Stadt Teterow
mit Glasfaserleitungen zu verkabeln. Die LandwerkeGesellschafter hatten schnell räumliche Bereiche im
Ostteil des Landes identifiziert, in denen sich Breitbandaktivitäten aus Sicht der Landwerke lohnen
könnten. Die WEMAG wird sich unabhängig von
den Landwerken im Westteil des Landes bewerben.
Ein Tätigwerden der Landwerke auch hier hätte deren
Ressourcen überfordert.
Gleichwohl erfolgte die Vorbereitung auf die
Ausschreibungen in enger Abstimmung zwischen
Mitarbeitern der Stadtwerke Neustrelitz und der
WEMAG. In der Auswahl und Beauftragung von
Planern, bei der Ausschreibung von Rahmenverträgen zur Umsetzung der Ausbauprojekte im Fall
der Zuschlagserteilung und auf einigen Feldern
mehr wurde einheitlich vorgegangen. Kommt
es zur Zuschlagserteilung und zur Umsetzung
von Projekten werden weitere Gesellschafter
der Landwerke M-V Breitband GmbH für die
Breibandgesellschaft tätigt werden. Dies betrifft
Teile des technischen Netzbetriebs und den Vertrieb. Dabei ist es für die Kultur der Zusammenarbeit im Landwerke-Verbund wichtig, diese
Bündelung von Ressourcen und Know-how
einerseits und die Verteilung der Leistungspakete
andererseits transparent und einvernehmlich
vorzunehmen.
Das Breitband-Beispiel verdeutlicht, welche
übergeordnete Zielsetzung mit dem Projekt
Landwerke M-V verbunden ist. Es geht darum,
gemeinsam mit anderen kommunalen Unternehmen Dinge umzusetzen, die das einzelne Unternehmen nicht ohne weiteres allein
realisieren könnte. Der Mangel an Ressourcen
und Know-how mag zum Teil eine Rolle spielen.
Wenn man auf die eingangs bezeichneten
Themenfelder Erneuerbare Energien, Wärme
und Breitband blickt, trifft das aber nur eingeschränkt zu. An ihnen zeigt sich nämlich, dass
die Fähigkeit zur Umsetzung eigener Projekte bei
den verschiedenen Gesellschaftern der Landwerke
durchaus vorhanden ist. Jeder Gesellschafter verfügt über eigene Wärmeversorgungen. Windprojekte haben einige Gesellschafter ebenfalls,
mit der Kommunalwind Nord GmbH ist sogar
ein Unternehmen beteiligt, dessen Gesellschaftszweck die Umsetzung entsprechender Projekte
ist. Biogas- und Fotovoltaikanlagen sind ebenfalls
im Bestand mehrerer Gesellschafter vertreten.
Und Breitbandaktivitäten gibt es – wie gesagt –
auch bei mehreren Gesellschaftern.
Trotzdem versprechen sich die Landwerke
M-V von der Bündelung ihrer Gesellschafter
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
UNSERE AUTOREN
Caspar Baumgart wurde am 25. Februar
1965 in Celle geboren. Nach einem juristischen
Studium in Freiburg und Göttingen absolvierte er seine Referendarzeit in Hamburg
und Schwerin. Im Anschluss arbeitete er als
Rechtsanwalt in Schwerin und wechselte
1997 zur Thüga-Aktiengesellschaft, München.
Dort war er zuletzt als Hauptabteilungsleiter
Recht tätig, bevor er 2010 im Zuge der Kommunalisierung der Schweriner WEMAG AG
Vorstandsmitglied dieses Unternehmens wurde. Seit 2003 ist Caspar Baumgart zudem
Mitglied verschiedener Aufsichtsräte innerhalb und außerhalb der Thüga-Gruppe.
Frank Schmetzke wurde am 22.02.1965
in Prenzlau geboren. Nach dem ÖkonomieStudium an der Humboldt-Universität zu
Berlin und einem Jahr Tätigkeit im Vorstand
einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft befasste er sich mit dem
Strukturwandel der Wirtschaftsregion des
damaligen Landkreises Neustrelitz. Hier
agierte Frank Schmetzke als Geschäftsführer einer landesweit tätigen Beschäftigungsgesellschaft. Im Jahr 2001 übernahm
er die Geschäftsführung der Stadtwerke
Neustrelitz GmbH.
und der Bündelung von deren Fähigkeiten, dass
auf diese Weise Projekte in der Zusammenarbeit
besser und im Zweifel auch wirtschaftlicher
umgesetzt werden können. Dazu ist am Beispiel
Breitband genug gesagt worden. Neben diesem
Vorteil sehen die beteiligten Unternehmen aus
dem Zusammenschluss in den Landwerken
M-V einen verbesserten Zugang zu Projekten.
Zum einen sind schlicht Projekte ganz anderer
Größenordnung umsetzbar, wenn sich mehrere
der Gesellschafter für die Realisierung entscheiden, als wenn ein Unternehmen auf sich
allein gestellt investieren müsste. Zum anderen
lässt der Landwerke-Verbund aufgrund der räumlichen Verteilung seiner Gesellschafter einen
überregionalen Ansatz bei der Projektakquise
zu. Die Gesellschafter sind gleichmäßig über das
Land verteilt (lediglich der äußerste Nordosten
ist noch nicht richtig abgedeckt, aber was noch
nicht ist, kann ja noch werden). So können die
Landwerke M-V gegenüber potentiellen Kunden,
Gemeinden, Flächeneigentümern, Behörden und
anderen Stakeholdern landesweit glaubwürdig
und selbstbewusst getreu dem selbst gewählten
Claim auftreten: Regional. Gemeinsam. Stark. n
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19
KOMMUNALWIRTSCHAFT AKTUELL
übrigens
Die EU-Kommission hat Klage gegen Deutschland wegen Versäumnissen beim
Grundwasserschutz (Nitrat-Richtlinie) eingereicht. Nach Ansicht der Europäischen Union ist
die Bundesrepublik seiner Pflicht zur Umsetzung bisher nicht ausreichend nachgekommen.
Die Nitrat-Richtlinie stammt ursprünglich aus dem Jahr 1993 und soll eine Verunreinigung
des Grund- und Oberflächenwassers durch Nitrate aus der Landwirtschaft verhindern.
In einigen Bundesländern mit extensiver Landwirtschaft liegt der Nitratgehalt infolge von
Überdüngung jedoch teilweise deutlich über den zulässigen Grenzwerten.
Grundrechtliche Verpflichtung und politische Realität
Nur noch ein Torso?
Artikel 28 (2) und die kommunale Selbstverwaltung im Fokus
D
ie Kommunen in Deutschland sind seit der deutschen Wiedervereinigung betraut mit epochalen Veränderungen auf
unterschiedlichsten Ebenen. Städte und Gemeinden in den Neuen Bundesländern hatten nach der politischen Wende in der
DDR einen tiefgreifenden Strukturwandel zu bewältigen. Massenhafte Abwanderung und rapide sinkende Geburtenrate waren
die direkten Folgen. Bis heute liegt in den Neuen Bundesländern das Labor für den demografischen Wandel. Hier spielen sich tiefgreifende
Prozesse ab, die sich mit einiger Verzögerung auch in den anderen Teilen des Bundesgebietes zeigen werden.
2011 – nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima – hat die Kanzlerin nicht zu Unrecht die Kommunen zu den Treibern der Energiewende
ausgerufen. Insbesondere die Stadtwerke haben einen enormen Anteil an der Dezentralisierung von Erzeugung und Versorgung. Und seit dem
vergangenen Herbst sind die Kommunen mit einer extrem gestiegenen Einwanderung von Asylsuchenden konfrontiert. 15 Monate nach den
dramatischen Szenen von Budapest, München und aus vielen weiteren deutschen Städten und Gemeinden lässt sich schon heute sagen, dass
die Anforderungen der Aufnahme und Integration von Flüchtlingen in herausragender Weise bewältigt worden sind. All diese Entwicklungen und
die Rolle, die die Kommunen darin spielen, werden auf Landes- und Bundesebene kaum bestritten, sie widersprechen allerdings der finanziellen
und regulatorischen Ohnmacht der Kommunen. An den Verhandlungen zur Ausgestaltung der bundesweiten Finanztransfers werden sie nicht
beteiligt und die Überregulierung bindet kreative und innovative Potentiale. Kommunen in Deutschland werden zwar mit immer größeren
Aufgaben betraut, sind aber weit entfernt von der Autonomie und Gestaltungsfreiheit etwa ihrer skandinavischen Nachbarn.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE griff diese Entwicklungen auf und wollte sie unter Hinzuziehung wissenschaftlicher Expertise mit Praktikern
der Bundes-, Landes- und kommunalen Ebene diskutieren. Exemplarisch wurde dazu die Mittelstadt Halberstadt am Tor zum Harz
herausgegriffen. Lesen Sie im Folgenden eine Zusammenfassung der kontrovers geführten Debatte vom 5. Dezember dieses Jahres.
Bund, Länder und Kommunen im Gespräch.
20
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
KOMMUNALWIRTSCHAFT AKTUELL
Kommunale Selbstverwaltung
Die Moderation der Runde hat Prof. Dr.
Michael Schäfer übernommen. Er ist Professor
für Kommunalwirtschaft an der Hochschule
für Nachhaltige Entwicklung in Eberswalde
(HNEE) und Chefredakteur dieses Blattes. Die
kommunale Selbstverwaltung mit dem Artikel 28
(2) soll im Fokus stehen, sagt er und präsentiert zu
Beginn seine Vision eines deutschen Kommunalstaates. „Wie wäre es, wenn Deutschland als
Teil eines europäischen Bundesstaates auf die
Länder und auch auf die Landkreise verzichten
und dafür die Kommunen als gleichberechtigen
Gegenpol zum Bund ausbauen würde, wenn statt
des Bundesrates eine Kommunalkammer ebenbürtig neben dem Bundestag agieren würde?“
In einem solchen System würde das Prinzip der
Subsidiarität revitalisiert und endlich hätten
diejenigen eine Stimme, die Politik vor Ort in
Realität umsetzen.
An die Runde geht die Frage, ob sie sich mit
einem solchen Staatsmodell anfreunden kann.
Holger Hövelmann entgegnet, dass der Paragraf 28 (2) sehr bewusst so ausgestaltet wurde,
wie er im Grundgesetz nachzulesen ist. Auch
heute bestünden erhebliche Spielräume, innerhalb derer die Kommunen das Leben vor Ort
individuell gestalten können. Der SPD-Abgeordnete im Magdeburger Landtag wendet sich
deutlich gegen eine Abschaffung der Landkreise.
Es ärgere ihn, wenn die Landkreise nicht zu den
Kommunen gezählt und künstliche Gegensätze
zu den Städten und Gemeinden konstruiert
würden. „Die Erfahrungen in Sachsen-Anhalt
haben gezeigt, dass eine Straffung von Strukturen
nicht automatisch mit Einsparungen einhergehen
muss“, sagt Andreas Henke. Schließlich bleibe die
Zahl der Aufgaben gleich, egal wie sie organsiert
werden.
Der Halberstädter Oberbürgermeister
stimmt zu, dass auch die Landkreise ihre
Berechtigung haben. Henkes Kollege aus
Osterode am Harz steht einer Stärkung der
Kommunen aufgeschlossen gegenüber, zeigt sich
aber skeptisch, ob eine kommunale Kammer auf
Wenn man lediglich Effizienzkriterien zu Rate zieht, dann ist der
Zentralstaat sicherlich günstiger,
doch die kommunale Selbstverwaltung ist ein Wert an sich.
„
______________________
Holger Hövelmann
“
Bundesebene die Vielfalt der deutschen Städte
und Gemeinden abbilden könne. Hinsichtlich
der Landkreise hat er schon vor einigen Jahren
die Meinung vertreten, dass diese politische
Ebene am ehesten verzichtbar sei. Mittel- und
Oberzentren könnten nach dem Zentrale-OrtePrinzip leicht deren Aufgaben übernehmen.
Auch Dagmar Zoschke hält eine Abschaffung
der Landkreise für zumindest bedenkenswert.
Im neuen Landkreis Anhalt-Bitterfeld seien die
Entfernungen mitunter so groß, dass ein ehrenamtliches Engagement äußerst schwer falle. Diejenigen, die keinen Pkw haben, seien praktisch
ausgeschlossen. Sie hält es für sinnvoller, die
bundes- und landesgesetzlichen Vorgaben
direkt in den Städten und Gemeinden bzw.
an zentralen Orten zu exekutieren. Auch eine
Kommunalkammer auf Bundesebene kann sie
sich vorstellen. Diese Idee sei in der Linkspartei
schon einige Male diskutiert worden. Schließlich
würden in Berlin und auch auf der Landesebene
etliche Gesetze beschlossen, die niemals mit
Blick auf die Umsetzbarkeit in den Kommunen
gewogen wurden, so die Abgeordnete der Linksfraktion im Magdeburger Landtag.
Effizienz und Bürgernähe
Prof. Dr. Schäfer räumt ein, dass seine Vision
eines kommunalen Deutschlands recht radikal
und provokant sei. Doch selbst kleinste
Schritte würden nicht getan. Im Bundestag sei
es nicht einmal gelungen, einen vollwertigen
Dagmar Zoschke, Prof. Dr. Thomas Edeling und Andreas Henke (v.l.n.r.)
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
Kommunalausschuss zu installieren. Die Landkreise nähmen zumindest teilweise Funktionen
der Kommunalaufsicht wahr und entsprächen
somit nicht der klassisch kommunalen Ebene.
Klaus Becker thematisiert den Gegensatz zwischen Subsidiarität und Effizienz. Im
Mittelzentrum Osterode am Harz sei es gerade
noch möglich, die gesetzlichen Vorgaben aus
Brüssel, Berlin und Hannover konkret umzusetzen, die kleineren Samtgemeinden seien mit
der Überregulierung jedoch überfordert. Becker
plädiert für eine stringente Aufgabenkritik,
welche Kompetenzen wo angesiedelt werden.
Steuerungsfunktionen könnten etwa in Niedersachsen die ehemaligen Regierungsbezirke übernehmen. Jörg Hellmuth war vor seiner Wahl
In Niedersachsen ist spürbar, dass
sowohl Ministerpräsident als auch
Innenminister eine kommunale
Vergangenheit als Oberbürgermeister aufweisen.
„
______________________
Klaus Becker
“
in den Deutschen Bundestag 21 Jahre auf der
Landkreisebene aktiv – zwei Jahre als Landrat des
Landkreises Havelberg, fünf Jahre als Erster Beigeordneter sowie weitere 14 Jahre als Landrat des
Landkreises Stendal. „Ich habe immer versucht,
einen Ausgleich mit den Städten und Gemeinden
herzustellen und offen zu diskutieren, wer wofür
verantwortlich sein soll.“
Hellmuth bedauert, dass sich die sachsenanhaltische Verwaltungsreform des Jahres 2004
eher mit Gebietsstrukturen und weniger mit einer
stringenten Aufgabenkritik befasste. Dies sei vor
allem dem Widerstand von Interessengruppen und
der Uneinigkeit in den Koalitionsfraktionen zuzuschreiben. Der CDU-Abgeordnete im Deutschen
Bundestag erinnert sich, dass er die Übertragung
der Kfz-Zulassung auf die Gemeindeebene diskutieren wollte. Allerdings hätten dies die Bürgermeister mit einer Ausnahme durchweg abgelehnt.
Landkreise hätten als Kristallisationspunkt von
Fachkompetenzen und übergeordneten Aufgaben
eine volle Berechtigung, so Hellmuth.
„Wir müssen aufpassen, dass wir die
kommunale Ebene nicht mit den staatlichen
Instanzen vermischen“, sagt Holger Hövelmann.
Bezirksregierungen seien ein Element des staatlichen Durchgriffs auf Landesebene, während ein
Landkreis eigene Kompetenzen entfalte. „Wenn
man lediglich Effizienzkriterien zu Rate zieht,
dann ist der Zentralstaat sicherlich günstiger, doch
die kommunale Selbstverwaltung ist ein Wert an
sich“, heißt es weiter. Es sei ein typischer Reflex,
21
Kommunale Selbstverwaltung
die Sinnhaftigkeit übergeordneter Instanzen zu
hinterfragen, sagt Prof. Dr. Thomas Edeling. Da
das Aufgabenvolumen insgesamt wachse, kann sich
der Soziologe von der Universität Potsdam kaum
vorstellen, dass dies unter Verzicht auf eine staatliche
Ebene in Zukunft noch besser gelingen soll. Hinzu
käme, dass Städte und Gemeinden so heterogen
sind, dass sich deren Integration in eine gemeinsame
Kammer nur bedingt realisieren lässt.
„Subsidiarität meint, dass jede öffentliche Aufgabe möglichst bürgernah umgesetzt werden soll“,
sagt Andreas Henke. Die Ökonomisierung der
Verwaltung stünde teilweise im Widerspruch zu
diesem Grundsatz der gelebten Demokratie. In den
Kommunen fehle es an politischem Personal. Selbst
den etablierten Parteien falle es mitunter schwer,
geeignete Kandidaten für Kommunalwahlen zu
nominieren. Dies sei insofern verständlich, als dass
die strukturellen Herausforderungen wachsen, der
finanzielle Rahmen aber immer straffer wird. Zusätzlich beschränke die Überregulierung aus EU, Bund
und Land die Gestaltungskraft der Kommunen.
„Ist es denn wirklich so, dass die Kommunen nichts
mehr zu entscheiden haben oder trauen sie sich einfach zu wenig zu“, fragt Holger Hövelmann.
Henke verweist auf die Kommunalfinanzen.
„Wir haben im Jahr 2013 ein integriertes Stadtentwicklungskonzept auf den Weg gebracht. Vieles,
was dort verankert ist, scheitert bis heute an der
ungenügenden Finanzausstattung.“ Vor diesem
Hintergrund sei es ungleich schwerer geworden,
konsistente Strategien zu verfolgen. „Das gilt genauso für die Landkreise“, stimmt Dagmar Zoschke
zu. Allein die Einführung der Doppik hätte dafür
gesorgt, dass die ehrenamtlichen Mandatsträger den
Haushalt kaum mehr nachvollziehen können. Klaus
Becker identifiziert für die vergangenen Jahre den
Trend eines Rückzugs der kommunalen Selbstverwaltung auf rein verwaltungstechnische Aufgaben.
In Finanzfragen schaue die Politik oft nur auf den
Bürgermeister und winke dessen Vorschläge einfach
durch. Dies gelte für fast alle Fraktionen.
Die Verwaltung darf nicht ständig
dem Streben einer hundertprozentigen rechtlichen Absicherung
unterliegen. Andererseits müssen
die Mandatsträger in den Räten
mehr Engagement und Kreativität
entfalten.
„
______________________
Dagmar Zoschke
“
Bei der dichten Regulierung und den knappen
Finanzen sei der Spielraum für eine politische Entfaltung eben sehr begrenzt, so der Bürgermeister von
Osterode am Harz. Jörg Hellmuth erinnert sich, dass
22
Klaus Becker, Jörg Hellmuth und Holger Hövelmann (v.l.n.r.)
vor einigen Jahren auch der regionale Mittelstand in
den Kreistagen aktiv war. Doch als erkannt wurde, dass
man in einem engen Korsett politischer Regulierung
agieren muss, hätten sich diese Leute mehr und
mehr zurückgezogen. Zusätzlich habe die Doppik
das Verständnis finanzpolitischer Zusammenhänge
erschwert. Klaus Becker widerspricht: „Wir waren
2007 mit die ersten im Land Niedersachsen, die die
Doppik eingeführt haben. Ich bin von außen in die
Kommunalpolitik gekommen und hatte anfangs viel
größere Probleme mit der Kameralistik. Niemand
konnte mir beispielsweise beantworten, welche
Ressourcen der Prozess der Passvergabe beansprucht“,
so der Osteroder Bürgermeister.
Vorbild Skandinavien
Die Idee einer zweistufigen Verwaltung sollte nicht
allzu schnell über Bord geworfen werden, sagt
Prof. Dr. Schäfer. Solche Modelle funktionierten
in den nordeuropäischen Staaten schließlich mit
bemerkenswerter Effizienz. Voraussetzung für eine
Es mangelt wahrlich nicht an
Instanzen, die die Arbeit in
den Städten und Gemeinden
überwachen.
„
______________________
Jörg Hellmuth
“
gelungene Reform sei eine stringente Aufgabenkritik. Dabei dürfe es nicht nur um Verantwortlichkeiten gehen, sondern auch um die Notwendigkeit
der Aufgaben an sich. Die öffentliche Hand
habe mit den Jahren immer mehr Kompetenzen
angehäuft. Nicht alle seien wirklich unabdingbar.
Überregulierung, Unterfinanzierung und Aushöhlung der Subsidiarität bezeichnet er als Totengräber der kommunalen Selbstverwaltung.
Klaus Becker geht auf den Aspekt der Überregulierung ein. „Unser System ist nicht mehr
„
Kommunale Selbstverwaltung
ist Staatsentlastung.
______________________
Prof. Dr. Thomas Edeling
“
überschaubar. Das gilt insbesondere für das EURecht. Ich müsste eigentlich mehr Fachleute einstellen, doch dazu fehlt es wiederum am Geld.“
Holger Hövelmann erkennt zwar ebenfalls einen
Trend zu wachsender Komplexität, doch den
Kommunen sei ein nicht unerheblicher Entscheidungsspielraum geblieben. Kommunale
Selbstverwaltung lebe davon, dass Menschen
aktiv ihre Ideen propagieren und verfolgen.
Die genannten Defizite dürften nicht als Entschuldigung für fehlendes Engagement herhalten.
Hövelmann wünscht sich, dass kommunalpolitische Debatten in Zukunft weniger juristisch
und mehr pragmatisch geführt werden. Andreas
Henke teilt diese Sichtweise, fügt allerdings hinzu,
dass die Länderebene dann auch die Ansprüche
an die Rechtskonformität senken müsse.
Prof. Dr. Schäfer: „Wir brauchen den Mut
zur Lücke. In den skandinavischen Ländern
wird Vieles eben nicht geregelt. Dort werden
Gesetze gemacht, die wenig Verwaltungsaufwand implizieren und Entscheidungsspielräume
offenhalten.“ Beide Seiten müssten den Mut aufbringen, die Grenzen ihres Handelns zu definieren,
sagt Dagmar Zoschke. Die Verwaltung dürfe nicht
ständig dem Streben einer hundertprozentigen
rechtlichen Absicherung unterliegen. Andererseits
müssten die Mandatsträger in den Räten mehr
Engagement und Kreativität entfalten.
Andreas Henke fügt hinzu, dass die Kommunen
mit mehr Geld auch unabhängiger agieren
könnten. Es sei verständlich, wenn Bundes- und
Landesebene an die Bereitstellung von Fördermitteln gewisse Erwartungen knüpfen, allerdings
gehörten diese Gelder nicht per se dem Bund oder
den Ländern. Jörg Hellmuth ergänzt, dass die
Entlastung der Kommunen eines der zentralen
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
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Kommunale Selbstverwaltung
Vorhaben der Großen Koalition auf Bundesebene
gewesen sei. „Wir haben Wort gehalten und stellen
den Kommunen ab 2018 fünf Milliarden Euro
zur Verfügung.“ Die Gemeinden und die Landkreise würden gleichermaßen davon profitieren.
„Jede Stadt muss heute etliche Förderprogramme
managen“, sagt Klaus Becker. Er hielte es für sinnvoller, wenn die Finanzierung problemorientierter
erfolgen würde. Ideal wäre es, wenn die Kommunen
gleich von Anfang an mit ausreichenden Mitteln
ausgestattet würden. Denn schließlich wüssten sie
noch immer am besten, wo der Schuh drückt.
Vertrauen und Professionalität
Prof. Dr. Schäfer sieht in der kontinuierlichen
Missachtung des Paragrafen 28 (2) ein Herrschaftsinstrument der übergeordneten Ebenen. Bei einer
aufgabenadäquaten Finanzierung bestünde keine
Veranlassung, dankbar für Almosen zu sein und
beständig um Fördermittel zu ringen. Auch Holger
Hövelmann identifiziert eine schleichende Überheblichkeit gegenüber den Kommunen. Diese drücke
Politische Entscheidungen
müssen sich an den Bedarfen der
Menschen orientieren. Und diese
lassen sich nur vor Ort in den
Kommunen erkennen.
„
______________________
Andreas Henke
“
sich unterschwellig in einer Attitüde aus, die ständig
hinterfrage, ob die Kommunen ihre Angelegenheiten
auch richtig regeln würden. „Ich wünsche mir hier
mehr Offenheit und Grundvertrauen“, so der ehemalige Innenminister von Sachsen-Anhalt.
In Niedersachsen hätte sich mit der neuen
Legislaturperiode im Land eine wohltuende
Trendwende vollzogen, so Klaus Becker. Es sei
spürbar, dass sowohl Ministerpräsident als auch
Innenminister eine kommunale Vergangenheit als
Oberbürgermeister aufweisen. Prof. Dr. Schäfer
erinnert an den kommunalen Aufbruch nach der
Wende in Ostdeutschland. Der Strukturwandel
sei auch deshalb so schnell gelungen, weil vor
allem Naturwissenschaftler und Ingenieure in
den Städten und Gemeinden Spitzenpositionen
einnahmen. Irgendwann hätten die Juristen das
Ruder übernommen und damit ging der Spaß
verloren an einem konstruktiven Pragmatismus. Jörg Hellmuth fügt an, dass seinerzeit
auch anders gefördert wurde. „Damals wurden
Investpauschalen pro Kopf der Bevölkerung
ausgegeben, mit denen die Kommunen vergleichsweise frei hantieren konnten.“ Es mangele
wahrlich nicht an Instanzen, die die Arbeit in
den Städten und Gemeinden überwachen, so der
Unionsabgeordnete im Deutschen Bundestag.
„Nicht nur der Föderalismus, sondern auch die
kommunale Selbstverwaltung ist eine Institution
des deutschen Rechts“, ergänzt Prof. Dr. Edeling.
Eine solche Idee müsse sich in konkreten Rechten,
Mitteln und Ressourcen manifestieren. Dies sei
immer weniger der Fall, weshalb eine deutliche
Tendenz hin zu mehr Zentralismus zu konstatieren
ist. Die Kommunen müssten darauf achten, dass
Das Halberstädter Rathaus
24
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
KOMMUNALWIRTSCHAFT AKTUELL
Kommunale Selbstverwaltung
ihre Kompetenzen eines Tages nicht vollständig
schwinden. Dagmar Zoschke bedauert, dass sich
die unterschiedlichen Interessen der Kommunen
und ihrer Spitzenverbände mitunter selbst widersprechen und dass die kommunale Ebene viel
zu selten mit einer starken Stimme spricht. „Es
müssen nicht einmal Herrschaftsaspekte sein,
die hinter der fortschreitenden Zentralisierung
stehen“, sagt Andreas Henke. Es reiche schon der
Zwang zur Ökonomisierung staatlichen Handelns.
Demokratie und Teilhabe ließen sich eben nicht
an Effizienzkriterien messen. Politische Entscheidungen müssten sich an den Bedarfen der
Menschen orientieren. Und diese ließen sich nur
vor Ort in den Kommunen erkennen.
Klaus Becker setzt sich mit einem weiteren
Akteur auseinander. Die Ministerialbürokratie insbesondere in den Ländern entfalte
ein erhebliches Beharrungsvermögen. Hier sei
man offenkundig bestrebt, sich ständig selbst zu
legitimieren, so der Bürgermeister von Osterode.
„Wir müssen auch mal das Positive sehen“, entgegnet Holger Hövelmann. Die Verwaltungen
in den Ländern und im Bund hätten sich in den
vergangenen Jahren erheblich professionalisiert.
Ein kleiner Malus liege in der zunehmenden Verrechtlichung. „Wir müssen den Menschen wieder
vermitteln, dass es Spaß machen kann, sich in der
Kommunalpolitik zu engagieren.“
Revolution oder Reform?
Prof. Dr. Schäfer hält das System der bundesdeutschen
Verwaltungshierarchien,
die
Organisation exekutiver Vollmachten für malade
und grundsätzlich renovierungsbedürftig. Es
nutze nichts, ständig daran herumzudoktern.
Die Kommunen sollten nicht angewiesen sein auf
vermeintlich großzügige Förderprogramme des
Bundes und der Länder. Er fragt, wie es gelingen
kann, den Staatsaufbau vom Kopf auf die Füße
zu stellen und wie den übergeordneten Ebenen
Die Teilnehmer der gesprächsSRUNDE
(in namensalphabetischer Reihenfolge)
Becker, Klaus, Bürgermeister der Stadt Osterode am Harz
Edeling, Thomas, Prof. Dr. habil., Soziologe, Universität Potsdam
Hellmuth, Jörg, Mitglied des Deutschen Bundestages, CDU-Fraktion, Landrat a.D.
Henke, Andreas, Oberbürgermeister der Stadt Halberstadt
Hövelmann, Holger, Mitglied des Landtags von Sachsen-Anhalt, SPD-Fraktion, Innenminister a.D.
Zoschke, Dagmar, Mitglied des Landtags von Sachsen-Anhalt, Fraktion DIE LINKE, Sprecherin
für Kommunalpolitik im Bundesvorstand DIE LINKE, Vorsitzende des Stadtrates von Bitterfeld-Wolfen
Moderiert wurde die Runde von Prof. Dr. Michael Schäfer.
das Bewusstsein genommen werden kann, dass
ihnen die Letztentscheidung über Verteilung und
Verwendung von Steuermitteln obliegt.
Andreas Henke nennt die Stichworte
Deregulierung und Finanzverantwortung.
Die Berechnung der Finanzausgleichmasse
sei zu kompliziert und insgesamt verfüge die
kommunale Ebene nicht über eine aufgabenadäquate Finanzierung. Hövelmann widerspricht
der These von einer grundlegenden Malaise des
deutschen Staatswesens. „Ich bin überzeugt,
dass das System funktioniert, und dass sowohl
Kommunen, Länder wie auch der Bund über so
gute Rahmenbedingungen verfügen wie noch nie
zuvor in der Geschichte.“ Sicherlich würden sich
die verschiedenen Ebenen und Akteure an einigen
Stellen gegenseitig behindern und sicherlich gäbe es
weiteren Optimierungsbedarf, doch das politische
Klima für einen grundlegenden Umbau des
deutschen Staatswesens könne er nicht erkennen.
Klaus Becker stimmt zu. „Ab einer gewissen
Größe arbeiten die Verwaltungen in Deutschland vergleichsweise professionell.“ Aus diesem
Trend der vergangenen Jahre ergäbe sich die
Notwendigkeit bestimmter Mindestgrößen. Die
Kommunen müssten die Bereitschaft zu freiwilligen Kooperationen und Fusionen erkennen
lassen. Denn nur so könnten sie selbstbewusst ein
Wenn die Kommunen nicht gehört werden, müssen sie
halt mit noch lauterer Stimme sprechen. Die Kommunen
können sich die Missachtung der übergeordneten Ebenen
nicht länger gefallen lassen. Wenn systemische Zwänge
zitiert werden, spricht daraus oft genug die Arroganz der
Macht. Bund und Länder sind seit Jahrzehnten nicht in der Lage die Beziehungen zwischen
den Ebenen zu reformieren. Die bisherigen Föderalismusreformen sind schon in den Ansätzen
steckengeblieben. Nun wird es Zeit, dass die kommunale Ebene eigene Angebote zur Umgestaltung von Strukturen entwickelt. Vorbild könnten die skandinavischen Kommunalstaaten sein. Die
aktuell bewegten Zeiten vermitteln neue Chancen, die Bürger für die Belange der Kommunen zu
sensibilisieren. Ein solch kommunal verstandener Populismus könnte dazu beitragen, wieder für
demokratische Verfahren in diesem Land zu begeistern. Denn niemand ist den Bürgern näher als
die Amts- und Mandatsträger in Räten und Rathäusern.
Falk Schäfer
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
Mehr an Kompetenzen und Finanzen fordern.
Jörg Hellmuth plädiert für eine grundlegende
Fehleranalyse. Kommunen, Länder und der Bund
müssten sich in einem offenen und transparenten
Prozess gleichberechtigt miteinander austauschen.
Nur so ließen sich staatliche Strukturen im Sinne
eines gemeinsamen Mehrwertes optimieren.
Dagmar Zoschke wirft ein, dass sich mit den Verwaltungen auch das ehrenamtliche Engagement
professionalisieren müsste. Ein einfaches Präsenzmandat in Kreistagen und Stadträten entspräche
nicht den notwendigen Checks and Balances
zwischen Verwaltung und Politik. Dem Trend zu
immer größeren kommunalen Einheiten steht sie
skeptisch gegenüber. So habe sich gezeigt, dass in
diesem Kontext die Identifikation mit der eigenen
Kommune nachlässt, mit den entsprechenden
Folgen für das kommunalpolitische Engagement.
Prof. Dr. Edeling resümiert, dass die Runde
vielleicht noch keine übergreifenden Lösungen
gefunden, doch zumindest zwei Probleme identifiziert hätte. Eines läge im Widerspruch zwischen
der Professionalisierung der Verwaltung auf der
einen und dem ehrenamtlichen Engagement auf
der anderen Seite. Das zweite sei die zunehmende
Zentralisierung, die zu Teilen getrieben worden
sei durch New-Public-Management-Ansätze der
Ökonomisierung staatlichen Handelns. „Wir
sollten realistisch bleiben“, sagt Andreas Henke.
Der politische Reformwillen für einen grundlegenden Umbau des deutschen Staatswesens sei
schlicht nicht vorhanden. Und insgesamt hätten
sich die föderalen Strukturen in Deutschland doch
weitgehend bewährt. Vielmehr müsse nach Stellschrauben gesucht werden, mit denen sich das
System weiter verbessern lässt. Voraussetzung sei,
dass die relevanten Player mit der nötigen Offenheit agieren und Partikularinteressen hintanstellen,
so der Halberstädter Oberbürgermeister.
n
Die Gesprächsrunde dokumentierte Falk Schäfer
i
infos
www.halberstadt.de
www.osterode.de
www.cducsu.de
www.spd-lsa.de
www.dielinke-fraktion-lsa.de
25
Energie
Die GASAG-Gruppe entwickelt integrierte Messkonzepte der Energienutzung
Alles aus einer Hand
Pilotprojekt in Berlin-Prenzlauer Berg
A
ls einer der größten und als traditionsreichster Versorger der Hauptstadt engagiert sich die Gasag in verschiedenen Kiezen Berlins
für ganzheitliche energetische Lösungen. Schließlich lassen sich in der Erzeugung, bei der energetischen Effizienz, aber auch im
Hinblick auf eine stärkere Vernetzung noch erhebliche Einsparpotentiale realisieren. Die Gasag-Tochter umetriq widmet sich in
erster Linie einer integrierten Messtechnik. Sie installiert spartenübergreifende Systeme, entwickelt innovative Lösungen und zertifiziert
Energiemanagementprozesse. Umetriq agiert als Partner von Stadtwerken sowie Energievertrieben und -dienstleistern, die ein eigenes Portfolio
im Energiemanagement aufbauen und begleitet außerdem als Projektdienstleister privatwirtschaftliche und öffentliche Kunden bei der Einführung
von Energiemanagementsystemen. Die Gewobag Wohnungsbau-Aktiengesellschaft Berlin zählt mit rund 60.000 Wohnungen zu den größten
Immobilienunternehmen bundesweit. Mittelfristig will sie zusätzliche 14.600 Wohnungen erwerben, davon 10.200 Wohnungen durch Neubau.
Die 2013 gegründete Energietochter Gewobag ED setzt die Energiewende quartiersbezogen um und versorgt die Mieterinnen und Mieter
hocheffizient mit Wärme, Strom und energienahen Dienstleistungen. Gemeinsam mit der Gewobag Energietochter hat das Unternehmen der
Gasag-Gruppe ein integriertes Metering für das Quartier entworfen. Lesen Sie im Folgenden ein Beispiel aus dem Prenzlauer Berg in Berlin.
In Berlin-Prenzlauer Berg entstand nahe des Helmholtzplatzes
ein Wohn- und Geschäftshaus
mit zwei Gewerbeeinheiten
und 14 Mietwohnungen. Die
Gewobag – eine von sechs
kommunalen Wohnungsgesellschaften der Hauptstadt – hat
auf einem knapp 400 Quadratmeter großen Grundstück eine
Baulücke geschlossen. Der
geplante Baukörper, die Gewerbe Die ersten Mieter sind bereits eingezogen. Der Verbrauch zu allen Hauptmedien
wird einheitlich erfasst.
im Erdgeschoss sowie die Mietunterschiedlichster Hersteller und Betreiber
wohnungen in den Obergeschossen entsprechen der
angebunden werden. Und durch eine einheitliche
gewachsenen Struktur des Viertels. Die Bauarbeiten
Datenverarbeitung lassen sich die internen Prozesse
sind im Herbst dieses Jahres abgeschlossen worden
erheblich vereinfachen. „Wir erhalten die Datenhoheit
und die ersten Bewohner eingezogen.
über sämtliche Energie- und Wasserdaten. Zeitaktuell
Alle Energie- und Verbrauchsdaten sollen über
eine einheitliche Infrastruktur und gemeinsame
Schnittstellen erfasst und bereitgestellt werden.
Heiz- und Wasserkostenmessung sowie die energiewirtschaftlichen Zähler werden miteinander verbunden, womit wiederum ein ganzheitliches
Energiemanagement möglich wird. Ein intensives
Monitoring dieses Projektes kann Erkenntnisse
liefern, wie sich Verwaltungs- und Abrechnungsprozesse vereinfachen lassen, wie die Hausverwaltung beim Notfall- und Schadenmanagement
unterstützen werden kann, welche Potentiale einer
energetischen Optimierung sich bieten und wie sich
eine angemessene Datentransparenz herstellen lässt.
bereitgestellte Verbrauchsdaten ermöglichen eine
integrierte und – falls nötig – auch unterjährige
Abrechnung. Energie- und Facilitymanagement lassen
sich anhand der in Echtzeit gewonnenen Messdaten
optimieren“, so Karsten Mitzinger, Geschäftsführer der
Gewobag Energietochter. Auf diese Weise kann der
Mehrwert von Energieeffizienzmaßnahmen zeitnah
erschlossen bzw. können weitere Anpassungen geplant
und eng überwacht werden. Dies betrifft etwa die Leerstandsüberwachung oder intelligente Heizszenarien.
„Der Kunde behält jederzeit die Datenhoheit und
den Zugriff auf alle Abrechnungen“, fasst Martin
Böhle zusammen. So würden Weichen gestellt für eine
zukunftsfähige Infrastruktur im smart home, so der
Leiter für Vertrieb bei der Gasag-Tochter umetriq. n
i
infos
www.gasag.de
www.umetriq.de
Maßgebliche Vorteile für die
Wohnungswirtschaft
Die Bündelung von Leistungen und deren Erbringung
aus einer Hand ermöglicht vielfältige Synergien für
die Wohnungsgesellschaft. „Für uns als Wohnungsunternehmen stehen die Verbesserung heutiger
Prozesse und Services im Vordergrund, aber auch die
Schaffung einer zukunftsfähigen Infrastruktur in den
Gebäuden, die Innovationen zulässt“, sagt Karsten
Mitzinger, Geschäftsführer bei der GEWOBAG
ED. Offene Systeme und Technologien bieten eine
frei Wahl der Anbieter, über Schnittstellen können
elektronische Wasseruhren und Heizkostenverteiler
26
Es macht Sinn, wenn sich die wesentlichen Infrastrukturanbieter der Hauptstadt miteinander verknüpfen. Die Gasag kennt
sich aus in Berlin und mit den kommunalen Unternehmen der
Stadt. Darüber hinaus verfügt sie über erhebliche technologische und energiewirtschaftliche Kompetenzen. Die Energieeffizienz ist einer der zentralen Treiber der Energiewende. Das
Pilotprojekt im Prenzlauer Berg wird weitere Erkenntnisse liefern für eine optimierte und vernetzte
Nutzung von Energie. Die Gasag ist weiterhin auf einem guten Weg vom Gasversorger zu einem
umfassenden Energiedienstleister.
Falk Schäfer
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
KOMMUNALWIRTSCHAFT AKTUELL
Wohnungswirtschaft / Schulen
ÖÖP oder KKP?
Zwei Kürzel für ein Unikat:
„Das Weimarer Modell“
Gespräch mit dem Oberbürgermeister der Stadt Weimar, Stefan Wolf
D
eutschlandweit ist ein dramatischer Investitionsstau in den Kommunen – vor allem bei der Infrastruktur und im kommunalen
Hochbau – zu konstatieren. Das Deutsche Institut für Urbanistik (DIFU) kam 2015 zu folgender Einschätzung:1 Sowohl
auf staatlicher wie auf kommunaler Ebene hat seit 2003 der Verzehr des Sach- bzw. Anlagevermögens begonnen und
setzt sich seitdem ungebremst fort. Nach DIFU-Berechnungen liegt der kommunale Investitionsbedarf im Zeitraum 2002 bis 2020
bei 704 Milliarden Euro. In dieser Summe sind auch jene Investitionen enthalten, die von den Kommunen bis dato nicht realisiert
wurden. Das ist der Sachverhalt, der mit dem Begriff ‚Investitionsstau‘ beschrieben wird. Im genannten Betrag sind übrigens der
kommunale Wohnungsbau sowie Finanzinvestitionen gar nicht eingerechnet. Die größten Einzelpositionen innerhalb des genannten
Gesamtbedarfs sind laut DIFU die Straßen (23 Prozent), die Schulen (zehn Prozent) sowie der ÖPNV und die Sportstätten mit je
fünf Prozent.
Obwohl die Investitionen aktuell auf kommunaler Ebene leicht steigen, wird damit der Vermögensverzehr nicht aufgehalten, sondern
nur verlangsamt. Es bedarf zur dringend gebotenen Auflösung des Investitionsstaus also eines grundsätzlichen Umsteuerns auf
gesamtstaatlicher Ebene. Die Initiative des Bundes aus dem Jahr 2015, ein kommunales Investitionsprogramm aufzulegen, ist insofern
ein richtiger Schritt. Das geplante Volumen von fünf Milliarden Euro für den Zeitraum 2015 – 2018 ist allerdings angesichts des genannten
Gesamtbedarfs tatsächlich nicht mehr als der berühmte „Tropfen auf dem heißen Stein“.
Um an dieser Stelle ein weiteres Bild zu bemühen: Die Situation ist derart dramatisch, dass es mehr als verständlich wäre, wenn die
Kommunen angesichts dieser Szenarios ebenso fatalistisch wie berechtigt auf die Geschichte des Korintherkönigs Sisyphus verweisen
würden. Dieser – so die Sage – wird für seine reichlichen zu Lebzeiten begangenen Missetaten vom Gott Hermes in die Unterwelt
verbannt. Dort muss er zur Strafe einen Felsblock auf ewig einen Berg hinaufwälzen. Selbiger rollt jedes Mal kurz vorm Gipfel zurück ins
Tal. Eine frustrierende Geschichte, und vor allem eine endlose!
Kommunen neigen im Gegensatz zu Sisyphus nicht zum Frevel, noch sind sie fatalistisch. Also lassen sie sich etwas einfallen. Bei
strukturellen Desastern wie dem gerade beschriebenen, kann das zwar nicht zur grundlegenden Lösung, wohl aber hie und da zu
Linderung führen. Auf eine solche ebenso kreative wie vor allem praxistaugliche Idee stießen wir in Weimar. Die Geschichte beginnt im
Jahr 2007. Die Goethestadt hat damals wie heute 22 Schulen, und die meisten sind zu diesem Zeitpunkt – von der einen oder anderen
Schönheitsreparatur einmal abgesehen – unsaniert.
Was aus dem kommunalen Haushalt seinerzeit nicht einmal ansatzweise darstellbar ist, wurde dennoch auf den Weg gebracht: die
grundlegende Sanierung von zunächst fast einem Drittel der Schulen und zudem von sechs Turnhallen. Verantwortlich als Bauherr und
Projektträger war nicht die Stadt, in deren Bestand sich 2007 alle Schulen befanden, sondern die Weimarer Wohnstätte GmbH, das zu
100 Prozent kommunale Wohnungsunternehmen der Europäischen Kulturhauptstadt (1999).
Wie dieses Projekt zustande kam, was die innovative Idee war, ob sie zum Nachnutzen taugt, und wie es in Weimar mit der Schulsanierung
weitergeht, fragten wir Stefan Wolf, seit 2006 Oberbürgermeister dieser Stadt, und der maßgebliche Erfinder des „Weimarer Modells“.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Beginnen wir mit unserer Reise im Jahr 2007.
Wie wäre rückblickend der Status quo der
Weimarer Schullandschaft unter der Überschrift ‚Investitionsstau‘ zu beschreiben: wie
viele Schulen gab es, wann wurden sie gebaut
und was waren die gravierendsten Mängel?
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Dieser dringende Sanierungsbedarf erzeugte
Handlungsdruck in Weimar. Aber im „wahren
Leben“ kommen hin und wieder Anstöße hinzu,
die zu schnellen Entscheidungen zwingen, obwohl
sie per se mit dem Thema gar nichts zu tun haben.
