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Full text: Unternehmerin Kommune (Rights reserved) Ausgabe 20.2016,2 (Rights reserved)

AUSGABE 02 / JUNI 2016 Jahresthema: Infrastruktur Sanierungsstau beim ÖPNV Interview mit VDV-Präsident Jürgen Fenske S. 5 Kommunalwirtschaft aktuell 20. JAHRGANG as? urop E n tte : inmi sion t s a u a t k u nd S r g Dis e r l n u a u Z al t r i sc he n orm n w z r n e e a V Ein g fie, Schweiz 50) a r g o r S. D e m i k i n de c ha f t ( s t P o l i n o ss e n e e ne .d Eidg ung unteerrin-kommu ehm Mein Ihre .un ter n w w w Der neue Jobführerschein GASAG und PwC engagieren sich für die Integration von Flüchtlingen S. 29 Forum Neue Länder Das gute Recht der Kommunen? Roundtable-Gespräch zur Rekommunalisierung S. 34 Aus Forschung und Lehre Von der Serie zum Sachbuch „Weimarer Erklärung“ und Buchpräsentation von „Das kommunale Nagelstudio – die populärsten Irrtümer zu Stadtwerke & Co.“ S. 38 Inspirationen/Informationen Weniger, bunter und ungleicher Grundzüge der demografischen Entwicklung in Deutschland S. 42 www.unternehmerin-kommune.de gültig ab 13.12.2015 gültig ab 13.12.2015 Niedersachsen Niedersachsen Herzberg (Harz) Harzer S RB 80 Ellrich Wernige Brocken Stiege Ilfeld Heringen (Helme) Werther Wolkramshausen Nohra (Wipper) Gör Nordhausen Wipperdorf Bleicherode Ost RB 75 RB 51 Gebra (Hainleite) Sollstedt Bernterode Gernrode-Niederorschel Hausen RE 19 Leinefelde RB 51 RE 9 RE 19 Sonder RE 19 Wing Beuren Bodenrod Wingerode Bodenrode RB 51 RB 51 RE 9 Arenshausen Eichenberg Eichenberg Mühlhausen RB 89 Paderborn / Münster Witzenhausen RE 17 Hagen RB 51 RE 2 RB 52 KasselWilhelmshöhe Hann. R 7 Bebra Münden Staufenberg-Speele R 4 Korbach Mit uns fahren Sie besser. KasselKomfort, der für sich Wilhelmshöhe RE 9 spricht. Kassel Hbf RT 5 Melsungen R 5 Fulda RE 9 Kassel Wir Wir fahren fahren für: für: RE 2 RB 52 RB 53 RB 20 R6 Gerstungen / Bebra Eisenach Wutha Sättelstädt Schönau (Hörsel) STB 41 Bad Salzungen Wir fahren für: Wir fahren fahrenim: im: Wir MDV G Fröttstädt Mechterstädt Gotha Jeder Mensch hat Ziele. Wir bringen Sie hin. Hessen Hessen Kassel Hbf RE 30,Bad RE 98 Langensalza Frankfurt (M) R 39 Bad Wildungen RT 5 Melsungen R 5 Fulda RE 1 RE 30, RE 98 Frankfurt (M) R 39 Bad Wildungen www.abellio.de RB 51 Hann. R 7 Bebra Münden Staufenberg-Speele R 4 KorbachRE 1 RB 89 Paderborn / Münster Witzenhausen RE 17 Hagen Uder Thüring Uder Kassel Mitteldeutschlands neue Züge. Arenshausen R 8 Göttingen Heilbad Heiligenstadt R 8 Göttingen Heilbad Heiligenstadt RB 48 Friedrichroda S R Inhaltsverzeichnis Prolog 4 JAHRESTHEMA: INFRASTRUKTUR Finanzierung kommunaler Verkehrsinfrastruktur Eine Kernaufgabe der Kommunen Wettbewerb auf den Regionalstrecken des deutschen Schienennetzes 5 Der Kanon existentieller Daseinsvorsorge ist dynamisch Breitbandversorgung – inzwischen (fast) so wichtig ist wie frisches Wasser Bindeglied zwischen den Kommunen 16 Digitalisierung und Daseinsvorsorge 8 Vorsprung durch Vertrauen 20 KOMMUNALWIRTSCHAFT AKTUELL Springer-Sachbuch „Das kommunale Nagelstudio – die populärsten Irrtümer zu Stadtwerke & Co.“ Stein des Anstoßes Stiftung Jobführerschein gGmbH 24 GASAG und PwC starten Jobführerschein für Flüchtlinge 29 FORUM NEUE LÄNDER Das Ob, Warum, Wann und Wie von Rekommunalisierungen 20 Jahre Ostdeutsche Sparkassenstiftung Bewahren. Stärken. Begeistern. 30 Gebot der Stunde? 34 AUS FORSCHUNG UND LEHRE Das Buch zur Irrtümer-Serie / Weimarer Erklärung Plädoyer für potente kommunale Unternehmen 38 INSPIRATIONEN / INFORMATIONEN Demografische Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland Weniger, bunter und ungleicher 42 Personalien / Veranstaltungen / Bücher 59 Epilog / Impressum 66 Politik, Verwaltung und kommunale Kompetenzen in der Schweizerischen Eidgenossenschaft Ein ganz normaler Staat inmitten Europas? UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 50 Zum Titelbild: Weder für das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz (GVFG) noch für die Entflechtungsmittel gibt es bislang Nachfolgeregelungen. Zwei zentrale Finanzierungsinstrumente des ÖPNV in Deutschland stehen zur Disposition.3 Prolog Liebe Leserin, lieber Leser, aufmerksame Leser meiner Kolumne wissen, dass meine Texte im Juniheft immer mal wieder von meinen Urlaubsaufenthalten an der dänischen Nordseeküste in Jütland inspiriert werden. Seit dem Jahr 2000 ist dieses nordische Land immer von Ende Mai bis Mitte Juni unser Reiseziel. Wir lieben neben Dünen und Meer vor allem die Leute: sie sind freundlich, hilfsbereit und herrlich unaufgeregt. Das ist nicht aufgesetzt, es kommt von innen. Insofern wunderte es mich gar nicht als 2012 zum ersten Mal die Ergebnisse des „World Happiness Report“ veröffentlicht wurden. Dieser für die Vereinten Nationen federführend vom Earth Institute der renommierten Columbia Universität erstellte Bericht verbindet unter anderem Daten von Sozialsystemen und Arbeitsmarkt mit Befragungen über die Selbstwahrnehmung der Menschen. Bei den beiden bisherigen Ausgaben des Berichts 2012 und 2013 war jeweils Dänemark auf dem ersten Platz gelandet. Nun liegt die dritte Bestandsaufnahme – sie betrifft das Jahr 2015 und umfasst 160 Länder – vor und in den Ergebnissen am Anfang hat sich kaum etwas verändert. Zwar hat die Schweiz Dänemark als glücklichstes Land der Welt abgelöst. Doch die Unterschiede sind marginal. Auf Platz 2 landete Island, und einen Wimpernschlag dahinter kommen schon wieder die Dänen. Unter den ersten Zehn finden sich außerdem noch Norwegen, Kanada, Finnland, die Niederlande, Schweden, Neuseeland und Australien. Deutschland liegt abgeschlagen auf Platz 26. Unter den jeweils zehn glücklichsten Ländern (eigentlich Menschen!!!) sind seit 2012 aus Europa immer Dänemark, Schweden, Island, Norwegen, Finnland und die Schweiz dabei. Ich fühle mich damit ermuntert, auf meine mehrfach formulierte Hypothese zu verweisen: die europäischen Länder, die auf der Skala der Glückseligkeit ganz oben stehen, verwirklichen auf kommunaler Ebene ein hohes Maß an bürgerschaftlichen Mitwirkungs- und Gestaltungsmöglichkeiten. Auch bei uns steht ein ähnliches Postulat im Artikel 28, Absatz 2 im Grundgesetz. Dieses Prinzip wird in meiner Wahrnehmung, die ich für einigermaßen objektiv halte, immer mehr ausgehöhlt. Deshalb habe ich auch kürzlich recht drastisch den Begriff von den drei Totengräbern der kommunalen Selbstverwaltung geprägt: Überregulierung, strukturelle Unterfinanzierung und die nahezu komplette Abschaffung der Subsidiarität. Ich bin überzeugt, die Erosion des Prinzips der kommunalen Selbstverwaltung ist die zentrale Ursache dafür, dass Deutschland auf Platz 26 in der Glücksstatistik dahindümpelt. Familie und Kommune – das sind die Fundamente unserer Gesellschaft, und nur wer ihnen dauerhafte Stabilität verleiht, kann das auch für das ganze Land bewirken. Die logische Konsequenz aus dieser Wahrheit wäre, die Kommunen umfassend zu befähigen, diese definierte Rolle zu unser aller Nutzen auch auszufüllen. Das heißt angemessene Finanzausstattung. Das heißt auch, die kommunale Selbstverwaltung ohne permanente Eingriffe übergeordneter Ebenen so organisieren zu können, dass damit die aktive und umfassende Mitwirkung der Menschen mobilisiert werden kann. Warum uns die Verwirklichung dieser Vision auch glücklicher machen würde? Dass die nordeuropäischen Länder in der Spitzengruppe sind, liegt daran, dass Gemeinsinn, Solidarität und individuelle Gestaltungs- und Mitwirkungsmöglichkeiten dort einen herausgehobenen Stellenwert haben. Diese Faktoren haben in der Bewertung des „World Happiness Report“ einen zentralen Platz. 4 Aus einer sehr interessanten Perspektive, nämlich der der Hirnforschung, hat Gerald Hüther, einer der bekanntesten Forscher auf diesem Gebiet, untersucht, was Glück und Gestaltungsmöglichkeiten miteinander zu tun haben: «Die vorherrschende Devise zur Bekämpfung der inzwischen auf allen Ebenen unserer gesellschaftlichen Entwicklung zutage getretenen Schwierigkeiten lautet: noch mehr vom Alten. Noch mehr Vorschriften, noch mehr Kontrolle, noch mehr Einsparungen bei gleichzeitiger Forderung nach mehr Wachstum. So werden sich die Probleme unseres Bildungs- und Gesundheitswesens, unserer sozialen Absicherung, unseres Finanzwesens und Politikbetriebs nicht beheben lassen. In diesem Mahlstrom ständig wachsender und immer neuer ökonomischer und sozialer Probleme laufen vor allem unsere Kommunen – unsere Städte, Dörfer und Gemeinden – zunehmend Gefahr, ihre Eigenständigkeit zu verlieren und das, was sie leisten sollten, nicht mehr leisten zu können.» «Was Kommunen also brauchen, um zukunftsfähig zu sein, wäre eine andere, für die Entfaltung der in den Bürgern angelegten Potenziale günstigere Beziehungskultur. Eine Kultur, in der jeder Einzelne spürt, dass er gebraucht wird, dass alle miteinander verbunden sind, voneinander lernen und miteinander wachsen können.» „Wenn Kommunen oder ihre kleineren Einheiten, die Familien, aufhören, diesen sozialen Lernraum bewusst zu gestalten, verliert die betreffende Gemeinschaft das psychoemotionale Band, das ihre Mitglieder zusammenhält. Solche Gesellschaften beginnen dann gewissermaßen von innen heraus zu zerfallen.» «Überall dort, wo Angst geschürt, Druck gemacht, genau vorgeschrieben und peinlich überprüft und kontrolliert wird, wo Mitdenken nicht wertgeschätzt wird und eigene Verantwortung nicht übernommen werden kann, verliert der Innovationsgeist der Mitglieder einer solchen Gemeinschaft, die thermische Strömung, die gebraucht wird, um seine Flügel zu entfalten.» Die Konsequenz: Engagieren Sie sich bitte weiter für deutsches Glück. Kämpfen Sie für kommunale Selbstverwaltung, die diesen Namen wieder verdient. Ich bin dafür auch schon lange auf Achse. Ihr Michael Schäfer UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 JAHRESTHEMA: INFRASTRUKTUR JAHRESTHEMA: INFRASTRUKTUR nachgeschlagen Der Bundesverkehrswegeplan 2030 enthält rund 1.000 Projekte mit einem Gesamtvolumen von 264,5 Milliarden Euro. Dies ist eine Steigerung um 91 Milliarden Euro im Vergleich zum letzten Bundesverkehrswegeplan aus dem Jahre 2003. Davon entfallen 49,4 Prozent auf die Straße, 41,3 Prozent auf die Schiene und 9,3 Prozent auf Wasserstraßen. Nach einer sechswöchigen Öffentlichkeitsbeteiligung wird der Plan nun überarbeitet und später vom Kabinett beschlossen. Finanzierung kommunaler Verkehrsinfrastruktur Eine Kernaufgabe der Kommunen ÖPNV als Querschnittsressort eines modernen Daseinsvorsorgeverständnisses U nsere Gesellschaft ist umfassenden Veränderungsprozessen unterworfen. All diese Trends – vom demografischen Wandel, der Urbanisierung, der Alterung, über die ökologische Wende zu mehr Nachhaltigkeit und Ressourceneffizienz bis hin zur Digitalisierung wirken in besonderem Maße auf den ÖPNV. In vielen ländlichen Regionen stellt sich die Frage, wie sich in Zukunft die Mobilität von immer weniger und immer älteren Bürgern organisieren lässt. Der demografische Wandel zwingt die Kommunen zu einer größtmöglichen Effizienz und zur Bündelung von Angeboten in regionalen Zentren. Diese Konzentration von Infrastruktur kann nur im Gleichklang mit gestärkten Mobilitätsangeboten zwischen der Peripherie und den definierten Ankerpunkten gelingen. In den großen Metropolregionen wiederum gilt es, attraktive Alternativen für den Individualverkehr mit dem Auto zu schaffen. Ziel muss es sein, fossile Brennstoffe zunehmend aus dem Stadtverkehr zu verdrängen sowie durch insgesamt deutlich weniger Autos die Verkehrssicherheit zu erhöhen. Laut Umweltbundesamt war der Straßenverkehr 2015 verantwortlich für ein Fünftel der Treibhausgas-Emissionen in Deutschland. Zum großen Teil werden diese Schadstoffe im dichten Stadtverkehr von PKWs ausgestoßen, genau dort, wo auch die meisten Menschen leben oder arbeiten. Der dritte Megatrend unserer Zeit ist die Digitalisierung. Sie wirkt sich nicht spezifisch auf den ÖPNV aus, sondern betrifft wirklich alle Bereiche unseres Lebens. Im ÖPNV lassen sich vielfältige Potentiale nutzen – etwa bei der Verkehrssteuerung, im Kundenservice oder bei der Vernetzung mit anderen Verkehrsträgern vom Fahrrad bis zum Flugzeug. All diese Entwicklungen deuten darauf hin, dass sich der ÖPNV zunehmend zu einem Querschnittsressort der kommunalen Daseinsvorsorge entwickeln wird. Denn die Mobilität wird insgesamt wachsen und der Individualverkehr ist weder ökologisch, sozial noch unter Sicherheitsaspekten geeignet, dieses Wachstum aufzunehmen. UNTERNEHMERIN KOMMUNE wird sich daher in diesem Jahr speziell dem ÖPNV als Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge widmen – Aufgaben, die zentral sind, vom Bürger als zentral empfunden werden, immer zentraler werden, jedoch vom Gesetzgeber noch immer als freiwillig definiert sind. Zukunft muss finanziert werden und aus den geschilderten Zusammenhängen heraus verdient der ÖPNV eine hohe Priorisierung. Aktuell stehen jedoch zwei wichtige Finanzierungselemente zur Disposition, womit sich in der Praxis in vielen Städten und Regionen ein gravierender Sanierungsstau im kommunalen Nahverkehr verbindet. Eine gemeinsame Studie von Deutschem Städtetag, Verband Deutscher Verkehrsunternehmen und 13 Bundesländern ermittelte für Neu- und Ausbauprojekte im ÖPNV einen Investitionsbedarf von jährlich 1,8 Milliarden Euro. Darüber hinaus bestünde ein erheblicher Sanierungsstau in Höhe von 4,5 Milliarden Euro und die im Personenbeförderungsgesetz geforderte vollständige Barrierefreiheit schlage noch einmal mit mehr als 20 Milliarden Euro zu Buche schlagen, so die Autoren. Diese Befunde signalisieren einen enormen Handlungsbedarf, doch anstatt die Investitionen in den ÖPNV angemessen zu erhöhen, ringen die politischen Entscheider in Bund und Ländern seit Jahren um die Fortführung etablierter Finanzierungsinstrumente. Seit den 1970er Jahren sind über das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz (GVFG) mehr als 100 Milliarden Euro in die Verbesserung der Verkehrsverhältnisse in den Kommunen geflossen. Mit der Föderalismusreform I aus dem Jahre 2007 wurde beschlossen, das mit jährlich 333 Millionen Euro dotierte GVFG-Bundesprogramm für den kommunalen ÖPNV nur noch bis Ende 2019 fortzuführen. Auch die jährlich rund 1,33 Milliarden Euro aus den ehemaligen GVFG-Landesprogrammen, heute Entflechtungsmittel, sind bis 2019 befristet. Seit 2014 sind diese Mittel zudem nicht mehr nur für verkehrliche Investitionen zweckgebunden. UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 Doch gerade die langfristige Planbarkeit von Finanzmitteln ist für größere Bauvorhaben im Verkehrsbereich wichtig. Das, was heute beschlossen wird, lässt sich oft erst im kommenden Jahrzehnt realisieren. Da aber die Zukunft von GVFG und Entflechtungsmitteln momentan noch vollkommen unklar ist, stoppen Kommunen und Verkehrsunternehmen bereits heute die Planung künftiger Vorhaben. Doch nicht nur der Bund ist bei der Verlängerung der Finanzierungstöpfe gefragt. Die Länder haben in der Föderalismuskommission intensiv für mehr Verantwortung bei Verkehrsplanung und -finanzierung gestritten. Dieser müssen sie nun auch gerecht werden. Für die kommunalen Nahverkehrsunternehmen 5 ÖPNV entwickelt sich der Finanzierungsvorbehalt zunehmend zur Bedrohung. Je länger Unklarheit herrscht, desto größer wird der Sanierungsstau und desto weniger können sich Kommunen und Verkehrsunternehmen darauf konzentrieren, ÖPNV-Angebote zu entwickeln, die den künftigen demografischen, technischen und ökologischen Herausforderungen bzw. Möglichkeiten entsprechen. Schon heute liegen notwendige Infrastrukturmaßnahmen im ÖPNV faktisch auf Eis. Das gilt für den barrierefreien Ausbau von U- und Straßenbahnen in nahezu allen deutschen Großstädten wie für viele andere Projekte. Teilhabe, Lebensqualität und Klimaschutz Interview mit Jürgen Fenske, Präsident des Verbandes Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) und Vorstandsvorsitzender der Kölner Verkehrs-Betriebe AG Wachsende Mobilität soll einhergehen mit mehr Sicherheit, weniger Emissionen und überschaubaren