Wollen Sie uns die kleine Geschichte erzählen?
Stefan Wolf:
In Weimar gibt es aktuell 22 Schulen, die meisten
von ihnen zu DDR-Zeiten gebaut Das war auch
die Zahl im Jahr 2007. Zu diesem Zeitpunkt waren
Sanierungsmaßnahmen mehr als überfällig, denn es
gab nur eine Schule, die komplett erneuert worden
war. Bei den meisten anderen waren wir nicht einmal bei den Reparaturen auf dem Laufenden.
Wolf:
So klein ist die Geschichte gar nicht. Weimar
ist eine Kulturmetropole von deutschem und
internationalem Rang. Das hat sich unter
anderem darin manifestiert, dass wir 1999 die
„Europäische Kulturhauptstadt“ waren, und
wohl jeder Deutsche, der das Wort Thüringen
hört, denkt zuerst an Weimar. Diese Geltung
hat mitnichten nur etwas mit der Pflege der
reichen Traditionen zu tun. Es geht auch um
neue Angebote, im Theater, in den Museen,
im städtischen Raum, und auch in der freien
Szene. Das ist eine nationale Aufgabe, die
wir im Wesentlichen auf kommunaler Ebene
und mit kommunalen Mitteln lösen. Kultur
ist im Weimarer Haushalt folgerichtig eine
herausgehobene Kostenstelle. Dass wir zur
Europäischen Kulturhauptstadt gekürt wurden,
war eine große Ehre. Die andere Seite der
Medaille aber waren außergewöhnliche Aufwendungen. Für den Oktober 2008 stand die
anteilige Rückzahlung der Kulturstadtanleihe in
Höhe von circa 15 Millionen Euro an. Das Geld
war im Haushalt nicht darstellbar, also wurden
1 Vgl.: Vortrag des Geschäftsführers des Deutschen Instituts für Urbanistik (DIFU), Dr. Busso Grabow beim 3. WELT-Infrastrukturgipfel am 28. September 2015 in Berlin. In: VfkE-Studie 2015: „Kommunalfinanzen
und Effekte aus kommunalwirtschaftlicher Betätigung mit dem Schwerpunkt kommunale Energieversorger. Eine Bestandsaufnahme anhand repräsentativer Stichproben in ausgewählten Ober- und Mittelzentren in den
Ländern Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Thüringen für den Zeitraum 2009 – 2014 mit einer Trendabschätzung bis 2018“, Berlin 2015.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
27
Wohnungswirtschaft / Schulen
ordentlicher Rendite deckte, quasi anzumieten – machte damit bundesweit positive
Schlagzeilen. Diesen Weg hätte man ja auch
in Weimar gehen können. Warum wurde dies
verworfen? Denn damals ahnte ja Niemand
wie grandios dieses und weitere ähnliche PPPProjekt dereinst mit riesigen Einbußen für die
Kommunen scheitern würden.
Stefan Wolf
Quellen gesucht. Das beförderte die von Ihnen
schon erwähnte Diskussion zur Veräußerung der
städtischen Wohnungen.
Anfangsmehrheit im Stadtrat für
Wohnungsverkauf wurde gekippt
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Neben dem Finanzbedarf für die Kulturstadtanleihe wurden die Ideen zur Veräußerung auch
davon getrieben, dass im Jahr 2006 die Stadt
Dresden alle kommunalen Wohnungen an die
private Fortress verkauft hatte. Mit dem Erlös von
1,7 Milliarden Euro – das lag weit über dem Buchwert – konnte sich Dresden komplett entschulden.
Warum hat sich diese auf den ersten Blick durchaus
verlockende Idee in Weimar nicht durchgesetzt?
Wolf:
Für den Verkauf gab es im Weimarer Stadtrat
zunächst eine Mehrheit aus den Fraktionen von
CDU und Freien Wählern. Dazu stellten die SPDMandatsträger einen Gegenantrag. Offenbar hatten
wir gute Argumente, mit denen wir drei Stadträte
aus der Pro-Verkaufs-Fraktion überzeugen konnten.
Weimar behielt seine kommunale Wohnungsgesellschaft mit allen städtischen Quartieren.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Zurück zur Schulsanierung: die komplette
Privatisierung war vom Tisch. Es gab aber
doch auch in Weimar Ideen, die Sanierung
und den Betrieb per PPP – Lebenssanierungsmodelle waren gerade bei Schulen damals in
aller Munde – zu realisieren. Der Landkreis
Offenbach, der 2004 alle 90 Schulen einem
privaten Investor für einen langen Zeitraum
zur Sanierung und zum Betrieb übertrug, um
diese dann zu einem regelmäßigen Gebührensatz, der die damit verbundenen Kosten nebst
28
Wolf:
Ein Professor unserer Bauhaus-Universität war einer
der geistigen Väter dieser PPP-Lebenszyklusmodelle.
Auch deshalb gaben sich in Weimar die Bieter aus der
Privatwirtschaft die Klinke in die Hand. Für uns war
es aber nur logisch, dass wir mit der Entscheidung
zum Erhalt des kommunalen Wohnungsbestandes
auch bei der Schulsanierung die Potenziale unserer
Wohnungsgesellschaft, der Weimarer Wohnstätte
GmbH, nutzen, auch um „Herr im eigenen Hause“
hinsichtlich der inhaltlichen und finanziellen Auswirkungen der Instandsetzung und Modernisierung
zu bleiben.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Was heißt das?
Wolf:
Die Stadt kann bei notwendigen Veränderungen,
die sind bei Schulen viel häufiger als man gemeinhin denkt, direkt steuern und eingreifen und alle
Gewinne verbleiben im städtischen Regelkreis.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Nun müssen wir noch einmal das Stichwort
„Rückzahlung der Kulturstadtanleihe“ aufgreifen. Da standen Sie doch zu diesem Zeitpunkt mit allen Ihren Entscheidungen gegen
Verkäufe und PPP noch immer im Obligo?
Wolf:
Aus dieser Schuldnersituation haben wir uns
befreit, indem wir einen Teil der städtischen
Schulen an die Weimarer Wohnstätte verkauft
haben. Natürlich zu realen Preisen, belegt durch
Gutachten, und mit dem Votum der Kommunalaufsicht, die diese Transaktion doch eher argwöhnisch betrachtete und deshalb auch sehr genau
hinsah. Für die Rückzahlung der Anleihe war das
ein guter Weg. Ohne diesen Druck wäre auch eine
Veräußerung in der „Ein-Euro“-Variante unter
Einrechnung des immensen Investitionsbedarfs
darstellbar gewesen. Das wäre für unser „Weimarer
Modell“ der Veräußerung an eine städtische Gesellschaft, also quasi an uns selbst, wegen der deutlich
geringeren Kapitaldienstbelastung der betriebswirtschaftlich deutlich bessere Weg gewesen. Diese
hier genannten Optionen setzen aber – vor allem
aus vergaberechtlichen Aspekten – voraus, dass das
städtische Wohnungsunternehmen als Käufer zu
100 Prozent in kommunalem Eigentum sein muss.
Beim „Weimarer Modell“ gibt es
keinen Verlierer
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Stichwort Kapitaldienst. Sie profitieren doch
auch von den niedrigen Zinsen.
Wolf:
Das ist richtig. Aber da dies nicht so bleiben wird,
ist noch wichtiger, dass die Finanzierungslasten
nicht im Verwaltungs-, sondern im Vermögenshaushalt angesiedelt sind.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Grundstrukturen des gerade skizzierten PPPProjekts finden sich im Weimarer Sanierungsmodell wieder. Nur mit dem Unterschied, dass der
Partner nicht ein privates Unternehmen, sondern
eine hundertprozentige Tochter der Stadt ist. Bitte
beschreiben Sie uns das Modell etwas genauer?
Wolf:
Im Rahmen des Weimarer Modells hat Weimar
bis heute neun Schulen und Sporthallen an
die Weimarer Wohnstätte verkauft. In diesem
Zusammenhang wurden langfristige vertragliche
Regelungen zur Sanierung und Bewirtschaftung
der Objekte mit Laufzeiten von 25 bzw. 40 Jahren
getroffen. Es gibt ein Kalkulationsschema zur
Ermittlung der zu zahlenden Miete unter Berücksichtigung langfristig wirtschaftlicher und steuerrechtlich notwendiger Ansätze.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Nun wissen wir ja auch aus dem Scheitern
privater PPP-Modelle, dass solche langfristigen
Kostenprojektionen schwierig sind.
Wolf:
Das ist richtig. Aber das ist allenthalben eine eher
marginale Erfahrung aus dem Lebenszyklusansatz,
den private Anbieter den Kommunen „verkauft“
haben. Der Hauptgrund für das Scheitern ist doch
ein ganz anderer. Sie können mit diesem Ansatz eben
nicht seriös eine Kapitalverzinsung von 20 Prozent
erreichen. Das genau war die Erwartungshaltung
der Privaten, und um dieses Ergebnis zu erreichen,
mussten vermutlich, ich sage das ganz vorsichtig, die
Renditen in die Kosten eingepreist werden. Renditen
in dieser Höhe sind gegenüber dem Weimarer
Modell von einem anderen Stern. Wir haben mit
einer marktüblichen Verzinsung kalkuliert, und auch
hier am unteren Rand der von-bis-Skala.
Ich hatte an anderer Stelle gesagt, dass Schulen ein
sehr lebendiger Organismus sind. Das hat auch zur
Folge, dass man mit langfristigen betriebswirtschaftlichen Szenarien nicht auf dem Punkt landet. Das
ist aber im Weimarer Modell kein Problem. Immer
vorausgesetzt – das können wir der Weimarer Wohnstätte mit hundertprozentiger Sicherheit annehmen
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
KOMMUNALWIRTSCHAFT AKTUELL
Wohnungswirtschaft / Schulen
Die ersten zwei Sanierungen von Schulen
wurden noch genehmigt. Danach wurde die
Ampel auf rot gestellt. Das hat uns nicht
gehindert, den erfolgreichen Weg fortzusetzen.
Die Weimarer Wohnstätte durfte aber keine
Kommunalkredite mehr aufnehmen. Das war
angesichts des Zinsniveaus zu verschmerzen.
Eröffnung der sanierten Schulcampus „Am Paradies“ im August 2015. Von links nach rechts: Peter Kleine, Bürgermeister Stadt Weimar, Reinhard Mäder, Schulleiter Albert-Schweitzer Grundschule, Udo Carstens, Geschäftsführer Weimarer Wohnstätte GmbH, Thomas Fleischer, Schulleiter Carl-August-Musäus Regelschule
– das mit höchster Effizienz gearbeitet wird, sind
höhere Kosten gegenüber dem kalkulierten Verlauf
ja kein Problem. Die Gesellschaft wird dann weniger
Gewinn erwirtschaften, aber die Stadt bleibt von
ebendiesen Kosten verschont. Das ist eine rundum
positive Anwendung des ja manchmal auch verpönten
Prinzips „linke Tasche, rechte Tasche“. In diesem Fall
gibt es eben keinen Verlierer.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Wir haben uns, auch in Abgrenzung zu
PPP oder ÖPP beim Weimarer Modell an
einem neuen Begriff versucht: „Kommunalkommunalwirtschaftliche Partnerschaft“. Den
Begriff gibt es in der Wissenschaft noch nicht.
Auch die Abkürzung funktioniert mit „KKP“.
Was halten Sie davon?
Klärung inhaltlicher Aufgabenstellungen für die
ersten Projekte und der Zeitdruck.
Was uns aber am nachhaltigsten beschäftigt
und tatsächlich auch gestört hat, waren die Vorstellungen der Kommunalaufsicht: wie häufig
fern von der Wirklichkeit! Von dort wurde
ernsthaft gefordert, dass wir nachweisen sollen,
dass der Verkauf an die städtische Gesellschaft
und die langfristige Vertragsgestaltung zur
Sanierung und Bewirtschaftung besser ist als
die Erledigung in den Verwaltungsstrukturen.
Das geht im konkreten Fall aber theoretisch
gar nicht, schon unter Hinweis auf die langen
Vertragszeiträume. Auch die solitäre Sicht
auf die Entwicklung der Verschuldung ist
falsch, denn dagegen stehen ja auch größere
Vermögenswerte.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Sie haben unter anderem auf das Erfordernis verwiesen, die Verträge der Stadt mit der
Wohnungsgesellschaft mit einer Laufzeit von
mindestens 25 Jahren abzuschließen. Das ist
ein Vierteljahrhundert. Im Gegensatz dazu
gelten die städtischen Schulnetzpläne jeweils
nur fünf Jahre. Über so lange Zeiträume sind
doch Investitions- und Instandhaltungsbedarfe
gar nicht zu planen. Wie entwickelt man unter
diesen Umständen, die man als Quadratur
des Kreises charakterisieren könnte, ein
Kalkulationsmodell?
Wolf:
Das vereinbarte Kalkulationsschema zum Zeitpunkt der Beschlussfassung des Stadtrates war das
einzig praktikable Modell der Zusammenführung
einer „schmalen“ technischen Informationsbasis
– Investitionskosten und Bewirtschaftung –, dem
nur noch kurzzeitig gültigen Schulnetzplan und
dem Bemühen um die Sicherung der beiderseitigen wirtschaftlichen Interessen von Kommune
und kommunalem Wohnungsunternehmen.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Die Stadt zahlt ihrer Gesellschaft – das ist
eine formale Analogie zu den erwähnten
PPP-Modellen – eine Miete, mit denen alle
Wolf:
Gefällt mir, aber ich habe auch einen alternativen
Vorschlag: ÖÖP, also Öffentlich-Öffentliche
Partnerschaft. Und für das, was wir in Weimar
quasi erfunden haben, steht natürlich der Begriff
„Weimarer Modell“.
Kommunalaufsicht blieb
skeptisch bis behindernd
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Jetzt kennen wir das Modell in seinen grundlegenden Strukturen und können uns der
Umsetzung zuwenden. Was waren hier die
größten Stolpersteine?
Wolf:
Ich nenne einige Stichworte: die Informationsbeschaffung zu Objekten und die Grundlagenermittlung der betriebswirtschaftlichen Kalkulation,
die juristische Aufbereitung des Vorhabens, vor
allem die Ausgestaltung eines Vertragswerkes, die
Unser Foto zeigt den Schulcampus „Am Paradies“. Dazu gehören Schule, Mensa und eine Turnhalle. Die Sanierung wurde in der bemerkenswert kurzen Zeit von April 2014 bis August 2015 realisiert. Die Sanierungskosten
betrugen 13,6 Millionen Euro.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
29
Wohnungswirtschaft / Schulen
Kosten gedeckt und eine marktübliche Verzinsung dargestellt werden muss. Diese Kosten
sind Bestandteil des Haushalts, und der wird
im Stadtrat beschlossen. Funktioniert das
konfliktfrei oder kursiert bei den Stadträten
für die städtische Gesellschaft die Vermutung,
„die verdient sich eine goldene Nase?“
Das war in der Vergangenheit in der Verwaltungszuständigkeit nicht selbstverständlich. Das lag
aber nicht an der Bereitschaft der Mitarbeiter,
sondern war der Tatsache geschuldet, dass wir für
die laufenden Instandhaltungen nicht die Finanzmittel in den Haushalt einstellen konnten, die
vonnöten waren.
Wolf:
Wir haben derzeit eine Eigenkapitalverzinsung
auf dem gesetzlich niedrigsten Niveau in der Vertragskonstruktion mit der Weimarer Wohnstätte
in Höhe von zwei Prozent. Da diskutiert niemand
darüber, dass sich das Unternehmen eine goldene
Nase verdient.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Dieses „Weimarer KKP-Modell“ wird
inzwischen auch von Kollegen aus anderen
Städten besichtigt. Was sagen die und was
sagt das Land, das regelmäßig zutiefst misstrauisch ist, wenn sich Kommunen selbst etwas
einfallen lassen?
„Es gibt das Wasser nicht, das wir
in den Wein gießen könnten“
Wolf:
Das Weimarer Modell ist leider über die Region
hinaus kaum bekannt. In Erfurt hat man
ähnliches vor. Dazu sind wir im Austausch. Ich
bin ganz sicher, dass unser Beispiel Schule machen
sollte.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Wir müssen ein Fazit ziehen. Wie lautet es
in Summe für das „Weimarer Modell“, und
würden Sie ggfls. etwas anders machen, wenn
Sie es heute noch einmal starten könnten?
Wolf:
Es klingt unwirklich, aber es gibt das Wasser
nicht, das wir hier in den Wein gießen müssten.
Das Weimarer Modell ist ein Erfolg. So sehen wir
das als Stadt, die Weimarer Wohnstätte und der
Stadtrat in großer Übereinstimmung.
Ich bin ganz sicher, dass unser
Beispiel Schule machen sollte.
„
______________________
Stefan Wolf
“
Energetisch haben wir allerdings etwas gelernt:
die Hoffnung, dass man mit sanierten Schulen
Energiekosten spart, hat sich nicht erfüllt. Ganz
im Sinne des Energieerhaltungssatzes müssen wir
das, was wir an Heizkosten sparen, an Lüftungskosten hinzusetzen.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Wir haben vor allem die ökonomische und
strukturelle Seite beleuchtet. Was bedeuten
sanierte Schulen darüber hinaus?
Wolf:
Wir haben im besten Sinne auch die soziale Infrastruktur verbessert, und mit sanierten Schulen
die Attraktivität vieler Wohngebiete erhöht. Dort
treffen wir zufriedene Eltern, Kinder und Lehrer.
Das liegt auch daran, dass wir den sanierten Status
erhalten. Das ist Bestandteil der Verträge, und
vor Ort wird mit Freude registriert, dass etwas,
was kaputt geht, sehr schnell auch repariert wird.
30
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Ihr kommunales Wohnungsunternehmen,
die Weimarer Wohnstätte GmbH, hat mit
Erfolg – und der ist mit gutem Recht auch
dauerhaft zu nennen, denn seit Projektstart
sind immerhin schon neun Jahre vergangen
– ein knappes Drittel der Weimarer Schulen
saniert und tut dies ebenso positiv auch als
Betreiber und Eigentümer. Warum überträgt
die Stadt dem Unternehmen nunmehr nicht
auch alle weiteren Schulen, Sporthallen und
auch – das würde strukturell doch passen – die
Kindertagesstätten?
Wolf:
Natürlich gab es die Überlegung, die Schulen und
Turnhallen komplett in die Hand der Weimarer
Wohnstätte zu geben. Was uns gehindert war,
das war die leider auch beim Thema Schulen
inkonsistente Förderpolitik. Niemand kann mir
doch ernsthaft erklären, dass es für die Sanierung
einer Schule Fördermittel gibt, wenn sie im
städtischen Bestand ist, nicht aber, wenn sie einer
zu 100 Prozent städtischen Wohnungsgesellschaft
gehört. Da wir auf Fördermittel aber nicht verzichten können, gibt es die große Lösung nicht.
Wir verzichten damit auf viele positive Effekte,
die man unter den Überschriften Synergie und
Kosteneffizienz zusammenfassen könnte.
Ein zweiter Aspekt besteht darin, dass man
solche Übergänge nicht auf einen Ritt, sondern
Schritt für Schritt gestalten muss. Unsere
städtische Wohnungsgesellschaft war ja nicht per
se ein Schulsanierungsträger und Schulbetreiber.
In diese Aufgaben ist sie auf bemerkenswerte
Weise hineingewachsen. Damit hat sie die Statur,
auch Folgeprojekte mit Bravour zu meistern.
UNSER
Gesprächspartner
Stefan Wolf wurde am 6. Dezember 1961
in Berlin geboren. Nach dem Abitur und einer
Ausbildung zum Bankkaufmann folgte 1984
das Studium der Rechtswissenschaften an
der Freien Universität Berlin, das Wolf 1992
mit dem 2. Juristischen Staatsexamen abschloss. Bis 2001 war er Richter und Staatsanwalt bei der Staatsanwaltschaft Berlin mit
dem Schwerpunkt Wirtschaftskriminalität. Zudem fungierte er als Geldwäschebeauftragter
der Berliner Staatsanwaltschaft.
Von 2001 bis 2006 war er Bürgermeister
und Beigeordneter für Wirtschaft, Stadtentwicklung und Bauen der Stadt Weimar. Seit
Juli 2006 ist er dort Oberbürgermeister und
Dezernent für Stadtentwicklung, Kultur und
Wirtschaft.
Wolf ist Vorsitzender bzw. stellvertretender Vorsitzender des Verwaltungsrates der Sparkasse
Mittelthüringen, Aufsichtsratsvorsitzender u.a.
der Stadtwerke Weimar StadtversorgungsGmbH, der Weimarer Wohnstätte GmbH
und Vorsitzender des Wasserversorgungsversorgungszweckverbands Weimar. Er ist
Mitglied in weiteren Aufsichtsräten und Kuratorien, u.a. Stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender der Deutschen Nationaltheater und
Staatskapelle Weimar GmbH – Staatstheater
Thüringen und Mitglied im Aufsichtsrat der
Kommunale Energie Beteiligungsgesellschaft
Thüringen AG.
Stefan Wolf ist Vizepräsident des Gemeindeund Städtebundes Thüringen und Mitglied im
Vorstand der Landesgruppe Thüringen des Verbands kommunaler Unternehmen e.V. (VKU).
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
„Weimarer KKP-Modell“. Taugt das nur in
der direkten Nachbarschaft zu Goethe und
Schiller oder halten Sie es für einen Ansatz,
der auch anderswo funktioniert? Wenn ja,
wann gibt es zur weiteren Anwendung eine
„Handreichung“?
Wolf:
Goethe und Schiller, um diese Stichworte aufzugreifen, haben in der Republik den besten Ruf
und einen guten Klang. Das wünschen wir auch
dem Weimarer Modell.
Es ist eine gute Idee, dieses Modell auch wissenschaftlich strukturiert aufzuarbeiten und auf dieser
Grundlage eine praktikable Handreichung für eine
Nachnutzung zu entwickeln.
n
Das Gespräch führte Michael Schäfer
i
infos
stadtverwaltung@stadtweimar.de
www.weimarer-wohnstaette.de
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
KOMMUNALWIRTSCHAFT AKTUELL
ÖPP
Öffentlich-Private Partnerschaften auf kommunalwirtschaftlicher Ebene
Eine Möglichkeit zur Mehrung
kommunalen Vermögens?
Von Christian Monreal, Remondis Assets & Services GmbH & Co. KG
D
ie Diskussion zur Sinnhaftigkeit kommunaler und privater Kooperationen, den sogenannten Öffentlich-Privaten Partnerschaften
(ÖPP), wird seit Jahren kontrovers geführt. Gerade in Zeiten großer kommunaler Herausforderungen aber auch großer
Verunsicherung gegenüber der Privatwirtschaft empfiehlt sich, statt der üblichen emotionalen Diskussion, eine rationale
Auseinandersetzung mit der Thematik. Denn was zählt, ist die Antwort auf die Frage: Können Kommunen durch Öffentlich-Private
Partnerschaften kommunales Vermögen mehren?
Beispiele für Öffentlich-Private Partnerschaften
finden sich in nahezu allen Lebensbereichen
unserer Gesellschaft. Ob in Schulen oder
Kindertagesstätten, beim Bau eines neuen Autobahnteilstücks, beim Bau und Betrieb einer Altenpflegeeinrichtung, bei der Versorgung mit Energie
und Wasser oder bei der Entsorgung von Abfall
und Abwasser – überall dort werden heute bereits
Leistungen in Zusammenarbeit von öffentlicher
Hand und privater Wirtschaft erbracht. Sogar die
bedeutendste nationale Normungsorganisation,
die DIN e.V., ist schon seit 1975 eine ÖPP. Sie verantwortet beispielsweise, dass alle Normungen im
Sinne des öffentlichen Interesses festgelegt werden.
Definition und Merkmale ÖPP
Unter Öffentlich-Privaten Partnerschaften
versteht man alle Formen der Zusammenarbeit zwischen einer kommunalen Einrichtung und einem privatwirtschaftlichen
Unternehmen. Diese Partnerschaften leben
vor allem von einer engen Zusammenarbeit,
aber auch von ihrer Langfristigkeit, der Risikoteilung, von der gemeinsamen Weiterentwicklung und nicht zuletzt auch von der
gemeinsamen Finanzierung. Denn für die öffentliche Hand stellt die ÖPP vor allem eine
alternative Beschaffungsvariante dar.
Genauso vielfältig wie die Tätigkeitsbereiche
von ÖPP, ist auch ihre Wahrnehmung in der
Öffentlichkeit. Während die Befürworter immer
wieder auf den wirtschaftlichen Erfolg dieser
Gemeinschaftsunternehmungen hinweisen, vermitteln Medien vermehrt ein negatives Bild von
ÖPP. Woran liegt das? Fehlende Informationen
sind sicherlich ein Grund, handwerkliche Fehler
bei der Ausgestaltung ein anderer.
Motive der öffentlichen Hand
Für den kommunalen Partner gibt es zahlreiche Gründe, die für eine ÖPP sprechen: Die
Ressourcen privater Unternehmen für öffentliche
Aufgaben nutzen zu können, das geteilte Risiko
bei Investitionsentscheidungen, die Nutzung
von Markt- und Wettbewerbsstrukturen oder
auch der Vorteil, dass Aufgaben verlässlich und
ökonomisch effizient erfüllt werden, können der
Anlass für die Gründung einer ÖPP sein. Oft ist
zudem auch die Sicherung stabiler Gebühren
ein Motiv.
Aus der jeweiligen Motivlage heraus, kann sich
die öffentliche Hand zwischen einer vertraglichen
oder einer institutionellen ÖPP entscheiden:
Das erste Modell basiert ausschließlich auf
einer vertraglichen Beziehung zwischen den
Partnern, wie dies beispielsweise bei einem
Konzessionsmodell der Fall ist. Die Gestaltung des
Vertrags bzw. die Einhaltungskontrolle, sind bei
diesem Modell für die öffentliche Hand die einzige Möglichkeit die wunschgemäße Leistungserbringung festzulegen und erfolgreich umzusetzen.
Dem Abbau eines vorliegenden Investitionsstaus
und damit der Verbesserung der Infrastruktur
stehen zukünftige Zahlungsverpflichtungen an
den Partner gegenüber.
Das Modell der institutionellen ÖPP basiert
auf der Gründung eines gemeinsamen Wirtschaftsgebildes oder durch die Beteiligung
eines privaten Partners an einem bestehenden
Unternehmen. Damit ist für die öffentliche
Hand, die in der Regel sogar die Mehrheit der
Gesellschaftsanteile behält, die Wahrung der
Kontrolle sichergestellt. Sie kann gemeinsam
mit dem privaten
Partner an der
Weiterentwicklung
der Gesellschaft
arbeiten. Neben
dem einmaligen
Ve r k a u f s e r l ö s
der Anteile am
Gemeinschaftsunternehmen,
erhält
die
öffentliche Hand
außerdem
ihre
Gewinnbeteiligung. Gestaltung institutioneller ÖPP
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
Christian Monreal
Auch wenn beide Formen der ÖPP auf
Grund ihrer großen Unterschiede differenziert
zu bewerten sind, ist beiden gemein, dass die Auswahl des richtigen Partners von entscheidender
Bedeutung ist. Dieser Tatsache ist im Vergabeverfahren entsprechend Rechnung zu tragen.
Der deutsche und der europäische Gesetzgeber haben daher bewusst preisfremde
Zuschlagskriterien im Gesetz verankert,
um die öffentliche Hand nicht zu zwingen,
den „billigsten“ oder bei einer ÖPP den
31
ÖPP
„Höchstbietenden“ als Partner nehmen zu müssen.
Als Partner eignet sich nämlich vielmehr derjenige,
der ähnliche strategische Ziele verfolgt. Dazu
gehören neben der nachhaltigen Unternehmensausrichtung und der Unternehmensführung, vor
allem die Sicherstellung einer durch Referenzen
belegten hochwertigen Leistungserbringung.
Abschließend lässt sich die Ausgangsfrage,
ob ÖPPs das kommunale Vermögen mehren
können, dann klar mit Ja beantworten, wenn
über institutionelle ÖPPs gesprochen wird. Der
Beschaffungsvorgang wird so optimiert, dass er
neben dem Einmalerlös sowohl ein laufendes
Ergebnis als auch einen Finanzwert generiert.
Positives Beispiel: REMONDIS
ÖPP // Qualität und
Wirtschaftlichkeit seit 20 Jahren
Eine der größten und erfolgreichsten ÖPP betreibt die
Firma REMONDIS (49 Prozent) zusammen mit der
Stadt Frankfurt am Main (51 Prozent). Zusammen
haben sie 1998 die Frankfurter Entsorgungs- und
Service GmbH (FES) gegründet. Heute ist die FES
der führende Komplettdienstleister für Entsorgung
und Reinigung in der gesamten Rhein-Main-Region.
Mit insgesamt sechs Tochter- und Beteiligungsgesellschaften bietet die FES Serviceleistungen für
Während die Befürworter immer
wieder auf den wirtschaftlichen
Erfolg dieser Gemeinschaftsunternehmungen hinweisen,
vermitteln Medien vermehrt ein
negatives Bild von ÖPP.
„
______________________
Christian Monreal
“
700.000 Frankfurterinnen und Frankfurter und
zusätzlich 4,8 Millionen Touristen und Geschäftsreisende auf insgesamt sechs Millionen Quadratmeter.
Diese ÖPP bietet Arbeitsplätze für
inzwischen mehr als 1.700 Menschen, besitzt
rund 800 Spezial- und Sammelfahrzeuge und
betreibt acht Aufbereitungsanlagen. Seit der
Gründung erweiterte die FES ständig ihre
Geschäftsfelder und Kompetenzen. Ihr Portfolio
reicht heute von der Erfassung von Haushalts-,
Gewerbe- und Industrieabfällen über die Bioabfallbehandlung und Stadtreinigung bis hin
zur Abfallaufbereitung. Die Zuverlässigkeit,
Kompetenz und die ökonomische Stabilität der
FES sind für die Stadt Frankfurt am Main heute
kaum noch zu entbehren.
n
UNSER
AUTOR
Christian Monreal wurde am 10. Mai
1982 in Viersen geboren. Nach dem Abitur und
der Absolvierung des Zivildienstes begann er im
Jahre 2002 seine duale Berufsausbildung bei
der damaligen RWE Umwelt AG, die er im Jahre
2004 abschloss. Berufsbegleitend studierte er
bis 2006 an der FOM Fachhochschule für Ökonomie und Management, Neuss, und schloss
dieses Studium als Diplom-Kaufmann (FH)
ab. Von 2014 bis 2016 absolvierte Monreal –
ebenfalls nebenberuflich – den Studiengang
„Kommunalwirtschaft“ an der HNE Hochschule
für Nachhaltige Entwicklung, Eberswalde, den
er im Februar 2016 als Master of Arts Kommunalwirtschaft abschloss.
Nach dem Verkauf der RWE Umwelt AG an
die REMONDIS-Gruppe arbeitet er seit 2005
für die REMONDIS Assets & Services GmbH
& Co. KG im Bereich Vertriebssteuerung.
Schwerpunkte sind die Koordinierung des
kommunalen Vertriebs der Unternehmensgruppe sowie der Bereich Public Affairs.
i
infos
christian.monreal@remondis.de
Rotes Kreuz
SCHENKEN SIE
Menschen auf der Flucht Zuversicht!
32
IBAN: DE63370205000005023307
BIC: BFSWDE33XXX
Stichwort: Flüchtlingshilfe
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
www.Spenden-DRK.de/Flüchtlinge
FORUM NEUE LÄNDER
FORUM NEUE LÄNDER
nachgeschlagen
Der Ostdeutsche Sparkassenverband (OSV) vertritt alle 45 öffentlichen
Sparkassen in den Bundesländern Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Sachsen. Er wurde im Jahr 1991 als Nachfolger
des DDR-Sparkassenverbandes gegründet. Die Mitgliedssparkassen verfügen
über 1.440 Geschäftsstellen und beschäftigen mehr als 20.000 Mitarbeiter.
Der OSV ist der einzige deutsche Sparkassenverband, der mehr als zwei Bundesländer vereinigt.
Die kommunalen Implikationen der Flüchtlingskrise
Gewogene Werte
VfkE-Jahresveranstaltung vom 30. November in Bitterfeld-Wolfen
D
ie Flüchtlingskrise hat dieses Jahr 2015 geprägt, wie kaum ein anderes Thema. Fast alle Kommunen in Deutschland waren betroffen.
Schließlich sind die zu uns kommenden Menschen nach dem Königsteiner Schlüssel auf die Länder und dann möglichst gleichmäßig
auf die Kommunen verteilt worden. Zwischen September 2015 und November 2016 reisten mehr als 1,5 Millionen Flüchtlinge ein.
Allein im Jahr 2015 betrug der Migrationssaldo 1,25 Millionen Menschen. Die Bundesrepublik erfährt damit eine Einwanderung in historisch
ungekannten Dimensionen, womit sich für die Kommunen enorme Herausforderungen, einige Chancen, aber auch gewisse Risiken verbinden.
Die simple Betreuung, Verpflegung und Unterbringung wurde geschafft. Vollkommen offen ist allerdings, ob in einigen Jahren die Integration
gelungen sein wird. Aktuell ist zu konstatieren, dass die Flüchtlingskrise zu einer erheblichen Spaltung der Gesellschaft beigetragen hat.
Kommunen stehen in der Verantwortung für ein stabiles gesellschaftliches Klima vor Ort zu sorgen, weshalb es naheliegend und nahezu
unausweichlich war, das Thema Flüchtlingskrise auf die Agenda des Verbundnetz für kommunale Energie zu setzen. Grundlage der Debatte in
Bitterfeld-Wolfen war die Jahresstudie des VfkE 2016. Sie wurde an Sachsen-Anhalts Ministerpräsidenten Dr. Reiner Haseloff übergeben. Lesen
Sie im Folgenden eine Zusammenfassung der Veranstaltung vom 30. November in Bitterfeld-Wolfen.
Petra Wust ist seit Gründung der Doppelstadt Bitterfeld-Wolfen deren Oberbürgermeisterin. Nach zehn Jahren im Amt wird sie im
kommenden Frühjahr den Staffelstab an ihren
bereits gewählten Nachfolger Armin Schenk übergeben. Es sei ein schöner Abschluss, am Ende
der Amtszeit noch einmal das Verbundnetz für
kommunale Energie (VfkE) in Bitterfeld-Wolfen
begrüßen zu können, so die Oberbürgermeisterin.
„Die alte Agfa-Konzernzentrale ist das neue Rathaus der Stadt und repräsentiert deren reiche
Industriegeschichte. Der alte Hörsaal wiederum
vermittelt damals wie heute die Verbindung
zwischen grundlegenden Strategiebildungen auf
der einen sowie Forschung und Lehre auf der
anderen Seite. Das VfkE als politische Plattform
mit wissenschaftlichem Anspruch ist hier bestens
aufgehoben.“
An diesem Ort mit seinem erfolgreich
bewältigten Strukturwandel manifestiere sich
die enorme Bedeutung der kommunalen Unternehmen für die Lebensqualität der Menschen
und für die Ansiedlung von Gewerbe. Mit
Blick auf die Zukunft richtet Petra Wust zwei
Wünsche an die Politik. Sie möge erstens ein
Einwanderungsgesetz schaffen, welches das
gravierende Fachkräftedefizit lösen hilft und sie
solle den erheblichen Investitionsstau in der Infrastruktur aufgreifen. Beides seien Vorbedingungen
für einen prosperierenden Industriestandort.
Als größtes ostdeutsches Unternehmen
und angesichts einer starken kommunalen
Komponente stützt die VNG – Verbundnetz
Gas AG seit mehr als einem Jahrzehnt das VfkE.
Ulf Heitmüller repräsentiert das Unternehmen
Die kommunale Familie der Neuen Bundesländer traf sich im historischen Hörsaal der alten Agfa-Zentrale.
Heute ist dort das Rathaus von Bitterfeld-Wolfen.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
33
VfkE
Die Politik soll endlich ein Einwanderungsgesetz schaffen und sie
soll den gravierenden Investitionsstau bei der Infrastruktur
aufgreifen.
„
Bitterfeld-Wolfens Oberbürgermeisterin Petra Wust
bei ihrem Grußwort
seit Oktober 2016. „Die VNG ist fest im Osten
Deutschlands und in den Kommunen verwurzelt. Das Engagement für eine Plattform der
Kommunalwirtschaft liegt somit auf der Hand“,
so der neue Vorstandschef.
Herwart Wilms vertritt den zweiten Förderer
der diesjährigen VfkE-Jahresstudie. REMONDIS
ist ein traditionsreiches Familienunternehmen,
welches als Entsorger und Versorger deutschlandweit – meist in Minderheitsbeteiligungen – mit
Kommunen kooperiert und auf jahrzehntelange
Erfahrungen bei der Daseinsvorsorge verweisen
kann. „Wir erbringen Leistungen für mehr
als 30 Millionen Menschen und sind mit 44
Beteiligungen der größte private Partner der
Kommunen im Bereich der Daseinsvorsorge“, so
Herwart Wilms. Die Unterstützung des VfkE entspräche einer Unternehmenskultur, die sich nicht
nur an wirtschaftlichen Erfolgen, sondern auch an
ethisch-moralischer Verantwortung messen lasse,
so der Geschäftsführer der Remondis Assets &
Services GmbH & Co. KG. Die Flüchtlinge in
Deutschland würden mit enormen Erwartungen
konfrontiert, so Wilms. „Wenn im Zusammenhang mit den zu uns gekommenen Menschen
vom demografischen Wandel oder vom Fachkräftemangel gesprochen wird, bin ich mir
unsicher, ob das Asylrecht dazu den passenden
Rahmen bietet.“
Humanitäre Pflicht vs.
wirtschaftlicher Eigennutz
Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Dr. Reiner
Haseloff war es vorbehalten, den ersten Impulsvortrag des Tages zu halten. Der promovierte Physiker
verweist zunächst auf seine lange kommunale
Prägung. Von 1990 bis 1992 war er stellvertretender Landrat des Landkreises Wittenberg, von
34
______________________
Petra Wust
“
1992 bis 2002 Leiter des Arbeitsamtes Wittenberg
und bis 2004 ehrenamtlich in Kreistag und Stadtrat aktiv. Die Auszeichnung zum „Kommunalpolitiker h.c.“ wisse er daher zu schätzen. Aus
dieser kommunalen Perspektive heraus dankte
Haseloff der VNG und REMONDIS für ihr
Engagement. Das Verbundnetz für kommunale
Energie (VfkE) leiste seit mehr als zehn Jahren
einen wichtigen Beitrag für ein gemeinsames
Problembewusstsein und für die Bildung von
politischen, gesellschaftlichen und versorgungswirtschaftlichen Strategien der ostdeutschen
kommunalen Familie. In dieser Funktion werde
die Plattform auch in Zukunft dringend benötigt
und verdiene jede Unterstützung.
„Für die Integration der ankommenden
Flüchtlinge gibt es keine Patentrezepte“, verweist der Ministerpräsident auf die Komplexität der Herausforderungen. Letztlich werde sich
im alltäglichen Leben vor Ort entscheiden, ob
die Eingliederung in die Gesellschaft gelingen
kann. Voraussetzung sei jedoch, dass möglichst schnell diejenigen in ihre Heimatländer
zurückgeführt werden, die keinen Anspruch auf
Aufenthalt begründen konnten. Damit seien
emotionale Härten verbunden, die man aber
zur Sicherung des Rechtstaates und im Hinblick
auf die begrenzten Ressourcen ertragen können
muss. Der überwiegende Teil der Flüchtlinge sei
allerdings aus Konfliktgebieten gekommen, in die
aktuell und vermutlich auch in naher Zukunft
nicht zurückgeführt werden kann. Die Gesellschaft müsse sich darauf einstellen, dass diese
Menschen eine gewisse Zeit in Deutschland
bleiben werden.
Eine Verknüpfung von Asyl- und Einwanderungsrecht sieht der Ministerpräsident
eher skeptisch. Das Asylrecht fuße auf humanen
Erwägungen und sei nicht dazu da, die Wirtschaftskraft des Ziellandes zu stärken. Fachkräfteeinwanderung hingegen sollte sich am Aspekt
der Nützlichkeit orientieren. Hierzu müssten
zunächst grundlegende Prämissen definiert
werden, die hoffentlich recht bald in ein neues
Einwanderungsgesetz münden. Wenn man
langfristig auf gut ausgebildete Asylberechtigte
aus Konfliktgebieten setze, müsse man sich
des Umstands bewusst sein, dass diese für den
dringend notwendigen Wiederaufbau in der
Heimat fehlen werden.
In Sachsen-Anhalt sei der Anteil von
Medizinern aus dem Nahen und Mittleren
Osten schon jetzt recht hoch, was angesichts der
Kriegsbilder aus Syrien und anderswo für alle
Beteiligten ein moralisches Dilemma darstellt.
Die deutsche Gesellschaft müsse die komplexe
Frage beantworten, in welchem Maße eigennützliche Erwägungen im Umfeld des rein
humanbasierten Asylrechts gelten dürfen, so der
Ministerpräsident.
Mit Blick auf die vorhandenen Ressourcen
und die zunehmende Polarisierung der Gesellschaft müssten auch Grenzen der Zumutbarkeit bedacht werden. Kommunen und auch die
Länder sollten konkret benennen, wenn sie sich
überfordert fühlen. Die außenpolitische Verantwortung läge beim Bund und bei der EU
und dort sollten die Aufwände der Flüchtlingsintegration auch finanziert werden.
In den vergangenen 15 Monaten wurden
mehr als eine Million Menschen in der
Bundesrepublik aufgenommen, so Haseloff.
Sachsen-Anhalt hätte die daraus resultierenden
Herausforderungen
vergleichsweise
gut
bewältigt. So sei eine Vielzahl der Asylverfahren
Das Verbundnetz für kommunale
Energie (VfkE) leistet seit mehr als
zehn Jahren einen wichtigen Beitrag für ein gemeinsames Problembewusstsein und für die Bildung
von politischen, gesellschaftlichen
und versorgungswirtschaftlichen
Strategien der ostdeutschen
kommunalen Familie.
„
______________________
Dr. Reiner Haseloff
“
Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Dr. Reiner Haseloff
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
FORUM NEUE LÄNDER
VfkE
bereits abgeschlossen und zahlreiche Flüchtlinge befänden sich nun im Wirkungsbereich
des SGB II. Damit verbänden sich zwar klarere
Finanzierungswege, jedoch sei es nur in Einzelfällen gelungen, in eine reguläre Beschäftigung
zu integrieren. Mit den derzeit zur Verfügung
stehenden Mitteln werde es kaum möglich sein,
diesen Zustand zeitnah zu ändern.
„Das Ausbildungs- und Arbeitsrecht muss auf
die besonderen Voraussetzungen und auf den deutlich höheren Betreuungsaufwand bei der beruflichen Integration von Flüchtlingen eingehen“, so
der Ministerpräsident. Zudem sei die Wirtschaft
gefragt, sich noch stärker zu engagieren. „Wir
wissen, wie schwierig allein die Integration der
vielen deutschen Langzeitarbeitslosen fällt. Bei
einer durchschnittlichen Analphabetenrate von
30 Prozent stellen sich bei den Flüchtlingen noch
Die Flüchtlinge sind nicht nach
Deutschland gekommen, um
dem deutschen Arbeitsmarkt zu
nutzen.
„
______________________
Hans-Joachim Herrmann
“
komplexere Herausforderungen, denen man nur
mit einer ausgeprägten sozialen Begleitung beikommen wird.“ Bürgerarbeit sei ein geeigneter
Ansatz für den Übergang in Beschäftigung, so
Haseloff, der das Konzept einst selbst entwickelte
und in die politische Debatte einbrachte. Damit
könnten sich sowohl für die Kommunen, als auch
für SGB II-Empfänger schnell realisierbare Mehrwerte verbinden. Nicht zuletzt ließe sich auf diese
Weise die gesellschaftliche Akzeptanz sowohl von
Flüchtlingen als auch von Transferempfängern
stärken.
Der Ministerpräsident hofft, dass in den
kommenden drei Jahren die Grundlagen
geschaffen werden, um einen signifikanten Anteil
REMONDIS bildet schon jetzt
Flüchtlinge aus und will dies
weiter verstärken. Selbstverständlich wollen wir daraus aber auch
für uns etwas Gutes schöpfen.
„
______________________
Herwart Wilms
“
Ich habe es als Landrat durchaus bedauert, nicht über eigene
Wohnungsgesellschaften zu
verfügen.
„
______________________
Matthias Jendricke
“
neue Masseneinwanderung werde angesichts
der begrenzten finanziellen wie personellen
Ressourcen unweigerlich dazu führen, dass
die Integration der bereits in Sachsen-Anhalt
lebenden Flüchtlinge erschwert wird.
der Flüchtlinge in den ersten Arbeitsmarkt zu
bekommen. Mit 440 Sprachförderklassen allein
in Sachsen-Anhalt werde aktuell vor allem an der
sprachlichen Basis gearbeitet. Eine umfassende
Integration werde jedoch nur gelingen, wenn
die private Wirtschaft ihre Erwartungen an die
Berufseinsteiger dämpft und die Qualifikationsstandards insgesamt flexibel angepasst werden.