Kosten. Das geht eigentlich nur mit starken ÖPNV-Verbünden. Vor diesem Hintergrund wollten wir von VDV-Präsident Jürgen Fenske unter anderem wissen, warum der ÖPNV noch immer als freiwillige kommunale Aufgabe definiert wird und wie sich Sanierungsstau und Finanzierungsvorbehalte auf die Entwicklung tragfähiger Verkehrsangebote auswirken können. UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Als Präsident des Verbandes Deutscher Verkehrsunternehmen vertreten sie nahezu vollumfänglich den Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) in Deutschland. Welchen Stellenwert hat diese Aufgabe im Kanon der öffentlichen Leistungen? in Staus ersticken. Dies hat man gerade erst bei den Warnstreiks von ver.di gesehen. Drittens lässt sich das Thema Klimaschutz nur mit einem starken ÖPNV in den Griff bekommen. Teilhabe, Lebensqualität und Klimaschutz wären ohne einen leistungsstarken ÖPNV nicht auf dem derzeitigen Niveau. Jürgen Fenske: Der ÖPNV hat eine überragende Bedeutung. Aus den Gesprächen in Bund und Ländern entnehme ich, dass dieser Stellenwert aktuell noch weiter wächst und der ÖPNV weithin als Kernaufgabe der Kommunen anerkannt ist. UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Bis zum Jahre 2050 werden in der Bundesrepublik voraussichtlich nur noch 70 Millionen Menschen leben. Während sich einige prosperierende Metropolregionen von diesem Trend ausnehmen können, werden die weiten ländlichen Räume dazwischen und auch die ehemaligen Industrieregionen in Mitteldeutschland, Nordrhein-Westfalen, dem Saarland und anderswo umso stärker von einem Rückgang der Einwohnerzahlen betroffen sein. Auch die Alterung wird sich insbesondere in den strukturschwachen Regionen zeigen. Welche Implikationen verbinden sich mit diesen Entwicklungen für einen ÖPNV in kommunaler Hand? Jürgen Fenske Ich möchte das in drei Punkten kurz begründen. Erstens ist es gesellschaftlicher Konsens, dass ein leistungsfähiger ÖPNV die Teilhabe am kulturellen und sozialen Leben in den Städten und Gemeinden erst ermöglicht. Zweitens besitzt der ÖPNV eine zentrale Rolle für die Lebensqualität in den kommunalen Gebietskörperschaften. Ohne einen leistungsfähigen ÖPNV würden viele unserer Städte 6 Fenske: Eingangs würde ich die Bevölkerungsprognose für das Jahr 2050 gerne mit einem Fragezeichen versehen. Die aktuell erheblichen Wanderungsbewegungen besitzen das Potential, dass die Schätzungen der vergangenen Jahre deutlich nach oben gehen könnten. In jedem Fall jedoch werden sich prosperierende Metropolen und der ländliche Raum sehr unterschiedlich entwickeln. Die Städte wachsen weiter und mit ihnen der ÖPNV. In vielen Landkreisen dagegen gibt es zurückgehende Einwohner- und Schülerzahlen. Auch darauf wird sich der ÖPNV einstellen müssen. Sinnvoll ist es, ein Grundangebot nach Bedarf mit ergänzenden Alternativen zu verknüpfen. Dies können Rufbusse, Bestellverkehre, AnrufSammeltaxis oder Bürgerbusse sein. Hier sind in den verschiedenen Regionen recht unterschiedliche Konzepte entwickelt worden, die wir im Teilhabe, Lebensqualität und Klimaschutz wären ohne einen leistungsstarken ÖPNV nicht auf dem derzeitigen Niveau. „ ______________________ Jürgen Fenske “ Sinne einer kontinuierlichen Evaluation genau beobachten. Innerhalb des VDV organisieren wir einen ständigen Arbeitskreis, in dem die Kollegen aus den verschiedenen Regionen Deutschlands ihre Erfahrungen weitergeben und austauschen können. Der zunehmenden Alterung wollen die Verkehrsunternehmen in Deutschland durch die Beschaffung von barrierefreien Fahrzeugen bzw. durch den Ausbau von barrierefreien Zugängen zu Bahnhöfen und Haltestellen gerecht werden. Diesem Thema widmen sich unsere Unternehmen seit Jahren und mit stetig wachsender Intensität. UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Wenn im Sinne zentraler Orte und dringend nötiger Effizienzgewinne Daseinsvorsorgeangebote künftig noch stärker konzentriert sollen, dann wird ÖPNV zur Querschnittsaufgabe im kommunalen Leistungsangebot. Schließlich müssen die Menschen zu den jeweiligen Ankerpunkten befördert werden. Ist es vor diesem Hintergrund noch zeitgemäß, den ÖPNV lediglich als freiwillige kommunale Aufgabe zu definieren? Oder wäre es nicht an der Zeit für eine „Pflichtaufgabe ÖPNV“? Fenske: Nach meiner langjährigen Erfahrung sind wir faktisch eine Pflichtaufgabe. In der täglichen Praxis wird das auch überall so gelebt. Die Verantwortungsträger in Landkreisen, Städten und Gemeinden wissen, dass sie auf den ÖPNV nicht einfach verzichten können. Entscheidend ist natürlich, welche Standards definiert werden und wie sich die entsprechenden Leistungen finanzieren lassen. Finanzielle Unsicherheiten UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Im Freistaat Thüringen und auch anderswo fordert die Landespolitik eine noch stärkere Vernetzung verschiedener kommunaler Unternehmen. Über den steuerlichen Querverbund sind in etlichen Kommunen Energie und ÖPNV eng miteinander verknüpft. Ist dieses Modell der kommunalen Partnerschaft vor dem Hintergrund der schwierigen Situation vieler städtischer Energieunternehmen noch zukunftsfähig? UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 JAHRESTHEMA: INFRASTRUKTUR ÖPNV Fenske: Die Ergebnisse in vielen kommunalen Energieunternehmen gehen aufgrund der Energiewende zurück. Im steuerlichen Querverbund sinkt in diesem Kontext auch die Finanzmasse, mit der der ÖPNV disponieren kann. Dies wird aber mit Sicherheit nicht dazu führen, dass das Finanzierungsmodell „Steuerlicher Querverbund“ in irgendeiner Form in Frage gestellt wird. Es bleibt ein wichtiger Baustein in der Finanzierung des ÖPNV. Mit der Erschließung von Wohn- und Gewerbegebieten ist der ÖPNV immer auch eine zentrale Infrastrukturaufgabe. Grundsätzlich werden die Potentiale von Kooperationen zwischen verschiedenen Unternehmen einer Stadt, aber auch über kommunale Grenzen hinweg bereits vielfältig genutzt. Die kommunalen Träger im ÖPNV und die einzelnen Sparten der Daseinsvorsorge sind dennoch aufgerufen, kontinuierlich nach weiteren Synergien und Möglichkeiten der Vernetzung zu suchen. UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Die ökologische Erneuerung von Versorgung und Verkehr hin zu mehr Nachhaltigkeit und weniger Emissionen ist eine weitere zentrale Zukunftsaufgabe. Was ist nötig, damit im Verkehrssektor die „Klimawende“ gelingt? Fenske: Die Energiewende und der Klimaschutz werden nur gelingen, wenn gleichzeitig eine Verkehrswende hin zu noch mehr ÖPNV erfolgt. Der Anteil des sogenannten Umweltverbundes aus Fußgängern, Radfahrern und ÖPNV am gesamten Verkehrsaufkommen muss weiter steigen. Das ist der entscheidende Hebel, um bei Energiewende und Klimaschutz weiter voranzukommen. Ein zweiter Punkt sind neue und innovative Antriebstechnologien. Elektro- und Hybridbusse werden noch deutlich häufiger auf Deutschlands Straßen fahren, als dies heute der Fall ist. Daneben gilt es, Energie sinnvoll und möglichst effizient zu nutzen. So kann beispielsweise in unsere Kölner Stadtbahnfahrzeuge zurückgespeist werden. Der VDV und auch die einzelnen Unternehmen als solche werden sich diesen Themen in den kommenden Jahren weiter mit Vehemenz widmen. Wir wissen, dass der ÖPNV in der Öko-Bilanz sehr gut abschneidet und wir wollen diesen Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Verkehrsarten weiter ausbauen. UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Ein leistungsfähiger ÖPNV kann verbunden sein mit einem breiten gesellschaftlichen Mehrwert, aber die aktuelle Praxis zeigt sich weniger schillernd, vor allem in der Finanzierungssituation des Nahverkehrs: Weder für das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz (GVFG) noch für die Entflechtungsmittel gibt es bislang Nachfolgeregelungen. Was folgt aus diesen finanziellen Unsicherheiten für den ÖPNV in Deutschland? Fenske: Damit verbindet sich eine ausgesprochen schwierige Situation. Nach der aktuellen Gesetzeslage laufen die Förderwege der Gemeindeverkehrsfinanzierung Ende 2019 aus. Wenn nicht bald Klarheit geschaffen wird, bereits getroffene politische Entscheidungen nicht bald in Gesetze übergehen, dann geraten die Unternehmen in eine äußerst schwierige Situation. Schließlich wissen sie derzeit noch nicht, mit wieviel Geld sie planen können. Wenn eine Stadtbahnstrecke verlängert werden muss, weil sich die Nachfrage entsprechend entwickelt, muss Klarheit zu den vorhandenen Investitionsmitteln bestehen. Größere Verkehrsprojekte benötigen einen enormen planerischen Vorlauf, sodass die derzeitigen Unsicherheiten schon jetzt zu einem Antragsstau in den Kommunen geführt haben. UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Sie sind nicht nur Präsident des Verbandes Deutscher Verkehrsunternehmen, sondern auch Vorstandschef der Kölner Verkehrs-Betriebe AG. Zwei Fragen dazu: Wie wirken sich die fehlende Planungssicherheit und der damit verbundene In der urbanen, digitalen Mittelschicht ist das Auto ein Statussymbol von gestern. Viele Menschen verzichten nicht mehr bewusst auf eine individuelle Motorisierung, sie fehlt ihnen nicht und kommt ihnen auch nicht in den Sinn. Das ist grundsätzlich eine äußerst begrüßenswerte Entwicklung. Schließlich zeigen Beispiele aus den Niederlanden und aus Skandinavien, dass ein weitgehender Verzicht auf das Auto keine Utopie sein muss. Dazu wird es jedoch nötig sein, den ÖPNV nachhaltig zu stärken und noch besser mit anderen umweltschonenden Verkehrsträgern zu vernetzen. Voraussetzung ist, dass alsbald Klarheit herrscht zu den wichtigsten Finanzierungstöpfen. Schließlich kommen die Erfolge aus Amsterdam, Kopenhagen oder Stockholm nicht von ungefähr, sondern sind das Ergebnis einer konsistenten Verkehrspolitik hin zu mehr Nachhaltigkeit und zu weniger individueller Motorisierung. Falk Schäfer UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 UNSER Gesprächspartner Jürgen Fenske wurde 1955 in Lünen/ Westfalen geboren. Nach dem Studium der Geschichte und Germanistik an der Universität Köln absolvierte er ein Referendariat für das Lehramt am Gymnasium. Nach dem Zweiten Staatsexamen wurde Fenske zum Geschäftsführer der SPD-Fraktion in Kiel. Von 1994 bis 1998 leitete er das Büro des damaligen Wirtschafts- und Verkehrsministers in Schleswig-Holstein, Peer Steinbrück. Fenske führte zudem das Referat für wirtschaftsnahe Infrastruktur, Konjunktur und Zusammenarbeit zwischen Hamburg und Schleswig-Holstein. Zwischen 1998 und 2003 war er Prokurist der Autokraft GmbH und der Regionalbahn Schleswig-Holstein. 2000 wurde er zum Geschäftsführer der Regionalbahn Schleswig-Holstein und 2004 zum Geschäftsführer der Autokraft. 2007 leitete Fenske die Region Nord der DB Stadtverkehr mit den Gesellschaften S-Bahn Hamburg, Autokraft, WeserEmsBus Bremen, Regionalbus Braunschweig und PanBus Viborg (DK). Mit Beginn 2009 wechselte er als Vorstandsprecher der Kölner VerkehrsBetriebe AG ins Rheinland. Seit November 2009 ist er Präsident des Verbandes Deutscher Verkehrsunternehmen, seit 2011 Vorstandschef der Kölner Verkehrs-Betriebe AG. Sanierungsstau des ÖPNV bei Ihnen in Köln konkret aus? Und wie wird versucht, eine möglichst optimale Vernetzung verschiedener Verkehrsträger in und um Köln herzustellen? Fenske: Köln ist eine wachsende Stadt und deshalb muss auch die Infrastruktur mitwachsen. Nach aktuellen Bevölkerungsprognosen werden wir bis zum Jahr 2025 ungefähr 50 bis 55 Millionen mehr Fahrgäste im Jahr haben. Diese zusätzlichen Fahrgäste schaffen wir in unserem heutigen Netz schlicht nicht mehr. Wir brauchen einen Ausbau und wir brauchen damit auch Klarheit zu den konkreten Finanzierungsbedingungen. Das betrifft etliche Maßnahmen in der Stadt Köln. Die zentrale Verbindung zwischen Ost und West ist völlig überlastet. Sie muss längere Züge aufnehmen können, wozu ein Ausbau der Bahnsteige unerlässlich ist. Der Barbarossaplatz als einer der großen innerstädtischen Kreuzungspunkte muss dringend barrierefrei umgestaltet werden. Grundsätzlich steht der barrierefreie Ausbau an vielen Bahnhöfen unter dem Vorbehalt der Finanzierung. All dies gerät ins Stocken, solange keine Klarheit herrscht. n Das Interview führte Falk Schäfer i infos www.vdv.de 7 Breitbandversorgung Der Kanon existentieller Daseinsvorsorge ist dynamisch Breitbandversorgung – inzwischen (fast) so wichtig wie frisches Wasser Von Michael Schäfer I m Kanon der Daseinsvorsorge gibt es Leistungen, die ohne eine technisch aufwändige und damit auch in Errichtung und Betrieb kostenintensive Infrastruktur schlichtweg nicht erbracht werden können. Wer ist für die Schaffung dieser verantwortlich? Und zwar letztlich unabhängig davon, ob die auf dieser Grundlage angebotenen Leistungen auch von allen, die sie benötigen, bezahlt werden können. Ist die Prämisse für die Refinanzierung die, dass der Preis für die Leistung „um jeden Preis“ auch gewährleisten muss, dass sich die Investitionen rechnen? Und was passiert mit jenen, die die Leistung zwar benötigen, sie aber nicht bezahlen können? Die auf dem Papier des Grundgesetzes(ZÜ) plausible Forderung nach (annährend) gleichwertigen Lebensverhältnissen in Deutschland führt zu einem der Daseinsvorsorge – das sind auch Investitionen in die Zukunft immer stärkeren Ausgleichsdruck. Die Gewährleistung objektiven Unterschiede zwischen strukturschwachen Regionen in der Fläche und boomenden Metropolen werden immer größer. Die Kosten für die Verlegung von einem Kilometer Glasfaserkabel aber sind in der Uckermark ähnlich hoch wie in Berlin. Nur: In der Hauptstadt ist die Zahl der Nutzer der schnellen Internetverbindungen um ein vielfaches höher als in der zwar schönen, aber nach Das wichtigste Ergebnis, dass Bund, Länder und Kommunen bei der Konsolidierung ihrer Haushalte in UNESCO-Definition nahezu menschenleeren Region zwischen Oder und Mecklenburger Seenplatte. Eine betriebswirtschaftliche Kalkulation geht den vergangenen Jahren erzielt haben, ist das weitgehende Ende der Neuverschuldung. Dieser Kurs hie auf, da nicht. Deshalb balgen sich nur in den Zentren die Anbieter von IT- und TK-Leistungen um einen schier endlosen Wachstumsmarkt. Wer muss unter allen Umständen gehalten werden. Denn der Schuldenstand liegt weiterhin deutlich über aber stopft die (Funk)-Löcher in Mecklenburg-Vorpommern, in der Eifel oder im Schwarzwald? Diese Frage wird emotional, ideologisch, richtigerweise 2 Billionen Euro. Daran sind Bund mit rund 62 Prozent, die Länder mit rund 31 Prozent und die auch betriebswirtschaftlich diskutiert. Noch viel zu selten aber steht die grundsätzliche Perspektive im Fokus. Nämlich die, ob die Leistung eine Kommunen rundder 7 Prozent beteiligt. Dieser Schuldenberg abgetragen werden. Es„wer ist völlig existenzielle Dimension hat? Ein eindeutiges Ja sollte mit im Falle Breitbandversorgung auf der Hand liegen.muss Aber es hat nach dem Prinzip, A sagt, inakzeptabel, dass der Kapitaldienst in Gestalt von Zinszahlungen auf allen Ebenen zu den größten muss auch B sagen“, ebenso eindeutige Konsequenzen. Welche sind das? Und haben die politisch Verantwortlichen beim Bund und den Ländern das Einzelposten in denweil Etats gehört. dieser Medaille sind nämlich die oftakzeptiert, sogar der ist Thema deshalb sehr lange wie den „heißen Brei“ umkreist, ihnen einesDie klarandere war: werSeite Breitbandversorgung als Daseinsvorsorge dramatisch zu nennenden Kürzungen von Investitionen. auch für die Bereitstellung und ggfls. auch den Betrieb der Infrastruktur – Finanzierung inklusive – verantwortlich. Dieser Zusammenhang gilt für alle Bereiche der Daseinsvorsorge. In zwei Segmenten – das werden wir nachfolgend zeigen – gibt es aber Schon im Jahr 2009 galt deutschlandweit die Einschätzung von einem dramatischen Investitionsstau nach wie vor eine Diskrepanz zwischen verbaler Zustimmung und praktischer, sprich fiskalischer Schlussfolgerung: das betrifft den ÖPNV, in den Kommunen vor allem bei der Infrastruktur und dem kommunalen Hochbau. Dieser Status und das betrifft die Breitbandversorgung. In unserem Beitrag gilt das Hauptaugenmerk dem „schnellen