„Wenn wir die Herausforderungen
bewältigen, lässt sich mit einer gewissen
Berechtigung die Stärkung des Wirtschaftsstandortes Sachsen-Anhalt erwarten. Umgekehrt muss
aber auch ständig Acht gegeben werden auf die
gesellschaftliche Stabilität.“ Haseloff wünscht
sich, dass die Flüchtlingszahlen auf dem derzeit mäßigen Niveau verbleiben. Eine mögliche
Auszüge aus der
Podiumsdiskussion
Im Anschluss an die Präsentation der VfkEJahresstudie 2016 sollten deren zentrale Ergebnisse auf dem Podium diskutiert werden. Mit
dabei waren Vertreter der kommunalen und der
privaten Unternehmen sowie der Kommunalpolitik. „Eines der zentralen Ergebnisse war die
herausragende Gewichtung der kommunalen
Unternehmen bei der Integration von Flüchtlingen“, zitiert Prof. Dr. Michael Schäfer aus
der gerade veröffentlichten Jahresstudie 2016.
Diese Wertschätzung seitens der befragten
Hauptverwaltungsbeamten sei schon allein ein
bemerkenswerter Befund, doch wie lassen sich
die Funktionen der kommunalen Wirtschaft im
Hinblick auf die Integration konkret beschreiben,
fragt der Moderator der Runde und deutschlandweit einzige Professor für Kommunalwirtschaft.
Auf dem Podium diskutierten v.l.n.r.: Uwe Schulze, Matthias Jendricke, Hans-Joachim Herrmann, Herwart Wilms und Jürgen Voigt. Ganz rechts im Bild der Moderator der
Runde: Prof. Dr. Michael Schäfer
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
35
VfkE
„Jeder Bürger hat einen Bezug zu seinen
kommunalen Unternehmen. Sie agieren vor Ort
und für die Region“, antwortet Uwe Schulze,
Landrat von Anhalt-Bitterfeld. Insbesondere
die kommunalen Wohnungsgesellschaften
leisteten jenseits von Gewinnerwartungen einen
ganz erheblichen Beitrag für eine dezentrale
Integration in das Wohnumfeld. Sie würden den
Neubürgern dabei konkrete Werte und Normen
des Zusammenlebens in Deutschland vermitteln.
Daneben könnten auch die kommunalen
Beschäftigungsgesellschaften erhebliche Impulse
entfalten. Matthias Jendricke stimmt seinem
Kollegen zu. „Ich habe es als Landrat durchaus bedauert, nicht über eigene Wohnungsgesellschaften zu verfügen“, so der Landrat
des Landkreises Nordhausen. „Wir mussten
die kreiseigene Servicegesellschaft nutzen, um
Gemeinschaftsunterkünfte zu betreiben und
Objekte zu kaufen.“ Eigene Gesellschaften böten
die Möglichkeit einer flexiblen Anpassung an
sich verändernde Rahmenbedingungen. Bei
externen Anbietern müssten die finanziellen
Verpflichtungen auch bei der aktuell deutlich
abgesunkenen flüchtlingsbedingten Wohnraumnachfrage erfüllt werden.
Hans-Joachim Herrmann führte lange Jahre
den Verband kommunaler Unternehmen in
Sachsen-Anhalt, ist heute dessen Stellvertreter
und agiert seit deren Gründung im Jahr 1991
als Geschäftsführer der Stadtwerke Wittenberg. Herrmann ordnet den Wohnungsgesellschaften ebenfalls eine herausragende Rolle
bei der Integration zu. Doch auch die Stadtwerke könnten ihren Beitrag leisten – etwa
bei der Bereitstellung von Infrastruktur für
provisorische Wohneinheiten. Daneben hätten
viele kommunale Unternehmen Anstrengungen
unternommen, möglichst viele Flüchtlinge möglichst schnell in Arbeit zu integrieren. „Leider sind
Die Teilnehmer der PODIUMSDISKUSSION
(in namensalphabetischer Reihenfolge)
Hans-Joachim Herrmann, stellv. Vorsitzender der VKU-Landesgruppe Sachsen-Anhalt,
Geschäftsführer Stadtwerke Lutherstadt Wittenberg und Mitglied der VfkE-Koordinierungsgruppe
Matthias Jendricke, Landrat des Landkreises Nordhausen
Uwe Schulze, Vize-Präsident Landkreistag Sachsen-Anhalt, Landrat des Kreises Anhalt-Bitterfeld
Jürgen Voigt, Geschäftsführer Wohnungs- und Baugesellschaft Wolfen mbH
Herwart Wilms, Geschäftsführer Remondis Assets & Services GmbH & Co. KG
Die Runde wurde moderiert von Prof. Dr. Michael Schäfer, Professor für Kommunalwirtschaft
an der Hochschule für nachhaltige Entwicklung in Eberswalde (HNEE).
die Erfolge bislang äußerst begrenzt“, bedauert er.
Mit den benötigten Qualifikationen verbänden
sich offenkundig noch zu hohe Hürden. Insgesamt bemängelt Herrmann, dass die Debatte
um Flüchtlinge und um deren Integration viel zu
häufig ohne und über die tatsächlich Betroffenen
hinweg geführt werde.
Herwart Wilms will die Fokussierung
auf eine rein kommunalwirtschaftliche Aufgabenerledigung im Bereich Flüchtlinge und
Integration nicht unwidersprochen lassen. Es
gäbe durchaus viele Beispiele, wo kommunales
und privates Engagement ineinandergegriffen
und zu ähnlichen befriedigenden Ergebnissen
geführt hätte, so der Geschäftsführer Remondis
Assets & Services GmbH & Co. KG.
Ganz abgesehen von den Eigentümerstrukturen müssten sich die Unternehmen vor Ort
vollkommen unklaren Perspektiven stellen, wenn
sie Flüchtlinge in Ausbildung und Arbeit bringen
wollen, so Prof. Dr. Schäfer. Schließlich verfügten
auch anerkannte Asylbewerber in der Regel nur
über einen temporären Aufenthaltsstatus, der an
das Fortbestehen der politischen Verwerfungen
im Heimatland gebunden ist. Daran schließt
die Frage an, wie sich dieses Dilemma im Sinne
Es besteht ein eklatantes Missverhältnis zwischen der Verantwortung und den Aufgaben, die Kommunen in diesem Land
wahrnehmen, sowie den Kompetenzen, die sie entfalten
dürfen. Nicht zuletzt im Rahmen der Flüchtlingskrise haben
die Kommunen ihre Gestaltungs-, Innovations- und Schaffenskraft bewiesen. Die Bundesebene traf eine umstrittene
Entscheidung und die Kommunen leisten die Arbeit. Dass mehr als eine Million Menschen urplötzlich
Unterkunft, Betreuung und Verpflegung fanden, ist eine enorme Leistung, die vor allem in den Kommunen erbracht wurde. Vor Ort wird sich letztlich auch entscheiden, wie gut die Integration so vieler
Menschen aus teilweise recht unterschiedlichen Kulturen gelingt. Und vor diesem Hintergrund ist es
mehr als nur bedauerlich, dass mit der Neuordnung des Länderfinanzausgleiches schon wieder eine
Chance für eine angemessene kommunale Finanzierung vertan wurde. Die Kommunen werden auch
weiterhin am Tropf des Bundes und der Länder hängen und auf vermeintlich „großzügige“ Sonderleistungen angewiesen sein. Falk Schäfer
36
beider Seiten – der Migranten und der Unternehmen – lösen lasse. Hans-Joachim Herrmann
antwortet, dass sich diese Frage angesichts der
geringen Qualifikationen der Flüchtlinge derzeit
vornehmlich theoretisch stellt. Zudem seien die
Flüchtlinge nicht nach Deutschland gekommen,
um dem deutschen Arbeitsmarkt zu nutzen.
„Wenn wir die Menschen hier bei uns ausbilden,
damit sie nach einer Befriedung im Heimatland
am Wiederaufbau mitwirken können, dann
haben wir das Richtige getan. Gerade DDRBürger kennen diese Solidaritätshilfe aus der
Vergangenheit“, so Herrmann.
„Etwa drei Viertel der bei uns im Landkreis registrierten Asylbewerber besitzt keine
Ausbildung und zwar weder beruflich noch
schulisch“, ergänzt Uwe Schulze. Viele könnten
nicht einmal in ihrer Muttersprache lesen und
schreiben. Für eine fachliche Integration in den
deutschen Arbeitsmarkt müssten bei diesen
Menschen nicht drei, sondern zehn bis 15 Jahre
veranschlagt werden. Ob diese zeitlichen und
finanziellen Aufwände sich lohnen, müsse vor dem
Hintergrund der konkreten Rahmenbedingungen
und der möglichen Alternativen gewogen werden.
„Sicherlich kostet eine Integration in Arbeit viel
Zeit und Geld“, so Herwart Wilms. Doch gerade
in der Entsorgungswirtschaft böten sich durchaus
Gelegenheiten, einen gemeinsamen Mehrwert für
Flüchtlinge und die Unternehmen zu realisieren.
REMONDIS bildet schon jetzt Flüchtlinge aus
und will dies weiter verstärken. „Selbstverständlich wollen wir daraus aber auch für uns etwas
Gutes schöpfen“, so Wilms. „Einwanderung ist
doch schon heute Realität“, sagt Jürgen Voigt.
„Aus diesem Erfahrungsschatz können wir bei der
aktuellen Migrationswelle schöpfen.“ Die Gastarbeiter seien damals schlecht untergebracht, dafür
aber gut in Arbeit integriert worden. Heute sei es
umgekehrt, so der Geschäftsführer Wohnungsund Baugesellschaft Wolfen mbH.
n
Die Veranstaltung dokumentierte Falk Schäfer
i
infos
www.vfke.org
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
FORUM NEUE LÄNDER
VfkE
Oberbürgermeisterin Petra Wust und
Ministerpräsident Dr. Reiner Haseloff
wurden bei der VfkE-Jahresveranstaltung
2016 als „Kommunalpolitiker h.c.“
ausgezeichnet
„Kommunalpolitiker h.c“. Diese Auszeichnung gibt es seit dem
Jahr 2007. Die originäre Idee hatte Prof. Dr. Michael Schäfer, der
dann das Detailkonzept gemeinsam mit Oberbürgermeistern und
Bürgermeistern entwickelte.
Weil wirklich nur erfolgreiche und allseits anerkannte Kommunalpolitiker das Recht haben, diese
Amtsbezeichnung ehrenhalber, also „honoris causa“ (h.c.), zu verleihen, bat Professor Schäfer genau
solche Amtsinhaber um Mitwirkung in einem Auszeichnungsgremium. Diesem gehören aktuell an:
OB Dr. Dietlind Tiemann, Brandenburg an der Havel
OB Torsten Zugehör, Lutherstadt Wittenberg
Bürgermeister Dr. Reinhard Dettmann, Stadt Teterow, Präsident Städte- und Gemeindetag
Mecklenburg-Vorpommern
Bürgermeister Joachim Kreyer, Stadt Sondershausen
Bürgermeister a.D. Wolfgang Sedner, Stadt Lichtenstein
Prof. Dr. Michael Schäfer, Professor für Kommunalwirtschaft an der Hochschule für
nachhaltige Entwicklung Eberswalde (FH) und Herausgeber von UNTERNEHMERIN
KOMMUNE
Wer kann die Auszeichnung
erhalten?
Kurzum: Jeder, der sich in herausgehobener Weise
für die „kommunale Familie“ engagiert, kann
„Kommunalpolitiker h.c.“ werden. Das gilt beispielsweise für Unternehmer, die das kommunale
Leben personell und finanziell unterstützen, für
Bundes- und Landespolitiker, die dafür sorgen,
dass die kommunale Selbstverwaltung tatsächlich auch gelebt werden kann oder für Wissenschaftler, die zu Kommunen und kommunalen
Unternehmen forschen und belastbar zeigen,
welche herausragende Rolle die Kommunen und
die dort tätigen Unternehmen für den Bestand
unseres Landes spielen.
Symbol für die Auszeichnung ist eine handgeschnitzte Figur. Diese wurde nach Vorgaben
des Ideengebers und Initiators in den Kunstgewerbewerkstätten Olbernhau im Erzgebirge
– sie gehören zu den führenden Unternehmen
der Holzkunst in Deutschland und liefern ihre
kleinen Kunstwerke in die ganze Welt, u.a. in
die USA, nach Japan und China – eigens für
diese Auszeichnung von Künstlern und Holzschnitzern entwickelt.
Die einzige Möglichkeit, diesen „Kommunalpolitiker h.c“ zu bekommen, besteht darin,
Seit wann gibt es den
„Kommunalpolitiker h.c.“ und
wie muss man sich die Ehrung
vorstellen?
Die erste Auszeichnung gab es am 23. April
2007 in Bernburg. Die Ehrung in BitterfeldWolfen eingeschlossen, wurde der Ehrentitel
erst achtmal vergeben. Das Auszeichnungsgremium ist sich einig, diese Würdigung wirklich nur bei herausragenden Beiträgen für die
kommunale Sache zu vergeben. „Kommunalpolitiker h.c“ – das soll und muss etwas ganz
Besonderes sein und bleiben!
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
damit ausgezeichnet zu werden.Er wird nur
für diese Auszeichnung gefertigt. Raubkopien
wären strafbar, denn der „Kommunalpolitiker
h.c“ ist beim Deutschen Patentamt in München
geschützt.
Genau besehen, ist der kleine Oberbürgermeister mit der Amtskette auch ein erzgebirgischer Räuchermann. Die Idee dahinter:
erfolgreiche Kommunalpolitik hat die Intention,
„der Schornstein muss rauchen“.
Und das gilt natürlich gleichermaßen für
jene, die dabei kräftig mit anheizen und sich
mithin den Titel „Kommunalpolitiker h.c.“ verdienen. Das Auszeichnungsgremium bezieht
sich auf die hohe Akzeptanz, die das „honoris
causa“ genießt. Der ideelle Wert dieses „h.c.“
wurde auf die Würdigung von herausragendem
kommunalen Engagement übertragen.
Wer und warum wurde am 30.
November 2016 in BitterfeldWolfen als „Kommunalpolitiker
h.c.“ ausgezeichnet?
Die Auszeichnung erhielten vor dem würdigen
Forum der Jahresveranstaltung des „Verbundnetz für kommunale Energie“ Petra Wust, Oberbürgermeisterin von Bitterfeld-Wolfen, und Dr.
Reiner Haseloff, Ministerpräsident des Landes
Sachsen-Anhalt. Wir veröffentlichen nachfolgend (auszugsweise) die sehr umfangreichen
Begründungen der Auszeichnungsvorschläge,
auf deren Grundlage die Mitglieder des Auszeichnungsgremiums einstimmig für die Vergabe
des Ehrentitels votierten.
Dr. Reiner Haseloff
Dr. Reiner Haseloff, begann sein „kommunales
Leben“ nach der Wende als stellvertretender
Landrat des Landkreises Wittenberg. Von 1992
bis zum Jahre 2002 gestaltete er auf dieser
kommunalen Ebene als Direktor des Arbeitsamtes der Lutherstadt Wittenberg maßgeblich
die schwierige Transformation des Arbeitsmarktes unter den komplizierten Bedingungen
von ökonomischem Umbau und tendenzieller
Deindustrialisierung. Mit diesen Erfahrungen
und Erkenntnissen entwickelte er – da war er
schon Wirtschaftsminister des Landes SachsenAnhalt (bereits 2002 wurde er zunächst als
Staatssekretär ins Kabinett berufen) in den
Jahren 2006 und 2007 das bundesweit stark
beachtete Konzept „Bürgerarbeit“. Dieser
Ansatz sollte es erstmals ermöglichen, dass
Langzeitarbeitslose mit ihren eher geringen
Chancen für eine Re-Integration in den ersten
Arbeitsmarkt dauerhaft in die kommunale Aufgabenerledigung einbezogen werden können.
In mehreren Pilotprojekten wurde die Praxistauglichkeit der Idee mit großem Erfolg und
37
VfkE
ohne „wenn und aber“ nachgewiesen. Zudem
wurde gezeigt, dass die immer wieder ideologisch beschworenen negativen Auswirkungen
auf die Privatwirtschaft entfallen, wenn die
Langzeitarbeitslosen Tätigkeiten ausüben, für
die es dringende kommunale Bedarfe gibt,
deren Finanzierung aus den Haushalten aber
nicht oder nicht ausreichend dargestellt werden
kann.
Mit großer Beharrlichkeit engagierte sich Dr.
Haseloff dafür, diesen unter vielerlei zentralen
Aspekten – Kompensation der strukturellen
kommunalen Unterfinanzierung, Befreiung
der Langzeitarbeitslosen aus der frustrierenden
Situation dauernder Perspektivlosigkeit,
Durchsetzung des vernünftigen Prinzips, Arbeit
zu finanzieren statt Arbeitslosigkeit – dringend
gebotenen Paradigmenwechsel auf Bundesebene durchzusetzen. Leider gelang es nicht,
das Konzept in Gänze auf Bundesebene zu
implementieren. Nicht zuletzt die mangelnde
Unterstützung durch die Bundespolitik und
die leider generell zunehmende Scheu, grundlegende Reformen parteiübergreifend ins Werk
zu setzen, waren dafür zentrale Ursachen.
Gleichwohl setzte Haseloff mit seinem Konzept
wichtige Impulse für die Optimierung der
Integration von Langzeitarbeitslosen, die
jetzt auch für die erfolgreiche Integration von
Flüchtlingen genutzt werden sollten.
Dr. Reiner Haseloff, seit 2011 Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt, stellte
immer wieder unter Beweis, dass er mutig und
ohne ideologische und parteipolitische Scheuklappen vor allem auch die Interessen der
Kommunen seines Landes an vorderster Stelle
zum Maßstab seines Handelns machte. So etwa
indem er klar formulierte, dass die Integration
der Flüchtlinge kein abstraktes Mandat ist,
sondern in ganz entscheidendem Maße davon
abhängt, in welchem Umfang auf kommunaler
Ebene und mit Unterstützung von Bund und
Ländern personelle und finanzielle Ressourcen
für diese Aufgabe bereitgestellt werden können.
Für die Formulierung und für die Debatte
seiner kommunalen Positionen – an dieser Stelle
sei ausdrücklich sein Einsatz bei der Novellierung
des Kommunalwirtschaftsrechts in SachsenAnhalt unter umfassender Berücksichtigung der
Belange der Kommunen und ihrer Unternehmen
im Jahr 2007 genannt – hat Dr. Haseloff immer
wieder auch das „Verbundnetz für kommunale
Energie“ (VfkE) genutzt. Es ist durchaus nicht
selbstverständlich, die kommunalen Interessen
als wohl wichtigste Prämisse für landespolitische
Entscheidungen zu berücksichtigen. Für Dr.
Haseloff war diese Prioritätensetzung immer
unstrittig. Auch deshalb ist die erstmalige
Ehrung eines Landespolitikers mit dem ehrenvollen Titel eines „Kommunalpolitiker h.c.“
mehr als gerechtfertigt.
URKUNDE
Für beispielhaftes kommunales Engagement wird
Herr
Dr. REINER HASELOFF
Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt
mit dem Titel
KOMMUNALPOLITIKER h.c.
®
ausgezeichnet.
Diese Würdigung basiert auf dem Vorschlag von
Herrn
Prof. Dr. Michael Schäfer
UNTERNEHMERIN KOMMUNE
Für das Auszeichnungsgremium:
Dr. Dietlind Tiemann
Oberbürgermeisterin
Stadt Brandenburg a. d. Havel / Land Brandenburg
Dr. Reinhard Dettmann
Bürgermeister
Stadt Teterow / Land Mecklenburg-Vorpommern
Vorstand Städte- und Gemeindetag Mecklenburg-Vorpommern
Wolfgang Sedner
Bürgermeister a.D.
Stadt Lichtenstein / Freistaat Sachsen
Joachim Kreyer
Bürgermeister
Stadt Sondershausen / Freistaat Thüringen
Torsten Zugehör
Oberbürgermeister
Lutherstadt Wittenberg / Land Sachsen-Anhalt
Prof. Dr. Michael Schäfer
Herausgeber UNTERNEHMERIN KOMMUNE /
Professor für Kommunalwirtschaft
Berlin
Brandenburg a. d. Havel, Teterow, Lichtenstein, Sondershausen, Lutherstadt Wittenberg, Berlin, den 03. November 2016
Diese Urkunde erhielt der Ministerpräsident von
Sachsen-Anhalt
Die Auszeichnung für den Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt, Dr. Reiner Haseloff, überreichte Prof. Dr. Michael Schäfer
38
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
FORUM NEUE LÄNDER
VfkE
Petra Wust, die Oberbürgermeisterin, von Bitterfeld-Wolfen, beginnt ihren wohlverdienten Ruhestand Anfang März 2017. Dann ist sie Oberbürgermeisterin a.D. Als „Kommunalpolitikerin h.c.“ wurde sie bereits am 30. November 2016 in Bitterfeld-Wolfen ausgezeichnet. Ihr gratulierten Ministerpräsident Dr. Reiner Haseloff, Prof. Dr. Michael
Schäfer und Ulf Heitmüller, Vorstandsvorsitzender der VNG – Verbundnetz Gas AG, Leipzig, die das „Verbundnetz für kommunale Energie“ seit dessen Gründung im Jahr
2003 umfassend unterstützt (v.l.n.r.).
URKUNDE
Für beispielhaftes kommunales Engagement wird
Frau
PETRA WUST
Oberbürgermeisterin der Stadt Bitterfeld-Wolfen
mit dem Titel
KOMMUNALPOLITIKER h.c.
®
ausgezeichnet.
Diese Würdigung basiert auf dem Vorschlag von
Herrn
Prof. Dr. Michael Schäfer
UNTERNEHMERIN KOMMUNE
Für das Auszeichnungsgremium:
Dr. Dietlind Tiemann
Oberbürgermeisterin
Stadt Brandenburg a. d. Havel / Land Brandenburg
Dr. Reinhard Dettmann
Bürgermeister
Stadt Teterow / Land Mecklenburg-Vorpommern
Vorstand Städte- und Gemeindetag Mecklenburg-Vorpommern
Wolfgang Sedner
Bürgermeister a.D.
Stadt Lichtenstein / Freistaat Sachsen
Joachim Kreyer
Bürgermeister
Stadt Sondershausen / Freistaat Thüringen
Torsten Zugehör
Oberbürgermeister
Lutherstadt Wittenberg / Land Sachsen-Anhalt
Prof. Dr. Michael Schäfer
Herausgeber UNTERNEHMERIN KOMMUNE /
Professor für Kommunalwirtschaft
Berlin
Brandenburg a. d. Havel, Teterow, Lichtenstein, Sondershausen, Lutherstadt Wittenberg, Berlin, den 03. November 2016
Die Oberbürgermeisterin nahm diese Urkunde entgegen
Petra Wust
Petra Wust, geboren im Jahr 1952, gehört zu denjenigen ostdeutschen Persönlichkeiten, die die
kommunale Geschichte ihrer Stadt quasi von der
ersten Stunde an, also schon ab dem Jahr 1990,
unmittelbar nach der friedlichen Revolution
in der DDR maßgeblich geprägt haben. 1990
begann sie ihre kommunale Laufbahn als Finanzdezernentin in der Stadtverwaltung Wolfen. In
dieser Funktion war sie mehr als zehn Jahre
erfolgreich tätig. In dieser Dekade verwandelte
sich die Stadt von einer der am stärksten von
Umweltverschmutzung geprägten Industrieorte
in Sachsen-Anhalt zu einem modernen Chemiezentrum. Die Umweltsünden der Vergangenheit
wurden vergleichsweise schnell überwunden,
und die Region erhielt als einer der wichtigsten
Standorte deutscher Industriegeschichte ein völlig
neues Antlitz. An diesem Wandel wirkte Petra
Wust in bemerkenswerter Kontinuität und mit
ihrem beinahe schon sprichwörtlichen Optimismus und Tatendrang federführend mit.
Dieses Engagement prägte sich nachhaltig in
das Bewusstsein der Bürger. Anders kann nicht
erklärt werden, dass die gebürtige Wolfenerin –
2001 wurde sie ständige Vertreterin des Oberbürgermeisters – im Jahr 2003 selbst in dieses Amt
gewählt wurde. Mit Gründung der Doppelstadt
Bitterfeld-Wolfen im Jahr 2007 erhielt sie auch als
Stadtoberhaupt dieser neuen Chemiemetropole
das Votum der Bürger. Jeder, der sich mit den
Problemen und den vielen auch irrationalen
Besonderheiten von kommunalen Fusionen auskennt, wird es als bemerkenswerten Ausnahmefall würdigen, dass Petra Wust im Jahr 2009 mit
großer Mehrheit in diesem Amt bestätigt wurde.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
Seit dem Jahr 2010 arbeitet die Oberbürgermeisterin in der Koordinierungsgruppe des
„Verbundnetz für kommunale Energie“ mit
und vertritt dort gemeinsam mit ihrem OBKollegen Bernward Küper aus Naumburg das
Land Sachsen-Anhalt. Das VfkE insgesamt, und
speziell auch die Arbeit der Koordinierungsgruppe, hat vom Elan und vom Ideenreichtum
von Petra Wust sehr profitiert. Sie stand in diesem
Gremium für ein typisches ostdeutsches Mittelzentrum mit den ebenso typischen Problemen,
etwa den demografischen Strukturveränderungen
oder auch den Schieflagen der wenigen großen
Industrieansiedlungen.
Auch in Bitterfeld-Wolfen ist die kommunale
Wirtschaft das prägende und stabile Element in
einem eher unruhigen und nicht immer verlässlich zu kalkulierenden Umfeld. Die dazu
auch für Bitterfeld-Wolfen mit tatkräftiger
Mitwirkung der Oberbürgermeisterin vorgenommenen Bestandsaufnahmen und Analysen haben die Findung von Themen und
Inhalten des VfkE sehr befördert.
Ende Oktober 2016 gab es in BitterfeldWolfen planmäßig die Wahlen zum Oberbürgermeister. Petra Wust kandidierte nicht mehr für
dieses Amt. Sie wird aber weiterhin mit ihrem
reichen Erfahrungsschatz u.a. an der Arbeit des
VfkE mitwirken.
n
39
Sparkassen
25 Jahre Ostdeutscher Sparkassenverband
Fest an der Seite der Ostdeutschen
Bundespräsident a.D. Horst Köhler gratulierte zum Jubiläum
S
eit dem 17. September 1991 sind Sparkassen und kommunale Träger gleichberechtigte Partner im Ostdeutschen Sparkassen- und
Giroverband, 1999 umbenannt in „Ostdeutscher Sparkassenverband“ (OSV). Damit gründete sich erstmals ein überregionaler
Sparkassenverband aus mehr als zwei Bundesländern. Die Thüringer schlossen sich mit den Hessen zusammen, doch davon
abgesehen gelang die Integration ganz Ostdeutschlands in einen Verband. Entstanden ist bis heue eine schlagkräftige Sparkassenorganisation
mit einem Bewusstsein für die spezifischen regionalen Interessen und für eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung. Mit den Rostocker
Leitsätzen haben sich die Sparkassen zwischen Kap Arkona und Fichtelberg 1999 eine Richtschnur gegeben. Dass sie sich bis heute glaubhaft
daran orientieren, unterstreicht den gemeinwohlorientierten Auftrag. Darüber hinaus wurde in 25 Jahren eine ökonomische Erfolgsgeschichte
geschrieben, sodass die Sparkassen bis heute als potente Förderer des regionalen Mittelstandes wirken können. Gelungen ist der schwierige
Spagat zwischen sozialem Auftrag und betriebswirtschaftlicher Effizienz. Am 27. Oktober wurde in Potsdam das Vierteljahrhundert des
Ostdeutschen Sparkassenverbandes begangen. Prominenter Gratulant war Prof. Dr. Horst Köhler. Seine Gedanken vermittelten sowohl
Optimismus als auch Nachdenklichkeit. Lesen Sie im Folgenden eine Zusammenfassung der Festveranstaltung.
Umfeld oder die etlichen
Kreisgebietsreformen, die
im Regelfall Fusionen der
betreffenden Sparkassen
nach sich zogen. Im Jahr
1990 startete man mit
196 Sparkassen, heute
seien es noch 45. Weitere
Themen waren die
Gründung der Landesbausparkassen oder der
Aufbau einer neuen
Datenverarbeitung. Vor
nunmehr 20 Jahren
wurde die Ostdeutsche
Dr. Michael Ermrich, Geschäftsführender Präsident des Ostdeutschen Sparkassenverbandes
Sparkassenstiftung
Foto: Michael Gottschalk/photothek.net/Ostdeutscher Sparkassenverband
gegründet, mit ihren
Dr. Michael Ermrich war den Sparkassen in Ostvielfältigen Aktivitäten zur Förderung von Sport,
deutschland seit der Wende kontinuierlich verKultur und sozialem Engagement. Die Rostocker
bunden – zuerst als Oberkreisdirektor, dann ab
Leitsätze bilden seit 1999 eine konkrete Richt1994 über fast zwei Jahrzehnte als Landrat im Harz
schnur für das Handeln der Sparkassen. „Sie
umreißen die Grundsätze eines modernen,
und schließlich ist er im Juni 2013 zum Geschäftsführenden Präsidenten des Ostdeutschen Sparsozial verantwortlichen Sparkassenwesens und
kassenverbandes berufen worden. Damit trat er
sie zeigen, dass den ostdeutschen Sparkassen
die Nachfolge von Rainer Voigt und des 2013 verschon zehn Jahre vor der Finanzkrise bewusst
storbenen Claus-Friedrich Holtmann an. In seiner
war, dass die Finanzindustrie auch gesellschaftlichen Ansprüchen genügen muss. Die Aufgabe
Begrüßung verweist Ermrich auf die positive Entwicklung des Verbandes, der nach einem Viertelder Sparkassen liegt nicht in der kurzfristigen
jahrhundert durchaus mit Stolz auf das Erreichte
Gewinnmaximierung, sondern in der zuverzurückblicken könne.
lässigen Erfüllung ihres öffentlichen Auftrags“,
so Ermrich.
Vor 25 Jahren seien Sparkassen und deren Träger
gleichberechtigte Mitglieder im Verband geworden.
Die vergangenen zweieinhalb Jahrzehnte seien
nicht frei von Konflikten gewesen. Man habe sich
Dies sei eines von mehreren Alleinstellungsmerkmalen
des OSV und ein Schlüssel des Erfolges. Der OSV
erfolgreich gegen die Privatisierung einer Sparkasse
gehe zurück auf den kurz nach der ersten freien
gewehrt und auch mit der Landespolitik sei der
Volkskammerwahl im März 1990 gegründeten Spareine oder andere Händel bereinigt worden. Die
kassenverband der DDR. In der Phase des Umbruchs
wenigen Situationen, in denen Sparkassen in eine
Schieflage gerieten, hätten sämtlich innerhalb des
hätten viele Experten nur eine kurze Lebensdauer
vorausgesagt. Umso bemerkenswerter sei die EntVerbandes gelöst werden können. „Zwischen 2003
wicklung bis heute. Große Herausforderungen seien
und 2008 gab es auch einige betriebswirtschaftbewältigt worden – die Einführung der D-Mark,
lich schwierige Jahre“, blickt Ermrich zurück. „Wir
die Neuausrichtung in einem marktwirtschaftlichen
haben gehandelt, bestehende Strukturen überdacht,
40
Synergien genutzt und Risiken minimiert.“ So
hätten die Sparkassen stärker aus der Finanzkrise
heraustreten können, als sie hineingeraten sind.
Die nach wie vor große Innovationskraft der ostdeutschen Sparkassen sei in erster Linie den Mitarbeitern zu verdanken.
Gemeinsam habe man Erfolge erarbeitet und
Probleme bewältigt, war nie Bank, sondern immer
Sparkasse. Abschließend äußert sich Ermrich zu
einem tagesaktuellen Thema und verweist auf die
Umsetzung der Wohnimmobilienkreditrichtlinie.
Die deutsche Praxis erschwere die Kreditvergabe
für Eigenheime erheblich und gehe weit über die
Handhabung in anderen EU-Staaten hinaus. Das
Immobiliengeschäft sei das Brot- und Butter-Geschäft von Sparkassen und Bausparkassen. „Wir
hätten so ein Gesetz wahrlich nicht benötigt“, sagt
Ermrich. Ausdrücklich begrüßte er die Bundesratsinitiative zu einer Änderung.
Geburtshelfer der kommunalen
Selbstverwaltung
Prof. Dr. Horst Köhler war nach der politischen
Wende in der DDR als Staatssekretär im Bundesfinanzministerium maßgeblich an der Vollendung
deutschen Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion
beteiligt. Von 1993 bis 1998 leitete er als Präsident
den Deutschen Sparkassen- und Giroverband. 2004
wurde Köhler dann zum neunten deutschen Bundespräsidenten gewählt, ein Amt, von dem er im Jahre
2010 zurücktrat. „Der Ostdeutsche Sparkassenverband hat in den 25 Jahren seines Bestehens sehr viel
Gutes erstrebt und erreicht“, so Köhler. Die Sparkassen in Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg
und Mecklenburg-Vorpommern seien aus dem
Bild der Städte und Gemeinden nicht mehr fortzudenken. Dahinter stehe eine enorme Aufbau- und
Gemeinschaftsleistung. „Die Ausgangslage war nicht
sonderlich rosig“, so Köhler. In der DDR hätten
die Sparkassen als Teil des planwirtschaftlichen
Systems keinen guten Ruf genossen, nach der Wende
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
FORUM NEUE LÄNDER
Sparkassen
und für die Akzeptanz
der neuen politischen
Ordnung. Der Kern
unseres Wertegefüges
sei eine Freiheit, die
sich in Verantwortung
binde, so Köhler. Die
Bürger der DDR hätten
sich bei ihrer friedlichen
Revolution für die
soziale Marktwirtschaft
und für das Grundgesetz entschieden und
nicht für ordnungspolitisches Wildwest.
Georg Fahrenschon, Präsident des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes
Mit ihrer finanziellen
Foto: Michael Gottschalk/photothek.net/Ostdeutscher Sparkassenverband
Solidität, ihrer Ortsmussten sie sich mit westdeutschen Privatbanken
verbundenheit und ihrem öffentlichen Auftrag
auseinandersetzen, die energisch in den ostdeutschen
errichteten die Sparkassen tragfähige Brücken in
Markt drängten. Dennoch sei es gelungen, Vertrauen
ein neues System. Zeitgleich hätte man jedoch
erleben müssen, wie andere Teile des Finanzzu schaffen und zu einem verlässlichen Partner des
Mittelstandes zu werden.
sektors ein ganz anderes Gebaren an den Tag legten.
Das Fundament dieser Erfolge sei gemeinsam
Begünstigt durch eine unbedachte Regulierung
seien wesentliche Elemente der Finanzindustrie
von ost- und westdeutschen Sparkässlern gelegt
worden. „Es gibt so manche Lagerfeuergeschichte
in Maßlosigkeit, Gier und Zukunftsvergessenheit
darüber, wie die Teams zusammenarbeiteten und
verfallen. Köhler ist überzeugt, dass die Wirtschaftswie sie gegenseitig voneinander lernten“, so Köhler.
und Finanzkrise dem Westen und der Strahlkraft
Mittlerweile kämen von den ostdeutschen Sparseiner Ideale schwersten Schaden zugefügt habe.
kassen viele innovative Impulse, die die gesamte
„Mit diesen materiellen und ideellen Verirrungen
leben wir noch heute.“
Sparkassenorganisation voranbringen. Beispielhaft
nennt der Bundespräsident a.D. das Privatvorsorgekonzept für Standardkunden. Die ostdeutschen
Freiheit und Verantwortung
Sparkassen hätten maßgeblich zum wirtschaftlichen Wiederaufbau in den Neuen Bundes„Freiheit braucht Bindung – die Bindung an
ländern und zur Ausprägung einer schlagkräftigen
Regeln, an persönliche Verantwortung und an
kommunalen Selbstverwaltung beigetragen. Nicht
gemeinsame moralische Maßstäbe“, so Köhler.
vergessen werden sollte das umfassende Engagement
Was passiert, wenn die Freiheit in Bindungsfür soziale Belange, für Kultur und Sport – all dies
losigkeit umschlage, hätte man seit 1990 an den
von enormer Bedeutung für die Legitimation
internationalen Beziehungen nachvollziehen
Aus dem Vortrag von Georg Fahrenschon,
Präsident des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes
Das deutsche Sparkassenwesen verbindet regionale Verbundenheit mit der Internationalität des
deutschen Wirtschaftsstandortes. Die Sparkassen bundesweit haben sich in schwierigen Zeiten als
verlässliche Partner des Mittelstandes erwiesen, sie genießen unverändert das Vertrauen der Privatkunden, sie sind mit einem engen Vertriebs- und Beraternetzwerk regional fest verankert und sie
wirken vor Ort als die wichtigsten Förderer von Kultur, Sport und sozialem Engagement.
Aktuell werden sie jedoch mit bemerkenswerten und teilweise vollkommen widersprüchlichen Forderungen konfrontiert. Sie sollen ihr Geschäftsmodell ändern, aber weiter in der Fläche bleiben. Sie sollen
sich vom zinsgebundenen Geschäft trennen, aber weiter für alle da sein. Sie sollen Entgelte hochsetzen, weil sie mehr Erträge brauchen, sie sollen Entgelte senken, weil sie dem Verbraucherschutz folgen.
Sie sollen umbauen, aber verlässlich bleiben. Sie sollen Eigenkapital bilden, während einige Akteure
schon wieder Ausschüttungen fordern. Es spricht für die innere Agilität und die Innovationskraft der
Sparkassen, dass sie sich in diesem Dickicht noch immer angemessen orientieren können.
In den ostdeutschen Bundesländern ist das Sparkassenwesen erst vor 25 Jahren zum Leben erweckt
worden. Es ist bemerkenswert, was bis heute erreicht wurde. In unsicheren Zeiten haben die ostdeutschen Sparkassen Millionen Menschen unterstützt und sind bis heute zu tragenden Pfeilern der
regionalen Wirtschaftsstruktur gereift. Gemeinsam mit ihren Trägern haben sie wirtschaftliche, soziale
und kulturelle Perspektiven geschaffen.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
können. Die Welt sei nach dem Ende der Blockkonfrontation nicht zu einem friedlicheren Ort
geworden. „Wir haben erlebt, wie anderen
Völkern und Kulturen die Demokratie mit
dem Schwert beigebracht wurde, wie Staaten
die Urteile der internationalen Gerichtshöfe
ignorierten und wie Autokraten ihre Nachbarländer destabilisierten. Wir wurden Zeuge,
wie Freiheitsbewegungen in Anarchie und
neuer Gewaltherrschaft versanken und wie
mörderische Glaubensfanatiker sich anderen
gegenüber an überhaupt keine moralischen
Normen mehr gebunden fühlten“, fasst der
Bundespräsident a.D. zusammen.
Angesicht der massiven Fluchtbewegungen
weltweit fragten sich immer mehr Menschen, ob
die Ordnungsleistung der westlichen Demokratien
den Herausforderungen noch gewachsen ist. Dazu
würden weitere gravierende Veränderungen auf die
Die Aufgabe der Sparkassen
liegt nicht in der kurzfristigen
Gewinnmaximierung, sondern in
der zuverlässigen Erfüllung ihres
öffentlichen Auftrags.
„
______________________
Dr. Michael Ermrich
“
Gesellschaften Europas einströmen. Köhler nennt
den demografischen Wandel, die umfassende
Digitalisierung und die Individualisierung der
Lebensstile. Viele Menschen hierzulande würden
zwar einen gewissen Wohlstand konzedieren,
gleichzeitig aber auch eine ausgeprägte Zukunftsunsicherheit empfinden.
„Es gibt keinen vernünftigen Zweifel an
der Richtigkeit der Wiedervereinigung, auch
nicht an den im vergangenen Vierteljahrhundert errungenen Erfolgen“, so Köhler.
Der Aufholprozess der Neuen Länder könne
sich wahrlich sehen lassen. Niemand leugne,
dass es noch immer Lücken gibt, doch fast alle
seien sich einig, dass auch diese verschwinden
sollen. Zugleich müsse man erkennen, dass
viele internationale Konflikte unserer Zeit
eine Folge eben jener tektonischen Veränderungen sind, die die deutsche Einheit erst
möglich machten. „Sie sind Ergebnis einer
Freiheit, die in Bindungs- und Regelungslosigkeit umgeschlagen ist“, resümiert Köhler.
Wenn jeder an sich denke, sei mitnichten
an alle gedacht. Eine Schlussfolgerung aus
der globalen Interdependenz sei, dass Eigensicherung nur mit Sorge um das Wohlergehen
des jeweils anderen gelingen kann. Heutzutage
könne kein Land – so mächtig es auch sein
möge – Prosperität erstreben und bewahren,
ohne den anderen das Gleiche zuzubilligen.
41
Sparkassen
Wachstum und Ökologie
Eine wesentliche Bindung des Finanzsektors sei
seine dienende Rolle gegenüber den Privatkunden
und der Realwirtschaft gewesen. Es war ein Auslöser
der Finanz- und Wirtschaftskrise, dass viele Institute
diese Bindung abgestreift hätten. Sie widmeten sich
nicht mehr vorrangig der Aufgabe, Ersparnisse zu
sammeln und zu belohnen, sie in die Erzeugung
realwirtschaftlicher Produktivität zu lenken und den
Zahlungsverkehr in der Gesellschaft zu organisieren,
sondern sie erfanden und vertrieben eigene Papiere,
finanzierten die Staatsverschuldung, kreditierten
sich gegenseitig und koppelten sich immer stärker
von realen Werten ab, fasst Köhler zusammen.
„Ziel war nicht die Güter-, sondern allein die
Geldproduktion. Begünstigt wurden diese Fehlentwicklungen durch eine Wachstumsratenpolitik, die
mit billigem Notenbankgeld die Staatsverschuldung
immer weiter ausbaute.“ Die damit verbundenen
Risiken würden noch immer von einem ausgeprägten
Lobbyismus recht erfolgreich kleingeredet. Der
Crash habe bewiesen, dass dieses finanzkapitalistische
Modell unsere Gesellschaft unakzeptabel belastet.
Die Folgen der Krise begleiteten uns bis heute –
historische Verschuldungsgrade, extrem gewachsene
Zentralbankbilanzen, Wachstums- und Investitionsschwäche, Negativzinsen sowie ein ausgreifendes
Schattenbankenwesen.
„Als Reaktion auf die Krise war es anfangs
gewiss sinnvoll, die Zinsen zu senken, um einer
Depression vorzubeugen“, so Köhler. Doch mittlerweile würden die Nachteile einer extrem weichen
Geldpolitik die Vorteile überwiegen, seien die
Niedrigzinsen zum Dauerunterstützungsprogramm
für politische Trägheit mutiert. Wenn keine endogenen Wachstumskräfte vorhanden seien, dann
könne auch eine kontinuierliche Stimulation keine
Besserung bringen. Nach dem erfolgreichen Krisenmanagement 2008 sei es nunmehr an der Zeit, eine
langfristig überzeugende Wachstumspolitik zu finden.
Die Sparkassen können als Transmissionsriemen wirken, der die
Anforderungen der globalisierten,
interdependenten Welt auf das
Getriebe und die regionalen Kerne
unserer Volkswirtschaft überträgt.
„
______________________
Prof. Dr. Horst Köhler
“
Die Suche nach einem globalen Wohlstandsmodell werde die Sparkassen nur mittelbar, aber nicht
minder deutlich prägen. Der westliche Lebensstil
nehme sich deutlich mehr als ihm zustehe. 20 Prozent der Weltbevölkerung verbrauchten 80 Prozent
der Ressourcen und so finanziere der Westen seinen
Wohlstand sowohl ökonomisch, als auch ökologisch
auf Pump. Wenn wir darauf nicht reagieren, dann
gäbe es zwei katastrophale Alternativen. „Entweder
wir ruinieren den Planeten oder wir lassen es zu, dass
weite Teile der Welt in wachsender Unsicherheit und
Armut verharren, letzteres mit absehbaren Folgen für
die weltweiten Migrationsströme.“
Bundespräsident Köhler verweist auf das jüngst
in Kraft getretene Pariser Klimaabkommen und auf
die 2030-Agenda der Vereinten Nationen. Beide
Entschließungen zusammen würden eine Richtschnur bilden, die die Welt vor dieser schlechten
Strukturreformen müssten gezielt die endogenen
Wachstumskräfte stärken und auch in Deutschland
seien mehr Investitionen in Bildung, Digitalisierung
und ökologische Innovation vonnöten.
Zwei umfassende Entwicklungen werden die
Gesellschaft und damit das Geschäftsumfeld der
Sparkassen in Zukunft deutlich prägen, so Köhler.
Erstens gingen mit der
Digitalisierung
eine
technische und auch eine
kulturelle Umwälzung
einher. Zweitens werde
global nach einem Wohlstandsmodell gesucht,
welches allen Menschen
ein würdevolles Leben
ermöglicht, den Planeten
Erde dabei aber nicht
überfordert.
Im Hinblick auf
die
Digitalisierung
empfiehlt
Köhler
den Sparkassen eine
Dr. Horst Köhler, Bundespräsident a. D. und ehemaliger Präsident des Deutschen Sparkassenambivalente Strategie. und Giroverbandes Foto: Michael Gottschalk/photothek.net/Ostdeutscher Sparkassenverband
Sicherlich
müssten
die technischen Effizienzpotentiale möglichst
Wahl bewahren könnte. Unsere Produktions- und
umfassend genutzt werden, andererseits dürften die
Konsummuster müssten sich allerdings ändern,
Sparkassen darüber keinesfalls die Bindung zu den
unsere Energieerzeugung, die Landwirtschaft, die
Kunden gefährden. Denn deren Vertrauen, Nähe
Mobilität, aber auch die Handels- und Steuerund Verständnis sei der zentrale Wettbewerbsvorteil.
politik. Angesichts der Grenzen unseres Planeten
wäre es verhängnisvoll, wenn das Funktionieren
unserer Gesellschaft prinzipiell von hohen
Wachstumsraten abhängig gemacht würde. Lebensfreude und Glück ließen sich schließlich nicht nur
in materiellen Parametern bemessen.
Kommunale Unternehmen und die Sparkassen spielen in
Die Sparkassen könnten als Transmissionsriemen
der Wirtschaftsstruktur der Neuen Bundesländer eine herwirken, der die Anforderungen der globalisierten,
ausgehobene Rolle. Dies gilt auch im Unterschied zum Altinterdependenten Welt auf das Getriebe und die
Bundesgebiet mit seiner deutlich dichteren Gewerbe- und
regionalen Kerne unserer Volkswirtschaft überträgt.
Industriestruktur, der höheren Kaufkraft und Produktivität.
„Ich wünsche mir Sparkassen als Ermöglicher, die
Starke Stadtwerke und Sparkassen waren eine Vorbedinden hidden champions bei ihren Innovationen
gung für eine funktionsfähige kommunale Selbstverwaltung. Zusammen mit ihren kommunalen
unter die Arme greifen.“ Die deutsche DezentraliTrägern und Gesellschaftern leisteten sie ein enormes Aufbauwerk – nicht nur im Hinblick auf die
tät sei ein großer Vorteil im internationalen WettInfrastruktur, sondern vor allem mit Blick auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Der Ostdeutbewerb, allerdings nur insoweit, dass sie aus der
sche Sparkassenverband hat sein Rollenverständnis in den Rostocker Leitsätzen des Jahres 1999
Provinzialität herauswachse.
n
zusammengefasst. Dieser Katalog steht exemplarisch für den Stellenwert und für das Verantwortungsbewusstsein der ostdeutschen kommunalen Wirtschaft. Zum 25jährigen Jubiläum lässt sich
resümieren, dass die ostdeutschen Sparkassen den dort formulierten Ansprüchen gerecht werden
konnten – ein Umstand, der Wertschätzung verdient.
Falk Schäfer
42
i
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www.osv-online.de
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
FORUM NEUE LÄNDER
Kommunalwirtschaft
ÖPP für gestaltende kommunale Mitwirkung bei Erneuerbaren Energien
Know-how von E.dis,
strategische Führung bei Kommunen
Interview mit dem Geschäftsführer der BMV Energie GmbH & Co. KG, Sebastian Noster
R
egionale Energieversorger mit kommunalen Bündelbeteiligungen oder inzwischen sogar komplett in kommunalem Eigentum
prägen ganz maßgeblich die Energiewirtschaft in Ostdeutschland. Die Struktur – sie unterscheidet sich deutlich von der in den
alten Bundesländern– ist ganz wesentlich vom sogenannten „Stromvergleich“ des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1992
geprägt. Im Zuge dieser Entscheidung erhielten die ostdeutschen Kommunen zunächst das Strom- später auch das Gasvermögen zurück.
Damit war die Option verbunden, eigene Stadtwerke zu gründen oder sich alternativ an den schon bestehenden Regionalversorgern
zu beteiligen. Die Namen dieser Unternehmen haben sich bis heute zum großen Teil geändert. Geblieben aber sind die Strukturen. Es
handelt sich zum einen um gemischtwirtschaftliche Unternehmen: die in Chemnitz beheimatete Enviam AG mit RWE als Hauptaktionär
und die E.dis AG mit Sitz in Fürstenwalde, die zum Eon-Konzern gehört. Alle weiteren in Ostdeutschland bestehenden Regionalversorger
wurden in den letzten Jahren vollständig rekommunalisiert. Das betrifft die Schweriner Wemag und die in Erfurt beheimatete TEAG.
Die kommunalen Miteigentümer an E.dis und Enviam sehen diesen Status nicht als reine Finanzbeteiligung, sondern machen von den
Möglichkeiten der Mitgestaltung Gebrauch. Über das entsprechende Gewicht verfügen sie vor allem auch deshalb, weil die meisten
Kommunen sich zu Beteiligungsgesellschaften formiert haben.
Darüber, wie in diesen Konstellationen beispielsweise das Zusammenwirken mit den Stadtwerken funktioniert, berichteten wir im Juniheft. Dort
dokumentierten wir eine Gesprächsrunde, die sich auf Initiative des Städte- und Gemeindebundes Brandenburg in Potsdam getroffen hatte. Im
Septemberheft führten wir in Fortsetzung der im Juni gestarteten Serie ein Interview mit einem der Vorstände der E.dis, Dr. Andreas Reichel.
In der vorliegenden letzten Ausgabe des Jahrgangs 2016 dokumentieren wir ein Gespräch, das wir mit einem der Geschäftsführer
der BMV Energie GmbH & Co. KG, Sebastian Noster, führten. Die BMV wurde zunächst im Jahr 2012 als Unternehmen der E.dis AG
Fürstenwalde gegründet. Inzwischen halten kommunale Partner aber bereits 75 Prozent der Kommanditanteile.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Herr Noster, die BMV Energie GmbH & Co. KG
wurde im Dezember 2012 gegründet und zwar
zunächst als hundertprozentige E.dis-Tochter.
Gegenstand des Unternehmens waren aber von
vornherein die Erneuerbaren Energien. War
bereits bei der Gründung klar, dass die BMV
vor allem auch ein Angebot der E.dis an die
Kommunen sein soll, sich in diesem im Bereich
unternehmerisch zu engagieren?
Sebastian Noster:
Ganz eindeutig ja. Bereits bei den Vorbereitungen im Jahr 2012 war die Zielstellung einer kommunalen Mehrheit bei der
Kooperation zwischen der E.DIS AG und
kommunalen Partnern definiert worden.
Dieser Aspekt war allen Beteiligten wichtig: für
die operative Geschäftsführung sollte auf das
Know-how der E.DIS-Gruppe zurückgegriffen
werden, die strategischen Entscheidungen über
die Entwicklung der Gesellschaft liegen aber
auf kommunaler Seite. Auf diese Weise sollte
den Kommunen die Möglichkeit gegeben
werden, wirklich gestaltend auf dem Gebiet
der Förderung und Entwicklung der Erneuerbaren Energien tätig zu werden und nicht nur
als Zaungast. Denn genau diesen Wunsch hatten
kommunale Partner immer wieder an die E.DIS
herangetragen und dem wurde dann durch
die Gründung unserer Gesellschaft Rechnung
getragen.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Die BMV hat Anfang 2013 mit dem Erwerb
von zwei Windparks die operative Geschäftstätigkeit aufgenommen. Nahezu zeitgleich
wurden 48 Prozent der Anteile an Kommunen
verkauft. Im Juni 2013 gingen weitere zehn
Prozent, im Januar 2016 nochmals 16 Prozent
in kommunale Hände, die damit die schon
erwähnten 75 Prozent der Kommanditanteile
halten. Hatten Sie damit gerechnet, dass der
konzeptionelle Ansatz der E.dis, die BMV zu
einer mehrheitlich kommunalen Gesellschaft
zu entwickeln, in einem vergleichsweise kurzen
Zeitraum umgesetzt werden kann?
Noster:
Aufgrund der geführten Gespräche mit
potentiellen Partnern auf kommunaler Seite sind
wir von Anfang an davon ausgegangen, dass die
kommunale Mehrheit kurzfristig erreicht wird.
Jedoch mussten wir hier auch ganz praktisch den
Nachweis erbringen, dass die Idee der Kooperation
funktioniert und der wirtschaftliche Erfolg sich
einstellt. Trotz überwiegend widriger externer
Einflüsse zu Beginn der operativen Tätigkeit der
BMV – der Wind wehte in den Jahren 2013 und
2014 unterdurchschnittlich – ist es gelungen, die
Gesellschaft erfolgreich zu starten. Nachdem sich
der wirtschaftliche Erfolg einstellte, waren die
Kommunen vom Konzept und der Strategie der
Gesellschaft endgültig überzeugt. Inzwischen hat
keiner der Beteiligten mehr Zweifel daran, dass
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
Sebastian Noster
das Engagement in dieser Gesellschaft einerseits
die Energiewende voranbringt, der Umwelt nutzt
und sich andererseits aber auch finanziell in barer
Münze für die beteiligten Kommunen auszahlt.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Sie verwenden den Begriff „kommunale
Partner“ für die kommunalen Miteigentümer.
Können Sie das für unsere Leser bitte übersetzen. Um wieviel kommunale Gebietskörperschaften handelt es sich, sind es nur Städte und
Gemeinden oder auch Landkreise, aus welchen
43
Kommunalwirtschaft
Bundesländern kommen sie, und sind es nur
Kommunen, die auch E.dis-Miteigentümer
sind, oder auch darüber hinaus?
heute ziemlich kompliziert, Aktivitäten auf dem
Gebiet der Erneuerbaren zu starten und mit Erfolg
zu realisieren.
Noster:
Unter dem Begriff kommunale Partner fassen
wir die beteiligten Stadtwerke – insgesamt sieben
Stadtwerke, alle mit kommunalem Mehrheitsgesellschafter – sowie zwei kommunale Verbände
zusammen. Alle Gesellschafter haben ihren Sitz in
Brandenburg bzw. Mecklenburg-Vorpommern.
Die beiden kommunalen Verbände vertreten
Kommunen aus Ostbrandenburg bzw. aus den
Regionen Müritz und Vorpommern, die auch
an der E.DIS beteiligt sind. Ausdrücklich laden
wir aber auch gern Einzelkommunen ohne Stadtwerke und auch Landkreise dazu ein, sich an der
BMV zu beteiligen. All diese betrachten wir als
unsere kommunalen Partner.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Es war und ist die Intention der Kommunen,
die Anteile an ostdeutschen Regionalversorgern halten, an der Energieversorgung auch
gestaltend mitzuwirken. Welchen Stellenwert
hat unter diesem Aspekt die BMV innerhalb
der E.dis-Gruppe?
Vom Start an schwarze Zahlen
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Die BMV feiert zum Zeitpunkt des Erscheinens
dieser Dezemberausgabe von UNTERNEHMERIN KOMMUNE ihren vierten
Geburtstag. Die berühmten ersten hundert
Tage sind mithin schon lange verstrichen, und
es ist deshalb legitim, sie um eine Bilanz der
ersten vier Jahre im Leben der BMV zu bitten.
Noster:
Unser bald vierjähriges Kind hat längst das Laufen
und Sprechen gelernt, auch rechnen kann es gut.
Die körperliche Entwicklung lässt also keine
Wünsche offen – zu den drei Projekten mit denen
wir 2013 gestartet sind, sind zwischenzeitlich zwei
weitere Windprojekte dazugekommen. Zwar hat
die erwähnte schwache Windsituation der Jahre
2013 und 2014 sowie im aktuellen Jahr die
wirtschaftliche Bilanz ein wenig getrübt. Die BMV
konnte dennoch in allen Jahren positive Ergeb-
Unser bald vierjähriges Kind hat
längst das Laufen und Sprechen
gelernt, auch rechnen kann es gut.
„
______________________
Sebastian Noster
“
nisse erzielen und entsprechend Gewinne an die
Gesellschafter ausschütten. Das ist unser erklärtes
Ziel auch für die Zukunft und wir sind sehr zuversichtlich, dass wir dieses erreichen werden. Schließlich kennen wir uns auf dem immer komplexer
werdenden Gebiet der Erneuerbaren Energien sehr
gut aus – sowohl was die technischen als auch was
die wirtschaftlichen Aspekte anbelangt. Und ohne
diese langjährige Erfahrung und Kompetenz ist es
44
Noster:
Ein wesentlicher Grund für die Gründung und
Aufstellung der BMV war ja das Interesse der
Kommunen, direkteren Einfluss auf das zukunftsträchtige Geschäft der Erneuerbaren Energien zu
bekommen. Man wollte vom Beobachter zum
Mitgestalter der Energiewende werden – selbstverständlich unter Abwägung der (kommunal)rechtlichen und wirtschaftlichen Aspekte. Hier haben die
Kommunen und kommunalen Unternehmen einen
erfahrenen und vertrauenswürdigen Partner gesucht
und mit der E.DIS-Gruppe, die 2012 bereits seit
über zehn Jahren im Bereich der Erneuerbaren
Energien aktiv war, auch gefunden.
Wie schon erwähnt, liegt die strategische
Steuerung der BMV bei der kommunalen Mehrheit. Die Gesellschafter beschließen mehrheitlich
über die Wirtschaftspläne und entscheiden über
die Umsetzung von neuen Projekten und die
künftige Ausrichtung der Gesellschaft. Das hat
sich bisher als echtes Erfolgsmodell erwiesen.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Keine Bilanz ohne Ausblick! Sagen Sie uns
bitte etwas über die weitere strategische Ausrichtung der BMV und darüber, wie die Mitwirkung der Kommunen auch qualitativ weiter
ausgebaut werden soll?
Noster:
Die BMV war von Beginn an auf Wachstum
ausgerichtet. Über die jährlichen Gewinnausschüttungen erhalten die Gesellschafter eine Verzinsung des eingesetzten Kapitals. Die darüber hinaus
in der Gesellschaft erwirtschafteten Kapitalzuflüsse
werden in neue Projekte investiert. So konnten
in den Jahren 2014 und 2015 bereits zwei neue
Projekte in Betrieb genommen werden. Auch für
die Folgejahre ist ein weiteres Wachstum durch den
Erwerb von bzw. die Beteiligung an regenerativen
Projekten geplant. Vorschläge für künftige Projekte
kommen dabei sowohl von kommunaler Seite als
auch über die Kontakte der E.DIS-Gruppe.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE.
Was Sie uns berichtet haben, klingt gerade aus
der kommunalen Perspektive überzeugend.
Warum werden diese Ergebnisse nur so
UNSER
Gesprächspartner
Sebastian Noster wurde am 29.März
1978 in Templin (Land Brandenburg) geboren. Sein Studium an der Technischen
Universität Berlin schloss er 2004 als DiplomIngenieur im Studiengang Wirtschaftsingenieurwesen ab.
Danach begann Sebastian Noster seine berufliche Laufbahn als Projektingenieur für
Windenergieprojekte bei der e.disnatur Erneuerbare Energien GmbH, einer 100 %
Tochtergesellschaft der E.DIS AG. Nach verschiedenen Aufgaben im Unternehmen
übernahm er 2010 die kaufmännische
Leitung der Gesellschaft und ist seit 2013
Geschäftsführer der e.disnatur Erneuerbare
Energie GmbH.
2012 übernahm Sebastian Noster, gemeinsam
mit Thomas Borchers zunächst die Vorbereitung,
Gründung und später die Führung der BMV.
spärlich kommuniziert, denn etwa im Internet – und dies ist nun einmal inzwischen eine
sehr wichtige Plattform – hinterlässt die BMV
kaum „Spuren“.
Noster:
Wir waren in dieser Hinsicht tatsächlich bisher sehr zurückhaltend und haben
die Kommunikation lediglich auf Ebene
der Gesellschafter geführt. Inwiefern dieser
konservative Ansatz auch künftig bei veränderten
gesetzlichen und energiewirtschaftlichen Randbedingungen fortgesetzt wird und ob und in
welcher Form wir als BMV selbst aktiver in
die Kommunikation gehen, wird im Kreise der
Gesellschafter aktuell intensiv diskutiert. Bisher laufen unsere werblichen Aktivitäten in der
Regel bei direkten Gesprächen bzw. Kontakten
mit Kommunen vorrangig im Netzgebiet der
E.DIS, die aus unserer Sicht potentiell in Frage
kommen für eine Beteiligung an der BMV.
Damit haben wir durchaus gute Erfahrungen
gemacht. Zumal die von der BMV bearbeiteten
Themen durchaus komplex sind und erfahrungsgemäß auch intensiver individueller Erläuterungen
und Beratungen bedürfen. Das heißt natürlich
nicht, dass wir andere Kommunikationswege
oder -plattformen für die Zukunft ausschließen
wollen. Deshalb laufen ja auch ensprechende Diskussionen im Kreise unserer Gesellschafter. Und
auch mit diesem Interview in Ihrer kommunalen
Zeitschrift eröffnet sich rein praktisch ein weiterer
Informationskanal.
n
Das Gespräch führte Michael Schäfer
i
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UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
VfkE / Integration / Wohnungswirtschaft
FORUM NEUE LÄNDER
Weit über dem Durchschnitt liegende Flüchtlingskonzentration
„Wir können Flüchtlingen noch
ordentliche Wohnungen bieten“
Gespräch mit dem Oberbürgermeister der Stadt Neubrandenburg, Silvio Witt, und dem Geschäftsführer
der NEUWOGES Neubrandenburger Wohnungsgesellschaft mbH, Frank Benischke
D
ie Aktivitäten des „Verbundnetz für kommunale Energie“ (VfkE) stehen 2016 unter dem Thema „Flüchtlingsintegration – Eine kommunale
Mammutaufgabe. Lösungsansätze, Hindernisse, Ressourcenbedarf, spezifische Beiträge der Kommunalwirtschaft“. Neben der traditionellen
Jahresveranstaltung am 30. November in Bitterfeld-Wolfen – darüber berichten wir in dieser Ausgabe ausführlich – nähern wir uns dieser
Materie mit zwei Gesprächsrunden unter gemeinsamer Federführung von VfkE und UNTERNEHMERIN KOMMUNE. Der erste Meinungsaustausch
fand am 6. September in Weimar statt. Darüber haben wir im Septemberheft ausführlich berichtet. Der zweite Vor-Ort-Termin führte uns am 22.
November nach Neubrandenburg, wo wir den Oberbürgermeister der Stadt, Silvio Witt – er ist auch Mitglied der VfkE-Koordinierungsgruppe –, und
den Geschäftsführer der Neubrandenburger Wohnungsgesellschaft, Frank Benischke, trafen. Dass Kommunen und deren Unternehmen bei der
Betreuung, vor allem aber auch bei der Integration der Flüchtlinge Außergewöhnliches leisten, wird wohl von Niemandem mehr bestritten.
Ebenso, dass die Umsetzung des „wir schaffen das“ in den Städten und Gemeinden unseres Landes stattfindet. Uns interessierte in Weimar und
in Neubrandenburg vor allem das „Wie“. Zudem wollten wir uns darüber austauschen, ob jene Rahmenbedingungen zur Integration, für die
der Bund und die einzelnen Länder verantwortlich sind, den Erfordernissen vor Ort genügen bzw. was hier noch nachjustiert werden muss.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Damit unsere Leser wissen, wovon wir konkret
reden, bitten wir am Anfang um einige Fakten
zum Status quo in Neubrandenburg: wieviele
Flüchtlinge leben in der Stadt, woher kommen
sie, wie ist der Stand bei der Bearbeitung
der Asylanträge und wie sind die sicher sehr
differenzierten Voraussetzungen zur Integration
zu beschreiben?
Silvio Witt:
Ich kann mich sehr gut daran erinnern, dass
wir am 7. September 2015 in Berlin bei einer
Gesprächsrunde – UNTERNEHMERIN
KOMMUNE lud dazu nach Berlin ein – über
das 25jährige Jubiläum der Deutschen Einheit
aus kommunaler Perspektive diskutierten. Einer
der Disputanten war Dr. Lothar de Maiziere,
letzter und erster frei gewählter Ministerpräsident
der DDR. Er würdigte als eines der wichtigsten
Ergebnisse dieses politischen Umschwunges die
Tatsache, dass mit der friedlichen Revolution
die DDR-Kommunen ihre Selbstverwaltungsexistenz zurückgewannen.
Die Bewertung von Dr. de Maiziere habe ich
für unseren kommunalen Alltag übersetzt, insbesondere für die aktuelle Flüchtlingswelle. Ich
habe mir den Text bei der Vorbereitung auf das
heutige Interview erneut herausgesucht. Damals
stellte ich fest, dass die Kommunen, und das
gelte auch für Neubrandenburg, diese im Jahr
1990 neu gewonnene Gestaltungskraft bei der
Lösung des Flüchtlingsproblemes deutlich unter
Beweis stellen konnten. Wörtlich sagte ich am 7.
September: „Im Rathaus haben wir die Halbtagsstelle eines Integrationsbeauftragten geschaffen und
wir haben das Ehrenamt finanziell gestärkt. Es gibt
ein Arbeitsgremium zur Flüchtlingsintegration, das
wöchentlich tagt und somit auch Außenstehenden
einen Einblick in die Anforderungen ermöglicht.
In Neubrandenburg ist die größte Gemeinschaftsunterkunft aller fünf Neuen Bundesländer entstanden. Aktuell leben mehr als 1.000 Flüchtlinge
in der Stadt. In den vergangenen Jahren hat sich
die Stadt um einen wirtschaftlich vertretbaren
Leerstand gekümmert. Nun müssen Wohnungen,
die eigentlich für den Abriss vorgesehen waren,
wieder ertüchtigt werden”.
Beim Interview in Neubrandenburg. Oberbürgermeister Silvio Witt, Frank Benischke, Geschäftsführer Neubrandenburger Wohnungsgesellschaft mbH, und Prof. Dr. Michael Schäfer (v.l.n.r.)
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
45
VfkE / Integration / Wohnungswirtschaft
Anspruchsberechtigte nach Sozialgesetzbuch II
Dr. de Maiziere warf an dieser Stelle ein, dass
dann müssten auf jede dieser acht Gebietskörper(SGB II). Für diese Gruppe gilt: die Kosten der
bei aller gut und richtig gemeinten Hilfsbereitschaften – die Aufgabenträger für die Flüchtlinge sind
schaft die Toleranzgrenze der Bürger beachtet
– 12,5 Prozent entfallen. Ich will auf die Tatsache,
Unterkunft werden übernommen, sind also nicht
werden müsse. Dies gelte sowohl für die
dass in unserem Kreis aber doppelt so viele leben,
aus den Geldzuwendungen zu finanzieren. Diese
Kommunikation als auch für die tatsächliche
nämlich ein Viertel aller Flüchtlinge des Landes
Weichenstellung hat zu einer verstärkten Nachfrage
Zahl der unterzubringenden Flüchtlinge. Ich
nicht näher eingehen. Eines aber ist mir wichtig: Zu
nach Mietwohnungen in den Städten geführt, die vor
stimmte dem ausdrücklich zu und sagte, dass
Beginn der großen Flüchtlingsbewegungen nach
allem bei den kommunalen Wohnungsgesellschaften
„ein transparenter Umgang mit Anforderungen
Deutschland im vergangenen Jahr gab es die durchlanden, die über größere Bestände vor allem auch an
und Kosten ein wichtiger Schlüssel beim
aus plausible Überlegung, Flüchtlinge dorthin zu
bezahlbaren Quartieren verfügen. Die Interessenten
Werben um Akzeptanz ist, und wies darauf
bringen, wo die besten Bedingungen für deren Untersind also nicht nur Flüchtlinge, es sind auch viele
hin, dass die Ausländerquote in Neubrandenbringung bestehen. Das sind in Ostdeutschland die
Deutsche, die aus den Dörfern der Umgebung nach
burg mit 2,5 Prozent noch immer verhältnisNeubrandenburg ziehen, weil dies für sie die ökostrukturschwachen Regionen, mit besonders großen
mäßig gering sei.
Abwanderungsbewegungen der dortigen Bewohner
nomisch bessere Variante ist.
und in der Folge mit erheblichen Leerständen von
Das war der Stand am 7. September 2015. Als ich nach
Wohnungen. Für Mecklenburg-Vorpommern trifft
der Gesprächsrunde ins Auto stieg, erreichte mich ein
In Berlin war die Couch schon belegt
diese Einschätzung für viele Kommunen zu.
Anruf unseres Innenministers Lorenz Caffier. Er teilte
mir mit, dass am nächsten Abend weitere 250 FlüchtAber das Leben hat gezeigt, dass die gerade
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
linge in Neubrandenburg eintreffen werden. Mit nur
formulierte theoretische Annahme erstens lebensIn vielen Regionen Deutschlands hat es sich
inzwischen herumgesprochen, dass die auf
zwei Zahlen will ich die Dynamik veranschaulichen:
fremd ist, und zweitens den Anforderungen für eine
dem Papier sehr gute Idee, Flüchtlinge dort
Ende 2015 lebten 1.800 Flüchtlinge und Migranten
erfolgreiche Integration nicht ausreichend genügt.
in Neubrandenburg, Stand heute sind es 3.200. Wir
Die dezentrale Unterbringung in Wohnungen hat
unterzubringen und zu betreuen, wo vor allem
sind froh, dass wir diese
ausreichender Wohnraum vorhanden ist, in der
Betreuung von Kindern mit Migrationshintergrund in Neubrandenburg
Menschen alle kennen
Praxis nicht funktioniert. Konzentrationspunkte
und im Landkreis Mecklenburgische Seenplatte (MSE) Stand: Okt. 2016
und dass sie erfasst sind.
sind überall in Deutschland die Ballungszentren,
prozentualer
Bei über 2.500 sind die
Metropolen wie Berlin, Hamburg oder Köln,
Landkreis
davon in der
Anteil für
Verfahren abgeschlossen.
mit Wohnungsmangel und bereits bestehenden
Neubrandenburg Neubrandenburg
MSE
in Relation zu MSE
Demnach wissen wir,
Trends zur Ghettoisierung, wie etwa im vielGesamtzahl betreute Kinder
16.565
4.264
25,7%
dass diese Menschen
zitierten Bezirk Neukölln in der Bundeshauptüber einen längeren Zeitstadt. Wie manifestiert sich dieser Trend in
Davon mit Migrationshintergrund
398
199
50%
raum bei uns bleiben. In
Mecklenburg-Vorpommern?
der Folge können wir planen, welche personellen
in diesem Kanon einen hohen Stellenwert, aber
und finanziellen Ressourcen bereitgestellt werden
mindestens ebenso wichtig sind Arbeits- und AusBenischke:
müssen. Ziel ist, alle angemessen betreuen zu können.
bildungsmöglichkeiten, Schulen und Kitas sowie
Natürlich orientieren sich die Flüchtlinge dorthin,
eine angemessene soziale Betreuung. Das ist in
wo bereits Landsleute leben und mit Wohnraum
versorgt sind. Diesen Trend haben wir gerade in
Wohnungen allein reichen nicht
dieser Komplexität und Vollständigkeit nur in
den Städten verfügbar. Deshalb halte ich es für
den Gemeinschaftsunterkünften auch in NeuUNTERNEHMERIN KOMMUNE:
richtig, dass unser Land in Abstimmung mit der
brandenburg erlebt. Aber es gab viele Rückkehrer.
Würden Sie bitte diese Neubrandenburger
kommunalen Ebene genau dort den Schwerpunkt
Diese Menschen haben in Hamburg oder Berlin
– das waren die wichtigsten Zielpunkte – erlebt,
Bestandsaufnahme in den Maßstab des Landes
der Flüchtlingsunterbringung setzt.
Mecklenburg-Vorpommern einordnen, etwa
dass andere schon eher auf diesen Gedanken
in Relation zur Gesamtzahl der Flüchtlinge in
Frank Benischke:
gekommen sind. Die noch freie Couch im Wohnihrem Bundesland und zu deren Allokation in
Ich will auf die Zahlen zurückkommen, die der
zimmer war bereits belegt und auch das im Keller
der Fläche, in den Mittel- und Oberzentren?
Oberbürgermeister für Neubrandenburg genannt
aufgestellte Notbett. Da war die Perspektive, in
hat. Bei 2.500 der insgesamt 3.200 hier lebenden
einer Stadt wie Neubrandenburg, die in Aleppo
Flüchtlinge sind die Verfahren abgeschlossen. Wir
Witt:
nicht in aller Munde ist wie die deutschen
merken, dass das Bearbeitungstempo erfreulicherMetropolen, eine ordentliche Wohnung zu
Im Land Mecklenburg-Vorpommern leben rund
zwei Prozent der Flüchtlinge, die Deutschland
weise zunimmt, daran, dass pro Woche zwischen
bekommen, die deutlich bessere.
aufgenommen hat. Diese Zahl entspricht dem
15 und 20 neue Wohnungsanträge von FlüchtDiese Möglichkeit konnten wir hier bieten. Die
definierten Verteilschlüssel. Viel interessanter ist
lingen bei uns gestellt werden. Hier kommen wir
von mir geleitete Neubrandenburger Wohnungsdie Allokation im Bundesland selbst. In unserem
übrigens langsam an Grenzen. Wir haben derzeit
gesellschaft verfügt über 30 Prozent des GesamtLandkreis Mecklenburgische Seenplatte (MSE)
einen Leerstand von nur noch 2,5 Prozent. Das
bestandes an Mietwohnungen in unserer Stadt. Diese
ist Neubrandenburg die Kreisstadt und das eingilt in der Wohnungswirtschaft als Vollvermietung.
Bestände sind gut in der Stadt verteilt. Das heißt, wir
zige Oberzentrum. 24 Prozent aller Flüchtlinge
Die Nachfrage ist
in Mecklenburg-Vorpommern leben in diesem
gleichwohl ungebrochen, Entwicklung des Anteils ausländischer Bevölkerung mit Hauptwohnsitz in Neubrandenburg von Januar 2015 bis Oktober 2016
Landkreis. Davon wiederum hat rund die Hälfte
und sie betrifft nicht
Bevölkerung
Ausländeranteil in
ihren Lebensmittelpunkt in Neubrandenburg.
nur die Flüchtlinge.
davon Ausländer
Monat/Jahr
Insgesamt
Prozent
Wenn deren Verfahren
Es gibt also eine Konzentration von FlüchtJanuar 2015
64.024
1.877
2,9%
positiv
beschieden
lingen in unserem Landkreis, denn MecklenburgDezember 2015
64.379
2.594
4,0%
wurden,
werden
Vorpommern hat insgesamt sechs Kreise und zwei
Oktober 2016
64.586
3.106
4,8%
aus
Asylbewerbern
kreisfreie Städte. Wenn ich den Durchschnitt bilde,
46
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
FORUM NEUE LÄNDER
VfkE / Integration / Wohnungswirtschaft
können die Flüchtlinge in vielen Stadtteilen unterbringen und vermeiden Ghettobildung oder gar
Parallelgesellschaften. Ein wichtiges Kriterium sind
Infrastrukturen für die schulische und vorschulische
Betreuung. Wo das ausreichend vorhanden ist,
vergeben wir natürlich Wohnungen bevorzugt an
kinderreiche Flüchtlingsfamilien. Über eine weitere
Prämisse wird aus rational nicht nachvollziehbaren Gründen öffentlich nur ungern gesprochen:
wir wissen, dass bestimmte Nationalitäten oder
auch Religionszugehörigkeiten besser separiert
werden sollen. Etwa Iraker und Iraner, Russen und
Tschetschenen, Christen und Muslime aus gleichen
Konfliktregionen. Diesen Aspekt beachten wir so gut
wie möglich. Je „ausgebuchter“ unsere Bestände sind,
umso schwieriger wird das. Als der Flüchtlingsstrom
begann, lag der Leerstand bei über vier Prozent. Jetzt,
diese Zahl wurde schon genannt, liegt er bei 2,5.
Tendenz weiter abnehmend.
Es ist ein gravierender Unterschied,
ob ich über Integration für einen
temporären Abschnitt rede, oder
ob ich davon ausgehe, dass es auch
Flüchtlinge geben wird, die dauerhaft in Deutschland bleiben wollen.
„
______________________
Frank Benischke
“
Witt:
Dass es bei uns noch Wohnungen gibt, im Gegensatz zu den Ballungszentren und Metropolen, ist
ein ganz wichtiger Aspekt. Aber ebenso bedeutend
sind die Ressourcen für die soziale Betreuung.
Das scheint nach meinen Kenntnissen in Städten
mit weniger als 100.000 Einwohnern besser zu
funktionieren als in den Großstädten. Zu merken
ist das schon beim Übergang von Gemeinschaftsunterkünften hin zu eigenen Wohnungen. Dieser
Wechsel bringt es mit sich, dass Menschen sich
eigenverantwortlich selbst voll versorgen müssen.
Dieser Schritt ist viel größer als gemeinhin vermutet
wird. Und er wird unweigerlich zum Fehltritt, wenn
er nicht begleitet wird. Diese Begleitung organisiert
aber nicht irgendein Vermieter. Dies setzen die
kommunalen Wohnungsunternehmen ins Werk.
In Neubrandenburg und überall in Deutschland.
Bei uns sehen Sie das schon optisch. Informationstafeln vor der „NEUWOGES“ – so die gängige
Neubrandenburger Kurzbezeichnung des Unternehmens – gab es vor 2015 verständlicherweise nur
in Deutsch. Heute kann man die Texte auch auf
arabisch, russisch und englisch lesen.
Benischke:
Wir organisieren die Betreuung zusammen mit
freien Trägern und eigenen Kräften. Wir haben
einen schon lange in Neubrandenburg lebenden
Tunesier als Dolmetscher eingestellt, wir haben
einen sozialen Dienst und es gibt regelmäßige
interkulturelle Schulungen unserer Mitarbeiter.
Alles in allem müssen wir dafür rund 100 000
Euro zusätzlich pro Jahr aufwenden.
„Aktuell werden die Kosten
gedeckt, Sorgen macht mir die
Langzeitperspektive“
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Dass Integration nur gelingen kann, wenn so
wichtige Ressourcen wie Wohnungen oder
Kapazitäten zur Kinderbetreuung ausreichend
verfügbar sind, ist eine Binsenweisheit. Ebenso
die Tatsache, dass die Flüchtlinge in kommunalen
Strukturen und Kiezen leben sollten, die unsere
Kultur abbilden. Ein Vorschlag um dies zu
gewährleisten lautet, dass man das Bleiberecht
und die damit verbundene Gewährung von
Leistungen mit einer Residenzpflicht verbinden
sollte. Was halten Sie von diesem Ansatz?
Witt:
Das Ressourcenthema muss man für zwei Ebenen
sehen. Aktuell werden unsere Kosten durch die
verschiedenen Zuflüsse weitestgehend gedeckt –
zumindest stellt das Land dies so in Aussicht. Sorgen
macht mir die Langzeitperspektive. Wir wissen ja
inzwischen, dass viele Flüchtlinge eben nicht über
die Qualifikationen verfügen, die anfangs, also in
der euphorischen Phase des „wir schaffen das“,
angenommen wurden. Bei Menschen, die selbst
in der eigenen Sprache nicht lesen und schreiben
können, dauert die Qualifizierung und Integration
für den ersten Arbeitsmarkt länger.
Bei diesen zeitlichen Dimensionen macht die
Residenzpflicht selbstverständlich Sinn, denn
wir können auf Ressourcen für eine erfolgreiche
Integration ja nicht einfach nur zugreifen, sondern
müssen sie in Teilen erst mobilisieren. Dafür
brauchen wir Planungssicherheit. Und wir benötigen
auch mehr Finanzmittel. Das sehen wir schon sehr
deutlich bei unserem Landkreis, der Mitarbeiter
speziell für Integrationsaufgaben eingestellt hat.
Menschen, die über längere Zeit
bei uns sind, die wir aber maximal
unterbringen, keinesfalls aber
integrieren können, verurteilen
wir doch zu Perspektivlosigkeit.
„
______________________
Silvio Witt
“
Aber er ist gültig, und schon das spricht für eine
Residenzpflicht, allerdings eine, die im Gegensatz zur
aktuellen Praxis auch durchgesetzt wird. Wir werden
auch weiterhin alles tun, um die Flüchtlinge in unseren
Wohnquartieren unterzubringen. Dazu konnten wir
schon jetzt nicht nur auf den Bestand zugreifen.
Vielmehr mussten und konnten wir in
Wohnungen, die wir schon für den Abriss vorgesehen
hatten und demzufolge auch nicht mehr saniert
haben, investieren. Das Volumen beläuft sich derzeit auf rund 900 000 Euro, knapp 50 Prozent davon
bezuschusst das Land Mecklenburg-Vorpommern.
Wenn wir darauf verweisen, dass wir im Kontext mit
der Unterbringung der Flüchtlinge den Leerstand bei
unseren städtischen Wohnungen von vier auf 2,5
Prozent reduziert haben, dann muss man also auch
die reaktivierten Bestände einrechnen, die wir wieder
dem Markt zugeführt haben.
„Wir brauchen schnellstens ein
Einwanderungsgesetz“
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Wenn wir über die Voraussetzungen zur Integration
reden, die vor Ort, konkret also hier in Neubrandenburg, bestehen oder geschaffen werden
müssen, dann stellt sich doch schon jetzt die Frage
nach Zeiträumen und auch nach Perspektiven des
Bleibens oder wieder Gehenmüssens?
Benischke:
Ihre Frage zeigt, dass wir konsequent zwischen
dem Status von Flüchtlingen und Einwanderern
unterscheiden müssen. Natürlich ist der Übergang
fließend. Aber es ist eben schon ein gravierender
Unterschied, ob ich über Integration für einen
Benischke:
temporären Abschnitt – derzeit wird ja das BleibeDer „Königsteiner Schlüssel“ wurde nicht für das
recht im Regelfall auf drei Jahre begrenzt – rede,
Flüchtlingsproblem erdacht, denn er kann schon
oder ob ich davon ausgehe, dass es auch Flüchtlinge
objektiv nicht die sehr unterschiedlichen Möglichgeben wird, die dauerhaft in Deutschland bleiben
keiten zur Integration in den Kommunen abbilden.
wollen. Dieses Wollen sollte dann zum Werden
führen, wenn die FlüchtStruktur der ausländischen Bevölkerung mit Hauptwohnsitz in linge über die VorausNeubrandenburg von Januar 2015 bis November 2016
setzungen verfügen,
Ausländische Bevölkerung
die wir endlich für eine
Monat/Jahr
gesteuerte Zuwanderung
Insgesamt afghanisch eritreisch
syrisch ukrainisch
definieren
müssten.
Januar 2015
1.877
104
35
121
141
Hier sind die ÜberDezember 2015
2.594
142
61
426
222
gänge fließend: es gibt
November 2016 (46. Kw.) 3.137
158
64
916
228
genügend Flüchtlinge,
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
47
VfkE / Integration / Wohnungswirtschaft
UNSERE Gesprächspartner
Silvio Witt wurde am 13. Mai 1978 in Neu-
Oberbürgermeister Witt im Gespräch mit Bewohnern einer Gemeinschaftsunterkunft in Neubrandenburg.
Bewohner und Nachbarn lernten sich bei einem Nachbarschaftsfest näher kennen und kochten gemeinsam.
die derzeit noch nicht über diese Qualifikationen
verfügen, aber extrem motiviert und auch ausreichend talentiert sind, diese schnell zu erwerben.
Wenn auch noch familiäre Bindungen zu Landsleuten bestehen, die schon dauerhaft in Deutschland leben, dann werden aus Flüchtlingen mit
begrenztem Bleiberecht Migranten, und so sollten
wir das auch regeln.
dieses Paket noch einmal auf- und neugeschnürt
wird. Das wäre aber gerade unter dem Aspekt der
Flüchtlingsfinanzierung dringend nötig.
Witt:
Volle Zustimmung: wir brauchen schnellstens ein
konkreteres Einwanderungsgesetz. Ein Gesetz, das
eindeutig definiert, was für Flüchtlinge gilt, wo die
Schnittstellen liegen und wie wir den Übergang
vom Flüchtling zum Einwanderer kennzeichnen.
Witt:
Jedes System hat seine Grenzen. Ich muss eine
ehrliche Bestandsaufnahme darüber machen, über
welche Ressourcen für eine erfolgreiche Integration
ich verfüge. Auf dieser Grundlage muss ich dann
auch über Zahlen reden. Menschen, die über
längere Zeit bei uns sind, die wir aber maximal
unterbringen, keinesfalls aber integrieren können,
verurteilen wir doch zu Perspektivlosigkeit. Das entspricht nicht meinem Menschenbild.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Karola Pablich, Kämmerin und Beigeordnete
der Landeshauptstadt Erfurt, hat bei unserer
Gesprächsrunde in Weimar die Auffassung vertreten, dass die Integration der Flüchtlinge eine
übertragene Aufgabe auf der Grundlage einer
nationalen Entscheidung ist, und demzufolge
auch die vollumfängliche Finanzierung durch
den Bund gewährleistet werden muss. Würden
Sie dieser Einschätzung zustimmen?
Witt:
Frau Pablich hat Recht. Das Flüchtlingsproblem
basiert auf außen- und völkerrechtlichen Entscheidungen. Deshalb müssen Unterbringung und
Integration komplett durch den Bund finanziert
werden. Ich sehe aber ziemlich schwarz, dass das
auch umgesetzt wird. Die Prämissen sowie Eckpunkte für den Finanzausgleich zwischen Bund und
Ländern ab 2020 sind gesetzt. Ich sehe nicht, dass
48
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Kann man sagen, dass es neben den personellen
auch monetäre Grenzen für eine erfolgreiche
Integration gibt?
Benischke:
Ich denke immer wieder an den Oberbürgermeister von Bautzen. Er steht doch beispielhaft
dafür, dass anderswo schlecht oder gar nicht
geregelte Abläufe auf kommunaler Ebene ausgebadet werden müssen. Dafür muss man endlich
die Verursacher verantwortlich machen, und nicht
jene, die sich wie der gerade erwähnte Alexander
Ahrens vor Ort redlich und engagiert bemühen,
die Scherben zu kitten, die ihnen andere hinterlassen haben.
n
Das Gespräch führte Michael Schäfer
i
infos
www.neubrandenburg.de
www.neuwoges.de
strelitz geboren. Nach dem Abitur im Jahr 1996
am Sportgymnasium Neubrandenburg leistete er
ab 1997 Zivildienst beim Pommerschen Diakonieverein in Züssow. In den Jahren 1997 bis 2000
ließ er sich bei der Sparkasse Mecklenburg-Strelitz
in Neustrelitz zum Bankkaufmann ausbilden. Dort
arbeitete er bis 2002 im Bereich Medien- und Öffentlichkeitsarbeit. Im gleichen Jahr begann er ein
Studium für Internationales Handelsmanagement
an der Hochschule Worms und der Wirtschaftshochschule Budapest und schloss dieses 2006 als
Diplom-Betriebswirt ab. Von 2007 bis 2009 arbeitete Witt als Redakteur des Nordkuriers in Prenzlau
und Demmin. Danach war er als Unternehmer
tätig und führte eine Agentur für Kommunikation,
über die er Seminare, Textarbeiten und Beratung
anbot. Zudem war er auch Kabarett-Veranstalter.
Von 1999 bis 2002 war Witt Gemeindevertreter
in Groß Nemerow. 2015 trat er als parteiloser
Bewerber bei der Wahl zum Oberbürgermeister
von Neubrandenburg an und erreichte bei der
Stichwahl 69,7 Prozent der Stimmen. Das Amt
übernahm er im April 2015. Silvio Witt ist Mitglied
im Hauptausschuss des Deutschen Städtetages.
Frank Benischke wurde am 5. Januar 1964
in Aschersleben (Sachsen-Anhalt) geboren.
Seit dem Jahr 1991 war er beim kommunalen
Wohnungsunternehmen der Stadt Neubrandenburg, der Neubrandenburger Wohnungsgesellschaft mbH (NEUWOGES) in verschiedenen
Funktionen tätig, bevor er im Jahr 2002 zum
Geschäftsführer bestellt wurde. Der diplomierte Wohnungs- und Immobilienwirt (FWI) ist
darüber hinaus im Rahmen des NEUWOGESKonzerns auch als Geschäftsführer mehrerer
Tochtergesellschaften tätig.
Frank Benischke ist Vizepräsident der Industrie- und
Handelskammer Neubrandenburg für das östliche
Mecklenburg-Vorpommern und Mitglied des Aufsichtsrates der Theater- und Orchester GmbH
Neubrandenburg/Neustrelitz. Überdies ist er in vielfältiger Hinsicht in Ehrenämtern der Politik (Kreistag Mecklenburgische Seenplatte) und des Sports
(Sportclub Neubrandenburg e. V.) engagiert.