Internet“. Wir arbeiten aber auch verschlechtert sich weiter. Die nachfolgende Fakten haben wir mit dessen freundlicher Genehmigung heraus, dass es auf einer übergeordneten Ebene dringenden Bedarf gibt, über die Zuständigkeiten für ein sich wandelndes Spektrum der einem Vortrag des Geschäftsführer des Deutschen Instituts für Urbanistik (DIFU), Dr. Busso Grabow, Daseinsvorsorge im 21. Jahrhundert einen gesellschaftspolitischen Diskurs zu führen. entnommen, den dieser beim 3. WELT-Infrastrukturgipfel am 28. September 2015 in Berlin gehalten hat. Seine zentrale Aussage lautete, dass sowohl auf staatlicher wie auf Ebenebzw. seitAnlage2003 Gewährleistung der 3. WELT-Infrastrukturgipfel am 28. September staatlichen undkommunaler kommunalen Sachder Verzehr des staatlichen und kommunalen Sachbzw. Anlagevermögens begonnen und seither Daseinsvorsorge – das sind auch 2015 in Berlin gehalten hat. Seine zentrale Ausvermögens begonnen und seither ungebremst fortgesetzt wurde. Das die beiden Grafiken ausDas dem Vortrag vondie Dr.beiden Investitionen in die Zukunft ungebremst sage lautete, dass sowohl aufdokumentieren staatlicher wie auf fortgesetzt wurde. dokumentieren Grabow: kommunaler Ebene seit 2003 der Verzehr des Grafiken aus dem Vortrag von Dr. Grabow: Das wichtigste Ergebnis, dass Bund, Länder und Kommunen bei der Konsolidierung ihrer Haushalte in den vergangenen Jahren erzielt haben, ist das weitgehende Ende der Neuverschuldung. Dieser Kurs muss unter allen Umständen gehalten werden. Denn der Schuldenstand liegt weiterhin deutlich über 2 Billionen Euro. Daran sind der Bund mit rund 62 Prozent, die Länder mit rund 31 Prozent und die Kommunen mit rund sieben Prozent beteiligt. Dieser Schuldenberg muss abgetragen werden. Es ist völlig inakzeptabel, dass der Kapitaldienst in Gestalt von Zinszahlungen auf allen Ebenen zu den größten Einzelposten in den Etats gehört. Die andere Seite dieser Medaille sind nämlich die oft sogar dramatisch zu nennenden Kürzungen von Investitionen. Schon im Jahr 2009 galt deutschlandweit die Einschätzung von einem dramatischen Investitionsstau in den Kommunen vor allem bei der Infrastruktur und dem kommunalen Hochbau. Dieser Status verschlechtert sich weiter. Die nachfolgende Fakten haben wir mit dessen freundlicher Genehmigung einem Vortrag des Geschäftsführer des Deutschen Instituts für Urbanistik (DIFU), Dr. Busso Grabow, entnommen, den dieser beim 8 UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 Breitbandversorgung JAHRESTHEMA: INFRASTRUKTUR aller Lebensgrundlage mindestens ebenso wie löchrige Straßen oder einsturzgefährdete Brücken. Mindestens? Wir leben im 21. Jahrhundert und über den neuen Stellenwert von „Datenautobahnen“ müssen hier keine Worte verschwendet werden……… Daseinsvorsorge im Wandel der Zeiten. Plädoyer für ein dynamisches Verständnis Der Rechtsbegriff der Daseinsvorsorge in Deutschland geht auf den Staatsrechtler Ernst Forsthoff und dessen Veröffentlichung „Die Verwaltung als Leistungsträger“, Stuttgart 1938 zurück. Nach Forsthoff sind die Leistungen der Daseinsvorsorge „Gemeinwohl orientierte“ Leistungen wirtschaftlicher und nichtwirtschaftlicher Art, an deren Erbringung die Allgemeinheit und der Staat ein besonderes Interesse haben“. In den deutschen Gemeindeordnungen ist festgelegt, Nach DIFU-Berechnungen liegtder derkommunale kommunaleInvestitionsbedarf Wir weisen aufimden Zusammenhang zwischen Nach DIFU-Berechnungen liegt Zeitraum 2002 bis 2020 bei 704 dass die Kommunen diejenigen öffentlichen EinInvestitionsbedarf im Zeitraum bis 2020 Investitionsstau und kommunaler Unter-bis richtungen schaffen und erhalten sollen, die für Milliarden Euro. In dieser Summe 2002 sind auch die Investitionen enthalten, die von den Kommunen das wirtschaftliche, soziale und kulturelle Wohl bei nicht 704 Milliarden Euro. InGar dieser Summe sind finanzierung deshalbWohnungsbau hin, weil die dato realisiert wurden. nicht berücksichtigt worden sindvor derallem kommunale auch die Investitionen Die enthalten, von den dramatische von Konsum, hier geht und Finanzinvestitionen. größtendie Einzelpositionen innerhalb Diskrepanz des definierten Gesamtbedarfs von und die Förderung des Gemeinschaftslebens Ihrer Kommunen dato nicht wurden. Gar die es in erster Linie um der ständig steigende Einwohner erforderlich sind“.2 704 Mrd. Eurobis sind laut DIFUrealisiert die Straßen (23%), Schulen (10%) sowie ÖPNV und die Sozialnicht berücksichtigt worden sindweist der kommunale ausgaben und Akkumulation aus unserer Sicht „Als Bestandteile der Daseinsvorsorge Sportstätten mit je 5%. Grabow zu Recht darauf hin, dass trotz absolut gestiegener Wohnungsbau Finanzinvestitionen. die Hauptursache dafür ist, dass existentielle Investitionen derund Rückstand weiter wachse. Die Tatsache, dass die Investitionen seitdie 2003 in Summe gelten im Allgemeinen Abfallentsorgung, größten innerhalb desalso Daseinsvorsorge fehlender oder nicht ist Energieversorgung, Wasser/Abwasser, ÖPNV, nicht Die einmal mehrEinzelpositionen die Abschreibungen decken, der beschriebenewegen Substanzverzehr stattfindet, Gesamtbedarfs Mrd. Euro sind bedarfsgerechter Infrastruktur auf kommunaler Wohnungswirtschaft, Telekommunikation, eindefinierten wesentlicher Beleg fürvon die704 strukturell angespannte finanzielle Lage der Kommunen. Die laut DIFU die Straßen (23inProzent), die Schulen Finanzreport Ebene zunehmend wird.darauf hin, dass öffentliche Sicherheit und Ordnung, BrandBertelmann-Stiftung weist ihrem „Kommunalen 2015“1gefährdet ausdrücklich Prozent) sowie der ÖPNV und die und Sportstätten An dieser Stelle seien – zum zum dritten besseren Verschutz, Rettungswesen, Gesundheitswesen, im(10 Jahr 2014 die Städte, Gemeinden Kreise in Deutschland zwar in Summe Mal in mit je 5 Prozent. Grabow weist zu Recht darauf ständnis der folgenden Darlegungen – zwei Alten-, Pflege- und Behindertenhilfe, SchulFolge einen Überschuss erzielten, damit aber von allgemeiner finanzieller Gesundung keine Rede sein hin, dass trotz absolut gestiegener Investitionen Anmerkungen gestattet: landschaft, technische sowie kulturelle Infrakönne. Belege dafür seien u.a. die Tatsachen weiter steigender Kassenkredite und die Zunahme der der Rückstand weiter wachse. Die Tatsache, dass Erstens untersucht das Deutsche Institut struktur. Diese Aufzählung ist keinesfalls Kluft zwischen den wenigen reichen und den mehrheitlich armen Kommunen in Deutschland. für Urbanistik gar nicht alle kommunalen die Investitionen seit 2003 in Summe nicht einfeststehend und unveränderlich. Die Dynamik Esmal bedarf zurdie dringend gebotenen Auflösung des Investitionsstaus eines grundsätzlichen Umsteuerns mehr Abschreibungen decken, also der Investitionen im Bereich Infrastruktur. Erfasst des Begriffs zeigt sich beispielsweise daran, dass aufbeschriebene gesamtstaatlicher Ebene. Erste Initiativen des Bundes, Linie das im Jahr 2015 begonnene Substanzverzehr stattfindet, ist ein werdenininerster der DIFU-Systematik offenbar nur nach heutigem Verständnis das Angebot eines kommunale ein (viel zu) kleiner, aber richtigerder Schritt (Volumen:Gebiets5 Mrd. wesentlicherInvestitionsprogramm Beleg für die strukturellistangespannte die Aufwendungen kommunalen schnellen Internetzugangs, nicht jedoch die VerEuro im Zeitraum 2015 – 2018). Im dazu sei noch einmal an den vom DIFU finanzielle Lage der Kommunen. DieVergleich Bertelmannkörperschaften. Investitionen in dieermittelten Infrastruktur sorgung mit Grundnahrungsmitteln, unter den Stiftung weist in ihrem „Kommunalen werden2002 in erheblichem auch von den Daseinsvorsorgebegriff fällt.“3 kommunalen Investitionsbedarf erinnert,Finanzder im Zeitraum bis 2020 beiUmfang 704 Milliarden Euro 1 report 2015“ ausdrücklich darauf hin, dass im kommunalen Unternehmen (oder vergleichbaren Schon aus dem gerade definierten Kanon der liegt. Jahr 2014 die Städte, Gemeinden und Kreise in Einrichtungen außerhalb der Kernverwaltung) Daseinsvorsorgeleistungen wird ersichtlich, dass all diese Aufgaben vor Ort, in den Kommunen Deutschland zwar in Summe zum dritten Mal in zur Erbringung von Daseinsvorsorgeleistungen und Regionen verfügbar sein müssen, und dort Folge einen Überschuss erzielten, damit aber von geleistet. Zweitens spielt inistder Bestandsaufnahme des allgemeiner Gesundung keine Rede im Regelfall auch erbracht werden. Nach dem 1 Nach Recherchefinanzieller unter www.bertelsmann-stiftung.de am 01. Oktober 2015. Die Studie dort als Download kostenlos sein könne. Belege dafür seien u.a. die Tatsachen DIFU die Infrastruktur für IT und TK wohl Verständnis des Autors hat die Daseinsvorverfügbar. weiter steigender Kassenkredite und die Zunahme deshalb keine Rolle, weil sie der Privatwirtschaft sorge unter allen Aufgaben, die im Rahmen der der Kluft zwischen den wenigen reichen und den zugeordnet wird. Dies muss aber – das wollen kommunalen Selbstverwaltung gelöst werden mehrheitlich armen Kommunen in Deutschland. wir im Folgenden zeigen – kritisch hintermüssen, eine zentrale, ja herausragende Stellung. Es bedarf zur dringend gebotenen Auflösung des fragt werden. Denn aus dem inzwischen überDaseinsvorsorge – das ist die Gewährleistung Investitionsstaus eines grundsätzlichen Umsteuerns wiegenden gesellschaftlichen Verständnis dafür, der existentiellen Bedingungen und Lebensumauf gesamtstaatlicher Ebene. Erste Initiativen des dass die Breitbandversorgung zur Daseinsvorsorge stände der Menschen. Es bedarf keiner weiteren Bundes, in erster Linie das im Jahr 2015 begonnene gehört, leitet sich zwingend auch eine öffentliche Argumentation, dass deshalb die Daseinsvorkommunale Investitionsprogramm ist ein (viel zu) Zuständigkeit und Verantwortung ab. sorge unter allen kommunalen Aufgaben die kleiner, aber richtiger Schritt (Volumen: 5 Mrd. Drittens ist also der Investitionsstau, den höchste Priorität hat. Euro im Zeitraum 2015 – 2018). Im Vergleich das DIFU nachweist, sogar noch deutlich 1 Nach Recherche unter www.bertelsmann-stiftung.de am 01. Oktober dazu sei noch einmal an den vom DIFU ermittelten größer. Und er gefährdet mit den dramatischen 2015. Die Studie ist dort als Download kostenlos verfügbar. 2 Vgl. Linke, F., S. 4ff. kommunalen Investitionsbedarf erinnert, der im ZeitDefiziten in der Breitbandversorgung den 3 Linke, F., S. 28. raum 2002 bis 2020 bei 704 Milliarden Euro liegt. Industriestandort Deutschland und damit unser UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 9 Breitbandversorgung Daraus folgt, dass alle kommunalen Funktionalitäten und Strukturen so ausgestaltet werden müssen, dass sie optimale Bedingungen für die Gewährleistung der Daseinsvorsorge bieten. Die Beweisführung dafür haben wir bei dem bereits genannten Ernst Forsthoff gefunden. In einer seiner späten Schriften – erschienen 1958 unter dem Titel „Die Daseinsvorsorge und die Kommunen“ – begründet er, warum wegen des überragenden Ranges der Daseinsvorsorge im kommunalen Aufgabenkanon selbige als staatliche Aufgabe im Grundgesetz verankert werden müsste. Diese Forderung wurde nie erfüllt. Sie scheint sogar komplett vergessen. Lesen wir nach, wie Forsthoff seine Auffassung begründet: Er zeigt zunächst den „historischen Prozess der Veränderung der individuellen Daseinsbedingungen und dessen wesentliche Folge: mit der Schrumpfung des individuell beherrschten Lebensraumes hat der Mensch die Verfügung über wesentliche Mittel der Daseinsstabilisierung verloren. Er schöpft das Wasser nicht mehr aus dem eigenen Brunnen, er verzehrt nicht mehr die selbstgezogenen Nahrungsmittel, er schlägt kein Holz mehr im eigenen Wald für Wärme und Feuerung. Im Ablauf der Dinge ist hier eine eindeutige Entscheidung gefallen, wenigstens im Bereich der deutschen Staatlichkeit: dem Staat (im weitesten Sinne des Wortes) ist die Aufgabe und die Verantwortung zugefallen, alles das vorzukehren, was für die Daseinsermöglichung des modernen Menschen erforderlich ist. was in Erfüllung dieser Aufgabe notwendig ist, nenne ich Daseinsvorsorge.“4 Daraus zieht Forsthoff folgende Schlussfolgerung: „Die Tatsache (gemeint ist die Existenz der meisten Menschen ohne von ihnen beherrschten Lebensraum – Anm. des Autors) ist von allergrößter, noch keineswegs in ihrer vollen Tragweite erkannten Bedeutung (auch diese Einschätzung trifft leider bis heute zu – Anm. des Autors). Man wird es sich bis in die speziellen Konsequenzen hinein vergegenwärtigen müssen, was es für den modernen Menschen bedeutet, dass er die wesentlichen Bedingungen seiner Daseinsführung nicht in der Hand hat, sondern auf das Funktionieren der sekundären Systeme schlechterdings angewiesen ist.“5 „In der Daseinsvorsorge“, so Forsthoff weiter, „ist ein moderner Daseinsbereich angesprochen, der an der rechtstaatlichen Verfassung vorbeilebt, der deshalb notwendig im wesentlichen mit den Mitteln der Verwaltung gemeistert werden muss. Diese deshalb (rechtstheoretisch – Anm. des Autors) mögliche Konversion der Daseinsvorsorge in Herrschaftsmittel wäre das gefährlichste Attentat auf die individuelle Freiheit, das nach Lage der Tatsachen dem Staat zu Gebote stünde. Dazu schweigt die Verfassung und überlässt es uns, eine ungeschriebene Verbotsnorm aus 10 dem Sinn und dem System unseres öffentlichen Rechts abzuleiten. Ich gebe diesen Hinweis nur, um anschaulich zu machen, in welchem Maße uns die rechtstaatliche Verfassung auf dem Felde der Daseinsvorsorge im Stich lässt.“6 Abschließend Forsthoff zur gesellschaftlichen Dimension: „Daseinsvorsorge kann sich in der Wirtschaftlichkeit ihrer Durchführung nicht erschöpfen. Die Daseinsvorsorge ist wesentlich auch eine soziale Funktion. Es kommt nicht nur darauf an, dass sie dem Menschen unserer Tage zu ihrem Teil ihre daseinswichtigen Dienste leisten, sondern auch, unter welchen Bedingungen das geschieht. Hier sind dem Gewinnstreben Schranken gesetzt, die der Wirtschaft fremd sind, und es müssen auch Risiken eingegangen, Wechsel auf die Zukunft gezogen werden, zu denen sich die Wirtschaft nicht veranlasst sehen würde.