Die NEUWOGES bewirtschaftet mit über 12 000
Wohnungen circa 30 Prozent des Wohnungsbestandes in der Stadt Neubrandenburg. Zudem erbringt der Konzern mit über 400 Mitarbeitenden
in seinen fünf Tochtergesellschaften immobilienwirtschaftliche Leistungen u. a. in der Bewirtschaftung von Gewerbeimmobilien und Stellflächen, in
der Altenpflege und in der Schülerunterbringung,
in der Verwaltung und Bewirtschaftung von Immobilien dritter Eigentümer sowie in der Wohnbaulanderschließung und in der Modernisierung
und dem Neubau von Wohngebäuden.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
AUS FORSCHUNG UND LEHRE
AUS FORSCHUNG UND LEHRE
zitiert
„Die Kommunen haben bei der Aufnahme und Integration von
Flüchtlingen Enormes geleistet. Und sie verdienen dafür jede
Unterstützung. Das sind für mich die zentralen Ergebnisse der
diesjährigen VfkE-Studie.“
Dr. Reiner Haseloff, Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt anlässlich der
Jahrestagung des Verbundnetz für kommunale Energie (VfkE) am 30. November
in Bitterfeld-Wolfen.
Das Verbundnetz für kommunale Energie präsentiert die Jahresstudie 2016
Die Integration von Flüchtlingen
Übersicht zu personellen und finanziellen Ressourcen sowie repräsentative Befragung in ostdeutschen
Kommunen zu den lokalen Implikationen der Flüchtlingskrise.
O
hne jeden Zweifel gehört die Flüchtlingskrise zu den größten Herausforderungen der Nachwendezeit. Neben materiellen und personellen
Aufwänden ist das Thema überdies geeignet, den sozialen und politischen Frieden zu beeinträchtigen. Nach den dramatischen Szenen aus
Griechenland, Ungarn und aus etlichen deutschen Kommunen blieb der Koordinierungsgruppe des Verbundnetz für kommunale Energie
im Herbst vergangenen Jahres kaum eine andere Möglichkeit, als den Umgang mit der Flüchtlingskrise zum Jahresthema des Folgejahres 2016 zu
erheben und sich nach den bewegten Monaten seit Sommer 2015 deren vielfältigen Implikationen für die Kommunen vor Ort zu widmen.
Es scheint banal, bedarf bei aller Fokussierung auf die Person der Kanzlerin aber durchaus einer Erwähnung. Die Herausforderungen der Integration
werden nicht in den Ländern und erst recht nicht auf der Ebene des Bundes bewältigt. Es sind die Kommunen, die am Ende dafür Sorge tragen
müssen, dass Integration gelingt. Sie müssen informieren, organisieren, zusammenführen und überzeugen. Hier wird umgesetzt, was anderswo
beschlossen und in Gang gebracht wurde und hier werden sich am Ende Erfolg und Misserfolg der politischen Weichenstellungen entscheiden.
Dies war auch der Tenor der Jahresveranstaltung des Verbundnetz für kommunale Energie am 30. November 2016 in Bitterfeld-Wolfen. Die VfkEStudie wurde Sachsen-Anhalts Ministerpräsidenten Rainer Haseloff übergeben, der bei dieser Gelegenheit die Kommunen als unersetzlich für
Integration und soziale wie politische Stabilität bezeichnete. Lesen Sie im Folgenden eine Zusammenfassung der VfkE-Studie 2016.
Die VfkE-Studie 2016 sollte auf der Basis der sozialen, rechtlichen, wirtschaftDanach entsteht den Kommunen in dieser Phase des Asylaufenthalts ein
lichen, finanzpolitischen und volkswirtschaftlichen Rahmenbedingungen die
monatlicher Mehraufwand von mehr als 300 Euro pro Person, der durch
Auswirkungen der rasant gestiegenen Asyleinwanderung auf die Kommunen
die Länder im Regelfall nicht ansatzweise abgegolten wird.
in den Neuen Bundesländern beleuchten. Ein erster
deskriptiver Teil widmete sich den verschiedenen
Einwanderungsarten und den konkreten Zahlen
der vergangenen Jahre. Im Folgenden wurde der
Asylprozess nach Kompetenzen und Aufgaben
der verschiedenen politischen Ebenen abgegrenzt.
Im Gegensatz zum Großteil der wissenschaftlichen Befassungen mit dem Thema ist dabei
insbesondere auf den Zeitraum nach einer
Anerkennung der Asylberechtigung eingegangen
worden. Von besonderer Relevanz ist dabei der
Umstand, dass in einer Kosten- und Kompetenzbetrachtung der verschiedenen Ebenen nach
Zuerkennung der Asylberechtigung aus einem
Asylbewerber ein SGB II-Empfänger wird. Für
die Kommunen verbinden sich damit erhebliche Mehraufwände. Dieser Zusammenhang
ist anhand einer Fallstudie aus der Landeshaupt- Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Dr. Reiner Haseloff diskutiert mit dem Verbundnetz für kommunale Energie
stadt Schwerin beispielhaft dargestellt worden. die Ergebnisse der Jahresstudie 2016. Links im Bild: Prof. Dr. Michael Schäfer.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
49
VfkE
Dieser Teil leitete über in eine breite Diskussion der finanziellen Ausgleichsmechanismen zwischen verschiedenen politischen Ebenen, zwischen
den Bundesländern und seitens der Länder unter ihren Kommunen. Hier
ging es zuvorderst um die Neuordnung der föderalen Finanzbeziehungen, um
die Bundeszuschüsse für kommunale Aufgaben sowie um das Verhältnis der
politischen Ebenen. Fraglich war, inwiefern das strikte Kooperationsverbot
zwischen dem Bund und den Kommunen den vielfältigen Inkongruenzen
von Aufgabenübernahmen und Finanzierungsmechanismen gerecht wird.
Ein Novum in der wissenschaftlichen Befassung
Wie bewerten Sie den aktuellen Stand der Integration in Ihrer
Kommune? – in Prozent
60
52,5
50
60
52,5
40
50
35
30
40
35
20
30
10
20
12,5
0
12,5
0
Das Gelingen der Integration derart vieler Menschen wird vornehmlich in
100
den Kommunen entschieden. Hier werden Helfer akquiriert, hier können
0
sehr gut
gut
befriedigend schlecht
sehr0
schlecht
sich aufgrund politischer Fehlorientierungen oder ungenügender Trans0
parenz politische Missstimmungen entwickeln, hier wohnen Nachbarn
sehr gut
gut
befriedigend schlecht
sehr
schlecht
DieseVersäumnisse
Versäumnisse
werden
keiner
schuldhaft
zugerechnet.
und Freunde, hier wird Kultur und Sprache vermittelt und insgesamt ein Diese
werden
keiner
SeiteSeite
schuldhaft
zugerechnet.
SowohlSowohl
die Integrationsber
als auch die Aufnahmebereitschaft
erhalten im Mittel
die Integrationsbereitschaft
der Flüchtlinge,der
alsMehrheitsgesellschaft
auch die Aufnahmebereitlebenswertes Umfeld geschaffen. Mit der VfkE-Jahresstudie 2016 sollte Flüchtlinge,
bessere Noten. Die Hauptverwaltungsbeamten der ostdeutschen Kommunen vergeben im Sc
Diese
Versäumnisse
werden
keiner
Seite
schuldhaft
zugerechnet.
Sowohl
die
Integrationsber
schaft der Mehrheitsgesellschaft erhalten im Mittel deutlich bessere Noten.
die kommunale Sicht auf Zusammenhänge und Organisationsstrukturen
beide Seiten eine Drei plus.
Flüchtlinge,
als
auch
die
Aufnahmebereitschaft
der
Mehrheitsgesellschaft
erhalten
Die Hauptverwaltungsbeamten der ostdeutschen Kommunen vergeben im im Mittel
durch eine repräsentative Befragung ermittelt werden. Dies ist ein Novum
bessere Noten. Die Hauptverwaltungsbeamten der ostdeutschen Kommunen vergeben im Sc
Schnitt
für beide
Seiten
eine Drei plus.
in der wissenschaftlichen Befassung mit diesem Thema. Und da sich auch beide
Wie
bewerten
Sie die
Integrationsbereitschaft
der Flüchtlinge? – in Prozent
Seiten eine Drei plus.
dieGelingen
politische
bislang
weitgehend
auf die wird
Ebene
der Länderinund
Das
derDebatte
Integration
derart
vieler Menschen
vornehmlich
dendes
Kommunen entschieden.
Prozent
bewerten
Sie die
Integrationsbereitschaft
Wie
bewerten
Sie
die Integrationsbereitschaft
der– inFlüchtlinge?
Bundes
beschränkte,
steht die
Aufmerksamkeit
für diepolitischer
kommunalen
Belange Wie
Hier
werden
Helfer akquiriert,
hier
können sich aufgrund
Fehlorientierungen
oder
39 der Flüchtlinge?
37
–
in
Prozent
40
ungenügender
Transparenz
politische
Missstimmungen
entwickeln,
hier
wohnen
Nachbarn
und
Freunde,
in einem eklatanten Missverhältnis zu den tatsächlichen Aufgabenstrukturen
hier
wird
Kultur und Sprache vermittelt
insgesamt
ein lebenswertes
Umfeld geschaffen.
und
Leistungsübernahmen.
Dieses und
Defizit
zu beheben,
war ein zentraler
35 Mit der VfkE39
Jahresstudie 2016 sollte die kommunale Sicht auf Zusammenhänge und Organisationsstrukturen durch
37
40
Impuls für die Erhebung der VfkE-Jahresstudie 2016.
30
eine repräsentative Befragung ermittelt werden. Dies ist ein Novum in der wissenschaftlichen Befassung
24
Eine umfassende
Befragung
sich Debatte
an die Hauptverwaltungsmit diesem
Thema. Und da
sich auch richtete
die politische
bislang weitgehend auf die 35
Ebene
der Länder
25
beamten
der ostdeutschen
Städte, kreisangehörigen
Gemeinden
und
des Bundes
beschränkte, kreisfreien
steht die Aufmerksamkeit
für die kommunalen
Belange in30einem eklatanten
20
24
Missverhältnis
zu den
tatsächlichen
Aufgabenstrukturen
und Leistungsübernahmen.
Dieses Defizit zu
und Landkreise.
Die
repräsentative
Stichprobe ermöglichte
ein aussage25
15
beheben,
war
ein
zentraler
Impuls
für
die
Erhebung
der
VfkE-Jahresstudie
2016.
kräftiges Meinungsbild der ostdeutschen kommunalen Familie.
Eine umfassende Befragung richtete sich an die Hauptverwaltungsbeamten der ostdeutschen
kreisfreien
20
10
Städte, kreisangehörigen Gemeinden und Landkreise. Die repräsentative Stichprobe ermöglichte ein
155
0
Hier die wichtigsten
Ergebnisse:
aussagekräftiges
Meinungsbild der
ostdeutschen kommunalen Familie.
(ZÜ)
Kommunale Unternehmen spielen bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise
Hier die wichtigsten Ergebnisse:
eine zentrale Rolle. Mehr als ein Drittel der Befragten äußerte die Ansicht,
100
5
sehr gut
0
0
gut
befriedigend
schlecht
0
sehr0
schlecht
gut
gut
befriedigend schlecht
sehr
dass die Flüchtlingskrise
diebei
kommunale
Wirtschaft
überhaupt nicht
zuzentrale Rolle.sehr
Kommunale
Unternehmen ohne
spielen
der Bewältigung
der Flüchtlingskrise
eine
Mehr
als
Hieraus
ergibt
sich
ein
Mittelwert
von
2,9.
schlecht
bewältigen
60 Prozent
ordneten
Wohnungsgesellschaften,
Stadtwerken
undkommunale Wirtschaft
ein
Drittel dersei.
Befragten
äußerte
die Ansicht,
dass die Flüchtlingskrise
ohne die
überhaupt
nicht zu bewältigen
sei. 60 Prozent
ordneten Wohnungsgesellschaften,
Stadtwerken
und
anderen kommunalen
Unternehmen
eine entscheidende
Unterstützung zu.
Wie bewerten Sie die Aufnahmebereitschaft der Mehrheitsgesellschaft? – in Prozent
anderen kommunalen Unternehmen eine entscheidende Unterstützung zu.
Hieraus
ergibt
sichsich
ein ein
Mittelwert
von 2,9.
Hieraus ergibt
Mittelwert
von 2,9.
Welche Rolle spielen die kommunalen Unternehmen bei der
Integration? – in Prozent
Welche Rolle spielen die kommunalen Unternehmen bei der Integration? – in ProzentWie bewerten Sie die Aufnahmebereitschaft der Mehrheitsgesellschaft? – in Prozent
60
45
60
40
35
40
35
30
25
30
20
20
0
45
45
50
10
Wie bewerten Sie die Aufnahmebereitschaft der Mehrheitsgesellschaft? – in Prozent
15
5
5
keine Rolle
10
10
hilfreiche
Unterstützung
ohne komm. Unt.
nicht zu bewältigen
0
0
sehr gut
0
gut
befriedigend
schlecht
sehr
schlecht
Lediglich
dasdas
Ehrenamt
erhielt
noch
höhere
Zustimmungswerte.
Hier Hier
sahensahen
mehr alsHieraus
80
Prozent
eine
Hieraus
ergibt
sich
Mittelwert
Lediglich
Ehrenamt
erhielt
noch
höhere
Zustimmungswerte.
ergibt
sich
einein
Mittelwert
von von
2,65.2,65.
existenzielle Rolle für das Gelingen der Integration. Der Integrationserfolg insgesamt wird eher skeptisch
mehr als 80 Prozent eine existenzielle Rolle für das Gelingen der Integration. Der
bewertet. Lediglich 13 Prozent waren der Meinung, dass dies „sehr gut“ oder „gut“ gelänge.
Der
Großteil
Allerdings
wird
den Flüchtlingen vor Ort eine tendenziell geringe Qualifikation attestiert. Meh
Allerdings
wird
den Flüchtlingen vor Ort eine tendenziell geringe QualiIntegrationserfolg
insgesamt
wirdauf
eherdieskeptisch
bewertet.„befriedigend“
Lediglich 13 Prozent
der
Antworten verteilte
sich indes
Zuschreibungen
und „schlecht“.
Prozent entfallen auf die Zuschreibungen „ungebildet“ und „adäquat zum deutschen
fikation attestiert. Mehr als 60 Prozent entfallen auf die Zuschreibungen
waren der Meinung, dass dies „sehr gut“ oder „gut“ gelänge. Der Großteil der Hauptschulabschluss“.
– in Prozent„ungebildet“ und „adäquat zum deutschen Hauptschulabschluss“.
Wie
bewerten
Sie den
Stand
der Integration
in Ihrer Kommune?
Antworten
verteilte
sichaktuellen
indes auf die
Zuschreibungen
„befriedigend“
und „schlecht“.
Geschätzter Bildungsgrad der aufgenommenen Flüchtlinge – in Prozent
50
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
Hieraus ergibt sich ein Mittelwert von 2,65.
VfkE wird den Flüchtlingen vor Ort eine tendenziell geringe Qualifikation attestiert. Mehr als 60
Allerdings
Prozent entfallen auf die Zuschreibungen „ungebildet“ und „adäquat zum deutschen
Hauptschulabschluss“.
AUS FORSCHUNG UND LEHRE
Geschätzter Bildungsgrad der aufgenommenen Flüchtlinge – in Prozent
Geschätzter Bildungsgrad der aufgenommenen Flüchtlinge – in Prozent
8,8
25,9
28
ungebildet/Analphabeten
Hauptschule
Kommunale Implikationen für die Neuen Länder
Im Ergebnis der finanzwirtschaftlichen, strukturellen sowie politischen
Analysen sowie als Schlussfolgerung zur empirischen Bestandsaufnahme in den ostdeutschen Kommunen wurden folgende Implikationen
formuliert.
Personal: Es erscheint außerordentlich schwierig, Strategien für eine
Überbrückung der personellen Engpässe zu finden. Die Kohorte der
Schulabgänger ist in den Neuen Bundesländern so gering wie nie zuvor.
37,3
Letztlich speist sich die niedrige Jugendarbeitslosigkeit nahezu ausschließlich aus diesem Umstand. Erschwerend kommt hinzu, dass nach wie
vor deutlich mehr qualifizierte junge Deutsche die Region verlassen, als
Obgleich es sich bei den Aufwendungen für Asyl und Integration eindeutig
dorthin zuwandern. Ganz ähnlich werden es auch die meisten Flüchtlinge
halten. Schließlich bieten sich insbesondere in den kleinen und mittleren
um Aufgaben aus dem übertragenen Wirkungskreis handelt, bleiben die
Obgleich es sich bei den Aufwendungen für Asyl und Integration eindeutig um Aufgaben aus dem
Kommunen
der Neuen Bundesländer weniger familiäre und auch weniger
Kommunen
auf einem nennenswerten
der Kosten auf
sitzen
undnennenswerten
erhalten
übertragenen
Wirkungskreis
handelt, bleibenTeil
die Kommunen
einem
Teil der Kosten
keinen
angemessen
Ausgleich
seitensAusgleich
der Länder
undder
desLänder
Bundes.
zehn Nur
wirtschaftliche
sitzen
und erhalten
keinen
angemessen
seitens
undNur
des Bundes.
zehn Prozent Anknüpfungspunkte, die eine dauerhafte Ansiedlung
derProzent
Kommunen
formulierenformulieren
einen vollständigen
Kostenausgleich.
Etwa 90 Prozent
von einer Bei aktuell sinkenden Asylbewerberzahlen wird der derzeit
der Kommunen
einen vollständigen
Kostenausgleich.
Etwagehen
begünstigen.
teilweise
erheblichen
Unterdeckung
aus.
Neben
finanziellen
Defiziten
werden
auch
hinsichtlich
90 Prozent gehen von einer teilweise erheblichen Unterdeckung aus. Neben
enormeder
Bedarf an Integrationsleistungen bald wieder merklich zurückPersonalausstattung deutliche Lücken identifiziert. Nur etwa ein Fünftel der Kommunen in
finanziellen Defiziten
der Personalausstattung
deutgehen. Der Trend der vergangenen Jahre und Jahrzehnte hat schließlich
Ostdeutschland
äußert diewerden
Ansicht,auch
dasshinsichtlich
die Personaldecke
den Aufwänden entspricht.
liche Lücken identifiziert. Nur etwa ein Fünftel der Kommunen in Ostdeutschgezeigt, dass Migranten dorthin streben, wo entweder der bereits bestehende
in Prozent
Reicht
Personal
aus, um dass
den Anforderungen
derden
Integration
gerecht
zu werden? – Migrantenanteil
landdas
äußert
die Ansicht,
die Personaldecke
Aufwänden
entspricht.
besonders hoch ist oder wo die wirtschaftlichen Strukturdaten besonders günstig sind.
Reicht das Personal aus, um den Anforderungen der Integration
Ehrenamt und soziale Arbeit: Voraussetzung für ein ehrenamtliches
gerecht zu werden? – in Prozent
Engagement ist eine konstruktive und offene Stimmung in der Bevölkerung.
Gerade bei erwartbar kontroversen politischen Entscheidungen ist es
42
unabdingbar, möglichst transparent und zeitnah über die einzuleitenden
45
37
Maßnahmen zu informieren. In jedem Fall sollten wertevermittelnde
40
soziale Institutionen möglichst schnell eingebunden werden – die Kirchen,
42
35
45
die gemeinnützigen Sozialverbände, die demokratischen Parteien und
37
30
21
40
die Moscheegemeinden. Um zeitnah mobilisieren und über anstehende
25
35
Aufgaben informieren zu können, sind die Kommunen gehalten, ihre
20
30
Kommunikation über die sozialen Netzwerke weiter auszubauen. Zudem
21
15
25
sind die rechtlichen Grundlagen insoweit zu flexibilisieren, dass Trans10
20
ferempfänger in Notsituationen zur bürgerschaftlichen Arbeit heran5
15
gezogen werden können. Sollten sie dem nicht entsprechen, ist mit dem
0
10
reicht aus
reicht aus, lässt sich reicht deutlich nicht
Entzug von Zuwendungen zu sanktionieren. Im Kontext einer schnellen
5
dennoch leisten
aus
Mobilisierung von Tatkraft muss auch die Bundeswehr stärker wirken
0
dürfen. Es mutet grotesk an, doch die Abschaffung der Wehrpflicht hat
reicht aus
reicht aus, lässt sich reicht deutlich nicht
Insgesamt
Jahre
eine
Entspannungaus
prognostiziert.DeutDeutlich mehr
als 90 Prozent
dennoch
die sozialen
Dienste stärker getroffen als die Armee selbst. Hier ist über
Insgesamtwird
wirdfür
fürdie
diekommenden
kommenden
Jahre leisten
eine Entspannung
prognostiziert.
erwarten
geringere
oder
deutlich
geringere
Asylbewerberzahlen
in
2016
und
2017.
Zudem
die
einen gehen
verpflichtenden
Ersatzdienst nachzudenken.
lich mehr als 90 Prozent erwarten geringere oder deutlich geringere AsylbewerberHauptverwaltungsbeamten davon aus, dass im Schnitt weniger als die Hälfte der vor Ort betreuten
zahlen in 2016
und
2017.
Zudem gehen
dieeine
Hauptverwaltungsbeamten
davonKommune
aus, mehr
zeitnah
und transparent informieren; Transferempfänger zur bürgerInsgesamt
wird
für nach
die
kommenden
Jahre
Entspannung
Deutlich
als
90
Prozent
Asylbewerber
auch
Anerkennung
ihres
Asylstatus
in derprognostiziert.
betreffenden
bleiben
wird.
erwarten
geringere
oder deutlich
geringere
Asylbewerberzahlen
in 2016 undauch
2017. Zudem gehen
die Arbeit heranziehen; Überlegungen zu einem pflichtigen
schaftlichen
dass im Schnitt
weniger
als die Hälfte
der vor
Ort betreuten Asylbewerber
Hauptverwaltungsbeamten
davon
aus,
dass
im Schnitt
weniger
als– indie
Hälfte der vor Ort betreuten
Prozent
Wie
viele
Flüchtlinge
erwarten
Sie
für
die
Jahre
2016
und
2017?
Sozialdienst für Heranwachsende
nach Anerkennung ihres Asylstatus in der betreffenden Kommune bleiben wird.
Asylbewerber auch nach Anerkennung ihres Asylstatus in der betreffenden Kommune bleiben wird.
Finanzen: Im Oktober 2016 konnten sich Bund und Länder endlich
Wieviele
viele
Flüchtlinge
erwarten
SieJahre
für die
2016– inund
2017?
Prozent
Wie
Flüchtlinge
erwarten
Sie für die
2016Jahre
und 2017?
auf die Zukunft des Länderfinanzausgleiches einigen. Inhaltlich war die
65
–70
in Prozent
Reformdiskussion sehr früh auf wenige Dimensionen reduziert worden.
Dadurch wurden zentrale Zukunftsfragen des deutschen Fiskalföderalismus
60
65
70
ausgeschlossen und schon wieder Chancen vertan, ein Finanzierungssystem
50
zu schaffen, das die Mittel automatisch dorthin lenkt, wo die Leistungen
60
40
überproportional stark nachgefragt und erbracht werden.
30
50
Auch bei der Vertikalisierung kommunaler Sozialleistungen lieferte die
30
40
Flüchtlingskrise etliche Impulse für ein Wiederaufgreifen der Reform30
20
debatte. Hier stellt sich die grundlegende Frage, ob der aktuell grund30
5
10
gesetzlich vorgegebene Weg, Bundesmittel „durch die Länderhaushalte“
0
0
20
zu den Kommunen zu leiten, wirklich die einzig sinnvolle Option ist. Eine
0
5
10
0
Vertikalisierung direkt an die kommunale Ebene ist in vielerlei Hinsicht
deutlich
weniger
gleich
mehr0
deutlich
weniger
mehr
erfolgversprechender.
0
deutlich
weniger
gleich
mehr
deutlich
Kooperationsverbot zwischen dem Bund und den Kommunen aufweniger
mehr
weichen; Länderfinanzausgleich aufgabenbezogen neu strukturieren
(ZÜ)
mittlere Reife
Akademiker
Kommunale Implikationen für die Neuen Länder
(ZÜ)
Kommunale
Implikationen
für die •Neuen
Länder
UNTERNEHMERIN
KOMMUNE
AUSGABE
04 / DEZEMBER
2016 Analysen sowie als
Im
Ergebnis der
finanzwirtschaftlichen,
strukturellen
sowie politischen
Schlussfolgerung zur empirischen Bestandsaufnahme in den ostdeutschen Kommunen wurden folgende
Im Ergebnis der
finanzwirtschaftlichen, strukturellen sowie politischen Analysen sowie als
Implikationen
formuliert.
51
VfkE
Flüchtlinge marschieren am 4. September 2015 vom ungarischen Budapest an die ungarische Grenze.
Erstaufnahmeeinrichtung im schleswig-holsteinischen Itzehoe.
Die VfkE-Studie 2016 brachte vielfältige Erkenntnisse. Große Herausforderungen schärfen den Eindruck
für eine grundlegende Neuorientierung politischer Strukturen. Es
wird Zeit, eine in vielerlei Hinsicht gescheiterte Föderalismusreform wieder
aufzugreifen und um eine Kommunalreform zu ergänzen. So ist es nur
recht und billig, dass die auf Bundesebene für kommunale Zwecke ausgegebenen Gelder auch direkt in die Kommunen vermittelt werden. Auch
angesichts der derzeitigen Demokratiekrise muss in Erinnerung gerufen
werden, dass Systeme und Rechtsnormen sich nicht selbst legitimieren,
sondern stets einer sachlichen Begründung bedürfen.
Falk Schäfer
52
Fachkräftepotential: Das Asylrecht ist nicht dazu da, der deutschen
Wirtschaft zu helfen. Für eine qualifizierte Einwanderung braucht es ein Einwanderungsgesetz. Einwanderung über Asyl ist dem Wesen nach grundsätzlich
vorläufig, nämlich stets an das Weiterbestehen des Asylgrundes geknüpft.
Doch auch abseits der grundrechtlichen Theorie sind die Potentiale der real stattfindenden Masseneinwanderung für die deutsche Wirtschaft äußerst begrenzt.
Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit besitzen weniger als ein Viertel
der als arbeitslos registrierten Flüchtlinge eine abgeschlossene Berufsausbildung. Trotz des durchschnittlich jungen Alters der Flüchtlinge rechnet die
Bundesagentur mit mindestens fünf Jahren, bis ein junger Migrant die nötigen
Sprachkenntnisse erworben sowie eine Berufsausbildung abgeschlossen hat.
Etwa 30 Prozent seien vermutlich auf lange Sicht nicht vermittelbar.
Verzicht auf eine argumentative Verknüpfung von Asyleinwanderung
und demografischem Wandel; Qualifizierte Einwanderung über ein Einwanderungsgesetz generieren
Von Falk Schäfer
n
i
infos
www.vfke.org
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
INSPIRATIONEN/INFORMATIONEN
INSPIRATIONEN/INFORMATIONEN
nachgeschlagen
Der Wanderungssaldo zwischen Deutschland und dem Ausland hat
im Jahr 2015 den historischen Rekordwert von 1,25 Millionen erreicht.
Allein in den vergangenen fünf Jahren ist die ausländische Bevölkerung
um etwa drei Millionen Menschen auf nun 9,5 Millionen angewachsen.
Die größte ausländische Minderheit hierzulande stellen die Türken. Danach
folgen in dieser Reihenfolge Polen, Italiener, Syrer und Rumänen.
Deutlich verstärkte Asylmigration seit dem Jahr 2014
Auf dem Weg zum
Einwanderungsland?
Aus unserer Serie zu Statistiken mit kommunalem Bezug
M
it seiner zentralen Lage inmitten Europas ist Deutschland seit Jahrhunderten Ziel-, Durch- und Ausgangsland von Migranten. So
wanderten im zehnten und elften Jahrhundert jüdische Kaufleute in die Städte des Mittelrheintals, weiter bis nach Magdeburg
und in den Osten des Deutschen Reiches. Mit dem Edikt von Potsdam wurde den in Frankreich verfolgten Protestanten eine freie
und sichere Niederlassung im Kurfürstentum Brandenburg angeboten. Als die Religionsfreiheit auch in Böhmen endete, fanden etliche
tschechische Siedler eine neue Heimstatt in Preußen. Die Industrialisierung hatte zwei Effekte. Zum einen wanderten hunderttausende
Deutsche nach Übersee aus, zum anderen zog es unzählige polnische Arbeiter in die neu entstehenden Industriezentren des Ruhrgebiets.
Nach dem Zweiten Weltkrieg mussten die Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten integriert werden. Mitte der 1950er
begann dann die Anwerbung von Gastarbeitern aus dem Süden Europas, dem Norden Afrikas und aus Kleinasien. Diese Einwanderung
prägt das Land bis heute und hat zu einer erheblichen Heterogenisierung des Staatsvolkes beigetragen.
Nach der Deutschen Wiedervereinigung kamen hunderttausende deutsche und jüdische Aussiedler aus dem Osten Europas und der
ehemaligen Sowjetunion. Die Balkankriege sorgten in den 1990er Jahren für eine verstärkte Asyleinwanderung. Und nun sind es die Krisen im
muslimisch geprägten Kulturraum sowie das erhebliche Wohlstandgefälle, welches wieder hunderttausende Menschen zu einer Einwanderung
nach Deutschland motiviert. 2015 war bei weitem ein Rekordjahr. Noch nie sind so viele Menschen in kürzester Zeit in unser Land gekommen.
Diese Entwicklung ist mit enormen Herausforderungen verbunden und hat schon jetzt zu einer schmerzhaften Spaltung im politischen Diskurs
geführt. Einwanderung und Integration sind in erster Linie kommunale Themen, sodass wir auch an dieser Stelle darauf eingehen wollen.
Lesen Sie im Folgenden einen Überblick zu den Entwicklungen der Asyleinwanderung der jüngsten Zeit.
Deutschland soll Deutschland bleiben, verspricht
die Kanzlerin. Dabei kommt ihr der Umstand
zu Hilfe, dass niemand so genau weiß, was
Deutschland ist. Beständig ist nur der Wandel.
Mit diesen Veränderungsprozessen scheint auch
der Zwang einherzugehen, sich als Nation immer
wieder aufs Neue definieren zu müssen. Und so
bestimmen die Fragen nach der Identität, nach
kulturellen Leitmotiven oder nach der Zugehörigkeit einzelner Religionen seit Jahrzehnten
die politische Debatte. Im Zentrum stehen das
Konzept der Leitkultur und die Frage, ob die
Bundesrepublik nun ein Einwanderungsland
ist oder nicht. Man kann darüber streiten, wie
sinnvoll es ist, sich gegenüber einem Ein-WortAttribut zu positionieren. Einerseits mangelt es an
der nötigen Differenzierung, andererseits könnte
ein Bekenntnis zur Vielfalt dabei helfen, das
Miteinander der Kulturen besser zu organisieren
und für Offenheit zu werben. Letztlich kommt
es auf den Bezugsrahmen an. So ist Deutschland
heute deutlich heterogener als noch im 19. Jahrhundert. Seit etwas mehr als 50 Jahren wandern
kontinuierlich per anno tausende Menschen ein.
Die Gesellschaft hat sich spürbar vervielfältigt.
Heute nimmt die Bundesrepublik in puncto
Diversität einen Platz im Mittelfeld der entwickelten Industrienationen ein – deutlich heterogener als etwa die ostasiatischen Industrienationen,
aber noch immer geprägt von einer dominanten
Mehrheitskultur. So sind die klassischen Einwanderungsgesellschaften
Neuseelands,
Australiens, Kanadas, Brasiliens, Argentiniens,
Südafrikas oder der Vereinigten Staaten zu
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
wesentlichen Teilen erst durch Migration entstanden. Teil dieser sehr schmerzvollen Geschichte
war nicht selten die nahezu vollständige Marginalisierung der indigenen Bevölkerung. All die
genannten Länder sind bis heute signifikant
europäisch geprägt, von Auswanderern aus Frankreich, Spanien, Portugal, Italien, Irland, Russland,
Großbritannien, den Niederlanden oder Deutschland, die mit oft unbarmherziger Brutalität diejenigen vertrieben haben, die vorher da waren.
Europäische Gesellschaften wie Frankreich,
das Vereinigte Königreich, die Niederlande,
Spanien oder Portugal beziehen ihre Diversität
zum heutigen Tage in nicht unerheblichem Maße
aus den alten Kolonien. Auch dieser Aspekt einer
Rückwanderung ins europäische Mutterland spielt
für Deutschland nur eine untergeordnete Rolle.
53
48.589
2010
Statistik
2009
33.033
2008
28.018
0
100000
200000
300000
400000
500000
der Asylbewerber aus Europa. Dies schließt die
Also ja – Deutschland wird immer mehr
männlichen Antragsteller überwiegt in allen Alterszum Einwanderungsland und dennoch ist
Türkei und die UdSSR-Nachfolgestaaten
mit ein.war Syrien
gruppenmit
unter
65 Jahren,
bei den verHauptherkunftsland
37 Prozent
derlediglich
Registrierungen.
Danach folgt
die deutsche Kultur seit mehr als einem JahrSeit 2000 wurden mit Ausnahme
Jahres
sehrBalkanstaaten
wenigen Über65jährigen
ist der
Prozent)des
und
der2013
Irak (elfgleichsweise
Prozent). Die
Albanien, Mazedonien,
Ko
Herzegowina
und Serbien
rangieren
auf den
folgenden
Plätzen.
Die Zahl der Antr
tausend fest mit dem Landstrich zwischen
mehr Anträge aus asiatischen
Herkunftsstaaten
als
Anteil
von Frauen
größer.
Hinsichtlich
der HauptAusweitung
der sicheren
Herkunftsstaaten
zurückgegangen.
Alpen, Nord- und Ostsee verwachsen. Über die
aus europäischen verzeichnet.
2014 stammten
30,8
herkunftsländer
des deutlich
Jahres 2015
bewegt sich derMehr als di
Asylsuchenden
war
unter
25
Jahren
und
etwa
drei
Viertel
männlich.7,3
Der Anteil d
Konsequenzen, die aus diesem ambivalenten
Prozent aller Antragsteller aus Europa und 43,6 ProFrauenanteil bei den Asylanträgen zwischen
Antragsteller
überwiegt
in
allen
Altersgruppen
unter
65
Jahren,
lediglich
bei den
Status zu ziehen sind, wird noch zu streiten
zent aus Asien. Angestiegen ist erneut der Anteil
Prozent (Pakistan) und 49,0 Prozent (Serbien).
wenigen
Über65jährigen
ist
der
Anteil
von
Frauen
größer.
Hinsichtlich
der
Haupt
sein, klar ist aber auch, dass die Tendenz
von Asylbewerbern aus Afrika. Dieser betrug 2014
73,1 Prozent der Asylbewerber gehören dem
Jahres 2015 bewegt sich der Frauenanteil bei den Asylanträgen zwischen 7,3 Pro
mittelfristig in Richtung einer wachsenden
22,7 Prozent. Von 1993 bis 2007 ließ sich ein fast
Islam an. An zweiter Stelle folgen die Christen
49,0 Prozent (Serbien).
Vielfalt weist. Die Kommunen stehen in
kontinuierliches Absinken der Erstantragszahlen
mit 13,8 Prozent. Jesiden liegen mit 4,2 Prozent
73,1 Prozent der Asylbewerber gehören dem Islam an. An zweiter Stelle folgen d
der Verantwortung, das Zusammenleben zu
an dritter Stelle. Bei etwa acht Prozent der Asylfeststellen. Von einem relativ niedrigen Niveau ausProzent. Jesiden liegen mit 4,2 Prozent an dritter Stelle. Bei etwa acht Prozent de
organisieren. Dazu gehört auch die Integration
gehend, steigt die Zahl dervergangenen
Asylbewerber Jahres
seitdemkonnte
bewerber
des vergangenen
Jahres
konnte keine
keine Religion
zugeordnet
werden.
von neu hinzugekommenen Menschen in
wieder kontinuierlich an. Im Jahr 2014 hat sich
Religion zugeordnet werden.
bestehende Strukturen. Spätestens seit den
die Zahl der Erstanträge Religiöses
mit
Bekenntnis der Asylantragsteller 2015 – in Prozent
173.072 Personen gegenüber Religiöses Bekenntnis der Asylantragsteller 2015 – in Prozent
1980er Jahren ist endlich auch von der Politik
erkannt worden, dass die ehemaligen Gastdem Vorjahr um 57,9 Prozent
Sonstige 8,9
arbeiter und ihre Familien in Deutschland
erhöht. Nachdem bereits von
Jesiden 4,2
bleiben wollen und werden und spätestens
2011 auf 2012 ein Zuwachs
um 41,1 Prozent sowie von
seitdem wird intensiv darüber debattiert, ob
und wie andere kulturelle Hintergründe die
2012 auf 2013 um 69,8 ProChristen 13,8
deutsche Gesellschaft bereichern können.
zent zu verzeichnen war, wurde
im vergangenen Jahr 2015 ein
Sarrazins Thesen äußerten schon vor der
absoluter Höhepunkt erreicht.
großen Flüchtlingskrise grundlegende Zweifel
an der Integrationsfähigkeit der in Deutschland
Selbst mit den annähernd
lebenden Muslime. Die öffentliche Resonanz
500.000 im vergangenen Jahr
war genauso erheblich wie die Verkaufszahlen.
gestellten Asylerstanträgen wäre
Mit der Flüchtlingskrise des vergangenen Jahres,
der ohnehin schon hohe Wert
Muslime 73,1
den islamistischen Anschlägen in Frankreich,
aus 2014 verdoppelt worden.
Tatsächlich war die Zahl der
Belgien und der Türkei sowie den sexuellen
über das Asylverfahren nach
Übergriffen in Köln und anderen Städten hat
Deutschland gekommenen Menschen deutlich
sich der Streit deutlich intensiviert. DeutschAuch 2014 war Syrien das Hauptherkunftsland
höher. Im EASY-System Auch
wurden
mehr
eine dasvon
land ist gespalten zwischen denjenigen, die
Asylantragstellern. Der
lag jedoch nur Der Anteil
2014
waralsSyrien
Hauptherkunftsland
vonAnteil
Asylantragstellern.
Flüchtlingen und Asylbewerbern bedingungsMillion Registrierungen gezählt.
bei 22,7 zwischen
Prozent. Schon
im Vergleich
zwischen
22,7 Prozent. Schon im Vergleich
2013 und
2014 stieg
die Zahl der Erst
los offen gegenund 2014
stiegEindieVergleich
Zahl derzwischen
Erstanträge
syrischen Asylbewerbern2013
um 164,2
Prozent.
2014 und 20
ü b e r s t e h e n Entwicklung der Asylanträge zwischen 2008 und 2015
von syrischen Asylbewerbern um 164,2 Prozent.
und jenen, die
Ein Vergleich zwischen 2014 und 2015 hinkt
476.649
humanistische
deshalb, weil im vergangenen Jahr längst nicht
2015
Werte oder auch
alle Asylsuchenden einen Antrag stellen konnten.
202.834
2014
althergebrachte
2014 war Serbien das zweitstärkste Herkunfts127.023
Traditionen in
land. An Nummer drei folgte Eritrea. Bei einer
2013
Gefahr sehen, die
Betrachtung des Fünf-Jahres-Zeitraums von
77.651
2012
die kulturellen
2010 bis 2014 zeigt sich hinsichtlich der Her53.347
2011
Differenzen
kunftsstruktur, dass aus Syrien mit 14,2 Prozent
zwischen dem
die meisten Asylbewerber stammten, gefolgt von
48.589
2010
muslimisch
Serbien mit 10,7 Prozent, Afghanistan mit 8,8
33.033
2009
geprägten Raum
Prozent und dem Irak mit sechs Prozent. Seit
und Mitteleuropa
der Einstufung des gesamten Balkans als sicheres
28.018
2008
für unüberbrückHerkunftsgebiet hat sich das Herkunftsschema
0
100000
200000
300000
400000
500000
bar halten.
deutlich auf den Nahen und Mittleren Osten
verengt.
EinwanderungHauptherkunftsland
über Asyl
Hauptherkunftsland
war
Syrien
mit
37
Prozent
den Hauptherkunftsländern
lassen sich
war Syrien mit 37 Prozent der Registrierungen. Danach folgtenUnter
Afghanistan
(13
der Registrierungen.
Danach
folgtenMazedonien,
Afghanistan Kosovo,
deutliche
Unterschiede in der Geschlechtsstruktur
Prozent) und der Irak (elf Prozent).
Die Balkanstaaten
Albanien,
BosnienWährend vorherigeHerzegowina
Migrationswellen
geprägtrangieren
(13 Prozent)
der Irak
(elf Prozent).
der Asylbewerber
Während der Anteil
und Serbien
auf denund
folgenden
Plätzen.
Die Zahl Die
der Antragsteller
ist mit erkennen.
der
Balkanstaatendeutlich
Albanien,
Mazedonien, Kosovo,
waren von Gastarbeiteranwerbung,
vonHälfte
Frauen
Ausweitung derFachkräftesicheren Herkunftsstaaten
zurückgegangen.
Mehr als die
derund Mädchen im Jahr 2014 bei
migration und Rücksiedlung
erhielt
Ein-25 Jahren
Bosnien-Herzegowina
und Serbien
rangieren
auf der
mazedonischen
Asylsuchenden
wardie
unter
und etwa drei Viertel
männlich.
Der Anteil
männlichen (49,1 Prozent), serbischen (48,6
überwiegt
in allenden
Altersgruppen
unterDie
65 Zahl
Jahren,
bei denProzent),
vergleichsweise
sehr
folgenden Plätzen.
der lediglich
Antragsteller
wanderung über dasAntragsteller
Asylgesetz seit
den 1990er
bosnischen
(46,6 Prozent), albanischen
wenigen
Über65jährigen
ist
der
Anteil
von
Frauen
größer.
Hinsichtlich
der
Hauptherkunftsländer
des
Jahren eine besondere Relevanz. Von 1990 bis
ist mit der Ausweitung der sicheren Herkunfts(43,6 Prozent), kosovarischen (43,4 Prozent)
JahresMillionen
2015 bewegt
sich der Frauenanteil
bei den
Asylanträgen Mehr
zwischen
7,3 Prozent
Ende 2014 haben 2,757
Menschen
staaten deutlich
zurückgegangen.
als die
sowie (Pakistan)
irakischen und
(42,3 Prozent) Asylbewerbern
49,0
Prozent
(Serbien).
Hälfte der Asylsuchenden war unter 25 Jahren
in Deutschland um Asyl nachgesucht. Bis zum
über dem Durchschnitt lag, betrug er bei eri73,1stammte
Prozentder
dergrößte
Asylbewerber
gehören
demViertel
Islam an.
An zweiter
Christen
mit 13,8 nur 20,3 Prozent.
Ende der 1990er Jahre
Teil
und
etwa drei
männlich.
Der Stelle
Anteil folgen
der die
treischen
Antragstellern
Prozent. Jesiden liegen mit 4,2 Prozent an dritter Stelle. Bei etwa acht Prozent der Asylbewerber des
vergangenen Jahres konnte keine Religion zugeordnet werden.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
54
Religiöses Bekenntnis der Asylantragsteller 2015 – in Prozent
Viertel aller Erstantragsteller (120.882; 27,4 Prozent). Der Anteil der zehn Haupt
der Gesamtzahl der Asylerstanträge
erreichte 2006 den bislang niedrigsten Wert
INSPIRATIONEN/INFORMATIONEN
weil im vergangenen Jahr längst nicht alle Asylsuchenden einen Antrag stellen konnten.
2014
war
und stieg
im weiteren
Verlauf auf einen zwischenzeitlichen Höchstwert von 72,8
Serbien das zweitstärkste Herkunftsland. An Nummer drei folgte Eritrea. Bei einer2012.
Betrachtung
des mit einem Anteil von 82,3 Prozent ein neuer Rekordwert erre
2015 wurde
Fünf-Jahres-Zeitraums von 2010 bis 2014 zeigt sich hinsichtlich der Herkunftsstruktur, dass aus Syrien
mit 14,2 Prozent die meisten Asylbewerber stammten, gefolgt von Serbien mit 10,7
Prozent,
Hauptherkunftsstaaten
2015 – nach Asylerstanträgen in Prozent
Afghanistan mit 8,8 Prozent und dem Irak mit sechs Prozent. Seit der Einstufung des gesamten
Kongo (ehemals
Zaire)
Unbegleitete
minderjährige
Hauptherkunftsstaaten
2015
Balkans als
sicheres Herkunftsgebiet
hat sich das Herkunftsschema
deutlich
auf den
Nahen und
mindestens
einmal
MittlerenAsylantragsteller
Osten verengt.
Sonstige 17,5
dazu – Nigeria
Unter den Hauptherkunftsländern lassen sich deutliche Unterschiede
in derwar
Geschlechtsstruktur der
Jahrenim2004
Im Jahrerkennen.