“7 Zu lang und zu viel Theorie?! Das muss manchmal sein. Aber für den ganz eiligen Leser nun die Quintessenz: Erstens: Der Mensch, gemeint ist der „normale“ Bürger, der „Otto-Normalverbraucher“, ist seit Beginn der modernen Industriegesellschaft objektiv gar nicht mehr in der Lage, für seine lebensnotwendigen Existenzbedingungen selbst zu sorgen. Der Deal: „Ich gebe meine Arbeitskraft und gliedere mich in den komplizierten arbeitsteiligen Prozess der Wertschöpfung ein. Du (Staat) garantierst mir dafür etwa saubereres Trinkwasser, Gesundheitsversorgung und Mobilität – um nur einige Aspekte der Daseinsvorsorge zu nennen. Zweitens: Solche Verabredungen trifft man heutzutage nicht mehr per Handschlag. Deshalb hat der Staatsrechtler Ernst Forsthoff 1958 gefordert, diese staatliche Verpflichtung ins Grundgesetz zu schreiben. Deshalb in unser wichtigstes Gesetz, weil es ums „Eingemachte“ geht, nämlich um die Bereitstellung jener Güter und Leistungen, die uns am Leben halten. Was es für Auswirkungen zum Beispiel für die Breitbandversorgung hat, dass diese Forderung nie umgesetzt wurde, lesen Sie bitte im nächsten Absatz. Hoheitlich vs. Markt und was in den Leistungskanon gehört Was ist lebenswichtig? Diese Frage musste gestern anders beantwortet werden als heute. Daraus leiten wir die Annahme ab, dass es auch in Zukunft lebensnotwendige Leistungen geben wird, die wir heute nicht mal dem Namen nach kennen. Die Breitbandversorgung ist für eine solche Entwicklung ein gutes Beispiel. Das uns heute geläufige „www“ gibt es seit 1989. Allerdings nicht einmal ansatzweise in der gewaltigen Dimension und der massenhaften Nutzung im neuen Jahrtausend. Deshalb wäre jeder ausgelacht worden, der 1989 den Zugang zum Internet der Daseinsvorsorge zugerechnet hätte. Der Kanon ist also erstens dynamisch bezogen auf die dort „gelisteten“ Leistungen. Wäre dieser Kanon verbindlich – hier erinnern wir an das Grundgesetz – dann müsste der Staat auch dafür sorgen, dass die Leistung verfügbar ist. Er ist es aber nicht. Was hinein gehört, wird oft nach Kassenlage entschieden. Beispiel Öffentlicher Personennahverkehr (ÖPNV). In den Hochzeiten des Fetisch Auto und der Gleichsetzung des modernen Menschen damit, dass er natürlich Teilnehmer am Individualverkehr ist, konnte man ungestraft, ja unbeachtet in eine deutsche Kommunalverfassung schreiben, dass der Prof. Dr. Michael Schäfer ÖPNV nur eine freiwillige Leistung ist. So steht es eben noch heute. Die Welt aber hat sich gedreht. Viele Menschen leben in strukturschwachen Regionen und werden immer älter. Autofahren geht noch gerade so (hoffentlich ist man allein auf der Straße) oder gar nicht mehr. Aber der Bus in die Kreisstadt zum Arzt fährt nur noch einmal am Tag. Und zwar nicht als Teil des ÖPNV, sondern als Schülerverkehr. Und wenn es keine Schüler mehr zu transportieren gibt (das gibt’s heute tatsächlich schon in einigen Gegenden), dann fährt auch kein Bus. Daseinsvorsorge nach Kassenlage? Das geht natürlich nicht. Es muss also ehrlich definiert werden, was lebenswichtig ist, und was davon durch den Staat erbracht werden muss. Und genau das muss dann auch bereitgestellt werden. Und zwar nicht in alleiniger Zuständigkeit der oft armen Kommunen, sondern durch den Staat. So wäre es, wenn die Daseinsvorsorge im Grundgesetz stünde. Da steht sie aber nicht. Aber vielleicht stimmen Sie mir nach diesen Beispielen 4 Forsthoff, S. 6f Ebenda, S. 7 6 Ebenda, S. 9 7 Ebenda, S. 13f 5 UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 Die Partnerschaft Becker Büttner Held ist einer der führenden deutschen Berater in den Bereichen Energie-, Kommunal- und Infrastrukturrecht mit europaweiter Verflechtung. Als integrierte Partnerschaft ist BBH mit mehr als 300 Rechtsanwälten, Wirtschaftsprüfern, Steuerberatern und Ingenieuren sowie insgesamt über 550 Mitarbeitern an den Standorten Berlin, München, Köln, Hamburg, Stuttgart, Erfurt und Brüssel vertreten. Unsere Tätigkeitsschwerpunkte liegen u.a. in der kom- Industrieunternehmen sowie internationale Konzer- munalwirtschaftlichen Beratung – hier bspw. in der ne. Diese unterstützt BBH sowohl in allen Rechtsfra- Rekommunalisierung sowie hinsichtlich örtlicher gen als auch betriebswirtschaftlich und strategisch Energiekonzepte, der Integration und des Ausbaus bei ihrem wirtschaftlichen Engagement. von Erneuerbaren Energien, städtebaulicher Beratung, Entwicklung und Begleitung von Öffentlich-Privaten- Weiterhin ist BBH in der Politikberatung sowie der Partnerschafts-Modellen, Beratung des ÖPNV sowie Beratung von öffentlichen Körperschaften und Ver- (steuerlicher) Optimierung der Wasserver- und Ab- bänden erfolgreich tätig. Von Vorteil für diese viel- wasserentsorgung. Daneben stehen Unternehmen schichtigen Beratungsaufgaben ist unser bundes- des Health-Care-Bereiches sowie die Umstruktu- weit gespanntes universitäres Netzwerk. rierung und Gründung von Unternehmen im Fokus unseres Handelns. Den Kern der Mandantschaft bilden zahlreiche www.bbh-online.de Energie- und Versorgungsunternehmen, vor allem bbh@bbh-online.de Stadtwerke, Kommunen und Gebietskörperschaften, www.derenergieblog.de www.invra.de BERLIN · MÜNCHEN · KÖLN · HAMBURG · STUTTGART · ERFURT · BRÜSSEL Unsere rechtsgebiete: Energierecht • Infrastrukturrecht • Rekommunalisierung • Kommunalberatung • Umwelt- und Verwaltungsrecht • Unternehmensgründung/ Umstrukturierung • Urheberrecht/Gewerblicher Rechtsschutz • Compliance • Internationale Rechts- und Steuerberatung • Steuerberatung • Wirtschaftsprüfung Öffentliche Auftragsvergabe • Wettbewerbs- und Kartellrecht • Wasser-/Abwasserrecht • Health Care • Zivil- und Arbeitsrecht Mitglied der aeec – Associated European Energy Consultants e.V. . www.aeec-online.de Breitbandversorgung zu, dass der alte Forsthoff Recht hatte, ja mit seiner Forderung sogar sehr modern, quasi auch schon auf „Breitband-Höhe“ war. Dynamisch ist die Daseinsvorsorge nicht nur hinsichtlich der an den Beispielen Breitband und ÖPNV gezeigten Veränderungen in den Leistungen selbst oder deren Bedeutung unter dem Aspekt „lebensnotwendig“. Diese Dynamik betrifft auch den Rahmen, in dem die Leistung erbracht wird. In den Anfängen der modernen Daseinsvorsorge war dies in erster Linie das kommunale oder staatliche Monopol. Danach gab es die eherne Überzeugung, dass Markt und Wettbewerb dies alles viel besser zuwege bringen. Und heute: wir kommen zurück zu unseren Beispielen Breitbandversorgung und ÖPNV. Weiße Flecken in Gestalt der Info „kein Netz, nur Notruf“ oder eines Busfahrplans mit einer Hin-und Her-Frequenz pro Tag und einer leeren Spalte an den Wochenenden. Das zu ändern, dafür gibt es leider keine staatliche Verpflichtung. Aber Druck und die Kraft des Faktischen können schon einiges bewegen. Leider nur im Schneckentempo. Unsere Internetdefizite kennen wir seit vielen Jahren. Dass es andere viel besser können, merken wir bei Urlaubsreisen etwa nach Skandinavien und erst recht ins (fast) menschenleere Island. Ein Bundesförderprogramm, das tatsächlich einiges bewegen wird, aber gibt es erst seit 2015. Das derzeit bereitgestellte öffentliche Geld reicht nicht aus, um diesen 50 MBit/s-Standard tatsächlich auch flächendeckend durch Breitbandinfrastruktur abzusichern. „ ______________________ Prof. Dr. Michael Schäfer “ Die Telekom, als sie noch staatlich war, konnte jedem Bürger der alten Bundesrepublik einen Telefonanschluss garantieren. Sie hat dafür sogar geworben. Jetzt ist das Unternehmen privat. Manfred Krug hat uns mit seinem Charme und seiner sonorer Stimme zu Volksaktionären „gemacht“. Wir haben Aktien, aber wenn wir das Video vom Enkel aus der Uckermark nach Berlin schicken wollen, ist eine lange Nacht am Bildschirm angesagt. Nein, ich plädiere nicht für eine Rückkehr der Telekom unter das staatliche Dach. Wohl aber dafür, dass der Staat – siehe oben seine Verantwortung für die Daseinsvorsorge wahrnimmt. Denn die erwähnte Dynamik beim Rahmen lässt sich gerade bei der Breitbandversorgung sehr 12 gut erklären. In den Metropolen mit ganz vielen Kunden richtet es der Markt. Eine große Bedarfsdichte ermöglicht Investitionen, die sich schnell refinanzieren und zu bezahlbaren Preisen für Endkunden und gewerbliche Wirtschaft führen. In einer strukturschwachen Region wiederum ist schnelles Internet eine hoheitliche Aufgabe.8 Natürlich gehört Breitbandversorgung zur Daseinsvorsorge Tippen Sie mal bei Google folgende Frage ein: Ist Breitbandversorgung Daseinsvorsorge? Wenn Sie alles lesen wollen, was sich dazu findet, reichen Sie am besten einen Urlaubsantrag ein. Mit überwältigender Übereinstimmung wird natürlich bejaht, dass der Zugang zum schnellen Internet eine existentielle Dimension hat. Dazu werden viele Gründe genannt. Die wichtigsten wollen wir kurz zusammenfassen. Da wäre zunächst die individuelle Ebene. Ohne Breitband gäbe es nicht die in Artikel 3 des Grundgesetzes verbriefte gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen. Wer auf dem flachen, schlecht mit Internet versorgten Lande lebt, der hat natürlich ganz erhebliche Einschränkungen zu erleiden. Machen Sie unter diesen Bedingungen mal ein Fernstudium mit online-Bausteinen und Recherchehausaufgaben. Über gleiches Recht auf Bildung muss man da nicht reden. Und wenn der letzte Dorfladen auch noch dicht gemacht hat? Einkaufen via Netz Fehlanzeige oder zumindest sehr kompliziert. Wir reden also nicht einfach nur über bessere oder schlechtere Lebensqualitäten, wir reden über Grundrechte. Das ist auch die Dimension für die Wirtschaft. Denn natürlich muss es gleiche Bedingungen für alle Teilnehmer am Markt und am Wettbewerb geben. Der Chef eines Architektur- oder Ingenieurbüros an einem idyllischen See in „Mäc-Pom“ wird seinen Standort regelmäßig auch verfluchen. Auf jeden Fall immer dann, wenn er gigantische Dateien mit Zeichnungen und Grafiken an seine Kunden übermitteln muss, also nicht nur täglich, sondern stündlich…. Ein „bißchen schwanger geht nicht“: Oder warum man nach deren Privatisierung von der Telekom nicht erwarten darf, dass sie in altruistischer Euphorie ein dichtes Glasfasernetz im märkischen Sand verbuddelt Die Deutsche Telekom AG ist in ihrer heutigen Form am 1. Januar 1995 aus der früheren Deutschen Bundespost TELEKOM entstanden. War zunächst der Bund alleiniger Aktionär, begann 1996 – begleitet von einer beispiellosen Werbekampagne – der Börsengang. Wenngleich der Bund auch heute noch mit 31,7 Prozent am Unternehmen beteiligt ist, so muss diese neue Telekom AG nach allen dafür heranzuziehenden Kriterien als global agierendes Unternehmen der Privatwirtschaft klassifiziert werden. Was bedeutet das konkret für das Thema Breitbandversorgung in Deutschland? 1. Ob die Privatisierung der Telekom richtig oder falsch war, kann in diesem Beitrag nicht Gegenstand einer umfassenden Analyse sein. Der Autor kann allerdings auch an dieser Stelle seine Grundüberzeugung nicht verleugnen, dass Unternehmen mit strategischer Bedeutung für die Daseinsvorsorge mehrheitlich in staatlicher oder kommunaler Hand sein sollten. Aber auch wenn die Telekom noch komplett oder überwiegend dem Bund gehören würde, wäre damit nicht automatisch gewährleistet gewesen, dass wir heute über eine flächendeckende Breitbandversorgung verfügen könnten. Wir schauen auf die Deutsche Bahn AG, deren Privatisierung oder Teilprivatisierung offenbar vom Tisch ist (vielleicht auch deshalb, weil die gerade geäußerte Auffassung des Autors inzwischen politisch mehrheitsfähig ist). Die Tatsache, dass die Bahn sogar komplett dem Bund gehört, hat den geradezu dramatischen Investitionsstau bei der Infrastruktur nicht verhindert. Die Finanzierung wäre aus betriebswirtschaftlicher Perspektive für die DB AG auch gar nicht darstellbar. Das, was der Bund Jahr für Jahr an Investitionsmitteln bereitgestellt hat, übertrifft die Gewinnabführung der DB AG um ein Vielfaches. Es hat trotzdem nicht gereicht. 2.  Es ist also am Ende immer eine staatliche Entscheidung, auch in solche Infrastrukturen zu investieren, die sich nicht „rechnen“. Und zwar deshalb, weil sie Daseinsvorsorgestatus haben. Und das betrifft das Netz der DB AG genauso wie jenes, das für eine schnelle Breitbandversorgung vonnöten ist. 3.  Die Telekom AG muss genauso wie die staatliche DB AG nach betriebswirtschaftlichen Erfordernissen handeln. Das ist kein beliebiges Gut. Jeder Manager, der diese Regeln verletzt, also mehr ausgibt, als er hat, und was der Leistungsfähigkeit seines Unternehmens entspricht, macht sich strafbar. 4.   Dieses Prinzip hat auch ein Gutes. Denn es betrifft alle Marktteilnehmer. Dass sich davon in Deutschland bei der Telekommunikation 8 Wenn der letzte Laden in einem schwer erreichbaren Dorf in Mecklen- burg geschlossen hat und der ÖPNV „außer Betrieb“ ist, stellt sich ebenso zumindest die Frage, wer dafür verantwortlich ist, jene zu versorgen, die mit dem eigenen Auto nicht mehr in die nächste Stadt fahren können, und deren Angehörige 700 Kilometer weit weg nach Süddeutschland verzogen sind. UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 JAHRESTHEMA: INFRASTRUKTUR Breitbandversorgung etliche tummeln, verdanken wir wiederum (auch) der Privatisierung der Telekom AG und natürlich der Liberalisierung dieses Marktes. Wie immer gilt auch hier: schwarz oder weiß sind theoretische Kategorien. Im Leben dominiert das einerseits und andererseits. 5. Alle Marktteilnehmer verhalten sich im Grundsatz wie die Telekom. Sie investieren in Breitband, wenn eine solide betriebswirtschaftliche Analyse zeigt, dass die Refinanzierung dargestellt werden kann. Anders geht es auch deshalb nicht, weil Kredite aufgenommen werden müssen. Keiner der Anbieter kann die Volumina aus dem Eigenkapital stemmen. Gleiches Verhalten im Grundsatz heißt im Falle Breitband aber auch, dass es im konkreten Agieren deutliche Unterschiede gibt. „Gewaltig“, nannte der frühere Bundesaußenminister Klaus Kinkel den Beitrag der Telekom für eine moderne ITund Telekommunikationsinfrastruktur. Im Interview mit UNTERNEHMERIN KOMMUNE für das Oktoberheft 2015 bilanzierte Kinkel: „Kein anderes deutsches Unternehmen hat so viel Geld in den Breitbandausbau investiert. Derzeit sind es etwa 4 Milliarden Euro, die seitens der Telekom jährlich in den Breitbandausbau fließen. Das ist auch notwendig. Wir brauchen eine leistungsfähige Infrastruktur, um in einer zunehmend digitalisierten Welt mithalten zu können.“9 6.  Dass die Telekom AG auch dort investiert, wo es unternehmerisch zumindest riskant ist, hat ganz sicher auch mit der Marktstellung des Unternehmens in Deutschland zu tun. Obwohl der Wettbewerb hier bestens funktioniert (Beweis: die Telekom hat in nahezu allen Geschäftsfeldern deutlich an andere Marktteilnehmer verloren), ist sie auch zwanzig Jahre nach der Privatisierung noch die Nummer eins im Land. Die damit verbundene wirtschaftliche Stärke ermöglicht größere Risikodimensionen. Marktmacht hat nach unserem Verständnis von sozialer Marktwirtschaft auch etwas mit Gemeinwohlverpflichtungen zu tun. Diese Maßstäbe gelten für die Telekom AG wie für Volkswagen, und wenn sie verletzt werden, hat das eine gesellschaftspolitische Dimension. 7.  In dieser Logik diskutieren wir über Abgasmanipulationen bei den Wolfsburgern und auch darüber, dass Manager trotz einer Schadenssumme in Milliardenhöhe auf ihren Bonuszahlungen bestehen. Bei der Telekom wiederum ist nicht erkennbar, dass sie sich ihrer Gemeinwohlverantwortung beim Breitbandausbau entzieht. Nicht nur große kommunale Regionalversorger wie EWE mit ihrer Tochter EWETEL/osnatel, sondern auch Stadtwerke engagieren sich zunehmend beim Ausbau des Breitbandnetzes. Unser Foto illustriert das Engagement der Stadtwerke Schwedt GmbH, das seine Heimat in der strukturschwachen Uckermark hat. Das Bild dokumentiert die Inbetriebnahme des Glasfasernetzes in den Gemeinden Jamikow und Schönow (Amt Passow). Diese beiden Gemeinden sind bereits die 45. und 46. Gemeinde die die Stadtwerke in vier verschiedenen Landkreisen im Rahmen der Breitband-Initiative des Landes Brandenburg mit modernen Glasfaserkabel erschlossen haben. Dafür wurden rund 700.000 Euro investiert und es können Bandbreiten bis zu 100 Megabit angeboten werden. Bei der Inbetriebnahme waren der Landrat des Uckermarkkreises, Dietmar Schulze, der Ortsteilbürgermeister Hanke, der Aufsichtsvorsitzender der Stadtwerke und Bürgermeister der Stadt Schwedt, Jürgen Polzehl, der Geschäftsführer der Stadtwerke, Helmut Preuße, und weitere Gäste und Bürger anwesend. 8. Denn ein bisschen Altruismus ist schon dabei, wenn die Telekom AG Glasfaserleitungen auch dort verbuddelt, wo die Refinanzierung nicht in unmittelbarer Reichweite liegt. Man könnte das auch kalkuliertes Risiko nennen. Unternehmerische Verantwortung in betriebswirtschaftlichen Risikodimensionen (also mehr als sie eigentlich müsste) nimmt die Telekom auch im Vectoring-Ausbau außerhalb der Nahbereiche wahr: Die Telekom hat einen Anteil von über 80 Prozent; den Rest „teilen“ sich fast 80 weitere Unternehmen. 9. Der komplette „Altruismus“ – lassen Sie uns den Begriff mit „Daseinsvorsorge aus übergreifenden Motiven“ übersetzen – bei der Breitbandversorgung muss vom Staat kommen. Basierend auf der Erkenntnis, dass diese Infrastruktur existentiell ist und mithin für alle Menschen verfügbar sein muss, egal, ob sie in Berlin oder Templin im Melderegister stehen. Die Selbstlosigkeit hört natürlich bei der Finanzierung auf. Etwas, was wir brauchen, das sich aber nicht überall rechnet, muss mit Steuermitteln, also dem Geld der Bürger, bezahlt werden. 