2015 haben
14.439 unbegleitete
MinderAsylbewerber
Während
der Anteil von
Frauen in
undden
Mädchen
Jahr 2014 bei
Syrien 35,9
jährige (49,1
in Deutschland
einen Asylerstantrag
2009 durchgängig
mazedonischen
Prozent), serbischen
(48,6 Prozent),bis
bosnischen
(46,6 Prozent), albanischen
Pakistan 1,9
(43,6 Prozent),
(43,4
Prozent)
sowie
irakischen
(42,3 nach
Prozent)
Asylbewerbern
über2,1
gestellt.kosovarischen
Darunter waren
4.143
Personen
(28,7
vertreten,
2010
Mazedonien
dem Durchschnitt
lag,
betrug
er
bei
eritreischen
Antragstellern
nur
20,3
Prozent.
war Somalia auch
Prozent) unter 16 Jahren und 10.296 Personen
Eritrea 2,5
2013 und 2014 in
(71,3 Prozent) im Alter von 16 bis unter 18
ungeklärt 2,7
(ZÜ)
der Liste zu finden,
Jahren. 2014 waren es noch 4.399 unbegleitete
Serbien 3,8
Unbegleitete
minderjährige
Asylantragsteller
Eritrea kontinuierlich
minderjährige
Flüchtlinge
insgesamt.
seit 2013. Unter den
Die meisten unbegleiteten Minderjährigen
Im Jahr 2015 haben 14.439 unbegleitete Minderjährige in Deutschland einen Asylerstantrag gestellt.
stellten ihren Asylerstantrag im Freistaat Bayern,
asiatischen Staaten sind
Irak 6,7
Darunter waren 4.143 Personen (28,7 Prozent) unter 16 Jahren und 10.296 Personen (71,3 Prozent)
gefolgt von Nordrhein-Westfalen und Hessen.
seit Mitte der 1980er
im Alter von 16 bis unter 18 Jahren. 2014 waren es noch 4.399 unbegleitete minderjährige
Albanien 12,2
Mit 34,4 Prozent kamen ein Drittel der
Jahre Afghanistan, der
Afghanistan 7,1
Flüchtlinge insgesamt.
Kosovo 7,6
unbegleiteten
Minderjährigen
aus Afghanistan,
Iran und ab 1995
Die meisten
unbegleiteten
Minderjährigen
stellten ihren Asylerstantrag
imauch
Freistaat Bayern, gefolgt
gefolgt von Syrien und
(31,1Hessen.
Prozent) sowie Eritrea
der Irak fast ständig
von Nordrhein-Westfalen
unter den Hauptherkunftsländern.
Seit
1998
demkamen
Irak (jeweils
acht der
Prozent).
Mehr als Minderjährigen
Klageverfahren
Mit 34,4 und
Prozent
ein Drittel
unbegleiteten
aus Afghanistan,
von
(ZÜ) gefolgt
Syrien ebenfalls
dazu.
war von
vier Prozent)
Fünftel der
Jugendlichen
Prozent)
Syrien (31,1
sowie
Eritrea und(81,5
dem Irak
(jeweils zählt
acht Prozent).
Mehr als
vierVietnam
Fünftel der
Klageverfahren
stammten
diesen stammten
vier Herkunftsländern.
1998 bis 2009 in der Liste.
Es zeigen sich gravierende Unterschiede bei der
Jugendlichen
(81,5aus
Prozent)
aus diesen vier Herkunftsländern.
zeigen sich
Unterschiede
bei der Beklagung
der Entscheidungen ü
82,3 Es
Prozent
der gravierende
ErstBeklagung
der Entscheidungen
über Asylanträge.
nach
Herkunftsland
werden
zwischen
2,8
Prozent
(Syrien)
und
46,1ProProzent (Kos
Unbegleitete
minderjährige
Flüchtlinge
nach
Hauptherkunftsstaaten
im
Jahr
2015
–
in
Prozent
Je nach Herkunftsland werden zwischen 2,8
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge nach Hauptherkunfts- antragsteller des Jahres 2015
angefochten.
Insgesamt
wurden
16,1
Prozent
der
Entscheidungen
auf
staaten im Jahr 2015 – in Prozent
stammen aus den zehn
zent (Syrien) und 46,1 Prozent (Kosovo) juristisch dem Rech
2014
waren
es
noch
40,2
Prozent. DerInsgesamt
Anteil der
beklagten
Entscheidungen
über
Hauptherkunftsländern. Vier
angefochten.
wurden
16,1 Prozent
der
Sonstige 13,5
davon sind asiatische Staaten,
Entscheidungen auf dem Rechtsweg überprüft. 2014
weitere1 vier europäisch. Mit
waren es noch 40,2 Prozent. Der Anteil der beklagten
Anm.: Zu den neun Hauptherkunftsländern kommen 2,7 Prozent ungeklärte Fälle.
Eritrea ist ein afrikanischer
Entscheidungen über Erstanträge ist mit 15,4 ProSomalia 4,5
Afghanistan
Staat in der Liste. Die
zent um sieben Prozentpunkte geringer als der Anteil
34,4
Zusammensetzung
der
zehn
der beklagten Entscheidungen über Folgeanträge.
Eritrea 8,1
zugangsstärksten HerkunftsWerden nur die abgelehnten Erst- und Folgeanträge
länder hat sich im Vergleich
betrachtet, ergibt sich eine Anfechtungsquote von 31,9
zum Jahr 2014 nicht wesentProzent. 2015 wurden seitens der Verwaltungsgerichte,
Irak 8,4
lich verändert. Die HerOberverwaltungsgerichte bzw. Verwaltungsgerichtskunftsländer Bosnien und
höfe sowie dem Bundesverwaltungsgericht insgesamt
66.648 Entscheidungen getroffen. Diese Gesamtzahl
Herzegowina sowie Somalia
setzt sich wie folgt zusammen:
sind im Gegensatz zum Vorjahr
nicht
mehr
enthalten,
• 62.592 erstinstanzliche Urteile (95,2 Prozent)
Syrien 31,1
stattdessen gehört Pakistan
• 2.859 Entscheidungen über Anträge auf
Zulassung der Berufung (4,4 Prozent)
wieder dazu. Ansonsten sind
(ZÜ)
• 227 Urteile in Berufungsverfahren (0,3 Prozent),
Die zehn zugangsstärksten
alle Top-Ten-Länder des Jahres 2014 auch in den
Die zehnHerkunftsländer
zugangsstärksten Herkunftsländer
(Erstanträge) Top-Ten
von 2006
2015
(Erstanträge)
desbis
vergangenen
Jahres vertreten, wenn• 32 Entscheidungen in Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren (0,05 Prozent),
von 2006 bis 2015
gleich in unterschiedlicher Reihung.
Veränderungen in der Zusammensetzung der Herkunftsländer
sind
Ausdruck
politischer,
• neun Urteile in Revisionsverfahren (0,01 Prozent).
Wie
bereits
im Vorjahr
belegte Syrien auch
wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Verhältnisse. Während zwischen 1986 und 1994 europäische
2015 den ersten Rang, gefolgt von Albanien
Veränderungen in der Zusammensetzung der
Bei allen Gerichtsentscheidungen überwogen im
Staaten wie vor allem Polen, Ungarn, Rumänien und Bulgarien zu den Hauptherkunftsländern zählten,
Herkunftsländer sind Ausdruck politischer,
(Vorjahr Rang 5) und dem Kosovo (Vorjahr
Jahr 2015 die Entscheidungen über Asylerstanträge.
spielen sie seitdem eine untergeordnete Rolle. Die damaligen Hauptherkunftsländer sind inzwischen
wirtschaftlicher
und
gesellschaftlicher
VerRang
6).
Den
höchsten
Zuwachs
verzeichnete
Die Anteile lagen zwischen 83 und 89 Prozent.
Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Im Anschluss dominierten einige Westbalkanstaaten, wie
hältnisse. Während zwischen 1986 und 1994
Albanien (+584,1 Prozent), danach der Irak
Ende 2015 waren insgesamt 58.974 Asyleuropäische Staaten wie vor allem Polen, Ungarn,
(+457,2 Prozent), Kosovo (+383,9 Prozent)
gerichtsverfahren bei den zuständigen Gerichten
Rumänien und Bulgarien zu den Hauptherund Syrien (+303,4 Prozent). Aus den sechs
anhängig. Darunter fielen beklagte Entscheidungen
kunftsländern zählten, spielen sie seitdem eine
Balkanländern Serbien, Mazedonien, Bosnien
zu Erst- und Folgeantragsverfahren, Widerrufsprüfuntergeordnete Rolle. Die damaligen Hauptherund Herzegowina, Kosovo, Montenegro sowie
verfahren sowie zu Wiederaufgreifensanträgen.
kunftsländer sind inzwischen Mitgliedstaaten der
Albanien kam 2015 mehr als ein Viertel aller
Europäischen Union. Im Anschluss dominierten
Erstantragsteller (120.882; 27,4 Prozent). Der
Entscheidungen und Entscheidungseinige Westbalkanstaaten, wie Albanien, Kosovo,
Anteil der zehn Hauptherkunftsländer an der
quoten der letzten zehn Jahre
Serbien und Mazedonien. Die Türkei gehörte
Gesamtzahl der Asylerstanträge erreichte 2006
durchgängig von 1986 bis 2011 zu den Hauptden bislang niedrigsten Wert von 55,3 ProDas Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
(BAMF) hat in den vergangenen zehn Jahren
herkunftsländern, die Russische Föderation von
zent und stieg im weiteren Verlauf auf einen
zwischenzeitlichen Höchstwert von 72,8 Pro2000 bis 2013.
über Asylanträge von circa 755.000 Personen entUnter den afrikanischen Staaten zählten in
zent im Jahr 2012. 2015 wurde mit einem
schieden, wovon rund 266.000 Personen Schutz als
den Jahren 1986 bis 1996 Algerien, Ghana,
Anteil von 82,3 Prozent ein neuer Rekordwert
Asylberechtigter, als Flüchtling, als subsidiär SchutzNigeria, Togo und die Demokratische Republik
erreicht.
bedürftiger oder in Form eines Abschiebungsverbotes
Statistik
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
55
Statistik
gewährt wurde. Im Betrachtungszeitraum ist bis
zum Jahr 2008 zunächst ein Rückgang der Entscheidungszahlen – in Abhängigkeit zur Rückläufigkeit der Zugangszahlen – zu verzeichnen. Seither
zeigt sich wieder ein Anstieg. Nach etwa 129.000
Personen im Jahr 2014 wurde im Jahr 2015 über
circa 283.000 Personen entschieden.
Die Gesamtschutzquote berechnet sich aus
der Anzahl der Asylanerkennungen, der Flüchtlingsanerkennungen, der Gewährungen von
subsidiärem Schutz und der Feststellungen eines
Abschiebungsverbotes bezogen auf die Gesamtzahl der Entscheidungen im betreffenden Zeitraum. Die Entwicklung der Schutzquote wird
allgemein von verschiedenen Faktoren beeinflusst:
1. Sie ist zu einem wesentlichen Teil abhängig von
den Fällen, die vom Bundesamt im Betrachtungszeitraum entschieden werden konnten.
2. Bei einer bestehenden bzw. ergangenen Aussetzung von Entscheidungen handelt es sich
nicht um ein Steuerungsinstrument des Bundesamtes, sondern um eine Reaktion auf die Situation in den betreffenden Herkunftsländern.
3. Darüber hinaus nehmen auch gesellschaftspolitische Änderungen im Herkunftsland der
Antragsteller Einfluss auf die Schutzquote, so
z. B. die sich langsam bessernde medizinische
Versorgung eines Landes oder der Zusammenbruch einer staatlichen Herrschaft.
4. Die Auswertung neuer Erkenntnisse von anderen
Institutionen (Auswärtiges Amt, UNHCR, usw.)
kann ebenfalls zur Änderung der Spruchpraxis
und damit der Schutzquote führen.
Die Gesamtschutzquote lag 2015 bei 49,8 Prozent. Dies ist der höchste Wert, der überhaupt je
erreicht worden ist. Die Ausweitung der sicheren
Herkunftsländer und die daraus folgende, deutlich
verringerte Asylzuwanderung vom Balkan wird
vermutlich in diesem Jahr zu einer noch höheren
Schutzquote beigetragen haben. Die höchste
Schutzquote hatten 2015 Flüchtlinge aus Syrien
(96 Prozent). Dahinter folgten Eritrea (92,1 Prozent) und der Irak (88,6 Prozent).
Eine zunehmend heterogene
Gesellschaft
Zu den in Deutschland lebenden Menschen,
die entweder ein Asylverfahren betreiben oder
als Asylberechtigte anerkannt wurden, lassen
sich mit Hilfe des Ausländerzentralregisters
detaillierte Angaben machen. Zum Stichtag Ende
2015 waren dies 447.000 Personen. Ein Viertel
von ihnen kam aus Syrien, ein Zehntel aus
Afghanistan und etwa ein Zwölftel aus Albanien,
5,9 Prozent aus dem Irak und 4,4 Prozent aus
Eritrea. Die restlichen 50 Prozent verteilen sich
auf alle anderen Staaten. Allerdings ist das Asylgesetz nur eine Quelle der Zuwanderung nach
Deutschland.
Insgesamt kamen im vergangenen Jahr fast
zwei Millionen Menschen nach Deutschland.
Hier sind neben der Asylmigration auch die
EU-Binnenmigration, der Familiennachzug,
1.400.000
die Fachkräftezuwanderung und andere Quellen
enthalten. Im gleichen
Zeitraum haben etwa
1.200.000
600.000 Menschen die Bundesrepublik verlassen, womit der 1.000.000
Migrationssaldo bei 1,25
Millionen Menschen liegt. Seit dem Jahr 2003
800.000
überwiegen die Zuzüge
die Fortzüge. Allein
in den vergangenen zehn Jahren hat sich ein
Migrationssaldo von 3,8 Millionen Menschen
ergeben, die mehr in die Bundesrepublik eingewandert als ausgewandert sind.
Zu- und Fortzüge von Ausländern in den
vergangenen zehn Jahren
Jahr
Zuzüge
Fortzüge
2006
361.562
257.659
+ 103.903
2007
393.885
267.553
+ 126.332
2008
394.596
311.536
+ 83.060
2009
396.983
294.383
+ 102.600
2010
475.840
295.042
+ 180.798
2011
622.506
302.171
+ 320.335
2012
738.735
317.594
+ 421.141
2013
884.493
366.833
+ 517.660
2014
1.149.045
472.315
+ 676.630
2015
1.810.904
568.639
+ 1.242.265
1.400.000
1.200.000
1.000.000
0
800.000
1.242.265
Syrien stellte 2015 die meisten Einwanderer.
Neben den klassischen Herkunftsstaaten der
Asyleinwanderung finden sich in dieser Liste
mit Rumänien, Polen, Bulgarien, Kroatien
und
676.730
600.000
Entwicklung der Wanderungssalden zwischen 2006 und 2015
400.000
200.000
Wanderungssaldo
517.660
421.141
320.335
1.242.265
126.332
180.798
102.600
83.060
103.903
2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015
676.730
600.000Syrien stellte 2015 die meisten Einwanderer. Neben den klassischen Herkunftsstaate
517.660Polen, Bulgarien, Kroatie
Asyleinwanderung finden sich in dieser Liste mit Rumänien,
421.141
400.000auch einige östliche EU-Mitgliedsstaaten. Bei der
Abwanderung dominieren rumänisc
320.335
polnische Staatsangehörige vor Albanern, Bulgaren, Serben, Ungarn, Kosovaren und I
200.000
126.332
180.798
den meisten Hauptherkunftsländern
konnte ein Anstieg des positiven Wanderungssa
102.600
83.060
103.903
Vergleich
zu
2014
festgestellt
werden.
0
2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015
Einwanderung nach Deutschland 2015 nach Herkunftsstaaten – in Prozent
Syrien
stellte 2015Einwanderung
die meisten Einwanderer.
Neben
den
klassischen
Herkunftsstaaten
nach Deutschland
2015
nach
Herkunftsstaaten
– in Prozent der
Quoten der einzelnen Entscheidungsarten im Jahr 2015
– in Prozent
Asyleinwanderung finden sich in dieser Liste mit Rumänien, Polen, Bulgarien, Kroatien und Unga
formelle
auch einige östliche EU-Mitgliedsstaaten. Bei der Abwanderung dominieren rumänische und
Entscheidungen
polnische Staatsangehörige vor Albanern, Bulgaren, Serben, Ungarn,
und Italienern. B
Syrien Kosovaren
18,4
17,8
den meisten Hauptherkunftsländern konnte ein Anstieg des positiven Wanderungssaldos im
Vergleich zu 2014 festgestellt werden.
Sonstige 37,9
Rechtsstellung
Einwanderung
nach Deutschland 2015 nach Herkunftsstaaten – in Prozent
als
Flüchtling
Rumänien 9,7
48,5
Ablehnungen
32,4
Abschiebeverbot
0,7
(ZÜ)
56
Eine zunehmend
heterogene Gesellschaft
Syrien 18,4
Sonstige 37,9
subsidiärer
Schutz 0,6
Italien 2,6
Afghanistan5,4
Ungarn 2,7
Kroatien 2,8
Polen 8,2
Irak 4,6 9,7
Rumänien
Albanien 3,7
Bulgarien4
Unter den Unionsbürgern dominiert eindeutig der
ost-,
Polen
8,2 mitteleuropäische Raum. Die
KOMMUNE
• AUSGABEWanderungssaldo
04 / DEZEMBER 2016
konnte mit allenUNTERNEHMERIN
EU-Mitgliedsstaaten
einen positiven
erzielen.
Italien
2,6
Afghanistan5,4
Bei der qualifizierten Einwanderung dominieren
die USA, Indien, Russland, Bosnien-H
Statistik
Ausländeranteil deutschlandweit liegt damit derzeit bei
etwa zwölf Prozent. Die Verteilung über die
INSPIRATIONEN/INFORMATIONEN
Bundesländer ist recht unterschiedlich. In Nordrhein-Westfalen hat etwa jeder Vierte keinen
deutschen Pass. In Bayern und Baden-Württemberg ist es jeder Sechste. In den Neuen
Bundesländern liegt der Ausländeranteil lediglich bei einem Prozent.
2016
2015
2014
2013
2012
2011
2010
2009
2008
2007
2006
2005
2004
2003
2002
2001
2000
1999
1998
1997
In Deutschland lebende Ausländer zwischen 1997 und 2016
In Deutschland lebende Ausländer zwischen 1997 und 2016
Ungarn auch einige östliche EU-Mitgliedsstaaten. Bei der Abwanderung dominieren
9,45
9.500.000
rumänische und polnische Staatsangehörige
9,11
vor Albanern, Bulgaren, Serben, Ungarn,
9.000.000
Kosovaren und Italienern. Bei den meisten
Hauptherkunftsländern konnte ein Anstieg
8.500.000
8,15
des positiven Wanderungssaldos im Vergleich
zu 2014 festgestellt werden.
8.000.000
7,63
Unter den Unionsbürgern dominiert ein7.500.000 7,37 7,32 7,34 7,3 7,32 7,34 7,33
deutig der ost-, mitteleuropäische Raum. Die
7,21
6,93
Bundesrepublik konnte mit allen EU-Mitglieds7.000.000
6,72 6,76 6,75 6,74 6,73
6,75
staaten einen positiven Wanderungssaldo erzielen.
6,69
Bei der qualifizierten Einwanderung
6.500.000
dominieren die USA, Indien, Russland, BosnienHerzegowina, Serbien und China. Beim
6.000.000
Familiennachzug sind es Syrien, die Türkei, die
5.500.000
Westbalkanstaaten, Russland, Indien und die USA.
Fast alle Einwanderungsquellen konnten
5.000.000
in den vergangenen Monaten teilweise recht
deutliche Zugewinne erzielen. Damit hat sich
auch die ausländische Bevölkerung in Deutschland signifikant erhöht. Von 6,7 Millionen Bei
Dieden
größten
Ausländergruppen
in Deutschland
– 2015
häufigsten
Staatsangehörigkeiten
von Ausländern
in Deutschland dominiert deutlich die
im Jahr 2009 ist die Zahl der Ausländer bis Türkei mit 16 Prozent der hier lebenden Ausländer. Dahinter folgen Polen mit acht Prozent, Italien
1.600.000
1.502.298
zum März 2016 auf 9,5 Millionen gestiegen. mit 6,4 Prozent, Syrien
mit 5,2 Prozent undImRumänien
mit fünf Prozent.
43,2 Prozentgeboren
der 9,45
Ausland geboren
In Deutschland
1.400.000
Millionen
Ausländer
besaßen eine Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der Europäischen Union.
Dies entspricht einem Anstieg von etwa 30
Prozent in nur sieben Jahren. Der Ausländer1.200.000
größten Ausländergruppen in Deutschland – 2015
anteil deutschlandweit liegt damit derzeit bei Die1.000.000
etwa zwölf Prozent. Die Verteilung über die
751.600
800.000
Bundesländer ist recht unterschiedlich. In
600.236
600.000
Nordrhein-Westfalen hat etwa jeder Vierte
492.014
473.837
keinen deutschen Pass. In Bayern und Baden400.000
Württemberg ist es jeder Sechste. In den Neuen
200.000
Bundesländern liegt der Ausländeranteil ledig0
lich bei einem Prozent.
Türkei
Polen
Italien
Syrien
Rumänien
Bei den häufigsten Staatsangehörigkeiten
von Ausländern in Deutschland dominiert
deutlich die Türkei mit 16 Prozent der hier
fünf Prozent. 43,2 Prozent der 9,45 Millionen
lebenden Ausländer. Dahinter folgen Polen
Ausländer besaßen eine Staatsangehörigkeit
www.bamf.de
(angemerkt)
mit acht Prozent, Italien mit 6,4 Prozent,
www.destatis.de
eines Mitgliedstaates der Europäischen Union.
i
nfos
Wie hoch der Nutzen des Einzelnen für unsere Gesellschaft ist, das ist letztlich eine philosophische
Syrien mit 5,2 Prozent und Rumänien mit Frage,
Vonder
Falk
Schäfer wedernmateriell noch ideell eindeutig beantwortet lässt.
die sich angesichts
Datenlage
Einerseits wird man in einigen Jahren an Indizien ablesen können, ob die Migrationswelle der
vergangenen Monate und Jahre diesem Land eher genutzt oder geschadet hat. Andererseits werden
auch diese Interpretationen auf subjektiven Wertungen fußen. Wer mag sich schließlich heute
anmaßen, die Anwerbung von Gastarbeitern in den 1950er und 1960er Jahren als Fehler zu
bezeichnen und welchen Wert hätte eine solch rückwärtsgewandte und hypothetische
Geschichtsschreibung? In der Rückschau wird allerdings klar, dass die Ergebnisse noch deutlich besser
hätten sein können, wenn Bildung und Integration aktiv gefördert und gefordert worden wären. Und
Wie hoch der Nutzen des Einzelnen für unsere Gesellschaft ist, das ist Mischung in den Dörfern und Kieauch heute gilt, dass jeder frühzeitig investierte Euro sich später amortisieren wird, dass eine gesunde
letztlich eine philosophische Frage, die sich angesichts
derethnische
Datenlage
zen vor
Ort Dörfern
die besten
soziale und
Mischung
in den
undAussichten
Kiezen vor Ort die besten Aussichten auf Erfolg
weder materiell noch ideell eindeutig beantwortet
lässt. Einerseits wird auf Erfolg bietet.
bietet.
man in einigen Jahren an Indizien ablesen können,
Migrationsist, dassinDeutschland
Sicherob
ist,die
dass
DeutschlandSicher
wirtschaftlich
der Lage ist, wirtdie aktuellen Aufwände zu stemmen.
Schließlich
Steuerschätzung
fürder
dieses
vonaktuelweiter und noch stärker sprudelnden
welle der vergangenen Monate und Jahre diesem
Land geht
eher die
genutzt
schaftlich in
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ist, die
Einnahmen
aus. Damit
auch
in bewegten
Zeiten die
Schwarze
Null
werden.
der
oder geschadet hat. Andererseits werden auch diese
Interpretationen
aufwirdlen
Aufwände
zu stemmen.
Schließlich
geht
dieverteidigt
Steuerschätzung
fürBei
dieses
Beantwortung
der
Frage,
ob
wir
das
schaffen
oder
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nicht,
sind
allerdings
nicht
nur
pekuniäre
subjektiven Wertungen fußen. Wer mag sich schließlich heute anmaßen, Jahr von weiter und noch stärker sprudelnden Einnahmen aus. Damit wird
Aspekte
Bedeutung,
Integrationsfähigkeit
und die grundsätzliche
die Anwerbung von Gastarbeitern in den 1950er
und von
1960er
Jahren dieauch
in bewegten Zeitender
dieAnkommenden
Schwarze Null verteidigt
werden. Bei der BeOffenheit der Mehrheitsbevölkerung spielen eine mindestens genauso gewichtige Rolle. In beiden
als Fehler zu bezeichnen und welchen Wert hätte eine solch rückwärts- antwortung der Frage, ob wir das schaffen oder eher nicht, sind allerdings
Richtungen gibt es offenkundig Belastungsgrenzen.
i
gewandte und hypothetische Geschichtsschreibung? In der Rückschau
wird allerdings klar, dass die Ergebnisse noch deutlich
Info: besser hätten sein
können, wenn Bildung und Integration aktiv gefördert
und gefordert worwww.bamf.de
www.destatis.de
den wären. Und auch heute gilt, dass jeder frühzeitig
investierte Euro
sich später amortisieren wird, dass eine gesunde soziale und ethnische
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
nicht nur pekuniäre Aspekte von Bedeutung, die Integrationsfähigkeit der
Ankommenden und die grundsätzliche Offenheit der Mehrheitsbevölkerung spielen eine mindestens genauso gewichtige Rolle. In beiden Richtungen gibt es offenkundig Belastungsgrenzen.
Falk Schäfer
57
Blick über den Gartenzaun
Die politischen und Verwaltungsstrukturen in Kanada
Britische Verfassungstradition
in einem föderalen Gewand
Aus unserer Serie „Blick über den Gartenzaun“
K
anada ist vielleicht das europäischste Land außerhalb Europas. Es wurde geprägt von europäischen Einwanderern vornehmlich von
den britischen Inseln und aus Frankreich, und es teilt bis heute den europäischen Wertekonsens einer Freiheit, die sich in Verantwortung
bindet. Nicht zuletzt durch die Debatten zum europäisch-kanadischen Freihandelsabkommen CETA sind die vielfältigen kulturellen
Analogien zwischen Kanada und der EU wieder ins Blickfeld gerückt. Kanada ist uns deutlich näher als dessen südlicher Nachbar und man
kann davon ausgehen, dass CETA weitaus weniger Widerstand ausgelöst hätte, wenn nicht gleichzeitig ein ähnliches Abkommen mit den
USA in Rede gestanden hätte. Kanada ist das zweitgrößte Land der Erde, findet sich unter den zehn stärksten Wirtschaftsmächten der Welt,
ist Mitglied der G8 und gibt seit Jahrzehnten ein Beispiel, wie sich äußerst unterschiedliche Kulturen und Ethnien sozial verantwortlich und
wirtschaftlich prosperierend in einem Gemeinwesen vereinen lassen. Lesen Sie im Folgenden einen Beitrag aus unserer Rubrik „Blick über den
Gartenzaun“. Ein Überblick über die Verwaltungsstrukturen und die kommunale Selbstverwaltung in Kanada.
Nordamerika und damit auch Kanada wurde
vor etwa 12.000 Jahren von Asien her besiedelt.
Spätestens um das Jahr 1.000 n. Chr. erreichten
die ersten europäischen Siedler das heutige Kanada.
Nachgewiesen sind einige Wikingersiedlungen an
der Küste Neufundlands, die allerdings nur wenige
Jahre bestanden. Ein prägender europäischer Einfluss zeigte sich erst in der kolumbischen Phase. In
diesem Sinne gilt Giovanni Caboto, ein italienischer
Seefahrer in englischen Diensten, als der „Entdecker“ Nordamerikas. Im 16. Jahrhundert entwickelten sich erste Tauschhandelskontakte mit den
indigenen Stämmen, im frühen 17. Jahrhundert
entstanden die ersten Kolonien. Französische
Siedler gründeten die Stadt Quebec, Engländer
ließen sich in Neufundland nieder. Im weiteren
Verlauf entspann sich eine starke Konkurrenz
zwischen Siedlern aus beiden Nationen. England
hatte infolge der Glorreichen Revolution von 1688
den Feudalismus deutlich abgeschwächt. Eigentum wurde individualisiert, Freizügigkeit galt für
alle, die keine Sklaven waren, und Arbeit wurde
zunehmend zur Ware. Dies galt in gleicher Weise
für die nordamerikanischen Kolonien.
Alte Wikingersiedlung im neufundländischen L’Anse aux Meadows
58
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
INSPIRATIONEN/INFORMATIONEN
Blick über den Gartenzaun
In den französischsprachigen Gebieten
wurden die feudalen Strukturen erst Mitte des
19. Jahrhunderts aufgehoben. Daraus entsprang
eine starke Abhängigkeit von wenigen Familien,
die zudem ihren Mittelpunkt in Frankreich sahen.
Franzosen, Engländer und die indigenen
Völker kämpften im 17. Jahrhundert um Handelsprivilegien und Jagdrechte. Dabei kam es immer
wieder zu kriegerischen Auseinandersetzungen.
Häufig setzten sich auch die Konfrontationen
unter den europäischen Großmächten in den überseeischen Kolonien fort. 1759 erlitten die Franzosen
eine entscheidende Niederlage in der Schlacht auf
der Abraham-Ebene. Die Briten eroberten Quebec
und im Pariser Frieden von 1763 trat Frankreich
alle kanadischen Besitzungen an Großbritannien
ab. Frankreich seinerseits unterstützte den Kampf
der US-Amerikaner gegen Großbritannien im
Unabhängigkeitskrieg, doch als US-Truppen
nach Montreal vordrangen, wurden sie von
franko-kanadischen Siedlern zurückgeschlagen.
Die französisch-katholische Mehrheit Kanadas
geriet in die Minderheit, als nach dem Ende des
US-amerikanischen Unabhängigkeitskrieges mehr
als 50.000 Loyalisten angesiedelt wurden.
Da sie überwiegend an den Großen Seen
lebten, bildete sich ein zweiter Siedlungskern,
der sich in Konfession, Wirtschaftsweise, Kultur
und Sprache unterschied. Das Verfassungsgesetz
von 1791 richtete zwei selbstständige Provinzen
ein – das englisch geprägte Oberkanada und das
französische Niederkanada. Die Grenze zwischen
beiden Gebieten bildete der Ottawa-Fluss. Die
Mehrheit der irokesischen Stämme, die auf der
Seite der Briten gekämpft hatten, verblieb in
Kanada oder zog dorthin. Ihre Gebiete bildeten
zunächst einen weiteren Siedlungsraum, doch
durch die anhaltende Zuwanderung aus Europa
wurden die Irokesen zunehmend marginalisiert.
Krankheiten, allen voran die Pocken, eilten
den Europäern voraus westwärts und trafen
Stämme, die noch gar nicht mit den Einwanderern in Berührung gekommen waren.
Insgesamt fiel mehr als die Hälfte der indigenen
Bevölkerung eingeschleppten Krankheiten
zum Opfer. Handels- und Entdeckungsfahrten
führten ab 1770 erste Spanier und Briten an die
kanadische Pazifikküste. Ab den 1830er Jahren
übernahm die Hudson-Bay-Handelsgesellschaft
mit Einverständnis der britischen Krone die
kolonialstaatlichen Aufgaben an der Westküste.
Die Ausformung des Bundesstaates
Im Britisch-Amerikanischen Krieg von 1812
bis 1814/15 scheiterte ein zweiter Versuch der
USA, Kanada zu erobern. Der Widerstand
gegen die Invasoren spielte eine wichtige Rolle
bei der Entstehung eines gemeinsamen Nationalgefühls. 1818 legten die Kriegsgegner ihre
Konflikte im Londoner Vertrag bei. Nachdem
sich sezessionistische Tendenzen auch in Kanada
Bahn brachen, schlug Generalgouverneur Lord
Durham der Krone eine verstärkte Selbstverwaltung und eine parlamentarische Regierungsform vor. Gleichzeitig sollte das Englische zur
alleinigen Amtssprache erhoben werden. Diese
Vorschläge wurden mit dem Act of Union 1840
umgesetzt. Aus der Vereinigung von Ober- und
Niederkanada entstand 1841 die gemeinsame
Provinz Kanada. Als 1849 eine neue Steuer eingeführt wurde, kam es in Montreal zu zweitägigen
Straßenkämpfen. Einen Monat später beschloss
die Regierung, die Hauptstadt zu verlegen. Zuerst
wechselten sich Toronto und Québec ab. 1857
dann entschied Königin Victoria, dass Ottawa
an der Grenze zwischen französischem und
englischem Sprachgebiet die neue Hauptstadt
werden soll.
Ab 1793 wurde die Sklaverei in Oberkanada
Schritt für Schritt abgeschafft. Mit der 1780
gegründeten Underground Railroad wurden
bis 1862 über dreißigtausend Sklaven aus den
Südstaaten der USA befreit und nach Kanada
gebracht. Zeitweise kamen pro Jahr 1.000
Sklaven. Nachdem Großbritannien und die USA
sich 1846 auf den 49. Breitengrad als Grenze
von den Großen Seen bis zum Pazifik geeinigt
hatten, schuf die britische Regierung mit British
Columbia und Vancouver Island zwei weitere
Kolonien. Beide wurden 1866 vereinigt.
Weil sich das Verhältnis zwischen Großbritannien und den USA in den 1860er Jahren
erneut bis knapp an den Ausbruch eines Krieges
verschlechtert hatte, sollte möglichen Angriffen
der USA ein starker Bundesstaat entgegengestellt
werden. Ab 1866 wurde in drei Konferenzen über
die Schaffung einer Kanadischen Konföderation
verhandelt. Zur Provinz Kanada aus den heutigen
Provinzen Ontario und Québec kamen New
Brunswick und Nova Scotia. Das Parlament
erklärte den 1. Juli zum Nationalfeiertag; zuerst
als Dominion Day und ab 1982 als Canada Day.
Die neue Bundesregierung kaufte 1869 von
der Hudson Bay Company weite Gebiete im
Norden, die zu den Nordwest-Territorien vereinigt wurden. Bis in die 1920er Jahre wurden
mit den indigenen Völkern verschiedene Verträge
geschlossen, die ihnen immer größere Gebiete
abtrotzten. Die Stämme gingen vor allem deshalb darauf ein, weil ihnen mit der Ausrottung
der Büffel ihre Lebensgrundlage genommen war.
1871 schloss sich British Columbia an der
Pazifikküste dem Bundesstaat an, 1873 trat
auch Prince Edward Island im Atlantik der
Konföderation bei. Unter teils konservativen,
teils liberalen Regierungen erlebte Kanada einen
rapiden Aufschwung. Eine wichtige Rolle spielte
der Eisenbahnbau, der die Prärieprovinzen,
die Rockies und die Westküste erschloss. Die
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
Canadian Pacific Railway vollendete 1886 die
transkontinentale Eisenbahnverbindung und
stieg zum wichtigsten Unternehmen Kanadas auf.
Das ausgehende 19. Jahrhundert war darüber
hinaus gekennzeichnet von intensiven innerstaatlichen Auseinandersetzungen. In den Provinzen
Manitoba, Ontario und New Brunswick brach
der Sprachenstreit zwischen französisch- und
englischsprachigen Siedlern wieder auf. Zudem
rebellierten die vornehmlich französischsprachigen Mestizen, weil sie zunehmend in
Konkurrenz zu einer extensiven Viehwirtschaft
treten mussten. Der Goldrausch am Klondike
lockte zeitweise über 100.000 Menschen in
die Region. In direkter Folge wurde 1898 das
Yukon-Territorium von den Nordwest-Territorien
abgetrennt. Aus weiteren Teilen der NordwestTerritorien entstanden 1905 die Provinzen
Alberta und Saskatchewan.
Gegenüber den indigenen Völkern verfolgte man eine Politik der Missionierung und
Segregation. 1918 wurde das aktive und passive
Wahlrecht für Frauen auf Provinz- und Bundesebene eingeführt. Die indigenen Stämme mussten
darauf bis zum Jahr 1960 warten. Die Öffnung
des Panamakanals ermöglichte es der Westküstenregion British Columbia erstmals, ihre Produkte
auch an der deutlich dichter besiedelten Ostküste
anzubieten. Insgesamt zeigte sich im beginnenden
20. Jahrhundert eine rasante Verstädterung insbesondere am Sankt-Lorenz-Strom und an den
Großen Seen. Mit dem Statut von Westminster
wurde Kanada 1931 ein souveräner Staat, an
dessen Spitze der König bzw. die Königin von
Großbritannien steht und der dadurch Teil des
britischen Commonwealth of Nations blieb.
Damit war nach dreihundert Jahren europäischer
Siedlungsgeschichte die Unabhängigkeit der
kanadischen Provinzen besiegelt.
Das moderne Kanada
Obwohl die kanadische Politik auf eine völlige
Unabhängigkeit abzielte, wurde das Mutterland
Großbritannien sowohl im Burenkrieg als auch
im Ersten Weltkrieg unterstützt. 330.000 von
rund acht Millionen Kanadiern standen unter
Waffen, über 60.000 starben.
In der Zwischenkriegszeit wurde das Land von
der Weltwirtschaftskrise hart getroffen. Sie barg
nicht nur soziale und politische, sondern auch
sezessionistische Sprengkraft. Die Provinzen
British Columbia und Quebec standen kurz vor
einer Abspaltung. Letztlich wurde die Krise durch
eine enge wirtschaftliche Bindung an die USA und
durch Währungsabwertungen bewältigt. Die USA
lösten in der Folge Großbritannien als engsten
Handelspartner ab. Ähnlich wie US-Präsident
Franklin D. Roosevelt veröffentlichte auch der
kanadische Premierminister Richard Bennett
59
Blick über den Gartenzaun
Die Forderung nach einem freien Quebec wurde in zwei Referenden jeweils sehr knapp mit einem „pour Canada“ beantwortet.
einen sozialpolitischen New Deal zur Überwindung der Krise im eigenen Land. Im Gegensatz zum südlichen Nachbarn war die Wende zum
Wohlfahrtsstaat in Kanada nachhaltig.
Auch im Zweiten Weltkrieg engagierte sich
Kanada wieder an der Seite der Alliierten. In
Asien und Europa waren mehr als eine Million
kanadische Soldaten im Einsatz. Fast 50.000
von ihnen verloren ihr Leben. Englischsprachige
Kanadier forderten eine aktive Beteiligung,
während die Frankokanadier jeden Einsatz außerhalb Kanadas ablehnten. Die französischsprachigen
Einwohner Québecs leisteten gewaltsamen Widerstand gegen jede Einberufung. Nach dem Angriff
Japans auf Pearl Harbor wurden alle 22.000
japanischstämmigen Kanadier entschädigungslos
enteignet und bis Kriegsende in Lagern interniert.
1949 wurde das bislang selbstständige
Dominion Neufundland nach einer Volksabstimmung zur zehnten kanadischen Provinz. Im
mehrheitlich französischsprachigen Quebec entwickelte sich nach dem Ende des Krieges eine starke
Unabhängigkeitsbewegung. Sie erhielt zusätzlichen
Auftrieb als Charles de Gaulle 1967 die Provinz
besuchte und ein freies Quebec forderte. Die
„Front für die Befreiung Quebecs“ verübte seit
1963 mehr als 200 Bombenanschläge. Politischer
Arm der Separatisten war die Parti Québécois, die
1976 auch die Regierung übernahm. Sie setzte das
Französische als alleinige Amtssprache durch und
leitete ein Unabhängigkeitsreferendum ein. Bei
letzterem votierten allerdings 60 Prozent für einen
Verbleib beim kanadischen Bundesstaat.
Seit den 1970er Jahren betreibt Kanada eine
aktive Einwanderungspolitik. Insbesondere aus
Ost- und Südasien kamen seitdem hunderttausende Migranten. Vancouver, das Zentrum
der kanadischen Westküste, ist heute eine
60
mehrheitlich asiatische Stadt. Mit dem Verfassungsgesetz von 1982 verzichtete das britische
Parlament auf das Recht, für Kanada Gesetze
zu erlassen. Diese Verfassung machte auch
den Multikulturalismus zum Staatsprinzip. Es
sollte die Aufnahme der in jüngerer Zeit eingewanderten Kanadier erleichtern.
Unter dem konservativen Premierminister
Brian Mulroney band sich Kanada in den 1980er
Jahren wieder stärker an die USA. Das nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA
wurde geschlossen und mit neoliberalen Wirtschaftsreformen der sozialpolitische New Deal
aufgekündigt. Armut und Obdachlosigkeit sind
seither auch in kanadischen Metropolen sichtbare
Phänomene.
Bei einem zweiten Québec-Referendum
1995 votierte nur eine äußerst knappe Mehrheit
von 50,6 Prozent der Québecer für einen Verbleib bei Kanada. 1999 wurde mit Nunavut das
erste kanadische Territorium mit mehrheitlich
indigener Bevölkerung geschaffen.
Seit den 1990er Jahren gibt es einen
beständigen Wechsel zwischen liberalen und
konservativen Regierungen. Letztere suchen
regelmäßig eine engere Bindung an die USA,
eine Verschärfung der Sicherheitsgesetze und
einen Abbau wirtschaftlicher Regulierung. Mit
der Wahl des sozialliberalen Premierministers
Justin Trudeau ist im vergangenen Jahr wieder
eine progressivere Phase angebrochen.
Demografie Kanadas
Kanada hat etwas mehr als 36 Millionen Einwohner. Seit der Gründung des Bundesstaates
im Jahr 1866 bis heute liegt das Bevölkerungswachstum durchgängig bei mehr als zehn Prozent
im Zehn-Jahres-Verlauf. Zuwachsraten von
jeweils mehr als 30 Prozent gab es in den ersten
zehn Jahren des 20. Jahrhunderts während der
sprunghaften Industrialisierung des kanadischen
Südens sowie in den 1950er Jahren. Seit den
1970er Jahren betreibt das Land eine aktive Einwanderungspolitik, was bis heute für ein stabiles
Wachstum sorgt. Aufgrund der klimatischen
Bedingungen konzentrieren sich die Siedlungsschwerpunkte auf den Süden des Landes.
Die bei weitem bevölkerungsreichste Provinz
ist Ontario oberhalb der fünf großen Seen. Hier
liegt mit Toronto auch die größte Metropolregion. In und um die Stadt leben mehr als fünf
Millionen Menschen. Die nach Bevölkerung
zweitgrößte Provinz ist das französischsprachige
Quebec. Hier konzentriert sich die Bevölkerung
entlang des Sankt-Lorenz-Stroms, der die Großen
Seen mit dem Atlantik verbindet. Die Metropolregion Montreal hat knapp vier Millionen Einwohner. Ontario und Quebec entsprechen in
etwa auch den ersten kanadischen Provinzen
Ober- und Niederkanada. Deren Grenze markiert
den Übergang vom englisch- zum französischsprachigen Kanada. Hier liegt die kanadische
Hauptstadt Ottawa, in deren Metropolenraum
1,2 Millionen Menschen leben. Insgesamt
konzentriert sich fast die Hälfte der kanadischen
Bevölkerung in einem Gürtel von den Nordufern
der Großen Seen über den Sankt- Lorenz-Strom
bis zum Sankt-Lorenz-Golf.
Mit Fertigstellung der Canadian Pacific
Railway konnten seit Beginn des 20. Jahrhunderts
auch die westlichen Provinzen ein massives
Wachstum generieren. Mit viereinhalb Millionen
Einwohnern ist die Westküstenprovinz British
Columbia die drittbevölkerungsreichste des
Landes. Allein in der Metropolregion Vancouver
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
Blick über den Gartenzaun
leben etwa zweieinhalb Millionen Menschen. Auf
Rang vier liegt die Provinz Alberta mit Anteilen
an den Rocky Mountains und an der kanadischen
Prärie. Deren 3,6 Millionen Einwohner verteilen
sich zu großen Teilen auf die Metropolregionen
Calgary und Edmonton mit jeweils 1,2 Millionen
Einwohnern.
des 21. Jahrhunderts stabil auf etwa zwölf Prozent
im Zehnjahreszeitraum einzupendeln.
Allerdings liegt die Fruchtbarkeitsrate in
Kanada bei lediglich 1,6 Kindern pro Frau. Bereits
seit Mitte der 1970er Jahre wird das bei sonst
stabilen Einflüssen für eine gleichbleibende Einwohnerzahl nötige Reproduktionsniveau von 2,1
Kindern pro Frau nicht
Die 20 kanadischen Metropolregionen mit mehr als 200.000 mehr erreicht. Seit
Einwohnern
Mitte der 1990er lag
Einwohner
die Geburtenziffer recht
Bundesstaat
Metropolregion
in Mio.
stetig zwischen 1,5 und
Toronto
Ontario
5,584
1,7 Kindern pro Frau.
Kanada rangiert damit
Montreal
Quebec
3,824
deutlich hinter den
Vancouver
British Columbia
2,313
nordamerikanischen
Nachbarn USA (1,88
Ottawa-Gatineau
Ontario / Quebec
1,236
in 2014) und Mexiko
Calgary
Alberta
1,215
(2,22 in 2014). Um
dieses seit Generationen
Edmonton
Alberta
1,160
anhaltende GeburtenQuebec Ville
Quebec
0,766
defizit auszugleichen
Winnipeg
Manitoba
0,730
und dennoch die
Wa c h s t u m s r a t e n
Hamilton
Ontario
0,721
nochmals zu erhöhen,
Kitchener-Cambridge-Waterloo Ontario
0,477
müsste die ohnehin schon hohe EinLondon
Ontario
0,475
wanderung
nach
St. Catherines-Niagara
Ontario
0,392
Kanada nochmals verHalifax
New Brunswick
0,390
vielfacht werden.
Angesichts
Oshawa
Ontario
0,356
stagnierender demoVictoria
British Columbia
0,345
grafischer Potentiale
in den Quellregionen
Windsor
Ontario
0,319
der Immigration nach
Saskatoon
Saskatchewan
0,261
Kanada (Ostasien) ist
dies kaum zu erwarten.
Regina
Saskatchewan
0,211
Realistischer und auch
Sherbrooke
Quebec
0,202
unabhängiger erscheint
St. John’s
Neufundland und Labrador
0,200
daher die Projektion
der US-amerikanischen
Statistikbehörde. Auch hier wird ein signifikantes
Mit einem Bevölkerungswachstum von 20,4
Wachstum erwartet, das allerdings ab Mitte des
Prozent zwischen 1990 und 2008 liegt Kanada
zwar etwas hinter den nordamerikanischen NachJahrhunderts stagniert. Der Peak wäre nach dieser
barn USA (21,7 Prozent) und Mexiko (31,2
Vorhersage zwischen 2050 und 2060 mit dann etwa
Prozent) zurück, allerdings noch immer deutlich
43 Millionen Kanadiern erreicht. Langfristig wird
vor der Europäischen Union in ihrem aktuellen
ab diesem Zeitpunkt eine leichte Schrumpfung
Zuschnitt (4 Prozent) und der Bundesrepublik
prognostiziert.
Deutschland (2,7 Prozent). Für die kommenden
Die Verstädterung in Kanada liegt mit 80,7
Jahre ist ein weiteres Wachstum zu erwarten.
Prozent etwa im Mittelfeld der entwickelten
Allerdings unterscheiden sich die Projektionen der
Industriestaaten. Gleiches gilt für das Mediannationalen kanadischen Statistikbehörde sowie
alter. Hier rangiert Kanada etwas unterhalb des
des US-Zensus-Büros recht deutlich voneinander.
EU-weiten Schnitts – mit 42 Jahren fast fünf
Die Kanadier gehen für das Jahr 2050 von einer
Jahre unter dem deutschen Wert, allerdings vier
Einwohnerzahl um 56 Millionen aus. Die VorJahre über dem US-amerikanischen. Mit 84,1
hersage der US-amerikanischen Statistikbehörde
Jahren für Frauen und 80,2 Jahren für Männer
liegt dagegen nur bei 41 Millionen. Glaubt man
hat Kanada eine der höchsten Lebenserwartungen
den kanadischen Statistikern, werden sich die
weltweit. Auch hier wird der deutsche VerWachstumsraten in den kommenden Jahren
gleichswert recht deutlich übertroffen, der USnochmals deutlich ausweiten um sich gegen Mitte
amerikanische ohnehin. Allerdings weist Kanada
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INSPIRATIONEN/INFORMATIONEN
mit fast fünf Fällen auf tausend Kleinkinder eine
im Industrieländervergleich überdurchschnittliche Kindersterblichkeit auf.
Kanada ist ein kulturell und ethnisch
sehr heterogenes Land, die Nachfahren der
europäischen Siedler bilden allerdings noch
immer die mit Abstand größte Gruppe. Grundsätzlich muss beim Vergleich der ethnischen Herkunft berücksichtigt werden, dass die Angaben
auf Selbstauskünften beruhen. Hier war es
neben anderen auch möglich, die Zuschreibung
„kanadisch“ anzukreuzen, wobei unklar bleibt,
was sich dahinter verbirgt – die indigenen
Minderheiten der First Nations und der Inuit
jedenfalls nicht. Mit 32,2 Prozent bezeichnete
sich in der aus dem Jahre 2013 stammenden
Umfrage des Kanadischen Statistikamtes ein
Drittel der Befragten als Kanadier.
Dahinter rangieren mit England (19,8 Prozent) und Frankreich (15,4 Prozent) die Mutternationen der kanadischen Amtssprachen. Weitere
14,4 Prozent ordnen sich als schottisch und 13,8
Prozent als irisch ein. Damit liegt der Anteil der
Kanadier von den Britischen Inseln bei 48 Prozent. Etwa zehn Prozent sehen sich noch immer
als deutschstämmig. Dahinter folgen mit jeweils
4,5 Prozent Italo- und Sinokanadier. Etwa 4,2
Prozent ordnen sich den First Nations, also den
indigenen Minderheiten zu. Sie sind besonders im
sehr dünn besiedelten Norden des Landes mit vergleichsweise hohen Anteilen vertreten und stellen
in den Nordwest-Territorien sowie in Nunavut
die größte Bevölkerungsgruppe. Die Mestizen
kommen landesweit auf 1,4 Prozent.
In Kanada wird zwischen fünf Einwanderungswellen differenziert. Die fünfte und letzte begann
mit der Revision des Einwanderungsgesetzes
1976 unter dem linksliberalen Premierminister
Pierre Trudeau und hält bis heute an. Von den vier
vorherigen Wellen unterscheidet sie sich insofern,
dass sie insbesondere nicht-weiße Bevölkerungsgruppen betrifft. Nachdem über mehrere Jahrzehnte politischer Konsens zu einer verstärkten
Einwanderung bestand, sind sich die kanadischen
Parteien seit dem Jahr 2005 weitgehend einig
bezüglich einer Eindämmung.
Im Gegensatz zu den USA kommt die Mehrzahl der Einwanderer nicht aus Lateinamerika,
sondern aus Ostasien. Insgesamt konzentriert
sich die Einwanderung auf die großen Ballungsräume Toronto, Vancouver und Montreal. Etwa
zwei Drittel der Einwanderer entfallen auf das
kanadische Fachkräfteanwerbungsprogramm.
Hier werden jährlich Quoten, berufliche Hintergründe und Qualifikationen definiert. Im Jahre
2013 war China mit 13,1 Prozent das Hauptquellland für Einwanderung. Dahinter folgten
Indien (11,8 Prozent), die Philippinen (10,5
Prozent), Pakistan (4,4 Prozent), die USA (4,1
Prozent) und der Iran (3,9 Prozent).
61
Blick über den Gartenzaun
Ausnahmen ist dieser
Proporz aktuell jedoch
Anteil Absolut
Bundesstaat mit dem höchsten Anteil
Herkunft
nicht mehr gewährin %
in Mio.
leistet. Der Senat hat
19,8
6,510
Neufundland und Labrador (43,4 %)
Englisch
im Normalfall 75 Mit15,4
5,066
Quebec (29,1 %)
Französisch
glieder, kann allerdings
um
acht
weitere
14,4
4,715
Prince Edward Island (39,3 %)
Schottisch
Abgeordnete erweitert
13,8
4,545
Prince Edward Island (30,4 %)
Irisch
werden, solange dies
einer gleichmäßigeren
9,8
3,203
Saskatchewan (28,6 %)
Deutsch
regionalen Verteilung
4,5
1,488
Ontario (7 %)
Italienisch
dient.
4,5
1,488
British Columbia (10,7 %)
Chinesisch
Das
Unterhaus
besteht aus 338 Mit4,17
1,369
Nordwestterritorien (37 %)
First Nations
gliedern. Diese werden
3,81
1,251
Manitoba (14,9 %)
Ukrainisch
in ebenso vielen Wahlkreisen nach dem Mehr3,55
1,165
British Columbia (6,3 %)
Indisch
heitswahlrecht bestimmt.
3,25
1,165
Alberta (5,1 %)
Niederländisch
Um ein Mandat zu
3,08
1,011
Manitoba (7,3 %)
Polnisch
erringen ist nur die
relative Mehrheit als
2,02
0,663
Manitoba (5,2 %)
Philippinisch
stärkster Kandidat und
1,68
0,551
Manitoba (4,3 %)
Russisch
nicht die absolute Mehrheit der absoluten Wahl1,40
0,459
Yukon (2,8 %)
Walisisch
stimmen notwendig.
1,38
0,453
Saskatchewan (6,9 %)
Norwegisch
Die Mandate werden
für maximal fünf Jahre
1,36
0,448
Nordwestterritorien (6,7%)
Mestizen
erteilt. Bis zum Ablauf
Die Daten beruhen auf Selbstauskünften. 32,2 Prozent der Befragten ordneten sich selbst die Zudieser Zeitspanne muss
schreibung „kanadisch“ zu. Da dies nichts über die Herkunft aussagt, wurde dieser Punkt ausgespart. In Kanada leben etwa 50.000 Inuit. Dies entspricht 0,14 Prozent der Gesamtbevölkerung. In
eine Neuwahl erfolgen.
Nunavut stellen sie 85,4 Prozent der Bevölkerung.
Die Größe des UnterDas politische System
hauses, der Zuschnitt der Wahldistrikte und die Zahl
der Wahlkreise pro Bundesstaat werden nach jedem
Zensus der demografischen Entwicklung angepasst.
Kanada ist eine parlamentarische Demokratie
mit einer langen föderalen Tradition. Staatsoberhaupt ist die Königin von Großbritannien und
Nordirland bzw. der von ihr eingesetzte Generalgouverneur. Der kanadische Parlamentarismus zeigt
deutliche Einflüsse der Westminster-Demokratie,
allerdings ist die Rolle der Parteien in Kanada
stärker ausgeprägt. Im Jahre 1931 wurde Kanada
und anderen Kronbesitzungen die volle Autonomie zugesprochen. Allerdings konnten sich die
kanadischen Parlamentarier lange nicht auf einen
einheitlichen Verfassungsgebungsprozess einigen,
sodass erst ab 1982 eine vollständige legislative
Autonomie von Westminster besteht.
Die ethnische Struktur der kanadischen Bevölkerung
Die Kanadier können lediglich für ihren
lokalen Direktkandidaten und nicht für eine
bestimmte Partei votieren. Die Parteien wählen
ihre Vorsitzenden im Regelfall in zwei Wahlgängen
unter ihren Mitgliedern. Jene Partei, die im Unterhaus die meisten Mandate erringen konnte, stellt
normalerweise auch den Premierminister. Wenn
eine Partei eine absolute Mehrheit unter sich
vereinigt, wird in Kanada von einer Mehrheitsregierung gesprochen. Hält die betreffende Partei
nur eine relative Mehrheit oder ist sie gar auf eine
Mehrparteienkoalition angewiesen, wird von einer
Minderheitsregierung gesprochen. Grundsätzlich
beauftragt der Generalgouverneur den Führer der
stärksten Fraktion im Unterhaus mit der Bildung
der Regierung. Hält diese Partei keine eigene
Mehrheit, muss sie zumindest die Aussicht auf
eine Koalitionsmehrheit begründen können.
Die Exekutive wird auf Bundesebene vom
Premierminister und den Ministerien gebildet.
Unterschieden wird zwischen Querschnittsministerien (Geheimdienstkoordination, Finanzen)
und Ressortministerien (Außen, Arbeit, Verteidigung, Innen, Öffentliche Sicherheit, Einwanderung etc.) Aktuell sind folgende Parteien
im kanadischen Unterhaus vertreten:
Die Liberale Partei Kanadas ist die klassische
Partei der Mitte. Im politischen Spektrum
befindet sie sich links von den Konservativen und
rechts von den Sozialdemokraten. Sie wird oft als
natürliche Regierungspartei Kanadas angesehen,
da sie an den meisten Regierungen seit Beginn
des 20. Jahrhunderts beteiligt war. Parteivorsitzender ist Justin Trudeau, der aktuell auch als
Verwaltungsgliederung Kanadas
Demokratische Legitimation auf
Bundesebene
Das kanadische Zweikammerparlament besteht
aus drei Bestandteilen, der Monarchin, dem Senat
und dem Unterhaus. Der Senat soll als regionale
Vertretung wirken. Die 75 Mitglieder werden auf
Empfehlung des kanadischen Premierministers
durch den Generalgouverneur ernannt. Ursprünglich
sollten Ontario, Quebec, die westlichen Provinzen
und die Atlantikregionen gleichmäßig repräsentiert
sein, im Zuge von Absprachen, Kompromissen und
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UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
INSPIRATIONEN/INFORMATIONEN
Blick über den Gartenzaun
Premierminister amtiert. Die Liberalen sind die
einzige Partei, die seit Gründung der kanadischen
Konföderation im Jahre 1967 ununterbrochen
existiert. Bei der Unterhauswahl 2015 konnten die
Liberalen unter Justin Trudeau erstmals nach 2004
wieder die stärkste Kraft im Parlament werden und
zudem auch die absolute Mehrheit erringen.
Die Konservative Partei Kanadas entstand
im Dezember 2003 aus der Fusion der Progressivkonservativen Partei mit der Kanadischen Allianz.
Nach der Unterhauswahl 2011 stellte sie mit
167 von 308 Sitzen im Unterhaus eine Mehrheitsregierung unter der Führung des Parteivorsitzenden und Premierministers Stephen
Harper. Seit der Niederlage bei den Wahlen 2015
befindet sie sich in der Opposition. In Anlehnung
an die britische Conservative Party werden die
kanadischen Konservativen meist als „Tories“
bezeichnet. Die Konservativen werden derzeit
kommissarisch von Rhona Ambrose geführt.
Die Neue Sozialdemokratische Partei
Kanadas (NDP) besetzt klar linke Positionen.
Die NDP entstand 1961 aus der Fusion zweier
Gewerkschaften. Bei den Wahlen 2011 steigerte
die Partei ihren Stimmenanteil von 18 auf 30
Prozent sowie die Zahl ihrer Parlamentssitze von
34 auf 102. Sie löste damit die Liberale Partei
als klassischen Gegenspieler der Konservativen
ab. Diese Entwicklung konnte 2015 aber nicht
bestätigt werden, die NDP verlor deutlich Sitze
und die Liberalen erreichten die absolute Mehrheit. Derzeit hält die NDP 44 Sitze im Unterhaus.
Der Bloc Québécois ist eine sozialdemokratische und separatistische Partei. Sie tritt ausschließlich in der französischsprachigen Provinz
Québec an. Bei der Unterhauswahl 2015 errang
der Bloc zehn der 78 Sitze, die der Provinz
Québec zustehen. In seiner heutigen Form
entstand der Bloc Québécois 1990 aus einer
informellen Verbindung von Abgeordneten der
Progressiv-konservativen Partei und der Liberalen
Partei, die aus ihren Parteien austraten, um die
Unabhängigkeit Quebecs zu fördern.
Die Grüne Partei Kanadas vertritt vor allem
ökologische Positionen. Parteivorsitzende ist seit
2006 Elizabeth May. Die Partei wurde 1983
gegründet und konnte erstmals 2011 einen Sitz im
Unterhaus gewinnen. Dieser Wahlkreis in British
Columbia konnte auch 2015 verteidigt werden.
Die Provinzen und Territorien
Kanadas
John A. Macdonald, Kanadas erster Premierminister, favorisierte zunächst einen Einheitsstaat.
Nachdem er jedoch Zeuge des amerikanischen
Bürgerkrieges wurde, unterstützte er einen föderalen
Zuschnitt. Schließlich besaß der Gegensatz
zwischen dem französischsprachigen Unterkanada
und dem englischsprachigen Oberkanada erhebliche sezessionistische Sprengkraft.
Am 1. Juli 1867 schlossen sich die Kolonien
in Britisch-Nordamerika zur Kanadischen
Konföderation zusammen und begründeten
das Dominion Kanada. Es entstanden die vier
Provinzen Ontario, Québec, New Brunswick und
Nova Scotia. Im Verlaufe der folgenden sechs Jahre
kamen drei weitere Provinzen hinzu: Manitoba,
British Columbia sowie Prince Edward Island.
1905 entstanden aus dem südlich des 60. Breitengrads gelegenen Teil der Nordwest-Territorien die
Provinzen Alberta und Saskatchewan. Aus dem
westlichen Teil wurde 1898 das Yukon-Territorium
geschaffen. 1912 verschoben sich die Grenzen
Ontarios, Manitobas und Québecs nordwärts.
Die Neufundländer befürworteten erst
1949 mit knapper Mehrheit den Beitritt zur
Konföderation. Das Nordwest-Territorium wurde
1999 erneut verkleinert und es entstand zusätzlich
das Territorium Nunavut.
Die Provinzen verfügen über einen hohen
Grad an Autonomie gegenüber der Bundesregierung. Sie besitzen legislative Kompetenzen
in den Bereichen öffentliche Einrichtungen,
Iqaluit ist der Hauptort des jüngsten kanadischen Territoriums. Nunavut wurde erst im Jahre 1999 aus den Nordwestterritorien herausgelöst. Es wird zu mehr als 85 Prozent
von Inuit besiedelt.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
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Blick über den Gartenzaun
Gemeindewesen, Beamtenbesoldung, direkte
Steuern, Schulwesen, Gast- und sonstiges lokales
Gewerbe, Eigentum und bürgerliches Recht,
Gerichtsverfassungsrecht, Zivilprozessrecht, Bergbau, Forstwirtschaft und Energie.
Die Ebene der Bundesstaaten verfügt über
umfangreiche Möglichkeiten der Besteuerung. Sie
erhält einen nennenswerten Anteil der Einkommensteuer und darf eigene Umsatzsteuern erheben.
Neben anderen Einkünften werden im Rahmen eines
Finanzausgleichsystems auch Gelder der Bundesebene auf die Bundesstaaten verteilt. Der Bund
tätigt Ausgleichszahlungen und nimmt dadurch
Einfluss auf die Gesetzgebung der Provinzen, damit
die Unterschiede zwischen reicheren und ärmeren
Provinzen bei der Besteuerung nicht allzu groß ausfallen und der Standard der Dienstleistungen gleich
bleibt. Zu den Aufgaben der Bundesstaaten zählen
Bildungswesen, Kultur, Gerichtswesen, Polizei,
Gesundheitswesen, Sozialhilfe und Wirtschaftsentwicklung. Sie kontrollieren auch die Nutzung
der natürlichen Ressourcen.
Die Provinzen können während einer
bestimmten Frist die Nichtanwendung neuer
Bundesgesetze beschließen, was aber in der
Praxis nur selten geschieht. In den Territorien
übernimmt die Bundesregierung zahlreiche Verwaltungsaufgaben selbst.
Als Repräsentant der Krone fungiert in den
Provinzen ein Vizegouverneur als Vize-Staatsoberhaupt, der überwiegend zeremonielle Aufgaben übernimmt. Die Kommissare in den Territorien üben
die gleichen Funktionen aus, vertreten aber die
Bundesregierung und nicht den Monarchen, da die
Territorien keine eigenständigen Rechtssubjekte sind.
Jede Provinz und jedes Territorium besitzt ein
Einkammerparlament. Ursprünglich existierte in
allen Provinzen eine zweite Kammer, diese Oberhäuser wurden jedoch sukzessive abgeschafft,
zuletzt in Québec im Jahr 1968. Die Parlamente
haben ähnliche Geschäftsordnungen wie das
kanadische Unterhaus.
In allen Provinzen ist der als Premierminister
bezeichnete Regierungschef üblicherweise der Vorsitzende jener Partei mit den meisten Sitzen. Dies
ist auch im Territorium Yukon der Fall, nicht aber
in den Nordwest-Territorien und in Nunavut, da es
dort keine Parteien auf Territorialebene gibt.
Jede Provinz hat ihr eigenes Gerichtssystem.
Oberstes Gericht ist jeweils der Court of Appeal.
Der wesentliche Unterschied zwischen
Provinzen und Territorien liegt darin, dass die
Provinzen ihre Kompetenzen aus dem Verfassungsgesetz des Jahres 1867 beziehen. So stehen die
Provinzen neben der Zentralregierung, während
die Territorien eindeutig unter der Bundesebene
anzusiedeln sind. Das kanadische Unterhaus kann
per Gesetz Aufgaben und Kompetenzen an die
Ebene der Territorien transferieren. Alle drei
Territorien zusammen repräsentieren den extrem
64
Die zehn kanadischen Bundesstaaten und die drei Territorien
Bundesstaat / Territorium
Hauptstadt
Einwohner
Fläche in km² Größte Ethnie
in Mio.
Beitritt
Ontario
Toronto
13,572
1.076.395
Engländer
1867
Quebec
Quebec Ville
8,028
1.542.056
Franzosen
1867
Victoria
4,606
944.735
Engländer
1871
Alberta
Edmonton
3,847
661.848
Engländer
1905
Manitoba
Winnipeg
1,261
647.797
Engländer
1870
Saskatchewan
Regina
1,072
651.036
Deutsche
1905
Nova Scotia
Halifax
0,945
55.284
Schotten
1867
New Brunswick
Fredericton
0,755
72.908
Franzosen
1867
Neufundland und Labrador
St. John’s
0,509
405.212
Engländer
1949
Charlottetown
0,146
5.660
Schotten
1873
Nordwestterritorien
Yellowknife
0,043
1.346.106
First Nations
1870
Yukon Territorium
Whitehorse
0,035
482.443
Engländer
1898
Iqaluit
0,034
2.093.190
Inuit
1999
36,286
9.984.670
British Columbia
Prince Edward Island
Nunavut Territorium
Kanada
Ottawa
dünn besiedelten Norden Kanadas, auf den
oftmals schlicht mit „the north“ rekurriert wird.
Jedes der Territorien wählt einen Abgeordneten
des kanadischen Unterhauses. Mit Ausnahme der
Prince-Edward-Insel haben sie damit eine stärkere
Vertretung pro Einwohner als die Bundesstaaten.
Die Neuschaffung eines Bundesstaates kann
nur per Verfassungsänderung erfolgen, während
eine Neugliederung der Territorien lediglich ein
Bundesgesetz erfordert. In jüngster Zeit mehren
sich die Stimmen, den Territorien den Status
von Bundesstaaten zu verleihen. Auslöser dieser
Debatte sind der Klimawandel sowie die verstärkten Dispute um die Nutzung der Wasserstraßen der Nordwestpassage. Daneben sollen den
in den nördlichen Territorien anteilig noch sehr
stark vertretenen indigenen Völkern gleichwertige
Kompetenzen zugestanden werden.
Lokale Selbstverwaltung
Die gemeindliche Ebene ist in Kanada zunächst
mit Blick auf die Daseinsvorsorge und nicht als
demokratische Repräsentanz gebildet worden.
Die Kompetenzen zur Ausformung von Grenzen,
Strukturen und Aufgaben liegen ausschließlich
bei den Bundesstaaten. Der Trend der vergangenen Jahre weist jedoch in Richtung einer
stärkeren kommunalen Selbstverwaltung.
Da die Selbstverwaltung in Kanada nicht in
der Bundesverfassung garantiert ist, mittlerweile
aber auch die gemeindliche Ebene über demokratisch legitimierte Institutionen verfügt, sind in
dieser Struktur Konflikte zwischen Provinzial- und
Engländer
Kommunalebene bereits angelegt. Grundsätzlich
wird die gemeindliche Ebene vollständig durch
Provinzialrecht reguliert. Daraus wiederum
ergeben sich erhebliche Unterschiede zwischen
den Gemeinden in verschiedenen Provinzen.
Es bestehen ein- und zweistufige Verwaltungen, verschiedene Wahlsysteme sowie recht
unterschiedliche rechtliche Rahmenbedingungen.
In den einwohnerstärksten Provinzen Ontario,
Quebec und British Columbia sind Distrikte
gebildet worden, die die Arbeit der in ihren
Grenzen liegenden Gemeinden beaufsichtigen.
Andere Provinzen – wie etwa Manitoba – sind
zu einer einstufigen Verwaltung zurückgekehrt.
Viele kleinere Städte verfolgen ein Ratsmodell,
innerhalb dessen gewählte Räte die Erbringung
der Daseinsvorsorge – mitunter in eigens zu
diesem Zweck gebildeten Subkomitees – überwachen. Andere Kommunen bestimmen per
Wahl einen Manager, der wiederum die gesamte
Verwaltung bestellt und deren Arbeit überwacht.
In vielen westkanadischen Gemeinden ernennt
die Ratsverwaltung Beauftragte zur Überwachung der verschiedenen Verwaltungen und
zur Erbringung der Daseinsvorsorge.
Im Regelfall sind ländliche und städtische
Siedlungsgebiete durch Gemeindegrenzen voneinander getrennt. Einige Ausnahmen bestehen
in den östlichen Bundesstaaten am Atlantik. In
den vergangen Jahren vollzog sich ein deutlich
erkennbarer Trend zu größeren Gemeinden. Oft
sind es die Provinzverwaltungen, die einzelne
Gemeinden neu strukturieren oder verschmelzen,
nur sehr selten sind derartige Prozesse durch lokale
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INSPIRATIONEN/INFORMATIONEN
Blick über den Gartenzaun
Mit fünfeinhalb Millionen Einwohnern ist Toronto die größte kanadische Metropolregion.
Referenden in Gang gesetzt worden. Insbesondere
die großen Metropolen Kanadas streben nach mehr
Unabhängigkeit von ihren Provinzen. Der Bürgermeister von Toronto hat in diesem Zusammenhang
das Konzept von Stadtstaaten ins Gespräch gebracht.
Kernziel aller Gemeinden ist die Erbringung von
Daseinsvorsorgeleistungen. Ein zweites Thema ist
die wirtschaftliche Entwicklung vor Ort. Nur noch
in Ontario sind die Gemeinden auch für die soziale
Versorgung zuständig. Überall sonst wurden diese
Aufgaben an die Provinzen transferiert.
Die kommunale Ebene in Kanada besitzt
keinerlei eigene Rechte auf das Generieren
von Einnahmen. Steuerliche und anderweitige
Das System der demokratischen Vertretung in Kanada
entstammt der Tradition von Westminster. Dies ist bis
heute deutlich zu erkennen. Die kanadische Verfassung
beschränkt sich in einigen grundlegenden Aussagen. Vorherrschender Rechtskreis ist das Common Law, das sich
insbesondere auf maßgebliche richterliche Urteile der Vergangenheit stützt. Den wesentlichen
Unterschied zur britischen Tradition markiert der kanadische Föderalismus. Hier diente eher der
südliche Nachbar als Vorbild und weniger das britische Mutterland. Bundesstaatliche Strukturen
passen zur Größe des Landes und zu seiner ethnisch/sprachlichen Heterogenität. Sie haben
sich in den vergangenen Jahrzehnten bewährt. Im Hinblick auf die kommunale Ebene besteht
allerdings intensiver Reformbedarf. Die Gemeinden verharren in finanzieller und politischer Ohnmacht, von einer kommunalen Selbstverwaltung kann kaum die Rede sein. Zu umfassend und
direkt sind in die Einwirkungsmöglichkeiten der Provinzen. Die Debatte ist im Gange. Als Vorbilder
könnten die skandinavischen Kommunalstaaten mit einer ähnlichen Siedlungsdichte und einer
vergleichbaren politischen Kultur dienen.
Falk Schäfer
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
Kompetenzen werden sämtlich von der Provinzebene ausgegeben und können von dieser Seite
auch wieder eingeschränkt werden.
In den vergangenen Jahrzehnten hat sich
kanadaweit die Grundsteuer zur typischen Kommunalsteuer entwickelt. Diese Einnahmen decken einen
Großteil der kommunalen Budgets. Weitere Quellen
sind direkte Subventionen der Provinzebene oder
Nutzergebühren für die Erbringung von Leistungen.
Ein wesentlicher Teil der Einnahmen entstammt
dem kommunalen Finanzausgleich in den Provinzen.
Allerdings agieren die Provinzen zunehmend zögerlicher bei der Ausgabe dieser Mittel.
Die Föderation der kanadischen Gemeinden,
die analog zu den kommunalen Spitzenverbänden in Deutschland die kommunale Ebene
auf Bundes- und Provinzebene vertritt, identifiziert einen kommunalen Investitionsstau von
60 Milliarden Kanadischen Dollar und beklagt
in diesem Zusammenhang die Ohnmacht der
gemeindlichen Ebene. Vor diesem Hintergrund
wird aktuell intensiv über eine Kommunalreform
debattiert. So ist im Gespräch, den Kommunen
einen Anteil an der Mineralölsteuer zu überlassen.
Von Falk Schäfer n
i
infos
www.canada.ca
www.fcm.ca
65
Personalien / Bücher
Personalien
Ulf Heitmüller neuer
Vorstandsvorsitzender bei VNG
Ulf Heitmüller
Seit Anfang Oktober ist Ulf Heitmüller Vorstandsvorsitzender der VNG – Verbundnetz Gas AG. Er
wurde 1965 in Nienburg geboren. 1993 schloss er
an der Leibniz Universität Hannover sein Studium
der Elektrotechnik mit dem akademischen Grad
eines Diplom-Ingenieurs ab. In den Jahren von
1994 bis 2010 hatte Ulf Heitmüller verschiedene
Fach- und Führungspositionen in der deutschen und
europäischen Gaswirtschaft inne – zuerst bei der
BEB in Hannover, später für die Royal Dutch Shell,
wo er zuletzt den Verkauf von Erdgas in NordwestEuropa verantwortete. Seit 2010 war er in geschäftsführenden und leitenden Funktionen für die EnBW
Energie Baden-Württemberg AG tätig, zuletzt als
Executive Director Trading & Supply.
Heitmüller äußerte sich bei der Übernahme
des Vorstandsmandats wie folgt: „Die VNG ist ein
wichtiger Player in der Gaswirtschaft mit Kompetenz
und Ausdauer. Gemeinsam mit den hochqualifizierten Mitarbeitern werden wir den Herausforderungen im Markt mit Veränderungsbereitschaft
und Umsetzungsstärke begegnen“, sagte Heitmüller.
Der neue VNG-Vorstandsvorsitzende ist davon
überzeugt, dass Erdgas und die Gasinfrastruktur
mit Blick auf das Gelingen der Energiewende
eine entscheidende Rolle spielen werden. „Erdgas
kann mit all seinen Vorzügen zu einer günstigen
und effizienten CO2-Reduzierung beitragen. Der
zukünftige Energiemix wird daher ein Mix aus
Erneuerbaren Energien und Erdgas sein. Darüber
hinaus sind unsere Netze und Speicher bestens
dafür geeignet, Erneuerbare Energien zu speichern
und zu transportieren. Das macht sie zur Kerninfrastruktur der Energiewende“, betonte Heitmüller.
66
Neuer Sprecher des „Forum
Kommunalwirtschaft Thüringen“
Seit dem 23. November ist Jörg Reichl neuer
Sprecher des „Forum Kommunalwirtschaft
Thüringen“. Er tritt die Nachfolge von
Willibald Böck an. Der Thüringer Innenminister a.D. hatte dieses Diskussionsforum
maßgeblich mitbegründet und war am 2.
August verstorben. UNTERNEHMERIN
KOMMUNE erinnerte in der Septemberausgabe an den beliebten und über alle Lager
hinweg geachteten Thüringer Politiker.
Jörg Reichl wurde 1963 in der Hansestadt Greifswald geboren. Nach dem Abitur
besuchte er bis 1987 eine Offiziershochschule
der Nationalen Volksarmee (NVA), die er
mit dem akademischen Grad eines DiplomÖkonomen abschloss. Danach diente er bis
zum Rang eines Oberleutnants als Offizier
der Rückwärtigen Dienste in der NVA und
wurde mit diesem Rang 1990 in die Bundeswehr übernommen.
Nach seinem Ausscheiden aus dem Militärdienst arbeitete er bis 1997 als selbstständiger
Einzelhändler in Rudolstadt. Danach war er
von 1997 bis 1999 Projektleiter bei der Handwerkskammer Ostthüringen zu Gera und von
1999 bis 2006 Marketingmitarbeiter bei der
Volksbank Saaletal eG.
Reichl lebt seit 1987 in Rudolstadt. Seine
kommunalpolitische Laufbahn begann er 2004
als Mitglied des Stadtrates von Rudolstadt.
2006 wurde er zum Bürgermeister gewählt
und 2012 mit klarer Mehrheit in diesem Amt
bestätigt.
Als Bürgermeister ist er Vorsitzender
wichtiger Aufsichtsgremien. Im Bereich
der Kommunalwirtschaft betrifft dies in
erster Linie die Energieversorgung Rudolstadt GmbH (EVR) und die Rudolstädter
Wohnungsverwaltungs- und Baugesellschaft
mbH (RUWO) sowie die Rudolstädter Stadtentwicklungsgesellschaft mbH (SER) und
die SAALEMAXX Freizeit- und Erlebnisbad
Rudolstadt GmbH.
Über die Grenzen seiner Kommune hinaus
ist Reichl in weiteren kommunalen und
kommunalwirtschaftlichen Gremien maßgeblich engagiert. So ist er Erster Stellvertreter der
Präsidentin der Regionalen Planungsgemeinschaft Ostthüringen und dort Vorsitzender
des Strukturausschusses. Er gehört zudem dem
Vorstand der Landesgruppe Thüringen des Verbands kommunaler Unternehmen an. Er ist
Mitglied der kommunalen Beiräte der TEAG
und der Thüga AG.
Neben seinem Amt als Bürgermeister ist
er Mitglied des Kreistages Saalfeld-Rudolstadt
und führt dort als Fraktionsvorsitzender die
Fraktion Bürger für den Landkreis SaalfeldRudolstadt. Jörg Reichl ist parteilos.
Bei der Amtsübernahme als Sprecher des
„Forum Kommunalwirtschaft Thüringen“
am 23. November in Nordhausen sagte Jörg
Reichl unter anderem: „Unser Forum ist mit
seiner ersten Veranstaltung am 25. November
2011 in Erfurt gestartet. Fast auf den Tag
genau feiern wir heute also das fünfjährige
Jubiläum. Für eine Veranstaltungsreihe ist das
in der heutigen so schnelllebigen Zeit bereits
ein durchaus stattliches Alter. Seit 2011 gab es
zehn Treffen unter Leitung von Willibald Böck.
Dass unser Diskussionskreis zu kommunalwirtschaftlichen Fragen ein solcher Erfolg wurde,
ist maßgeblich dessen Verdienst. Er hatte die
Fähigkeit, Brücken zu bauen und Ideologie
aus allen Debatten herauszuhalten. Für mich
ist dies der wichtigste Grund dafür, dass sich
zweimal im Jahr ein stets hochkarätiger Teilnehmerkreis zum bewusst informellen Diskurs
Jörg Reichl
trifft. Genau dies will ich fortsetzen. Die, die
mich kennen, wissen, dass mein Verständnis
von kultiviertem Austausch dem von Willibald
Böck sehr ähnlich ist. Mein Bürgermeisteramt und viele andere Funktionen nehme ich
genau mit dieser Haltung wahr. Ich habe mich
ganz bewusst dafür entschieden, mich nicht
parteipolitisch zu engagieren. Das ist für ein
parteiübergreifendes Verständnis nützlich, aber
keinesfalls Voraussetzung. Das CDU-Mitglied
Willibald Böck hat das immer sehr eindrucksvoll gezeigt.“
Reichl sagte weiter, dass er an den wesentlichen Eckpunkten im Konzept von „Forum
Kommunalwirtschaft Thüringen“ festhalten
werde, wobei er sich noch stärker auf den
Erfahrungsaustausch zu kommunalwirtschaftlichen Fragen konzentrieren wolle.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
INSPIRATIONEN/INFORMATIONEN
Personalien / Bücher
Deren Leiterin, Marion Hecker-Voß, zugleich auch
Chefin der Landesbibliothek in der Stiftung Zentral
und Landesbibliothek, und Marion Nockert, stellvertretende Referatsleiterin, haben für das Dezember-Heft folgende Auswahl getroffen.
Bücher
In dieser Rubrik stellen wir Ihnen seit Juni 2015
Publikationen zu kommunalen Themen vor, die
neu auf dem Markt sind, und die wir Ihnen aus
inhaltlich-thematischen Gründen ganz besonders an Herz legen wollen. „Aufgespürt“ werden
diese Titel von der Senatsbibliothek Berlin, die
sich als einzige Spezialeinrichtung deutschlandweit auf kommunale Themen spezialisiert hat.
Kommunalwissenschaft
aktuell:
Dzudzek, Iris:
Kreativpolitik: über die
Machteffekte einer neuen
Regierungsform des Städtischen.
Bielefeld: transcript, 2016
ISBN 978-3-8376-3405-1
Senatsbibliothek: Kws 740/213
Die »kreative Stadt« ist in den vergangenen
Jahren zu einer global zirkulierenden mobile
policy geworden, deren Programme und
Strategien auch in Deutschland von vielen
Städten begeistert aufgenommen wurden.
Inwiefern trägt dieses Politikmodell zur
Restrukturierung von Stadtpolitik und lokaler
Staatlichkeit bei? Wie verändert es sich im Zuge
seiner Artikulation und Implementierung auf
städtischer Ebene? Führt es zum Ausverkauf
demokratischer Teilhabe in der Stadt? Welche
Formen des Widerstandes und des Unvernehmens lassen sich beobachten? Theoretisch
versiert und empirisch fundiert untersucht Iris
Dzudzek am Beispiel der Stadt Frankfurt am
Main die lokale Artikulation und Aushandlung
globaler Prozesse.
Findeisen, Jens; Trommer, Friederike:
Kommunale Finanzwirtschaft
(Doppik).
Wiesbaden: Kommunal- und Schul-Verlag, 2016
ISBN 978-3-8293-1243-1
Senatsbibliothek: Kws 704/987
Die Neunte Auflage des Lehrbriefs basiert auf
dem Rechtsstand des Jahres 2013, wobei in
der überarbeiteten Auflage auch ausgewählte
spätere Änderungen im Rechtsrahmen berücksichtigt wurden. Der Lehrbrief ist damit eine
sehr gute Hilfestellung für die Vor- und Nachbereitung des Unterrichts in den Aus- und
Fortbildungsberufen im Verwaltungsbereich
sowie für das Studium an der Fachhochschule
i
infos
der Sächsischen Verwaltung Meißen. Er soll
aber auch eine Grundlage für Mitarbeiter
in den kommunalen Verwaltungen sein, die
sich erstmalig oder vertiefend mit Fragen des
kommunalen Haushaltsrechts befassen wollen.
Für diesen Zweck werden die Grundlagen des
kommunalen Haushaltsrechts von den Autoren
in einer einfach verständlichen Systematik und
anhand vieler Beispiele und Muster dargestellt.
Ergänzt wird der Lehrbrief durch zahlreiche
Übungsfragen und -aufgaben. Die Autoren
sind bereits seit vielen Jahren in der Aus- und
Fortbildung, der Beratung der Kommunen
und in verschiedenen Veröffentlichungen
mit den Fragen des kommunalen Haushaltsrechts befasst und bringen ihre umfassenden
Erfahrungen in den Lehrbrief ein.
Zimmermann, Horst:
Kommunalfinanzen:
eine Einführung in die
finanzwissenschaftliche Analyse
der kommunalen Finanzwirtschaft.
Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag, 2016
ISBN 978-3-8305-3697-0
Senatsbibliothek: Kws 704/9a
Die Einführung erläutert verständlich und unter
Einbeziehung zahlreicher Praxisbeispiele,
- welche Aufgaben die kommunale Ebene aus
Sicht des Ökonomen erfüllen soll,
- welche Einnahmen (insbesondere Steuern)
hierfür geeignet sind,
- wie ein Finanzausgleich unter den Kommunen aussehen kann und
- welche Regeln bei der Gestaltung des kommunalen Haushalts grundsätzlich zu beachten sind,
und sie erfüllt so die Anforderungen an eine auf
die deutschen Gegebenheiten zugeschnittene Darstellung aus finanzwissenschaftlicher Perspektive.
Das Buch verschafft damit Entscheidungsträgern in Kommunalverwaltungen und
Kommunalparlamenten, Mitarbeitern von
Kammern und Verbänden, Referenten in Ministerien sowie Studierenden der Wirtschafts-,
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
Senatsbibliothek Berlin
in der Stiftung
Zentral- und Landesbibliothek Berlin,
Breite Straße 30-36,
10178 Berlin
www.senatsbibliothek.de
Rechts- und Verwaltungswissenschaften einen
einzigartigen Zugang zu den spezifischen Problemen der kommunalen Finanzen.
In der neuen Auflage wurden Neuerungen aus Forschung und Finanzpolitik aufgenommen. Das betrifft beispielsweise den sog.
Zoo-Effekt, die Folgen des demografischen
Wandels für die Kommunalfinanzen oder
auch die genauere Analyse der Grundsteuer.
Des Weiteren werden die Folgen für die Kommunalverschuldung aus der Niedrigzinsphase,
dem Schuldendeckel sowie landesspezifischen
Entschuldungsprogrammen erläutert.
Dickertmann, Dietrich;
Strohe, Hans Gerhard:
Umfang und Messung der
öffentlichen Wirtschaft.
Baden-Baden: Nomos, 2016
ISBN 978-3-8487-2681-3
Senatsbibliothek: Kws 580/24
Die staatliche Wirtschaft umfasst mehr als die
Summe der öffentlichen Haushalte. Während
diese einfach zu definieren und mit Einnahmen und Ausgaben statistisch gut belegt
sind, bleibt die öffentliche Wirtschaft meist
im Verborgenen: Öffentliche Fonds und
Unternehmen, das „System“ der öffentlichen
Kreditwirtschaft, die Zusatzversorgungskassen
der Gebietskörperschaften, das „System“ der
öffentlich-rechtlichen
Rundfunkanstalten
und das „System“ der öffentlichen Stiftungen
schaffen Interventionspotentiale, die teilweise zwar der Daseinsvorsorge dienen, von
politischen Akteuren aber gerne auch zur
Manipulation öffentlicher Haushalte (z.B.
durch die Auslagerung von Vermögenswerten)
bzw. als Machtinstrumente (z.B. zur Disposition ohne direkte parlamentarische Mitsprache) genutzt werden. Deswegen ist hier
eine erhöhte Transparenz durch die Messung
und die Bestimmung des Umfangs derartiger
Aktivitäten sowie durch eine verbesserte Datenbereitstellung dringend geboten. (Verlag)
67
Personalien / Bücher
Teure Bücherwürmer,
verehrte Leseratten,
das Fazit jeder Rezension sollte eine Leseempfehlung
sein. Sie können unter jeder Buchbesprechung mit
einem Blick feststellen, ob sich der Weg zur nächsten
Buchhandlung oder der Klick bei amazon.de lohnt.
Und was die Symbolik – vom Fünf-Sterne-Gütesiegel bis zur Blauen Tonne – bedeutet, verrät Ihnen
die folgende Legende:
Labsal für Grips und Seele.
Man wird deutlich schlauer.
Ganz nützlich, aber es reicht,
auf‘s Taschenbuch zu warten.
Unschädlich, und hier und da
erbaulich.
Bevor man Anne Will schaut...
Segensreich – aber nur für
die Recyclingwirtschaft!
die Blüte edelster Kultur nicht emporzusprießen
vermag; über die Tragik eines Schicksals, das
das aus einer wendischen Fischersiedlung zur
mächtigen Millionenstadt und Reichshauptstadt emporgewachsene Berlin dazu verdammt:
immerfort zu werden und niemals zu sein.“
Der dies schreibt, ist Karl Scheffler. Es ist
der letzte Absatz seines 2010 erschienenen
Buches „Ein Stadtschicksal“.
Ich kannte bis dato weder Scheffler (Er
lebte von 1869 bis 1951, war Kunstkritiker
und Publizist und ab 1907 Herausgeber
Karl Scheffler
Und nun zu den
Rezensionen und
Kurzvorstellungen:
Ein Stadtschicksal
„Berlin aber will Liebe auch gar nicht von
seinen Bewohnern. Ist der Geist dieser Stadt
nicht im tiefsten national, so ist er doch nicht
sentimental. Wie mit einem Witzwort der
Selbstironie hilft sich dieses hart determinierte
Stadtindividuum über die verborgene Tragik
seines Daseins hinweg. Über die Tragik eines
Schicksals, das überall dort zutage tritt, wo
in einem allzu harten und allzu rastlosen
Erhaltungskampf die höheren Gefühlskräfte
und die Fähigkeit zum Glück verkümmern, so
daß nur die profane Tüchtigkeit bleibt, woraus
68
ein Stadtschicksal
Herausgegeben und mit einem Vorwort
von Florian Illies
Suhrkamp
der einflussreichen Zeitschrift „Kunst und
Künstler“, bis diese 1933 von den Nationalsozialisten verboten wurde.) noch sein Buch.
Dass ich es jetzt lesen und hier vorstellen darf,
verdanke ich dem Suhrkamp Verlag. Dort gibt
es Lektoren, die auch nach hinten schauen. Das
ist mitnichten etwas Gestriges. Darüber hat erst
kürzlich – ich habe es hier vorgestellt – Peter
Sloterdijk geschrieben. In „Die schrecklichen
Kinder der Neuzeit. Über das anti-genealogische Experiment der Moderne“, ebenfalls
bei Suhrkamp erschienen, hat er notiert, dass
eine Generation wie die aktuelle, die weniger
als die Hälfte dessen bewahrt, was uns unsere
Väter und Vorväter übergeben haben, der
intellektuellen und kulturellen Deformation
anheimfällt. Für die Welt der Bücher kann
dies gut mit folgendem Beispiel belegt werden.