10.Wenn das Geld dafür nicht reicht, muss man neue Prioritäten setzen oder dem Bürger nach dem Kassensturz sagen, dass seine Erwartungen weder heute, noch morgen, vielleicht aber übermorgen erfüllt werden können. UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 11.Politik ist aus Gründen, die der Autor langsam nicht mehr nachvollziehen kann (der Bürger reagiert nämlich aufgeschlossen, positiv und goutiert diese Regung sogar mit einem Kreuz auf dem Wahlzettel bei denen, die ihn ernst genommen haben, indem sie ihm die ungeschminkte Wahrheit gesagt haben) seltsam mutlos, wenn es darum geht, auch unbequeme Realitäten zu kommunizieren. Da es aber einen Schuldigen geben muss, wird die bewährte Methode angewendet, den Sack zu schlagen, wenn man den Esel meint. Geprügelt werden also die Vodafones, Telekoms und alle weiteren Verdächtigen. Der eigentliche Adressat aber ist – das haben wir sehr detailliert gezeigt – der Staat. In erster Linie der Bund, dann die Länder, aber überhaupt nicht die Kommunen. Das sei so ausdrücklich festgehalten, weil auch sie regelmäßig in der „Sackrolle“ sind. Und weil die 9 Dass die Telekom Ausnahmesituationen – und dazu gehört auch der Breitbandausbau – meistern kann, hat sie nach der Wende bewiesen. Darauf wies Klaus Kinkel in besagtem Interview hin und formulierte: „Die total maroden Telekommunikationsnetze in der DDR waren eine der wichtigsten „Baustellen“ bei der Schaffung neuer wettbewerbsfähiger Strukturen. 1990 verfügten neun von zehn Haushalten in den Neuen Bundesländern über keinen Telefonanschluss, zwischen Ost und West gab es lediglich 800 Leitungen, zwei Drittel der technischen Anlagen waren älter als 40 Jahre und 1,3 Millionen Anträge auf einen Telefonanschluss unerledigt. Mit einem riesigen Investitionsvolumen ist es der Telekom innerhalb von nur sieben Jahren gelungen, die Netze in den Neuen Bundesländern nahezu vollständig zu modernisieren.“ 13 Breitbandversorgung Landkreise und Städte dicht am Bürger und dessen Nöten sind, ergreifen die unschuldig Geprügelten oft sogar die Initiative und kümmern sich lokal ums Breitband. Das ist aus der Not geboren. Es entlastet aber den eigentlich Verantwortlichen, den Staat, und ist überhaupt nur dann legitim, wenn solche Initiativen wenigstens von ihm finanziert werden. Dass solche Aktionen möglichst im Verbund mit denen, die dafür fachlich ausgewiesen sind, gestartet werden sollten, liegt auf der Hand. Ein biSSchen schwanger“ geht aber doch………. Warum und wie sich Bund und Länder bei der Breitbandversorgung nun doch (aber noch lange nicht ausreichend) engagieren Weil die Breitbandversorgung vor allem im ländlichen Raum deutlich langsamer vonstatten ging als von der Politik gefordert und erwartet, haben Bund und Länder dafür Förderprogramme aufgelegt. Neben dem zu langsamen Ausbautempo ist ein zweiter Grund mindestens ebenso wichtig: Die Folgen der Unterversorgung erreichen in vielen Regionen zunehmend eine existentielle Dimension. Eingeschränkte Teilhabe, Probleme bei der Versorgung mit lebenswichtigen Gütern via Internet sind Stichworte für die Sphäre der Bürger; gravierende Wettbewerbsnachteile für die Wirtschaft. Nachfolgend stellen wir das Bundesprogramm aus dem Jahr 2015 im einzelnen vor und geben einen tabellarischen Übersicht über die Fördermaßnahmen der Länder. Bundesebene Förderrichtlinie des Bundes für den Breitbandausbau (beschlossen am 21. Oktober 2015) Zeitrahmen: 2016 – 2018 Volumen: 2,7 Mrd. Euro Adressaten: Kommunen und Landkreise Fördersatz: 50 Prozent der zuwendungsfähigen Kosten Höchstbetrag je Projekt: 15 Mio. Euro Kombination mit Länder-Programmen: möglich (dadurch können bis zu 40 Prozent an weiterer Projektförderung hinzukommen; der Eigenanteil der Kommunen reduziert sich damit auf bis zu zehn Prozent) Bewertung der Anträge: anhand transparenter Kriterien (Scoring); ein Punktesystem bildet die Grundlage für eine Förderentscheidung Förderung Planungs- und Beratungskosten: unabhängig von Projektförderung; Förde- rung mit bis zu 100 Prozent bei einem Maximalbetrag von 50.000 Euro Ziele: ˆˆ Breitbandausbau in bis dato unterversorgten Regionen ˆˆ Schließen von Wirtschaftlichkeitslücken, die sich bei Telekommunikationsunternehmen ergeben, wenn diese ein Breitbandnetz in unterversorgten Gebieten errichten (Wirtschaftlichkeitslückenmodell) ˆˆ Unterstützung der Kommunen, die passive Infrastrukturen wie z.B. Glasfaserstrecken errichten wollen, um diese an Netzbetreiber zu verpachten (Betreibermodell) ˆˆ Forcierung der Planungsprozesse durch die separate und vorgelagerte Förderung von Planungs- und Beratungskosten von bis zu 100 Prozent Bundes- und Länderebene Das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVdI)informiert umfassend über alle öffentlichen Förderprogramme zur Verbesserung der Breitbandversorgung. Diesen, so das BMVdI, liegt das Prinzip zu Grunde, nur dort zu fördern, wo ausreichende Marktlösungen nicht zustande kommen. Dies ist dann der Fall, wenn für den jeweiligen Bedarf bei den gegebenen wirtschaftlichen, infrastrukturellen und topographischen Gegebenheiten auch unter Einbeziehung aller technologischen und wettbewerblichen Alternativen keine Lösung durch den Markt möglich ist. 14 Die bestehenden Programme unterstützen die Kommunen im Wesentlichen bei der Förderung der folgenden Aktivitäten: ˆˆ Machbarkeitsuntersuchungen und Beratungsleistungen; ˆˆ Realisierung einer Breitbandversorgung oder eines lokalen Breitbandnetzes; ˆˆ Verlegung von Leerrohren, die für Breitbandinfrastruktur genutzt werden können. Die Förderung erfolgt einerseits aus Programmen, die aus einer Kombination von Bundes-, Landes- oder auch EU-Mitteln aufgebracht werden (sogenannte „kofinanzierte Programme”). Hier legen die finanzierenden Körperschaften gemeinsam die grundsätzlichen Förderbedingungen fest, also z.B. Bund und Land, jedoch haben die Länder nicht nur die Wahl, ob sie am Programm teilnehmen, sondern auch Spielräume bei der konkreten Ausgestaltung. Es bestehen auch Programme, die allein aus den Mitteln der Bundesländer finanziert und deren Zuwendungsvoraussetzungen eigenständig von dem finanzierenden Land im Einklang mit den Vorgaben des europäischen Beihilfenrechts festgelegt werden. Die Länder Baden-Württemberg, Bayern, Sachsen und Niedersachsen haben für ihre spezifischen Landesprogramme eigene beihilfenrechtliche Genehmigungen bei der EU-Kommission eingeholt. Die Broschüre „Möglichkeiten der Breitbandversorgung” des BMVdI stellt die allgemeinverbindlichen Förderbedingungen der kofinanzierten Programme dar und erläutert die landesspezifischen Details. Allen Programmen ist gemeinsam, dass die Administration (unabhängig von der Finanzierung) immer durch das entsprechende Bundesland erfolgt. Folglich ist der maßgebliche Ansprechpartner für alle Programme im Bereich Breitbandförderung die zuständige Stelle des jeweiligen Bundeslandes. Fördermaßnahmen für die flächendeckende Breitbanderschließung müssen vor ihrer Umsetzung von der Europäischen Kommission genehmigt werden. Sie prüft diese Maßnahmen am Maßstab der „Leitlinien der Gemeinschaft für die Anwendung der Vorschriften über staatliche Beihilfen im Zusammenhang mit dem schnellen Breitbandausbau” (Breitbandleitlinien). Mit der erfolgten Genehmigung wurde die beihilfenrechtliche Grundlage für die Förderung der Betreiber von Breitbandnetzen durch Bereitstellung von Leerrohren mit oder ohne Kabel durch Bund, Länder und Kommunen geschaffen. Bund und Länder haben verschiedene Programme genehmigen lassen, mit denen die Errichtung von Breitbandinfrastrukturen der Grundversorgung gefördert werden kann. Mit der Bundesrahmenregelung Leerrohre wurde auf Basis der Beihilfenleitlinien eine Maßnahme genehmigt, die den Breitbandausbau im NGA-Bereich („Next Generation Access”) elementar unterstützen soll. Ziel dieser Maßnahme ist der konditionierte Aufbau passiver Infrastrukturen (Leerrohre und Kabel) als Vorbereitung für den Aufbau eines hochleistungsfähigen Breitbandnetzes insbesondere in ländlichen Gebieten. Die Rahmenregelung ist selbst kein Förderprogramm, sondern konkretisiert die Anforderungen an ein beihilfenkonformes Verfahren. Die Regelung wird im Rahmen der GRW (Gemeinschaftsaufgabe Regionale Wirtschaftsstruktur) sowie von einzelnen Ländern und Kommunen genutzt. i infos www.zukunft-breitband.de UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 JAHRESTHEMA: INFRASTRUKTUR Breitbandversorgung Ist das, was technisch möglich ist, überall auch nötig? Auch für die Breitbandversorgung gilt, was wir in diesem Beitrag an anderer Stelle schon formuliert haben: differenzierte Standards in der Daseinsvorsorgeinfrastruktur sind nicht etwa nur die Zukunft mit Blick auf reale Bedarfe und verfügbare finanzielle Ressourcen zu definieren. Sie sind schon heute Realität. Die Verkehrsangebote im ÖPNV sind auf dem flachen Lande andere als in den Städten, und wer die Krankenhausund Facharztdichte Berlins in der Uckermark erwartet, lebt auf einem anderen Stern. Es sind jedoch mitnichten nur fiskalische Gründe, die zu diesen Differenzierungen im Angebot führen. Infrastrukturen sind im Regelfall öffentlich finanziert und mithin auch dem Solidarprinzip flächendeckend durch Breitbandinfrastruktur abzusichern. Hier steht folgende dringende Frage im Raum: bleibt es beim Bekenntnis zu diesem gerade genannten Standard? Wenn ja, müssen Bund und Länder die Finanzierung sichern. Alternativ könnte man aber auch regional differenzierte Übertragungsgeschwindigkeiten definieren. Auch mit Blick darauf, dass ein Netz nicht nur errichtet, sondern möglichst auch wirtschaftlich betrieben werden sollte. Ein Kriterium für solche differenzierte Standards für Regionen mit immer weniger, dafür aber immer älterer Menschen müssten m.E. Erfordernisse der Telemedizin sein, mitnichten aber der durchaus denkbare individuelle Wunsch, den Blockbuster in 3-D online auf den Bildschirm zu projizieren (wenn man den Firm herunterlädt und dafür zwei Stunden braucht, wäre das ganz sicher durchaus im Bereich des „Zumutbaren“. Als Marktführer bei Telekommunikation ist die Telekom Deutschland auch beim Breitbandausbau maßgeblich engagiert. Unser Foto zeigt einen Bautrupp des Unternehmens, an dem die Bundesrepublik Deutschland noch einen Anteil von 31,7 Prozent hält. verpflichtet. Das wurde beispielsweise nicht beachtet, als in Ostdeutschland nach der Wende überdimensionierte Kläranlagen projektiert und errichtet wurden. Künstlich hoch gerechnete Bedarfe sicherten ordentliche Vergütungen für Ingenieurbüros und Baubetriebe. Eine solide Analyse der absehbaren Bevölkerungsentwicklungen hätte ungeachtet aller „BlühendeLandschaften“-Euphorien ganz sicher zum Vorrang für dezentrale Lösungen bis hin zu Ausnahmen beim Anschluss- und Benutzungszwang geführt. Aus diesen Fehlern sollten wir beim Breitbandausbau lernen. Die Bundesregierung hat sich zum 50-Mbit-Standard für alle bekannt. Das dafür derzeit bereitgestellte öffentliche Geld reicht aber nicht aus, um diesen Standard tatsächlich auch Natürlich ist technisch sehr viel möglich. Dort, wo diese besonderen Standards von Industrie und Forschung benötigt werden – hier müssen wir sehr exakt den Unterschied zwischen Daseinsvorsorge für alle (das ist der Privatmensch zwischen Rügen und Zugspitze) und gewerblichen Bedarfen beachten – werden sie ganz sicher auch bereitgestellt. Das sind ganz klassische Business-to-Business-Beziehungen, mit denen der Staat im Regelfall eher weniger zu tun hat. Auch bei der Telekommunikation gibt es nämlich den eindeutigen Standard der Grundversorgung. n i infos UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 www.unternehmerin-kommune.de UNSER AUTOR Prof. Dr. Michael Schäfer lehrt seit 2010 an der Hochschule für nachhaltige Entwicklung in Eberswalde (HNEE) als Professor für Kommunalwirtschaft. Er ist einer der maßgeblichen Initiatoren des deutschlandweit ersten Masterstudienganges Kommunalwirtschaft an dieser Bildungsstätte. (www.hnee.de). Schwerpunkte seiner wissenschaftlichen Arbeit sind die Themen Daseinsvorsorge, strategische Führung kommunaler Unternehmen und Rekommunalisierung. Von 2006 bis 2015 hat Schäfer an insgesamt 21 Studien zu kommunalwirtschaftlichen Sachverhalten zumeist federführend mitgewirkt und diese Projekte auch initiiert und geleitet. Schäfer ist Autor des ersten Standardwerkes zur Kommunalwirtschaft, das 2014 bei Springer/ Gabler Wiesbaden unter dem Titel „Kommunalwirtschaft. Eine gesellschaftspolitische und volkswirtschaftliche Analyse“ erschien. Auch die Definition zur Kommunalwirtschaft im renommierten „Gabler Wirtschaftslexikon“ stammt aus seiner Feder. Im Jahr 2016 erschien von ihm – Co-Autor ist Sven-Joachim Otto – ebenfalls bei Springer sein Buch „Das kommunale Nagelstudio. Stadtwerke & Co. – Die populärsten Irrtümer zur Kommunalwirtschaft“ (www.springer.com). Prof. Dr. Michael Schäfer ist Herausgeber und Chefredakteur der seit 1997 bestehenden Fachzeitschrift für Kommunalwirtschaftliches Handeln, UNTERNEHMERIN KOMMUNE. (www.unternehmerin-kommune.de). Schäfer ist Mit-Initiator des „Verbundnetz für kommunale Energie“ (VfkE). Dieses 2003 etablierte Diskussionsforum ostdeutscher Kommunalpolitiker konzentriert sich auf die kommunalwirtschaftliche Betätigung und gilt als wichtigste derartige Kommunikationsplattform in den neuen Ländern (www.vfke.org). Im Ehrenamt ist er Geschäftsführender Vorstand des IWK Wissenszentrum Kommunalwirtschaft, e.V. Dieser Verein mit Sitz in Berlin hat das Ziel, Forschungen zu kommunalwirtschaftlichen Themen zu initiieren und zu fördern und vereint namhafte Mitglieder wie u.a. den VKU, die Thüga AG München, Berliner Stadtreinigung, Ostdeutscher Sparkassenverband, Stadtentsorgung Potsdam unter seinem Dach (www.wissenszentrumkommunalwirtschaft.de). Literatur: Forsthoff, Ernst: Die Verwaltung als Leistungsträger, Kohlhammer, Stuttgart/Berlin, 1938 Forsthoff, Ernst: Die Daseinsvorsorge und die Kommunen, Sigillum-Verlag Köln-Marienburg, 1958 Linke, Franziska: Genesis des Begriffs Daseinsvorsorge und Überlegungen zu einer dynamischen Definition als Reflektion sich verändernder demographischer und fiskalischer Rahmenbedingungen, Erfurt, 2011 15 ÖPNV Wettbewerb auf den Regionalstrecken des deutschen Schienennetzes Bindeglied zwischen den Kommunen Interview mit Dirk Ballerstein, Geschäftsführer Abellio Rail Mitteldeutschland GmbH A m 27 Dezember 1993 trat das Gesetz zur Neuordnung des Eisenbahnwesens (Eisenbahnneuordnungsgesetz – ENeuOG) in Kraft. Neben dem Artikel 87 des Grundgesetzes wurden damit rund 130 Gesetze geändert. Diese Änderungen waren notwendig, um die Deutsche Bahn AG zu gründen, Aufgaben der staatlichen Daseinsvorsorge von unternehmerischen Aufgaben der Bahnen zu trennen, den Schienenpersonennahverkehr zu regionalisieren und die Beamten der ehemaligen Bundesbahn in ein Dienstüberlassungsverhältnis zwischen DB AG und Bundeseisenbahnvermögen zu überführen. Teil dieses Pakets, mit dem die Bahnreform in Deutschland auf den Weg gebracht wurde, war das Gesetz zur Regionalisierung des öffentlichen Personennahverkehrs (RegG), das sogenannte Regionalisierungsgesetz. Das Gesetz definiert die Sicherstellung ausreichender Verkehrsleistungen im Öffentlichen Personennahverkehr als eine Aufgabe der Daseinsvorsorge. Im Sinne des Regionalisierungsgesetzes ist öffentlicher Personennahverkehr „die allgemein zugängliche Beförderung von Personen mit Verkehrsmitteln im Linienverkehr, die überwiegend dazu bestimmt sind, die Verkehrsnachfrage im Stadt-, Vorort- oder Regionalverkehr zu befriedigen. Das ist der Fall, wenn in der Mehrzahl der Beförderungsfälle eines Verkehrsmittels die gesamte Reiseweite 50 Kilometer oder die gesamte Reisezeit eine Stunde nicht übersteigt.“ Während der Schienenpersonenfernverkehr von jedem Eisenbahnverkehrsunternehmen eigenwirtschaftlich, also ohne staatliche Hilfe betrieben wird, wird der Schienenpersonennahverkehr überwiegend mit Hilfe der Regionalisierungsmittel finanziert. Sie stehen den Ländern vom Bund aus dem Mineralölsteueraufkommen für die Bestellung der Nahverkehrsleistungen zur Verfügung. Das Land bzw. die Zweckverbände legen die Verkehrslinien, den Verkehrsumfang und weitere Kriterien wie Takte und Fahrzeuge fest. Auf dieser Basis ermitteln sie durch Ausschreibungen das preiswerteste Angebot für eine Vertragslaufzeit von meist mehr als fünf Jahren. Daneben gibt es Direktvergaben und freihändige Vergabeverfahren. Eine der Intentionen der Bahnreform war es, Wettbewerb beim Personennah- und Fernverkehr zu ermöglichen. Aus der Deutschen Bundesbahn wurde die DB AG, die sich inzwischen den Markt vor allem im Nahverkehr mit Wettbewerbern aus dem In- und Ausland teilen muss. Einer dieser Akteure ist die niederländische Abellio mit Sitz in Utrecht. Die Abellio GmbH ist deutsche Tochter der niederländischen Abellio Transport Holding B.V. mit Sitz in Utrecht, die in Deutschland, den Niederlanden und Großbritannien täglich mit 17.000 Mitarbeitern für die Mobilität von über 1,5 Millionen Fahrgästen sorgt. Die Abellio GmbH ist in Berlin beheimatet und führt von dort aus Regionalgesellschaften, die für das operative Geschäft zuständig sind. Eine sehr erfolgreiche Tochter ist die Abellio Rail Mitteldeutschland GmbH. Mit deren Geschäftsführer, Dirk Ballerstein, führten wir das nachfolgende Interview. UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Wir haben die Aktivitäten von Abellio in Deutschland nur ganz knapp umrissen. Könnten Sie uns bitte etwas detaillierter über das informieren, was unter dem Namen Abellio auf deutschen Schienen passiert, und bei dieser Gelegenheit auch die wichtigen Fakten zu der von Ihnen geführten Gesellschaft nennen? Dirk Ballerstein: Abellio möchte einer der führenden Anbieter von Schienenverkehrsleistungen werden. Mit diesem Ziel verbindet sich ein äußerst hoher Qualitätsanspruch bei Pünktlichkeit, Sauberkeit, Zuverlässigkeit und Kundennähe. Mittelfristig wollen wir im Bereich der privaten Anbieter die Marktführerschaft erringen. Wir schauen uns sehr aktiv aktuelle Ausschreibungen von Verkehrsleistungen in Deutschland an und wollen weiter auf Expansionskurs bleiben. Derzeit betreibt Abellio Netze in Nordrhein-Westfalen und in Mitteldeutschland. Dies entspricht etwa 14 Millionen Zugkilometern im Jahr. Mit den von uns gewonnenen Ausschreibungen zum Rhein-Ruhr-Express, in Stuttgart und in Sachsen-Anhalt werden wir uns in den kommenden drei Jahren um weitere 24 Millionen Zugkilometer vergrößern. 16 Die Abellio Rail Mitteldeutschland fährt mit ihren 35 Zügen knapp zehn Millionen Kilometer im Jahr. Wir beschäftigen 360 Mitarbeiter und betreiben sehr erfolgreich das Schienennetz in der Region Saale-Thüringen-Südharz zwischen Kassel, Halle-Leipzig, Eisenach und Saalfeld. UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Warum hat sich Abellio in Deutschland engagiert, und welche Ziele gibt es kurz-, mittel- und langfristig? Ballerstein: Das Unternehmen Abellio ist ursprünglich aus einem kommunalen Betrieb heraus entstanden. Die Essener Verkehrs AG verfolgte den Ansatz, zu einem Systemhaus für Mobilität in der Region zu werden. Mit der Übernahme durch die niederländische Staatsbahn NS im Jahre 2008 wurde diese Philosophie fortgeführt. Die Niederländische Staatsbahn NS will ihr Engagement im Ausland weiter ausbauen. Dies entspricht einem Trend, der sich unter den europäischen Staatsbahnen schon seit einigen Jahren zeigt. Als privater Anbieter, aber auch als Tochter der NS, wollen wir in Europa weiter wachsen. Dirk Ballerstein Kurzfristig werden wir das Niederrhein-Netz in Betrieb nehmen und damit erstmalig auch grenzüberschreitend in die Niederlande fahren. Mittelfristig streben wir die Qualitäts- und Marktführerschaft unter den privaten Anbietern in Deutschland an. Langfristig soll Abellio in ganz Europa erfolgreich aktiv sein. UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 JAHRESTHEMA: INFRASTRUKTUR ÖPNV UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Wir haben in unserem Vorspann darauf hingewiesen, dass das sogenannte Regionalisierungsgesetz aus dem Jahr 1993 den Schienenpersonennahverkehr als Teil der staatlichen Daseinsvorsorge definiert. Das ist plausibel, denn nach unserem praktischen wie wissenschaftlichen Verständnis gehört diese Form von Mobilität in den Kanon. Was uns aber immer wieder wundert, ist die Tatsache, dass der ÖPNV in den Kommunalverfassungen der meisten Bundesländer als freiwillige Aufgabe definiert ist. Unserer Auffassung nach ist der Schienenpersonennahverkehr doch Teil des ÖPNV oder liegen wir da komplett falsch? zum ÖPNV. Beides, sowohl den schienen- als auch den straßengebundenen öffentlichen Verkehr in der Region, verstehe ich als elementaren Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge. Dies wird de facto auch überall so gelebt. Möglicherweise ist der Ansatz, den ÖPNV in den meisten Kommunalverfassungen als freiwillige Aufgabe zu definieren, tatsächlich einer gedanklichen Trennung zwischen Schiene und Straße zuzurechnen. Der Gesetzgeber will die Kommunen offensichtlich dazu anhalten, sich auf lokale Verbünde zu konzentrieren und den regionalen Schienenverkehr in der Hand der Länder zu belassen. Ballerstein: Der Schienenpersonennahverkehr (SPNV) ist eine Teilmenge des ÖPNV. Im Gegensatz zu anderen Segmenten wird die Vergabe allerdings im Regelfall über die Länder organisiert und nicht über Landkreise, Städte und Gemeinden. Die kommunale Ebene konzentriert sich daher auf den straßengebundenen ÖPNV inklusive der Straßenbahnen. Hier dominieren kurzfristige Ziele und der Verbundgedanke. Der SPNV orientiert sich eher auf der Ebene der Zweckverbände und Aufgabenträger. Sicherlich besteht Abstimmungsbedarf zwischen Straße und Schiene, zwischen Kommunen und Ländern, doch zweifelsfrei gehören beide Segmente UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Profitiert die Daseinsvorsorgeleistung Schienenpersonennahverkehr davon, dass es Wettbewerb gibt, und wenn ja, in welcher Weise? Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Fernbus-Liberalisierung? UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Sie haben einen deutschen Pass. Wir möchten Sie trotzdem darum bitten, einmal mit niederländischen Augen auf die deutsche Schiene zu schauen. Was müsste aus dieser Perspektive am Personenverkehr in Deutschland optimiert werden, im Nah- und auch im Fernbereich, und wie beurteilen Sie die derzeitige Marktund Wettbewerbssituation? Ballerstein: Der Wettbewerb hat die regionalen Verkehrsmärkte spürbar belebt und insgesamt dafür gesorgt, dass die Preise teilweise deutlich gesunken sind. Jüngst in Stuttgart konnte man nachvollziehen, dass die gleichen Leistungen, die über Jahre von der Deutschen Bahn im Monopol erbracht wurden, Ballerstein: In den Niederlanden sind die Vertriebssysteme einheitlicher organisiert. In Deutschland dagegen ist das Dickicht an verschiedenen Verbünden und Tarifen kaum zu durchschauen. Die deutlich höhere Komplexität im deutschen System lässt sich mit Unterschieden in der Infrastruktur Mehr Wettbewerb, sinkende Preise nun für die Hälfte des Preises von vor 15 Jahren vergeben worden sind. Auch in Bezug auf die Qualität hat es einen erheblichen Sprung nach vorne gegeben. Die Fahrzeuge sind moderner, deren Ausstattung stärker auf die Kundenbedürfnisse abgestimmt und der Service ist einfach besser. Die Fernbusse entwickeln sich zu ernstzunehmenden Konkurrenten, dies allerdings eher auf den Fernstrecken der Deutschen Bahn, als auf den regionalen Linien, auf denen Abellio aktiv ist. Insgesamt sehe ich die Fernbusse als Ergänzung zu bestehenden Verkehrsangeboten. Nachruf Am 27. April 2016 ist der langjährige VDV-Geschäftsführer Reiner Metz im Alter von 55 Jahren völlig überraschend und plötzlich verstorben. Er war über 20 Jahre im Verband Deutscher Verkehrsunternehmen tätig, zunächst als Leiter des Fachbereichs „Personenbeförderungsrecht und Finanzierung“, seit dem 01. Juli 2003 als Geschäftsführer Personenverkehr. Der VDV blickt voller Dankbarkeit und Respekt auf Reiner Metz Lebensleistung für den Verband und für die ÖPNV-Branche. Er zählte zu den Persönlichkeiten, die den VDV und den ÖPNV in Deutschland nachhaltig geprägt haben. Durch seinen kontinuierlichen und unermüdlichen Einsatz haben der Verband und die Branche vielerorts hohe Anerkennung erfahren. Während seiner fast 13-jährigen Tätigkeit als Geschäftsführer hat er mit Geschick und außergewöhnlichem Engagement an der Schnittstelle zwischen Ehrenamt und Hauptamt die Geschicke des VDV maßgeblich mit gesteuert. Ihm war es immer ein besonderes Anliegen, den öffentlichen Personenverkehr in Deutschland als relevanten und unverzichtbaren Teil der Gesellschaft zu positionieren und weiterzuentwickeln. Mit großer Hingabe kämpfte Reiner Metz vor allem bei der Politik in Europa, im Bund sowie in den Ländern und Kommunen für einen fairen Rechts- und Ordnungsrahmen und eine ausreichende Finanzierung der Branche. Er wird uns, den Mitgliedern und Mitarbeiter/innen des VDV, als freundlicher, ehrlicher und immer verbindlicher Kollege in Erinnerung bleiben. Wir danken Reiner Metz für alles, was er für den Verband, seine Mitglieder und den ÖPNV in Deutschland getan und gemeinsam mit uns entwickelt hat. Er fehlt uns als Weggefährte und Experte sehr. Unsere Gedanken und unser Trost gelten den Hinterbliebenen. In stillem Gedenken nehmen Abschied Präsidium, Geschäftsführung und Mitarbeiter/innen UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 17 ÖPNV Diese modernen Züge verkehren unter anderem zwischen Erfurt und Leipzig. nicht hinreichend erklären. Es ist vielmehr die ausgeprägte Kleinstaaterei, die übergreifende Angebote unmöglich macht. In den Niederlanden kann man sich mit einer einheitlichen Chipkarte am Startbahnhof ein- und am Zielbahnhof wieder ausloggen – und dies übergreifend über verschiedene Verkehrsträger und Regionen hinweg. Die Abrechnung erfolgt monatlich. In Deutschland sind wir von solchen Lösungen leider noch recht weit entfernt. Der Wettbewerb funktioniert hier wie dort. So wie sich die Niederländische Staatsbahn mit Abellio in Deutschland engagiert, versucht auch die Deutsche Bahn mit ihrer Tochter Arriva in den Niederlanden zu reüssieren. In den Niederlanden wird den Wettbewerbern allerdings von vornherein auferlegt, sich in die Vertriebssysteme zu integrieren. UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Sie sind mit Abellio auf dem Netz der Deutschen Bahn AG unterwegs. Der Zustand der Infrastruktur steht zunehmend in der Kritik. Es gibt große Modernisierungsbedarfe, nicht nur bei den Brücken. Wo sehen Sie die Defizite, und wie wirkt sich das auf die Erbringung der Verkehrsleistungen im Schienenpersonennahverkehr aus? Ballerstein: Im Zuge des geplanten Börsenganges der Deutschen Bahn wurde über Jahre versucht, Kosten zu senken. Unmittelbare Folge dieser 18 Politik ist der erhebliche Sanierungsbedarf, der sich vor allem in der Infrastruktur bis heute zeigt. Durch die zweite und erheblich aufgestockte Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung zwischen der DB Netz und dem Bund ist spürbar mehr Geld vorhanden. Die Deutsche Bahn hat nun das entgegengesetzte Problem, die erhebliche Summe von 3,8 Milliarden Euro im Jahr auch Der Wettbewerb hat die regionalen Verkehrsmärkte spürbar belebt und insgesamt dafür gesorgt, dass die Preise teilweise deutlich gesunken sind. Jüngst in Stuttgart konnte man nachvollziehen, dass die gleichen Leistungen, die über Jahre von der Deutschen Bahn im Monopol erbracht wurden, nun für die Hälfte vergeben worden sind. „ ______________________ Dirk Ballerstein “ Wir sprechen uns für eine Novellierung der Schienennetznutzungsbedingungen aus, da die Deutsche Bahn sich beständig weigert, Regressansprüche anzuerkennen. Private Anbieter erbringen 30 Prozent der Leistungen im Schienenpersonennahverkehr mit deutlich steigender Tendenz. Im vergangenen Jahr wurden drei Viertel aller öffentlich ausgeschriebenen Netze an Wettbewerbsbahnen vergeben. Die Bahn kam nur auf ein Viertel. Wenn Wettbewerb tatsächlich gewollt ist, dann ergibt sich daraus auch der Anspruch, bei der Novellierung des Regulierungsrahmens zumindest angehört zu werden. Bei der Neuformung des EisenbahnRegulierungsgesetzes wurden jedoch nur die beiden Gewerkschaften und die Deutsche Bahn beteiligt. Deutlich weniger Geld für den Osten zu verbauen. In diesem Zusammenhang leidet die Koordination der verschiedenen Projekte. Das Baustellenmanagement verschlechtert sich, viele Bauarbeiten dauern länger als geplant, Vollsperrungen werden angeordnet, wo zumindest eingleisig noch gefahren werden könnte. UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Die Regionalisierung stellt sich dem Betrachter nicht nur als Erfolgsgeschichte dar. Ein Indikator ist der ständige Streit um die Finanzierung zwischen Bund und Ländern. Ist die Finanzierung ausreichend, wenn man das mit dem hohen Maßstab misst, dass es sich ja nicht um Luxusmobilität, sondern um Daseinsvorsorge handelt? Ballerstein: Ich sehe zwei zentrale Streitpunkte. Zum einen geht es um die Höhe der Beträge und zum anderen um die Dynamisierung und den Verteilungsschlüssel. Auch UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 JAHRESTHEMA: INFRASTRUKTUR dieses Jahr sind die Regionalisierungsmittel unter dem von unabhängigen Gutachtern berechneten Satz geblieben. Damit kann schon einmal weniger Geld verteilt werden. Insbesondere für die Neuen Bundesländer hat aber auch der neu gefasste Verteilungsschlüssel erhebliche Auswirkungen. Im Osten Deutschlands wird in den kommenden Jahren deutlich zu spüren sein, dass dort durch den sogenannten Kieler Schlüssel etwa vier Milliarden Euro weniger ankommen. Insgesamt sind die Kosten für die Nutzung der Infrastruktur überproportional zu den Regionalisierungsmitteln gestiegen. Damit steht für den tatsächlichen Betrieb immer weniger Geld zur Verfügung. Direkte Folge ist die Einstellung kleinerer Strecken und eine weitere Ausdünnung der Netze. UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Unabhängig davon, dass für den Schienenpersonennahverkehr die Länder zuständig sind, gehört er doch in erster Linie zur Lebenswirklichkeit in den Kommunen. Auch die Züge, die unter dem Label Abellio unter anderem durch Mitteldeutschland fahren, sind integraler Bestandteil von Verkehrsverbünden, es gibt Schnittstellen zu Bussen und Trams. Sie könnten auf dem Standpunkt stehen, wir fahren, natürlich auf hohem Niveau, was die Länder bestellen. Wir wissen, dass Sie eine andere Perspektive haben. Können Sie uns diese Sichtweise erläutern, und uns auch sagen, warum Sie den intensiven Dialog mit den kommunalen ÖPNV-Aufgabenträgern, den Landkreisen und kreisfreien Städten pflegen, und was Gegenstand dieses Austausches ist? Ballerstein: Wir pflegen einen engen Dialog mit den kommunalen Aufgabenträgern. Die Kommunen haben in den vergangenen Jahren ihre Verkehrsverbünde weiter ausgeweitet und stärker miteinander vernetzt. Wir sind integraler Bestandteil davon und fahren mit einheitlichen Tarifen. Im kontinuierlichen Dialog mit den Kommunen werden auch die Fahrpläne der regionalen Bus- und Straßenbahnunternehmen mit unseren Schienenverkehrsleistungen abgestimmt. Ziel ist ein integriertes System. Zusammen mit den kommunalen Aufgabenträgern sind wir hier in den vergangenen Jahren ein deutliches Stück vorangekommen. Kooperation und Koordination funktionieren insgesamt sehr gut. Abellio versteht sich als Bindeglied zwischen den einzelnen Verbünden. Wir sorgen für den Transport zwischen den kommunalen Aufgabenträgern und sind daher auf eine möglichst optimale Abstimmung angewiesen. Unter den Verbünden zeigt sich allerdings ein unterschiedlicher Reifegrad. Ich kann aus meiner Erfahrung UNSER Gesprächspartner Dirk Ballerstein wurde 1964 in Braunschweig geboren. Dem Abitur folgte ein Studium des Maschinenbaus. Im Anschluss war Ballerstein zehn Jahre lang in der Erdöl- und Erdgasindustrie tätig. Nach leitenden Funktionen im In- und Ausland wechselte er 1999 in die Bahnindustrie. Dort arbeitete er für führende Schienenfahrzeughersteller im Bereich Vertrieb und Service. Seit 2014 ist Ballerstein bei Abellio Rail Mitteldeutschland und übernahm dort die Geschäftsführung am Standort Halle (Saale). nur zu größeren Einheiten raten. Es gibt eine gewisse Mindestgröße, die Voraussetzung für koordinierte, effiziente und professionelle Angebote ist. Die Potenziale interkommunaler Kooperationen sind im ÖPNV noch lange nicht ausgeschöpft. Das betrifft den Datenverkehr zwischen den verschiedenen Unternehmen oder auch ein integriertes Tarifsystem. n Das Interview fühte Falk Schäfer i infos www.abellio.de Netze für neue Energie E.DIS investiert seit vielen Jahren in moderne und leistungsstarke Energienetze in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. So sichern wir eine zuverlässige und umweltfreundliche Energieversorgung in der Region. 