Fragen Sie doch einfach einen Abiturienten
nach allen deutschen Literaturnobelpreisträgern – die meisten können nicht einen einzigen nennen.
Es ist also verdienstvoll, wenn die Schätze
der Vergangenheit immer wieder auf ’s Neue
gehoben werden. Beim Berliner Stadtporträt
aus der Feder Karl Schefflers handelt es sich
– so lautet mein Urteil nach der Lektüre –
unzweifelhaft um einen solchen. Ich teile das
Schicksal dieser Stadt seit 1970. Dass sich
von 1990 bis 2014 mein Lebensmittelpunkt
unmittelbar an den Stadtrand, aber schon
auf Brandenburger Seite, verlagerte, hat an
meinem Status als „Rucksackberliner“ kaum
etwas geändert. Nun lebe ich schon wieder zwei
Jahre in Schöneberg, schaue beim Schreiben
dieses Textes auf den Wittenbergplatz, und bin
dem Scheffler sehr, sehr dankbar, dass er mir
geholfen hat, dieses Berlin nunmehr besser zu
verstehen.
Jetzt weiß ich zumindest, dass die Stadt für
mich auch fürderhin unergründbar, rätselhaft,
dunkel und mysteriös bleiben wird, und dass
ich daran substantiell auch nichts ändern kann.
Meine Beziehung zu Berlin ist am treffendsten
mit dem Begriff der Hassliebe umschrieben.
Und jeder, der einen solchen Beziehungsstatus
schon einmal erlebt hat, weiß, dass diese
Ambivalenz bezogen auf Berlin vermutlich
etwas Ewiges hat. Ich kapiere nicht, warum
sich Jahr für Jahr immer mehr Menschen aus
der ganzen Welt auf den Weg machen in eine
Stadt, die sich mit ihrer Bausubstanz hinter
vielen europäischen Metropolen eigentlich verstecken muss, die an vielen Stellen schmutziger
ist als erlaubt und die ihren Bürgern eine Verwaltung zumutet, die am besten daran täte,
endlich einmal gar nicht, anstatt nur schlecht
zu funktionieren.
Aber wenn ich der Stadt im Urlaub für
längere Zeit den Rücken gekehrt habe, zieht
es mich mit Macht zurück: ich genieße voller
Inbrunst meine Berliner Stammkneipe, das
„Metzer Eck“ im Prenzlauer Berg, dort, wo
noch Berliner in der Mehrheit sind, und nicht
die Schwaben, oder genieße es, beim Gang in
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
INSPIRATIONEN/INFORMATIONEN
Personalien / Bücher
mein geliebtes „Deutsches Theater“ mit ein
paar wenigen Schritten hinter dem S-Bahnhof
Friedrichstraße das Moloch Berlin hinter mir
zulassen und in das Refugium von Schumannund Reinhardtstraße einzutauchen.
Schön ist, dass uns Scheffler viele Argumente dafür gibt, warum wir Berlin lieben und
hassen: aus der Geschichte der Stadt, aus ihren
Bauten, aus der Rolle der Künste, um nur einige
der Ebenen zu nennen, die der Autor unter die
Lupe genommen hat. Sein Buch ist weder ein
Roman, noch ein Sachbuch. Ich würde es einen
langen Essay nennen. Dieses Genre kann man
kaum in Gestalt eines Inhaltsverzeichnisses auf
den berühmten Punkt bringen. Es bleibt Ihnen
also nur, das Buch zu lesen.
Überblättern Sie dabei um Himmels willen
nicht das Vorwort von Florian Illies. Er hat
Recht, man muss es zweimal lesen. Vor und
nach der Lektüre von Karl Scheffler. Ich bin mir
sicher, dass Ihnen die folgende Kostprobe aus
den Anmerkungen von Florian Illies Appetit
macht: „Liest man Karl Schefflers hasserfüllte
Liebenserklärung an Berlin aus dem Jahr
1910, dann versteht man, dass Berlin nie zu
sich selbst finden kann, weil – wie in einer
griechischen Tragödie – das Leiden dieser
Stadt die Bedingung ihrer Existenz ist. Wenn
also Berlin, um in der Mythologie zu bleiben,
das uneheliche Kind eines griechischen Gottes
mit einem Menschen ist, dann ist der Vater
wahrscheinlich Dionysos und die Mutter
Personalratsvorsitzende in einem Westberliner
Einwohnermeldeamt.“
Rezensent: Michael Schäfer
Bewertung: *****
i
infos
Karl Scheffler: Ein Stadtschicksal
Suhrkamp, Berlin
1. Auflage 2015
ISBN 978-3-518-42511-4
www.suhrkamp.de
Die Kultur der Stadt
Dieses Buch aus der Feder von Walter Siebel,
er ist eremitierter Professor für Soziologie an
der Universität Oldenburg, las ich nach dem
gerade vorgestellten Berlin-Porträt von Karl
Scheffler. Das, was ich vermutet habe, als ich
mir vornahm, beide Titel im vorliegenden Heft
vorzustellen, hat sich bewahrheitet: Genau das,
was Scheffler für Berlin aus der Perspektive
des beginnenden 20. Jahrhunderts zu Papier
gebracht hat, findet man an vielen Stellen bei
Walter Siebel wieder. Seine Kernthese lautet,
dass es die Kultur sei – also nicht politische
und ökonomische Strukturen – die die Stadt
vom Land unterscheide.
Siebel skizziert in seinem Buch die
Geschichte der Stadt von der griechischen
Polis bis zur Jetztzeit und hält die kulturelle
Komponente über diesen langen Zeitlauf für das
prägende Element im Verständnis von Urbanität. Heute werde die urbane Lebensweise durch
zwei weitere Komponenten charakterisiert: die
Entlastung von notwendigen Arbeiten und die
ständige Begegnung mit Fremden.
In seiner historisch und theoretisch
umfassenden Monographie entwirft Siebel
ein detailliertes Bild dieser Kultur der Stadt,
zeichnet ihre ambivalenten Entwicklungen
nach und begründet daraus die Renaissance
der Stadt und deren kulturelle Produktivität.
Sieber bezieht sich mit dieser Einschätzung
ausdrücklich auf die heutigen europäischen
Städte, die mit „den Megacitys der Schwellenund Entwicklungsländer kaum etwas gemein“
hätten (S. 13).
Sieber versteht diese Renaissance nicht als
Wiedererstehen jener europäischen Stadt, die
ihr Urbild in den freien Reichsstädten hatte.
So wie die griechische Polis seien auch diese
privilegierten Metropolen des Mittelalters
nicht einfach in die Jetztzeit und erst recht
nicht in die Zukunft quasi zu reproduzieren.
„Bis ins 20. Jahrhundert“, so schreibt Siebert,
„war die europäische Stadt des Bürgertums charakterisiert durch das Institut der
kommunalen Selbstverwaltung und die Polarität von Öffentlichkeit und Privatheit“ (S. 12).
Im ersten Teil seines Buches begründet
Siebel, dass beide Merkmale ihre gesellschaftliche Basis verlieren. Im zweiten Teil stellt er
die Urbanisierung als Prozess dar, in dessen
Verlauf sich die Stadt zu einer Maschine entwickelt hat, die den Städter von Arbeit und
Verpflichtungen befreit. „Die Leistungen
der modernen Stadtmaschine und die
immer engere Verflechtung von Arbeit und
Leben eröffnen die Möglichkeit einer selbstbestimmten Einheit des Alltags“, fasst Siebel
zusammen (S. 13). Diese Reurbanisierung
werde unterstützt durch ein zunehmend
innigeres Zusammenspiel von Stadtkultur,
Stadtökonomie und Stadtpolitik.
Mit dieser Entwicklung befasst sich der
dritte Teil des Buches. Darauffolgend (Teil
4) zeigt Siebel, dass die ständige Anwesenheit
von Fremden der Stadt zu ihrer besonderen
und wachsenden kulturellen Produktivität verhilft. Im fünften und letzten Teil legt der Autor
Überlegungen zur Planbarkeit von Urbanität
dar.
Mit besonderem Interesse habe ich jene
Überlegungen von Siebel zur Kenntnis
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
genommen, die sich mit der Aushöhlung
der kommunalen Selbstverwaltung und
damit dem Ende der europäischen Stadt als
politisches Subjekt befassen. Siebel schlägt
zunächst den Bogen vom Verfall der freien
Reichsstädte in Deutschland bis zur Wiederbelebung dieser Selbstverwaltung durch die
Stein-Hardenberg-Reformen (Städteordnung
aus dem Jahr 1808).
Walter Siebel
Die Kultur der Stadt
edition suhrkamp
SV
Dieses Grundprinzip wurde im Artikel 28
unseres Grundgesetzes bekräftigt. Allerdings
äußert Siebel umfassende Zweifel daran, ob
dieser Begriff angesichts der Realitäten noch
gerechtfertigt sei. „Mitwirkung“, so Siebel,
„ergibt nur Sinn, wenn das Stadtregiment über
relevante Handlungsspielräume verfügt“ (S.
47) und fragt, „ob angesichts der rechtlichen,
finanziellen und politischen Aushöhlung der
Handlungsspielräume der Städte überhaupt
noch von kommunaler Selbstverwaltung die
Rede sein kann“ (S. 48).
Siebel skizziert diese Entwicklung anhand
der Struktur der kommunalen Finanzausgaben und nennt unter anderem den Fakt,
dass die exorbitante Erhöhung der Sozialleistungen einher gehe mit einem Einbruch
bei den Investitionen. Laut Siebel wandele
sich die Stadt vom politischen Subjekt zum
Objekt überlokal determinierter Prozesse und
Politiken und das Rathaus degeneriere zu einer
Ortsbehörde (S. 51). Dieses Dilemma pointiert
er eindrucksvoll mit folgendem Satz: „Auf
kommunaler Ebene geschieht immer mehr,
aber die kommunale Politik hat immer weniger
Einfluss darauf“ (S. 52).
69
Personalien / Bücher
In diesen Bestandsaufnahmen bin ich mit
Siebel sehr einig. Die Leser dieser Zeilen kennen
meine wissenschaftlichen und politischen Auffassungen zu diesem Thema, und wer neu unter
den Rezipienten ist, kann sie gerafft im Prolog am Anfang dieses Heftes nachlesen. Was
mich aber an Siebels Befunden stört, ist die
Tatsache, dass er sie so darlegt, als ob die dargestellten Entwicklungen wie ein Naturereignis
und mithin unabwendbar auf uns herniedergehen. Das sehe ich grundsätzlich anders. Die
katastrophale Entmündigung der deutschen
Kommunen ist doch bitte schön von Menschen
gemacht. Sie ist Ausdruck einer unerträglichen
Arroganz großer Teile der politischen Klasse,
die in den Etagen oberhalb der Städte das Sagen
hat. Semantische Spiegelung dieser arroganzgeprägten Entmündigung ist der unerträgliche
Begriff „Kommunalaufsicht“.
Wenn die Bürger in den Städten tatsächlich noch mitbestimmen könnten, dann wäre
unsere Gesellschaft eine andere, vor allem eine
menschlichere. Demokratie, das hat Siebel mit
den Beispielen Polis und freie Reichsstädte
gezeigt, ist doch eine Bewegung von unten,
und wenn dieses Prinzip auf den Kopf gestellt
wird, dann gerät unser demokratisches System
ins Wanken. Das, was qua politischem Handeln
falsch läuft, kann in unserem Gemeinwesen
gottlob in die richtige Spur gebracht werden.
Ich hoffe, dass sich in den Kommunen eine
Bewegung formiert, die diesen Kurswechsel
vornimmt. Manches Beispiel konstruktiver
Bürgerbeteiligung (ich meine also ausdrücklich nicht solche „Initiativen“, bei denen
einige Wenige ihre Minderheitsinteressen in
der unseligen Mixtur aus Populismus und
Demagogie leider oft sogar erfolgreich durchsetzen) kann da Mut machen.
Auch der Blick über den Gartenzaun ist
hilfreich. Walter Siebel hat seinen Lebensmittelpunkt im deutschen Norden. Dänemark
und Schweden liegen vor der Haustür und nachweislich in Europa. Dort kann der Oldenburger
Soziologe besichtigen, dass kommunale Selbstverwaltung sogar gestärkt wird. Ein Ergebnis
besteht darin, dass das Gros der Bürger auch an
kommunalen Wahlen teilnimmt.
Rezensent: Michael Schäfer
Bewertung: ****
i
infos
70
Walter Siebel:
Die Kultur der Stadt
Suhrkamp, Berlin
2. Auflage 2016
ISBN 978-8487-2681-3
www.suhrkamp.de
Anmerkungen zu einer
performativen Theorie der
Versammlung
Judith Butler, geboren 1956, ist Professorin
für Komparatistik und kritische Theorie an
der Universität of California in Berkeley. Ich
gebe zu, dass ich den Begriff Komparatistik
nicht kannte. Der Wortstamm war mir schon
geläufig, aber dass es um Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft geht, habe ich
erst bei Wikipedia gefunden.
Judith
Butler Anmerkungen
zu einer
performativen
Theorie der
Versammlung
Suhrkamp
Ich bin auf das Buch der Theodor-W.Adorno-Preisträgerin der Stadt Frankfurt am
Main, verliehen im Jahr 2012, durch eine der
guten Literatursendungen von Deutschlandfunk/Deutschlandradio Kultur aufmerksam
geworden.
Da sich die Autorin wissenschaftlich mit
dem Phänomen „großer Menschenmengen“
befasst, die sich zur politischen Meinungsbildung formieren, schien mir der Gegenstand für meine kommunalen Leser interessant.
Gewiss, die Zeit gewaltiger Demonstrationen
scheint jedenfalls in Deutschland vorbei zu
sein. Dass am 10. Juni 1982 500 000 Menschen
in Bonn auf die Straße gingen, um gegen den
NATO-Doppelbeschluss zu demonstrieren, ist
Geschichte.
Noch etwas gegenwärtiger – obwohl auch
im vergangenen Jahrhundert passiert – sind
die „Leipziger Montagsdemos“, mit denen
Hunderttausende die SED-Herrschaft ins
Wanken und schließlich zum Verschwinden
brachten. Am 4. November waren auf dem
Berliner Alexanderplatz gar eine Million
Menschen versammelt, die „wir sind das Volk“
skandierten und damals noch mehrheitlich für
einen demokratischen, einen menschlichen
Sozialismus standen.
An diesen Zahlen lassen sich die
Dimensionen jener „Veranstaltungen“ einer
Bewegung namens „Pegida“, die die politischen
und intellektuellen Eliten unseres Landes ab
2014 in Unruhe versetzte, nicht einmal ansatzweise messen. Aber sind es die Zahlen, an denen
wir bewerten dürfen, ob Meinungsäußerungen
repräsentativ sind?
Und werden sie dadurch, dass sie groß,
mehrheitlich, repräsentativ und auch demokratisch? Dazu Judith Butler: „Zu sagen, eine
demokratische Bewegung sei eine, die sich als
solche bezeichnet, ist natürlich verlockend,
doch es bedeutet, die Demokratie aufzugeben.
Zwar gehört Selbstbestimmung zur Demokratie dazu, daraus folgt jedoch nicht automatisch, dass jede Gruppe, die sich selbst als
repräsentativ definiert, rechtmäßig von sich
behaupten kann „das Volk“ zu sein“ (S. 10).
In unserer modernen Gesellschaft
beobachten wir eine zunehmende Tendenz
zur Inszenierung inklusive der Selbstinszenierung.Vor diesem Hintergrund wird
es immer wichtiger, dass demokratische, vor
allem aber auch radikaldemokratische Politik
mit größtmöglicher Objektivität die Frage
beantworten muss, wer das Volk tatsächlich
auch repräsentiert. Das ist die zentrale Aufgabe und das ist auch die Intention des Buches,
und es ist auch das wichtigste Kriterium dafür,
ob eine politische Bewegung überhaupt die
Legimitation und das Mandat hat, sich als Vertreter der Interessen des Volkes zu verstehen.
Judith Butler setzt sich mit diesem Gegenstand oft sehr akademisch, zum Teil auch sehr
abstrakt auseinander.
Wer von der Autorin eine Art Kriterienkatalog erwartet, mit dessen Anwendung zum
Beispiel legitime und illegitime Meinungsäußerungen qua demonstrativer Formierung
unterschieden werden können, wird nach
der Lektüre des Buches enttäuscht sein. Ein
solches Bewertungsinstrument kann es wohl
auch nicht geben. Es wird dabei bleiben,
jeden konkreten Fall unter die Lupe nehmen
zu müssen.
Das ist mühevoll, aber es ist die Lebensrealität. Es gibt dafür aber zumindest eine Art übergreifendes Prinzip, das Butler so formuliert:
„Eine gesellschaftliche Bewegung ist auch eine
Sozialform, und wenn sie eine neue Lebensweise, eine lebenswertere Form des Lebens
fordert, muss sie dabei selbst den Grundsätzen
folgen, die sie verwirklichen will“ (S. 278).
Das ist die vorletzte Seite ihres Buches, und
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
INSPIRATIONEN/INFORMATIONEN
Personalien / Bücher
ich habe mich nach der Lektüre schon gefragt,
warum es derart langer, und oft komplizierter
Herleitungen bedarf, um zu diesem Fazit zu
kommen.
Rezensent: Michael Schäfer
Bewertung: ***
i
infos
Judith Butler: Anmerkungen zu
einer performativen Theorie
der Versammlung
Suhrkamp, Berlin
1. Auflage 2016
ISBN 978-3-518-58696-9
www.suhrkamp.de
„Erholung“ vom Sachbuch.
Der etwas andere Titel
zum Schluss:
Aufbau Literatur Kalender 2017
Von 1990 bis 2014 habe ich im Brandenburgischen Panketal gewohnt, 50 Meter
hinter der Berliner Stadtgrenze. Die Hauptstadt begann dort mit dem Ortsteil Buch,
und wie der Name schon sagt, konnte es gar
nicht anders sein, dass in dieser zu Pankow
gehörenden Siedlung meine Lieblingsbuchhandlung beheimatet war. Ihr Name: „Buchladen in Buch“. Das Motto: „Was ich schon
immer lesen wollte, und doch wieder verschenke“. Nur Bibliophile, die diesen Wahlspruch konsequent umsetzen, ermöglichen im
digitalen Zeitalter die Fortexistenz deutscher
Buchhändler. Ich reihe mich da ein.
Es war mir immer eine fast diebische
Freude, dem Inhaber, Michael Kowarsch, die
Notizen zu überreichen, die ich mir im größten
„Laden“ dieser Art (Insider wissen welche Einrichtung in der Mitte der Bundeshauptstadt ich
meine) gemacht hatte. Dort holte ich mir beim
Stöbern in den wirklich gewaltigen Bücherbergen Appetit. „Gegessen“ wurde aber stets
und ständig im Berliner Norden.
Dort lag natürlich, und immer rechtzeitig
ab Oktober, der Aufbau Literatur Kalender
aus. Mit dem Herausgeberverlag wurde eine
Ossi-Leseratte wie ich gleichsam sozialisiert.
Und in diesem Prozess war eine Begegnung
mit dem Literatur Kalender aus dem Hause
Aufbau unvermeidlich. Diese Edition hat 50.
Geburtstag. Ich war 14 als der Almanach, der
mit Prosa und Lyrik nationaler und internationaler Autoren dem Jahr eine literarische
Struktur gab, zum ersten Mal erschien. Dass
ich ihn erst – obwohl viele Titel von Aufbau,
die zu DDR-Zeiten erschienen sind, in meinem
Bücherschrank stehen – nach der Wende zum
ersten Mal zur Kenntnis nehmen durfte, hat
definitiv etwas damit zu tun, dass Kalender
im realen Sozialismus ausnahmslos zur Kategorie „Bück-Dich-Ware“ gehörten. Diesen
Terminus verstehen eigentlich nur Ossis: die
begehrten Güter lagen eben nicht auf, sondern
in kleinsten Mengen unter dem Ladentisch.
Der Verkäufer musste sich also bücken, um
sie hervorzuzaubern. Das geschah vornehmlich auf konspirative Weise. Der Laden musste
möglichst leer sein, um nicht Begehrlichkeiten
zu wecken, die schlichtweg aus Mangel an
Produkten nicht erfüllbar waren. Da ich den
Literatur-Kalender nicht kannte, habe ich folglich auch nicht danach verlangt. Den folgenden
Kalauer kennt jeder ostdeutsche Fischverkäufer:
„Aal soll in der DDR knapp gewesen sein? Das
kann ich nicht bestätigen. In meinem Landen
hat nie einer danach gefragt!“
Späte Lieben sind oft besonders innig. Das
gilt komplett für meine Liaison mit dem Aufbau Literatur Kalender. Da ich die ersten Jahre
meiner „Braut“ nicht aus eigener Erfahrung
kenne, darf ich ausnahmsweise aus dem kleinen
Text auf Seite 1 der diesjährigen Jubiläumsausgabe zitieren: „Vor 50 Jahren erschien der
erste Literaturkalenders des Aufbau-Verlags,
herausgegeben von Jürgen Jahn und gestaltet
von Rudolf Grüttner.
21 Jahre lang zierte das Titelblatt die Initiale
„L“ in immer neuen Formen. Kurz nach der
Wende traten Fotos von Lesenden, dann
Collagen und schließlich Porträts berühmter
Autorinnen und Autoren an die Stelle der
Initiale, die Schrift wurde immer wieder
modernisiert, doch inhaltlich blieb sich der
Kalender treu. 2005 wurde die bis heute
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
bestehende Struktur der Wochenblätter eingeführt: Eine Kombination aus Autorenbild,
einem Zitat aus dessen Munde und einer biografischen Notiz. Seine immer neue Frische
aber bezieht der Aufbau Literatur Kalender
aus der Literaturbegeisterung all jener, die an
seiner Entstehung mitwirken. Vor allem ihnen
sei an dieser Stelle gedankt, ebenso wie den
Lesern, die ihm zum Teil seit 50 Jahren die
Treue halten.“
Unter diesem schönen Text steht sehr
bescheiden „Ihre KalendermacherInnen“. Die
letzte Textseite nennt ihre Namen. Es sind 22,
und Andrea Doberenz, von ihr bekomme ich
immer das Rezensionsexemplar, ist als Aufbau-Pressechefin – das habe ich mit Freude
registriert – auch dabei.
An dieser Stelle sei erwähnt, dass der Aufbau
Literatur Kalender der mit Abstand „dienstälteste“ in diesem Genre in Deutschland ist.
Die „Frankfurter Allgemeine“ attestiert: „Ein
Standardwerk seiner Zunft“. Wahrlich: ein
Ritterschlag.
Das zeigt natürlich auch die Ausgabe 2017.
Sie ist eine wunderbare Mischung aus neuen
und alten (manche sehr zu Unrecht vergessen)
Literaten. In der 32. Woche, die geht vom 7.
bis zum 13. August, ist das Blatt Alfred Döblin
gewidmet. Die neue Inszenierung von „Berlin
Alexanderplatz“ (der gleichnamige Roman
erschien übrigens 1929 und war ein Riesenerfolg) im „Deutschen Theater“ habe ich gerade
gesehen. Was ich aber nicht wusste – und insofern ist wirklich jedes neue Kalenderblatt auch
ein Wissensgewinn – ist, dass Döblin für dieses
Buch als der deutsche Kandidat für den Nobelpreis der heiße Favorit war. Bekommen hat ihn
aber Thomas Mann für die 30 Jahre zurückliegenden „Buddenbrocks“.
Vor zwei Jahren bin ich aus Panketal ins
Berliner Schöneberg gezogen. Das war auch
ein sehr trauriger Abschied von meinem „Buchladen in Buch“. Ich habe aber nur fünf Minuten
von meiner neuen Wohnung entfernt wieder
eine ganz rührige Buchhändlerin gefunden. Die
stammt, man hört’s – aus Baden-Württemberg
– und teilt meine Begeisterung für den Aufbau Literatur Kalender. Natürlich liegt die
Jubiläumsausgabe deshalb ganz prominent
in ihrem Schaufenster. Und ist damit auch
nachweislich, denn Schöneberg ist nun ein
sehr überzeugter Teil des „alten“ Westberlin,
eine Gesamt-Berliner und mithin – wir sind
schließlich die Bundeshauptstadt – auch eine
gesamtdeutsche Institution.
Das hat er mehr als verdient. Wir stoßen
an auf die nächsten 50 Jahre. Natürlich mit
Rotkäppchen-Sekt. Der ist wie der Kalender
ein echter „Ossi“, und hat es zur unangefochtenen Nummer Eins unter den deutschen
71
Personalien / Bücher
Sektkellereien gebracht. Schon wegen dieser
Analogie bin ich sicher, dass der Aufbau
Literatur Kalender nicht nur süddeutsch in der
Schöneberger Kleiststraße bei der Büchergilde
Gutenberg präsentiert wird. Er liegt auch im
Ländle in allen Buchhandlungen. Sie können
ihn also überall kaufen. Nein, Sie müssen es.
Rezensent: Michael Schäfer
Bewertung: *****
i
infos
Aufbau Literatur Kalender 2017
Aufbau Verlag GmbH & Co. KG
Berlin 2016
ISBN 978-3-351-03623-2
www.aufbau-verlag.de
zur Kenntnis nehmen. Wenn es vergriffen gewesen
wäre, dann hätten wir ja eine Petition direkt aus
Calw an Suhrkamp geschrieben. Aber das Buch
war lieferbar. Das hatten wir – Google sei Dank
– schon an Ort und Stelle herausgefunden. Also
haben wir es gleich zweimal bestellt. Natürlich bei
unserer bereits in der vorangegangen Vorstellung
des Aufbau Literatur Kalenders erwähnten Buchhändlerin in der Kleiststraße in Berlin-Schöneberg. Sie heißt Johanna Binger und stammt wie
Hesse – das wissen Sie schon aus meinen Zeilen
zum Kalender – aus dem „Ländle“. Ist es nicht
Hermann Hesse
Vom Wert des Alters
Vom Wert des Alters
Unsere Hochzeitstage feiern wir immer „auswärts“.
Die Ehepartner wechseln sich bei der Wahl der
Reiseziele ab. In diesem Jahr war ich dran. Wir
machten Station in Calw. Diese Wahl war ein
Volltreffer, denn für meine Frau und mich ist
Hermann Hesse der Lieblingsdichter. Viele andere
aus der schreibenden Zunft mögen wir fast ebenso.
Aber Nummer eins ist Nummer eins. Natürlich
waren wir in Hesses Geburtshaus, und wir waren
begeistert von der sehr authentischen und zurückhaltend-schlichten Ausstellung über Werk und
Leben im Hermann-Hesse-Museum.
Das war die erste Reise nach Calw, und es
gab das nachvollziehbare Bedürfnis, etwas mitzunehmen, das uns an diese Tage erinnert. Seine
Bücher stehen alle in unserem Bücherschrank.
Im selben Regal auch viele Bücher über ihn. Wir
waren deshalb froh als wir an der Kasse auf einen
Flyer stießen, der auf eine Suhrkamp-Edition
hinwies, die wir noch nicht kannten: Hermann
Hesse: Vom Wert des Alters. Der Flyer zeigte einige
Fotos, die wir schon im Museum mit ziemlicher
Bewegung betrachtet hatten. Bildautor: Martin
Hesse, jüngster Sohn des Dichters und ein als „Poet
der Kamera“ gerühmter Berufsfotograf.
„Ja, mit EC-Karte können Sie bei uns bezahlen.
Aber wir haben das Buch nicht vorrätig“, sagte
uns eine Hesse-Verehrerin, die ihre Zuneigung
zum Beruf gemacht hatte. Nicht nur an der Kasse,
sondern auch als kundige Erklärerin. Dass die
aus Belgrad stammende Serbin zur Fangemeinde
gehört, ist nicht verwunderlich. Spätestens seit
„Steppenwolf“ hat Hesse eine sehr stattliche Verehrerschar rund um den Globus.
Dass aber ein Buch, für das man im Hause
sogar per Flyer Reklame macht, dort käuflich nicht
erworben werden kann, kann jeder bekennende
Freund des Dichters nur mit heftigem Stirnrunzeln
72
Mit Fotografien des Dichters
von Martin Hesse Suhrkamp
ein wunderbarer, ja geradezu märchenhafter
Umstand, dass man ein Buch von und über den
Schwaben Hermann Hesse in Berlin-Schöneberg
bei einer Baden-Württembergerin ordern und
erwerben kann!
Sie erinnern sich an das Motto des Buchladens
in Buch: „Was ich schon immer lesen wollte, und
doch wieder verschenke“. Das habe ich mit den
zwei Exemplaren konsequent umgesetzt. Natürlich hatte ich zuvor schon ein wenig geschmökert,
und mir war schnell klar, dass Suhrkamp mit
dieser Mixtur aus sehr persönlichen Fotos des
Dichters und ebensolchen Sätzen etwas geglückt
war, dass man ohne Übertreibung eine bibliophile Kostbarkeit nennen kann. Das war ein
guter Grund, das Buch in der Dezemberausgabe
vorzustellen. Dieses Exemplar direkt vom Verlag bleibt in meinem Bücherschrank. Mit den
üblichen Klebezetteln und Bleistiftanmerkungen,
mit denen ich die Stellen markiere, die mir beim
Lesen besonders wichtig waren. Und wo ich auch
ein zweites oder drittes Mal nachschlagen werde.
Mit Hesse bin ich seit meiner Jugend vertraut.
Etliche seiner Romane und Erzählungen habe ich
in verschiedenen Perioden meines Lebens immer
wieder in die Hand genommen, und dabei immer
auch neue Perspektiven entdeckt. Das ist es, was
gute Literatur ausmacht. Ich tauschte mich erst
kürzlich mit einem von mir sehr geschätzten
Autoren aus: gute Theaterstücke, Essays und
auch Sachbücher hat er verfasst. Ich bekannte
mich zu meiner Hesse-Verehrung. Das wunderte
ihn. Seiner Meinung nach passt er nicht mehr in
unsere Welt. Da musste ich heftig widersprechen.
Zurück zu „Vom Wert des Alters“. Der Band
ist eine erweiterte und revidierte Fassung des
Insel-Taschenbuches 2857: Hermann Hesse: Mit
der Reife wird man immer jünger. Das schmale
Bändchen steht natürlich auch in meiner Hausbibliothek, und manchen der vorwiegend kurzen
Texte erkannte ich auch wieder. In Gänze ist mir
aber ein doch neues Buch begegnet. Ich kann nur
vermuten, dass die kluge Montage von Passagen
aus Hesses Romanen, Erzählungen, Gedichten
sowie aus seinen Briefen mit den wunderbaren
Fotos seines Sohnes die Ursache für diese neue
Anmutung ist. Was mir, anders als bei der Lektüre
des Insel-Taschenbuches, das mir mit einem
traurig-melancholischen Tenor in Erinnerung
ist, jetzt auffiel, ist die an etlichen Stellen spürbare ironische Distanz zum Thema. Dafür mag
am Ende beispielhaft der folgende Vierzeiler
stehen, den ich mir auch in einer Sammlung von
Ringelnatzversen vorstellen könnte:
„Die Jugend ist entflohn,
man ist nicht mehr gesund.
Es drängt die Reflexion
sich in den Vordergrund.”
Rezensent: Michael Schäfer
Bewertung: *****
i
infos
Hermann Hesse:
Vom Wert des Alters
Suhrkamp, Berlin
2. Auflage 2012
ISBN 978-3-518-41945-8
www.suhrkamp.de
Christa Wolf. Briefe 1952 – 2011
Bevor ich dieses Buch vorstelle, möchte
ich Ihnen einige Passagen noch einmal in
Erinnerung rufen, die ich vor zwei Jahren bei
der Vorstellung der „Moskauer Tagebücher“ zu
Papier gebracht habe.
Diese beeindruckende Lektüre verdanken
wir ihrem Mann, der den Nachlass von Christa
Wolf ausgewertet hatte, um anhand von Tagebucheintragungen ihre und auch gemeinsame
Reisen nach Moskau und in die Sowjetunion
von 1957 bis 1989 zu dokumentieren. „Es
sind“ so Gerhard Wolf zu diesem Buch „Notate,
manchmal akribisch, ausführlich, manchmal
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
INSPIRATIONEN/INFORMATIONEN
Personalien / Bücher
nur Momentaufnahmen, die mit unbestechlichem Blick festhalten, was sie sieht und erlebt,
erfährt und denkt.“
Das reflektierte ich 2014 wie folgt: „Die
Lektüre der „Moskauer Tagebücher“ hat mich
von der ersten bis zur letzten Zeile gefesselt. Ich
traf dort „alte Bekannte“ aus meinem Bücherschrank von Brigitte Reimann über Konstantin
Simonow bis zu Erwin Strittmatter, um nur
einige wenige Beispiele zu nennen. Und ich las
über einen „Autoren“ wie Otto Gotsche und
bekam nun auch von Christa Wolf bestätigt,
dass ich richtig gehandelt habe, seine Bücher
nach einer kurzen Kostprobe fortan zu verschmähen…Ich fand aber auch Zeugnisse
über die sowjetische Literaturszene, die sich
genauso zerrissen zwischen großen Künstlern
und schreibenden Parteifunktionären der Sorte
Gotsche darbot wie jene der DDR.
Und das sind auch und vor allem Belege
dafür, wie Christa und Gerhard Wolf überaus verlässliche Freundschaften auch zu jenen
pflegten, die in der Sowjetunion verfemt und
außer Landes getrieben wurden. Dafür steht
in erster Linie Lew Kopolew. Dass die Wolfs
zu ihm hielten, hat ihnen jahrelange Nachstellungen, Verdächtigungen, Schikanen
„eingebracht“. Christa Wolf hat dieses unter
anderem in ihrem kleinen Bändchen „Was
bleibt“ dokumentiert.
Ich befürchte, dass jene Ignoranten, die
der aufrechten Dichterin auch heute noch
vorhalten, dass sie in sehr jungen Jahren einen
kurzen Kontakt zum DDR-Geheimdienst
hatte, weder die „Moskauer Tagebücher“ noch
„Was bleibt“ jemals lesen. Aber selbst wenn –
sie würden sich vermutlich nicht schämen, also
schäme ich mich für jene, die Christa Wolf ja
nicht deshalb diffamieren, weil sie als junges
Ding in einer Mischung aus Naivität und
politischer Überzeugung diese kurze Liaison
hatte. Sie diffamieren sie, weil sie ihren linken
Überzeugungen – und das waren eben mitnichten realsozialistische Treuebekundungen –
treu blieb.“ Nun liegt also in erster Auflage eine
fast 1.000 Seiten umfassende Dokumentation
von Briefen vor, die Christa Wolf von 1952 bis
2011, das ist das Jahr ihres Todes, geschrieben
hat. Sabine Wolf, die Herausgeberin, berichtet
im Nachwort zu diesem Band, dass für dieses
Buch ca. 15.000 Briefe durchgesehen und
evaluiert werden mussten.
Ich empfehle dem geneigten Lesern, ausnahmsweise die Lektüre mit diesem gut
geschriebenen und sehr informativen Nachwort
zu beginnen. Dort erfährt er, dass das Briefeschreiben für Christa Wolf einen ungewöhnlich hohen Stellenwert hatte. Dass wir heute
diese Zeitdokumente überhaupt vollständig
zur Kenntnis nehmen – betreut werden diese
Nachlässe in den Archiven der Akademie der
Künste und im Deutschen Literaturarchiv
Marbach – verdanken wir der akribischen
Ablage von Christa Wolf. Diese habe, so
schreibt Sabine Wolf (sie ist die Leiterin des
Literaturarchivs der ADK) ihre Korrespondenz
wie eine Wissenschaftlerin geführt: jederzeit
rekonstruierbar, verwendbar als Materialfundus
in strukturierter Ablage.
Christa Wolf erstellte alle maschinegeschriebenen Briefe mit Durchschlag. Auch
von den handschriftlichen Briefen fertigte sie
mit Kohle- oder Blaupapier Durchschriften
an, die heute in ihrem Nachlass zur Verfügung
stehen.
Etwa die Hälfte aller vorliegenden Briefe
von Christa Wolf sind an Empfänger in der
DDR gerichtet. In die Auswahl für diesen Band
kamen 483 Briefe. Davon sind 90 Prozent dort
zum ersten Mal veröffentlicht. Schon das macht
das Buch zu einem literarischen und literaturwissenschaftlichen Ereignis.
Ich habe – dazu war die Zeit zu kurz, denn
Christa
Wolf
Briefe
1952-2011
Man steht sehr bequem
zwischen allen Fronten
Suhrkamp
ich wollte den Titel unbedingt zeitnah zu
dessen Erscheinen vorstellen – natürlich noch
nicht alle Briefe gelesen. Ich fühle mich aber
zu folgendem Fazit berechtigt: Der Titel des
Auswahlbandes beschreibt natürlich nicht die
Lebenswirklichkeit von Christa Wolf, die zu
Recht als eine der bedeutendsten deutschen
Schriftstellerinnen des 20. und 21. Jahrhunderts bezeichnet werden kann. Denn die
Autorin hat ja gerade nicht bequem zwischen
allen Fronten gestanden. Spätestens seit ihrem
bewegenden „Was bleibt“ wissen wir das auch
aus diesem ehrlichen Selbstzeugnis. Das
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
dokumentieren nun auch die vorliegenden
Briefe.
Christa Wolf war eine begnadete Autorin,
sie war authentisch, sie hat sich gequält und sie
hat uns nie mit einfachen Wahrheiten gelangweilt. Und sie war redlich. Wer das bestreitet,
schätzt nicht falsch ein, interpretiert ungenau,
reflektiert zu subjektiv – Nein, er lügt. Davon
zeugen alle Briefe, die ich inzwischen gelesen
habe – mit besonderem Interesse jene an
Künstlerkollegen wie Günter Kunert, Franz
Fühmann, Konrad Wolf, Günter de Bruyn,
Gabriele Wohmann oder Stephan Hermlin, um
nur einige zu nennen. Das sind aber mitnichten
nur Selbstreflektionen (auch das wäre schon
von Wert für die Sicht auf eine so bedeutende
Künstlerin), sondern es sind auch Belege dafür,
wie sich ostdeutsche Linke damit quälten, den
Zwiespalt zwischen ihren ehrlichen Überzeugungen und den Deformationen des Realsozialismus auszuhalten.
Wann endlich nehmen das jene zur
Kenntnis, die vorwiegend aus westdeutscher
Perspektive darüber Urteile fällen, wie man in
der DDR hätte leben müssen. Das Klischee
von den angepassten, opportunistischen
Intellektuellen ist schlicht falsch. Ebenso
wie die Unterscheidung, dass die Guten und
Mutigen jene waren, die die DDR verlassen
haben, und jene die Bösen sind, die im Lande
blieben, um von hier aus den unbequemen, ja
auch gefährlichen Kampf gegen die Borniertheit und die Mittelmäßigkeit derjenigen zu
führen, die in erdrückender Mehrheit in der
SED-Funktionärshierarchie das Sagen hatten.
Das ist ein komplexes, ein subtiles, ja und auch
ein sehr widersprüchliches Thema. Nichts für
jene, die ihre ewigen Urteile nicht revidieren
wollen. Das aber müssten sie, würden sie „nur“
die Briefe lesen, die Sabine Wolf ja auch für
diese Ignoranten ausgewählt hat. Sie werden
auch diese Texte ignorieren.
Es werden sich dennoch genügend Leser
finden, die im Briefwechsel von Christa Wolf
Aufklärung, Inspiration und eine höchst
differenzierte Reflektion zum Künstlertum
in der DDR und in der Zeit danach finden.
Danke, Sabine Wolf, dass Sie dieses Mammutprojekt angegangen und so souverän bewältigt
haben.
Rezensent: Michael Schäfer
Bewertung: *****
i
infos
Christa Wolf. Briefe 1952 – 2011
Suhrkamp Berlin
1. Auflage 2016
ISBN 978-3-518-42573-2
www.suhrkamp.de
73
Epilog / Impressum
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
Bund und Länder haben sich endlich auf die Zukunft des Bund-Länder-Finanzausgleiches einigen
können. Kurz zusammengefasst sieht es so aus. Der
Bund zahlt deutlich mehr und erhält einige Kompetenzen hinzu. Die finanzstarken Länder geben gar nichts mehr, doch die Verteilmasse bleibt gleich.
Nach den Kosten der Integration, den Asyl- und Konjunkturpaketen und weiteren Hilfen ist dies nun
die x-te Gelegenheit, bei der sich der Bund mit Milliardenhilfen den darunterliegenden politischen
Ebenen gegenüber großzügig zeigen kann.
Tatsächlich – und dieser Umstand ist im politischen Betrieb nahezu jedem bewusst – ist dies lediglich Ausweis der chronischen Unterfinanzierung in den Kommunen. Die Milliardenumlagen, soweit
sie tatsächlich durchgeleitet wurden, haben in Windeseile eine investive Bestimmung gefunden und
belegen damit anschaulich den kontinuierlichen strukturellen Aderlass. Die Einigung zum Bund-Länder-Finanzausgleich ist vor allem deshalb so enttäuschend, weil sie nur kosmetischer Natur ist. Schon
wieder wurde eine Gelegenheit verpasst, die politischen Strukturen in Deutschland vom Kopf auf die
Füße zu stellen und die Finanzen den Aufgaben folgen zu lassen. Die deutschen Kommunen – in
Sonntagsreden zur Flüchtlingskrise oder zum Aufbau Ost werden sie regelmäßig in den Himmel gehoben – hätten es verdient, endlich über eine auskömmliche Finanzierung zu verfügen. In Erinnerung
sei gerufen, dass die zu Recht gelobten skandinavischen Länder ihren Kommunen einen Erstzugriff
auf die Einkommensteuer und erheblich größere Kompetenzen gestatten.
Der Vorrat an Finanzen und Kompetenzen ist endlich. Und so ist es zwar betrüblich, doch kaum verwunderlich, dass sich Bund und Länder nicht zu ihrem Nachteil auf eine Stärkung der nicht verhandlungsbeteiligten Kommunen einigten. Wenn schon dieser Umstand zu konstatieren ist, so hätte man doch aber
wenigstens das rigide Pauschalverbot einer jeden Kooperation zwischen Kommunen und dem Bund
aufweichen können. Insbesondere die prosperierenden Länder haben erhebliche Mittel gewonnen. Es
mutet geradezu grotesk an, dass es weiterhin dem Gutdünken etwa der bayerischen Staatsregierung obliegt, ob die darbenden Grenzregionen in Oberfranken und der Oberpfalz weitere Unterstützung erhalten.
Es wäre das Mindeste gewesen, den Ländern eine Auflockerung des Kooperationsverbotes abzuringen.
Unterm Strich steht das Ende der kommunalen Selbstverwaltung. Es kann keine Unabhängigkeit geben, wenn man sich 1. von Hilfspaket zu Hilfspaket hangeln muss
und 2. die jeweiligen Länderregierungen um die Weiterleitung von Geldern anbetteln muss. Die Kommunen sollten ihre Lehren daraus ziehen. Sie sollten mit noch
größerer Vehemenz und verstärkt öffentlich für ihre Interessen streiten. Wenn nun derzeit das politische Gefüge in Bewegung gerät, besteht bei einigen unschönen
Entwicklungen vielleicht auch die Chance, diese strukturellen Fragen der demokratischen Verfasstheit aufs Trapez zu bringen. Die Ohren des Volkes sind geweitet und
niemand kennt die Bürger besser als ihre kommunalen Amts- und Mandatsträger. In diesem Sinne wird UNTERNEHMERIN KOMMUNE auch 2017 wieder an der
Seite der Kommunen streiten. Einstweilen jedoch wünschen wir unseren Lesern ein fröhliches Fest und einen Guten Rutsch.
Ihr Falk Schäfer
IMPRESSUM
Herausgeber und Verleger:
Prof. Dr. Michael Schäfer, Professor für Kommunalwirtschaft
Verlag:
Dr. Bernd Kahle GmbH und UNTERNEHMERIN KOMMUNE, Ansbacher Straße 6 - Dachgeschoss, 10787 Berlin
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Redaktion:
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Falk Schäfer, Verantwortlicher Redakteur
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• Senatsbibliothek Berlin – einzige kommunalwissenschaftliche Spezialbibliothek für die Bundesrepublik Deutschland
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• Studiengang Kommunalwirtschaft an der Hochschule für nachhaltige Entwicklung in Eberswalde (deutschlandweit einziger Masterstudiengang Kommunalwirtschaft)
• „Verbundnetz für kommunale Energie“ – Diskussionsforum zur kommunalwirtschaftlichen Betätigung
• VKU-Landesgruppen der neuen Länder
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Landes-, Bundes- und Europapolitik sowie einen ausgewählten Verteiler im Bereich der Privatwirtschaft.
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UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 04 / DEZEMBER 2016
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