2015 ist bereits so viel Grünstrom ins E.DIS-Netz aufgenommen worden, wie hier insgesamt verbraucht wurde. www.e-dis.de UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 19 Digitalisierung Digitalisierung und Daseinsvorsorge Vorsprung durch Vertrauen Zweites Roundtable-Gespräch zu den Potentialen von Kommunen und kommunalen Unternehmen bei Vernetzung und Digitalisierung D ie Digitalisierung prägt die mittelfristige Zukunft der kommunalen Unternehmen wie kaum ein anderer Megatrend unserer Zeit, gerät bei all den Debatten um Energiewende und demografischen Wandel aber oft und sehr zu Unrecht ins Hintertreffen. Denn gerade die strukturellen und ökologischen Herausforderungen, vor denen die Versorgungswirtschaft steht, lassen sich mit vernetzten und digitalen Konzepten deutlich besser lösen als in einem rein analogen Umfeld. Digitalisierung geht einher mit dem Sammeln und dem Austausch unendlicher personalisierter Datenmengen. Kommunale Unternehmen und Stadtwerke im Besonderen genießen nach aktuellen Umfragen einen enormen Vertrauensvorschuss. In der hochsensiblen Datenwelt ist dieses in die kommunale Wirtschaft gesetzte Vertrauen ein wichtiges Faustpfand im Wettbewerb. Kommunale Unternehmen können und sollten dies nutzen, um den Bürgern den Übertritt in den digitalen Raum zu erleichtern und Angebote zu zimmern, die in der konkreten Lebenswirklichkeit der Menschen vor Ort Hilfe und Unterstützung entfalten können. Welche Herausforderungen und Möglichkeiten sich mit der Digitalisierung für kommunale Unternehmen verbinden, welche Synergien sich nutzen lassen und wie Bürger und Kommunen von den technischen Potentialen am ehesten profitieren können, ist Gegenstand einer Gesprächsreihe, die UNTERNEHMERIN KOMMUNE im vergangenen Heft startete. Nach einem Besuch im sachsen-anhaltischen BitterfeldWolfen ging es nun ins sauerländische Iserlohn. Auch dort konnten Vertreter der Stadt, der Wohnungswirtschaft, der Stadtplanung und nicht zuletzt der Stadtwerke für eine kontroverse Debatte gewonnen werden. Der ebenfalls vollständig kommunale Netzdienstleister Alliander steuerte seine externe Expertise bei. Lesen Sie im Folgenden eine Zusammenfassung der Gesprächsrunde vom 10. Mai in Iserlohn. Das Kerngeschäft der Daseinsvorsorge werde vor dem Hintergrund von Energiewende und demografischem Wandel in den kommenden Jahren sicher nicht einfacher werden, leitet Prof. Dr. Michael Schäfer die Gesprächsrunde ein. Das Wort der Digitalisierung sei derzeit in aller Munde, wenn es darum gehe, Zukunftsprojektionen zu entwerfen und Antworten auf die aktuellen Herausforderungen zu finden. Doch jeder verstehe davon etwas anderes und deshalb wolle er bei den versammelten Akteuren am Tisch die jeweils eigene Sichtweise erfragen. „Man kann sich dem nicht entziehen“, antwortet Dr. Klaus Weimer. „Heute gibt es elf Milliarden verbundene Geräte bei lediglich sieben Milliarden Menschen auf der Welt. Bis zum Jahr 2030 werden 33 Milliarden Geräte im weltweiten Netz miteinander gekoppelt sein. Als kommunales Unternehmen sind wir gezwungen, auf die damit verbundenen Bedürfnisse einzugehen.“ Um die Tragweite der Veränderungen ablesen zu können, brauche man nur das eigene Nutzerverhalten im Wandel der vergangenen Jahre zu analysieren. Die jüngere Generation würde fast ihr gesamtes Leben über das Smartphone ordnen. Und die Zahl der Alternativen, Optionen und Angebote wachse von Tag zu Tag. Die kommunale Wirtschaft in Gänze hätte sich diesem Trend noch nicht ausreichend gewidmet und müsse nun schnellstens mit eigenen Konzepten nachlegen. Ziel müsse es sein, den Kontakt mit den Kunden auf die neuen Oberflächen zu überführen und möglichst zu vertiefen, so Dr. Weimer. Caspar von Ziegner stimmt zu. Die Kommunen müssten sich schnellstmöglich diesem globalen Megatrend anschließen. Der Senior Projektmanager der Alliander AG beschreibt den Wandel zumindest in Teilen als 20 disruptiv. „Diejenigen, die sich nicht öffnen und den Anschluss verlieren, werden aus dem Markt ausscheiden.“ Die kommunale Wirtschaft sei gehalten, den Wandel offensiv anzugehen und möglichst selbst zu gestalten. Dr. Peter Paul Ahrens, blickt zurück auf die Privatisierungen der 1990er Jahre. Selbstverständlich gehöre Breitband zur Daseinsvorsorge, durch Ordnungsregeln sei der Betrieb der dazugehörigen Netze allerdings weitgehend auf die Privatwirtschaft übergegangen. In diesem Dickicht an Verantwortlichkeiten, Potentialen und Normsetzungen falle es den Kommunen schwer, die eigene Rolle zu bestimmen. Grundsätzlich stimmt auch Iserlohns Bürgermeister dem Befund zu, dass die Digitalisierung das Lebensumfeld der Menschen und die sozialen Umgangsformen in einem Maße verändern werde, wie kaum eine technologische Revolution zuvor. Ahrens sieht seine Aufgabe darin, eine lebenswerte Stadt anzubieten. Dazu zähle heute selbstverständlich auch die digitale Vernetzung. So sei es bei der Unterbringung der Flüchtlinge in Iserlohn eine der drängendsten Aufgaben gewesen, möglichst schnell ein leistungsfähiges WLAN in den Unterkünften anzubieten. „Die neuen Geschäftsmodelle basieren nicht mehr auf Anlagen und Maschinen, oftmals reicht eine Oberfläche aus, an die man sich andocken kann“, sagt Reiner Timmreck. Die Kommunen müssten sich fragen, ob die Zukunft in der reinen Infrastruktur oder auch in einer digitalen Wertschöpfung liegen soll. Digitale Angebote würden Die Runde traf sich im Konferenzraum der Stadtwerke Iserlohn. UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 JAHRESTHEMA: INFRASTRUKTUR Digitalisierung Dr. Klaus Weimer (l.) und Olaf Pestl dort funktionieren, wo sie den Nutzern einen deutlichen Mehrwert bieten. Bezogen auf die Verwaltung könnten die Stichworte Entbürokratisierung, Vernetzung, Prozessoptimierung und Kundennähe lauten. Hier lohne sich ein Perspektivwechsel mit einer stärkeren Sensibilität für die Bedürfnisse der Kunden, so Timmreck, der neben Dr. Weimer als Geschäftsführer der Stadtwerke Iserlohn fungiert. Thomas Junge ist Geschäftsführer der Gesellschaft für Wirtschaftsförderung Iserlohn mbH. Seiner Ansicht nach seien die Potentiale der Digitalisierung im öffentlichen Diskurs hinreichend beschrieben. Die Herausforderungen und Dysfunktionalitäten, die sich mit einer solchen Entwicklung verbinden können, fänden dagegen deutlich seltener Beachtung. So würden die enormen Veränderungen im Kaufverhalten die gewachsenen Strukturen vieler Innenstädte in Nordrhein-Westfalen und Deutschland bedrohen. Abseits von wirtschaftlichen Gesichtspunkten und Renditeaspekten sei es von Zeit zu Zeit sinnvoll, auch die soziale Dimension eines solchen Prozesses zu bewerten. Timmreck ergänzt, dass auch Nachhaltigkeit ein Aspekt der Daseinsvorsorge ist. Das Geschäft sei insgesamt deutlich schnelllebiger geworden. In immer kürzeren Abständen würden sich Investitionsmöglichkeiten auftun, die man bewerten und zu denen man sich verhalten müsse. Investitionen wollten gut geplant sein, Vorsicht und Achtsamkeit dürften aber nicht dazu führen, dass die kommunalen Unternehmen den digitalen Trend nur passiv nachvollziehen. Sicherlich ließen sich einige kritische Aspekte im veränderten Kaufverhalten der Deutschen ausmachen, so Dr. Weimer. Die Kommunen seien jedoch nicht in der Lage, derartige Entwicklungen in irgendeiner Weise zu steuern. Die Menschen würden mit ihrer Tastatur über die Infrastruktur von morgen abstimmen und die Kommunen und ihre Unternehmen sollten lieber nicht versuchen, gegen den Strom zu schwimmen. Eine leistungsfähige Breitbandversorgung sei heute oftmals wichtiger als die Höhe der Nebenkosten, sagt Olaf Pestl. Der Geschäftsführer der Thomas Junge (l.) und Dr. Peter-Paul Ahrens Iserlohner Gemeinnützigen Wohnungsgesellschaft mbh verdeutlicht damit die hohe Priorität, die Bürger und Kunden einer Teilhabe an der Digitalisierung beimessen. „Breitband ist eine echte Standortfrage nicht nur für Unternehmen, sondern auch für Wohnimmobilien.“ Die Wohnungswirtschaft beschäftige sich aktuell intensiv mit Konzepten des Ambient assisted living. Dies seien Systeme, die eine digitale Steuerung von Haushaltsgeräten ermöglichen und bis hin zu einer medizinischen Überwachung reichen. Diese und andere Angebote müssten verständlich und lebensnah gestaltet sein, damit sie die Nutzer nicht überfordern und von ihnen auch angenommen werden. Caspar von Ziegner ergänzt, dass die angesprochenen Themen vom Smart home bis hin zum Ambient assisted living neue lukrative Geschäftsfelder für die Stadtwerke sein könnten. Zudem hätten Smart CityProjekte in Amsterdam und anderswo gezeigt, dass Digitalisierung nicht zwingend eine Vereinsamung und Individualisierung bedingen muss, sondern schon jetzt dazu geeignet ist, Menschen auch physisch zusammenzubringen. „Dinge werden angenommen, weil sie gut sind“, so Timmreck. Auch kommunale Unternehmen müssten sich stärker nach den Nutzern richten und fragen, wie deren Bedürfnisse am besten gestillt werden können. Timmreck sieht die Stadtwerke in der Verpflichtung ein attraktives infrastrukturelles Grundangebot vorzuhalten. Sie sollten aber auch intelligente Systeme entwickeln, die darüber hinaus Nutzen stiften und Erträge generieren können. Dinge werden angenommen, weil sie gut sind. Auch kommunale Unternehmen müssen sich stärker nach den Nutzern richten und fragen, wie deren Bedürfnisse am besten gestillt werden können. „ UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 ______________________ Reiner Timmreck “ Kommunale Unternehmen seien auch dann gefragt, wenn andere sich nicht mehr für bestimmte Leistungen interessieren, so Dr. Weimer. Beispielhaft wird die Breitbandversorgung in einem abgelegenen Stadtteil von Iserlohn mit vergleichsweise geringer Siedlungsdichte genannt. Hier würden kommunale Unternehmen ihrer Verantwortung für die Stadt in besonderer Weise gerecht. Schließlich seien Breitbandanbindung und Übertragungsrate zentrale Kategorien für die Ansiedlung von Menschen und Gewerbe. Die Breitbandversorgung zählt Dr. Weimer ganz selbstverständlich zum Daseinsvorsorgekanon. Hier seien Stadt und kommunale Unternehmen gefragt, in die Zukunftsfähigkeit der Region zu investieren. Die Breitbandversorgung hätte inzwischen eine existenzielle Dimension angenommen und sei inso- Die Digitalisierung wird das Lebensumfeld der Menschen und die sozialen Umgangsformen in einem Maße verändern, wie kaum eine technologische Revolution zuvor. „ ______________________ Peter Paul Ahrens “ weit natürlich ein Kernelement der Daseinsvorsorge, so Prof. Dr. Schäfer. Dass Bund und Länder inzwischen Programme auflegten, um eine flächendeckende Versorgung zu finanzieren, sei Ausfluss dieses neuen Verständnisses. Die öffentliche Verantwortung bedinge aber auch, dass Kommunen über mögliche Konsequenzen der Digitalisierung für Städte und Regionen nachdenken. Auch hier müsse die Kommunalwirtschaft Impulse setzen. Völlig neue Geschäftsmodelle Nach einer allgemeinen Einordnung und Begriffsbestimmung will Prof. Dr. Schäfer wissen, welche Implikationen sich mit der Digitalisierung konkret 21 Digitalisierung Die Potentiale der Digitalisierung sind hinreichend beschrieben. Doch abseits von wirtschaftlichen Gesichtspunkten und Renditeaspekten ist es von Zeit zu Zeit sinnvoll, auch die soziale Dimension eines solchen Prozesses zu bewerten. „ ______________________ Thomas Junge “ für die am Tisch versammelten kommunalwirtschaftlichen Spartenunternehmen verbinden und wie neue technologische Potentiale zu einer stärkeren Vernetzung untereinander führen können. In der Energiewirtschaft spielten digitale Prozesse auf allen Wertschöpfungsstufen von der Erzeugung bis hin zum Vertrieb eine zentrale Rolle, so Dr. Weimer. Über die Analyse des Verbrauchsverhaltens ließen sich die Angebote an die Kunden noch deutlich optimieren. Daher müssten bewusst Anlässe geschaffen werden, um mit den Kunden in Kontakt zu treten. Das ausgeprägte Vertrauen in die Stadtwerke als verantwortlichem Unternehmen mit einer starken Bindung zu Stadt und Region sei der größte Wettbewerbsvorteil auf dem liberalisierten Energiemarkt. Aktuell sei eine Applikation für das Smartphone entwickelt worden, über die die Kunden der Stadtwerke bei Verbundunternehmen Vorteile wahrnehmen könnten. Auch einige Einzelhandelsunternehmen seien in ein Rabattsystem eingebunden, welches über die genannte Applikation verfügbar sein wird. „Wir müssen unser Angebot diversifizieren, weil wir erkennen, dass sich das alte Geschäftsmodell der Stadtwerke in den kommenden Jahren deutlich reduzieren wird“, so Dr. Weimer. Die Stadtwerke würden es als ihre Aufgabe verstehen, Menschen vor Ort zu verbinden und lokale Strukturen zu stärken, ergänzt Reiner Temmrick. Vernetzte digitale Angebote im Zusammenspiel mit dem Prof. Dr. Michael Schäfer (l.) und Reiner Timmreck 22 lokalen Einzelhandel seien auch geeignet, die Wertschöpfung in der Stadt zu vertiefen. Auch Caspar von Ziegner glaubt, dass sich das Geschäftsmodell der Stadtwerke in den kommenden Jahren signifikant ändern werde. Die Alliander NV hat als Unternehmen der niederländischen Kommunen einen Pool ins Leben gerufen, in dem eigene Start-ups aufgezogen werden. Die dort entwickelten Ideen seien nicht selten geeignet, das Geschäftsmodell der Netzbetreiber komplett zu untergraben. „Doch wenn wir es nicht machen, macht es jemand anderes“, so von Ziegner. Alliander betreibe 80.000 Kilometer Stromleitungen. Hier müsse der Einbau intelligenter Messsysteme einhergehen mit einer Verbrauchsoptimierung. Andernfalls würde sich der Aufwand nicht lohnen. So könnten Wärmepumpen ihre Einsatzzeiten eigenständig am Börsenpreis optimieren. Ein entsprechendes Projekt laufe im rheinischen Heinsberg, wo Alliander die Stromnetze betreibt. Um das deutlich höhere Informationsvolumen disponieren zu können, sei bei Alliander eine Datendrehscheibe entwickelt worden, die sowohl auf der Mit den Möglichkeiten wächst auch die Komplexität. Nicht alles, was theoretisch denkbar ist, lässt sich auch in die Praxis umsetzen. „ ______________________ Olaf Pestl “ Ebene der Applikationen wie bei den Geräten eigene Oberflächen anbiete. So werde die von Alliander betriebene Stadtbeleuchtung in niederländischen Kommunen über ein eigenes System gesteuert. Grundsätzlich würde die informationstechnologische Forschung und Entwicklung im Open-Source-Verfahren stattfinden. Dies bedeutet nicht, dass es sich um eine „offenes System“ handelt, sondern vielmehr um eine Offenheit in der Entwicklung. Hierdurch würden eine hohe Innovationsdynamik und eine Herstellerunabhängigkeit garantiert. Alliander sehe sich selbst in der Rolle, diese Schaffensprozesse zu begleiten. Die für Forschung und Entwicklung ungewöhnliche Offenheit begründet von Ziegner mit der Notwendigkeit einer Standardisierung, die letztlich bei allen Playern am Markt Voraussetzung Caspar von Ziegner für eine konsistente Entwicklung sei. Zudem könne Alliander innerhalb eines solchen Modells auch von externen Ideen profitieren, wie sich die Vielzahl von Daten für einen größeren Mehrwert nutzen lasse. Thomas Junge nimmt Bezug auf die von Dr. Weimer erwähnte, kurz vor der Markteinführung stehende Applikation der Stadtwerke und regt an, auch die Iserlohner Parkhäuser dort zu integrieren. Grundsätzlich sei es bei einem derart umfassenden Trend wie der Digitalisierung sinnvoll, ein übergreifendes Prozessmanagement zu implementieren, das alle Unternehmen der Stadt und später auch weitere interessierte Gewerbetreibende umfasse. Caspar von Ziegner ergänzt: „Hier sind wir genau an dem Punkt, an dem eine unternehmensübergreifende Datendrehscheibe sinnvoll wird, an deren Schnittstellen sich alle andocken können.“ Die Stadtwerke müssten sich fragen, worin am Ende der Mehrwert liegt, sagt Reiner Temmrick. „Wo wird Wertschöpfung generiert und wie können diejenigen, die die Daten produzieren auch an deren weiteren Nutzung partizipieren.“ Allerdings seien Fragen des Datenschutzes in der Debatte bislang etwas zu kurz gekommen. Nicht alles, was an Vernetzung innerhalb einer Kommune oder zwischen den kommunalen Unternehmen denkbar und sinnvoll erscheine, sei auch rechtlich umsetzbar. Dr. Weimer hält es nicht für gänzlich ausgeschlossen, dass Strom in einigen Jahren nur noch verschenkt werde. Im Hinblick auf die immer stärkere Stromproduktion aus Erneuerbaren Energien könne Hier sind wir genau an dem Punkt, an dem eine unternehmensübergreifende Datendrehscheibe sinnvoll wird, an deren Schnittstellen sich alle andocken können. „ ______________________ Caspar von Ziegner “ UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 JAHRESTHEMA: INFRASTRUKTUR Digitalisierung sich der Strompreis sukzessive der Nulllinie annähern. Nun locke das Geschäft mit den Daten. Auch die Stadtwerke müssten sich mit neuen Geschäftsfeldern vertraut machen, Kundenprofile erstellen und das Verbraucherverhalten analysieren. Dabei sei das große Vertrauen der Bürger in die soziale, ökologische und nicht zuletzt die datenschutzrechtliche Kompetenz der Stadtwerke durchaus von Vorteil. Genau davon hätte auch Alliander profitieren können, als in Heinsberg Smart Meter implementiert wurden, sagt von Ziegner. Mittlerweile seien 95 Prozent der Anschlüsse in der Kernstadt mit Smart Metern ausgestattet, was zu deutlich weniger Problemen mit falschen Abrechnungen und zu einer spürbar gewachsenen Kundenbindung geführt hätte. Nun könne gefragt werden, ob die neuen datenbezogenen Geschäftsfelder dem Auftrag der Daseinsvorsorge entsprechen, doch zum Kernauftrag der Stadtwerke zähle es schließlich auch, Geld für die Kommune zu verdienen. Das ausgeprägte Vertrauen in die Stadtwerke als verantwortlichem Unternehmen mit einer starken Bindung zu Stadt und Region ist der größte Wettbewerbsvorteil auf dem liberalisierten Energiemarkt. „ ______________________ Dr. Klaus Weimer “ Die Iserlohner Gemeinnützige Wohnungsgesellschaft (IGW) sei zwar nicht auf der Suche nach neuen Geschäftsfeldern, dennoch ließen sich über die Digitalisierung signifikante Mehrwehrte schaffen, sagt Geschäftsführer Olaf Pestl. Auch die IGW entwickle aktuell eine eigenständige Applikation, mit der sich Wohnungsangebote direkt auf das Smartphone laden lassen. Bereits seit einigen Jahren würde erhoben, wie neue Mieter auf Wohnangebote aufmerksam wurden. Erstaunlicherweise DIE TEILNEHMER DER GESPRÄCHSRUNDE (in namensalphabetischer Reihenfolge) ˆˆ Ahrens, Dr., Peter Paul, Bürgermeister Stadt Iserlohn ˆˆ Junge, Thomas, Geschäftsführer Gesellschaft für Wirtschaftsförderung Iserlohn mbH (GfW) ˆˆ Pestl, Olaf, Geschäftsführer Iserlohner Gemeinnützige Wohnungsgesellschaft (IGW) ˆˆ Timmreck, Reiner, Geschäftsführer Stadtwerke Iserlohn GmbH ˆˆ Weimer, Dr., Klaus, Geschäftsführer Stadtwerke Iserlohn GmbH ˆˆ Ziegner v., Caspar, Senior Projektmanager Unternehmensentwicklung, Alliander AG Moderation: Prof. Dr. Michael Schäfer, Herausgeber von UNTERNEHMERIN KOMMUNE und Professor für Kommunalwirtschaft an der Hochschule für Nachhaltige Entwicklung in Eberswalde (HNEE). sei der Anteil derer, die über die Website gekommen sind, vergleichsweise gering. Mund-zu-MundPropaganda oder auch die Schaukästen in der Stadt spielten noch immer eine wesentliche Rolle. In Zukunft werde sich dies vermutlich ändern. Die Iserlohn-App Die Digitalisierung hätte das Potential, in erheblichem Maße zu einer Optimierung von Prozessen innerhalb einer Kommune beizutragen, sagt Prof. Dr. Schäfer. Dies beträfe Back-Office-Leistungen über das Verwaltungshandeln bis hin zu Telemedizin und Notfallvorsorge. Gefragt wird, inwieweit diese Potentiale in Iserlohn bereits genutzt werden. Mit den Möglichkeiten wachse auch die Komplexität, so Olaf Pestl. Nicht alles, was theoretisch denkbar sei, ließe sich auch in die Praxis umsetzen. Gerade für eine Wohnungsgesellschaft sei es von elementarer Bedeutung, Anlässe zu haben, zu denen man sich ein persönliches Bild vor Mietvertragsunterzeichnung von den Mietern machen könne. Digital generierte Informationen unterlägen engen datenschutzrechtlichen Beschränkungen und könnten den direkten Kontakt nicht ersetzen. Bei den Stadtwerken sei eine Digitalisierung leichter vorstellbar, denn hier beschränke sich das Risiko auf den Zahlungsausfall, sagt Pestl. Dies schließe aber nicht aus, dass sich verschiedene Angebote in der Kommune untereinander vernetzen, entgegnet Caspar von Ziegner. Schließlich Die Debatte hat gezeigt, dass Digitalisierung auch Vernetzung bedeutet. Auf der Angebotsseite sind die kommunalen Unternehmen gefragt, ihren Vertrauensvorschuss bei den Kunden für neue abgestimmte und innovative Angebote zu nutzen. Neben der enormen Wertschätzung, die sich insbesondere die Stadtwerke in den vergangenen Jahrzehnten erarbeitet haben, besitzen sie eine genaue Kenntnis der lokalen Gegebenheiten und damit einen weiteren entscheidenden Wettbewerbsvorteil. Sie müssen es nur tun. Ähnlich wie in Iserlohn wird in vielen Kommunen seit Jahren über mehr Vernetzung und Innovation nachgedacht. Vieles ist erreicht worden, anderes harrt der Umsetzung. Neue Angebote wollen gut überlegt sein, das entbindet aber nicht von der Notwendigkeit, schnell und kreativ auf Marktprozesse und technologische Möglichkeiten zu reagieren. Falk Schäfer UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 könnten die Wohnungsunternehmen ihren persönlichen Kontakt zu den Kunden dazu nutzen, auf Angebote der energetischen Optimierung durch die Stadtwerke hinzuweisen. Olaf Pestl bringt eine „Iserlohn-App“ ins Spiel, mit der auf alle Angebote der Stadt gezielt zugegriffen werden könnte. Neben der Entwicklung neuer Ebenen in der Kundenkommunikation müssten sich die Unternehmen auch überlegen, welche Angebote man den Kunden konkret unterbreiten will, fügt Dr. Weimer an. Vom Notfallmanagement über die Kundenbetreuung bis hin zu einem Schlüsselservice seien etliche Leistungen denkbar, die zumindest einer gründlichen Potentialanalyse unterzogen werden könnten. Aus Kundensicht sei die Vernetzung verschiedener Angebote eine geeignete Antwort auf die gestiegene Komplexität in den Daseinsvorsorgemärkten und im alltäglichen Leben überhaupt, so Prof. Dr. Michael Schäfer. Insofern sei eine gemeinsame Applikation mit allen Unternehmen und Angeboten der Stadt durchaus sinnvoll. Prof. Dr. Schäfer zitiert eine aktuelle Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa, nach denen kommunale Unternehmen mit weitem Abstand diejenigen Institutionen sind, denen das meiste Vertrauen entgegengebracht wird. „Wenn diese Unternehmen für die Kunden vernetzte und abgestimmte Angebote schnüren und zusammen mit ihnen einen digitalen Mehrwert schaffen können, – warum dann noch zögern?“ Die Kundenbindung der Stadtwerke korreliere in keiner Weise mit Erhebungen zur theoretisch ausgesprochen hohen Wechselwilligkeit im Markt, so Prof. Dr. Schäfer. „Das ist der Smart-City-Gedanke“, der beispielsweise in Amsterdam schon recht erfolgreich umgesetzt wurde, so von Ziegner. Aktuell würde Alliander auch in Heinsberg ein ähnliches Projekt verfolgen. In der Praxis stünden alle Gedankenspiele vor dem Petitum der technischen und rechtlichen Umsetzbarkeit, doch mit großer Sicherheit könnten in fast jeder Kommune noch erhebliche Synergien realisiert werden. n Die Veranstaltung dokumentierte Falk Schäfer i infos www.stadtwerke-iserlohn.de www.alliander.de 23 KOMMUNALWIRTSCHAFT AKTUELL nachgeschlagen Mit Rekommunalisierung werden Prozesse bezeichnet, in denen eine Privatisierung zuvor öffentlich-rechtlicher Aufgaben und Vermögen wieder rückgängig gemacht wird und diese erneut in kommunale Trägerschaft übergehen. Nach gemischten Erfahrungen mit Privatisierungen in Deutschland, vor allem in den 1990er und 2000er Jahren, gibt es seither eine gegenläufige Entwicklung. Springer-Sachbuch „Das kommunale Nagelstudio – die populärsten Irrtümer zu Stadtwerke & Co.“ Stein des Anstoßes Interview mit Dr. Sven-Joachim Otto, Leiter des Bereichs Tax & Legal Public Services bei der PricewaterhouseCoopers AG WPG (PwC) in Düsseldorf Z wischen März 2011 und Dezember 2013 veröffentlichte UNTERNEHMERIN KOMMUNE eine Serie zu gängigen Vorurteilen und pauschalen Unterstellungen im Hinblick auf die Kommunalwirtschaft. Mit aller Deutlichkeit wurden die verschiedenen Stigmatisierungen zu Kommunen und deren Unternehmen aufs Korn genommen und mit Fakten und Argumenten widerlegt. Die Beiträge fanden ein unisono positives Echo unter den Lesern. Die „Aufklärung“ war vor allem Balsam für die Seele, denn Überzeugungsarbeit zu den Tugenden der Kommunalwirtschaft musste hier nicht mehr geleistet werden. Abseits dieser Fachöffentlichkeit sollten aber auch breitere Kreise die Gelegenheit erhalten, sich fundiert, verständlich und sachlich-logisch zu den tatsächlichen Umständen kommunalwirtschaftlichen Handelns zu informieren. Dies schien durchaus angeraten, denn die Einstellung zu kommunalen Unternehmen trug und trägt bis heute teilweise schizophrene Züge. Einerseits wird über vermeintlich träge und bürokratische Monopolisten hergezogen, andererseits den Stadtwerken und Sparkassen bei Umfragen und in Kundenbeziehungen das größte Vertrauen ausgesprochen. Schließlich kann man in der Regionalzeitung meist nur dann etwas über Kommunalwirtschaft lesen, wenn Preise der Marktentwicklung angepasst werden oder ein Stadtwerkefest als zu teuer gebrandmarkt wird. Allein dieser Gemütszustand, diese Mischung aus inniger Zuneigung und verbaler Abwertung, hätte ausgereicht als Auslöser für ein kontroverses Buch zur Kommunalwirtschaft. Doch auch darüber hinaus hielten es die Autoren für überfällig, endlich mit althergebrachten Vorurteilen aufzuräumen, die aus einer anderen Zeit stammen, mit den heutigen Realitäten nichts mehr zu tun haben, rein sachlogisch oft nicht nachzuvollziehen sind und nicht selten böswillige Kolportagen darstellen. „Das kommunale Nagelstudio – die populärsten Irrtümer zu Stadtwerke & Co.“ richtet sich an all diejenigen, die zwar nicht unmittelbar in die wirtschaftlichen Aktivitäten der Kommunen involviert sind, den kommunalen Unternehmen als Kunden und Eigentümer jedoch aufs Engste verbunden sind – die Bürger dieses Landes. Das Buch ist jüngst beim Springer-Fachbuchverlag in Wiesbaden erschienen. Mit dem Gabler Wirtschaftslexikon und vielen weiteren Publikationen gehört Springer zu den führenden Fachverlagen der Wirtschaftswissenschaften. Erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt wurde die Publikation am 27. April in Weimar bei einer Pressekonferenz zusammen mit Bodo Ramelow, Ministerpräsident des Freistaates Thüringen, und Stefan Wolf, Oberbürgermeister der Stadt Weimar. Die genannten Politiker präsentierten zu diesem Anlass eine von ihnen verfasste „Weimarer Erklärung zur Daseinsvorsorge“. UNTERNEHMERIN KOMMUNE sprach mit einem der beiden Autoren des Buches, Dr. Sven-Joachim Otto, über die Gründe für diese pointierte Auseinandersetzung mit dem Themenfeld Kommunalwirtschaft, über die erste Resonanz und auch über mögliche Weiterungen, die sich aus der getroffenen Analyse ergeben. UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Wir haben es eingangs erwähnt: die Serie zu den „Populärsten Irrtümern der Kommunalwirtschaft“ in UNTERNEHMERIN KOMMUNE begann bereits im Jahr 2011. Den Startschuss gab ein Auftaktinterview mit dem damaligen Hauptgeschäftsführer des Verbandes kommunaler Unternehmen (VKU), Hans-Joachim Reck. Es folgten zehn prononcierte Beiträge, die sich recht meinungsfreudig mit einzelnen Facetten 24 des Themas auseinandersetzten. Wann und vom wem kam die Idee, daraus ein Buch zu machen? Dr. Sven-Joachim Otto: Die Idee wurde von den Lesern an uns herangetragen. Prof. Dr. Schäfer berichtete von der großen und überaus positiven Resonanz, welche die Irrtümer-Reihe auslöste. Gelobt wurden insbesondere die populärwissenschaftliche Aufbereitung des Themas und der Mut zu klaren Schlussfolgerungen. Einige Leser fragten gezielt nach, ob man die behandelten Vorwürfe, der sich die Kommunalwirtschaft ausgesetzt sieht, nicht auch konsolidiert und „aus einem Guss“ kaufen könne. So entstand im vergangenen Jahr die Idee zum Buch. UNTERNEHMERIN KOMMUNE: „Das kommunale Nagelstudio“ beginnt mit einer umfassenden Einführung zur UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 KOMMUNALWIRTSCHAFT AKTUELL Kommunalpublizistik Kommunalwirtschaft in Deutschland. Dieser Text ist im besten Sinne populärwissenschaftlich verfasst, aber auch recht umfangreich. Gibt es bei „Otto-Normalverbraucher“ – und für den war das Buch ja gedacht – tatsächlich so viel Unkenntnis zu einer Wirtschaftsform, mit der er täglich konfrontiert ist? UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Das Hauptkapitel des Buches nimmt die „Populärsten Irrtümer zu Stadtwerke & Co.“, also zur Kommunalwirtschaft, auf ’s Korn. Das sind 14 an der Zahl. Können Sie diese bitte kurz und bewusst plakativ benennen, damit sich auch jene Leser einen Eindruck machen können, die das Buch bis dato noch nicht kennen. Dr. Otto: Die ersten Kapitel widmen sich unter anderem der Genesis der Kommunalwirtschaft. Dargelegt wird, dass der Daseinsvorsorgegedanke aus einem genossenschaftlichen und gemeinschaftlichen Impuls heraus entstanden ist, von Anfang an beseelt war von Bürgernähe und demokratischen Ideen. Man wollte für „alle“ da sein, Aufgaben im Interesse „aller“ erledigen. Dass sich das bis heute nicht geändert hat, zeigt auch, dass andere Zuschnitte sich nicht durchsetzen konnten. Dr. Otto: Den Anfang machte „Das kommunale Nagelstudio“ als namensgebendes Kapitel für das spätere Buch. Hier wurde quantitativ untersucht, wie viele kommunale Fitness-Studios, Gärtnereien, Kneipen oder sonstige „abwegigen“ Angebote die Kommunen unterhalten. Es zeigte sich ein typisches Ergebnis. Es gab derartige Fälle schlichtweg nicht. Darauf folgten inhaltliche Auseinandersetzungen mit den Vorwürfen, kommunale Unternehmen würden nicht innovativ arbeiten und seien „verstaubt“, würden subventioniert, Steuern verschwenden oder dienten als Versorgungsoasen für ausgediente und glücklose Politiker. Das Buch widmet sich der Unterstellung, kommunale Unternehmen würden gezielt den Mittelstand behindern, hätten unfaire Vorteile am Markt und kämen in den Genuss von Privilegien. Geprüft wurde, ob kommunale Unternehmen tatsächlich eine ausgeprägte Beamtenmentalität pflegen und das Gegenteil einer erfolgreichen Unternehmensführung darstellen, ob sie ineffizient und viel zu altruistisch arbeiten und Profite gedankenlos verteilen. Schließlich setzen wir uns mit den Irrtümern auseinander, dass sich die Geschäftsführungen kommunaler Unternehmen allzu gremienlastig ausrichten, dass sich kommunale Unternehmen als Selbstbedienungsladen beim Bürger verstehen und ihnen die private Rechtsform nicht zusteht. Dr. Sven-Joachim Otto Damals wie heute betreiben kommunale Unternehmen Schlachthöfe, Straßenlaternen, Friedhöfe, Abwasser usw. Das rückt in der öffentlichen Wahrnehmung leider etwas in den Hintergrund. Sicherlich ist dieser Tage die Energieversorgung das dynamischste Feld, doch der Bürger begegnet kommunalen Unternehmen in seinem Alltag noch weitaus häufiger. Diese Bereiche funktionieren seit Jahrzehnten ohne Beanstandungen, aber auch ohne größere Wertschätzung. Sie rücken aus dem öffentlichen Fokus. Ich möchte nicht von Unkenntnis sprechen, aber von einer „Entfernung und Entfremdung“ des Bürgers in seiner Wahrnehmung kommunaler Unternehmen. Dies hat nun auch die „Weimarer Erklärung zur Daseinsvorsorge“ in den Mittelpunkt gestellt. UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Eine vermutlich schwierige Frage: was sind unter den identifizierten Irrtümern die drei, die den kommunalen Unternehmen und vor allem auch den dort Beschäftigten in der Realität besonders schaden? Dr. Otto: Nach meinem Dafürhalten ist der Anwurf, es würde kommunale Nagelstudios, Fitness-Studios, Gärtnereien und Kfz-Werkstätten geben, besonders gefährlich. Dies deshalb, weil hier das Feld der bewussten Irreführung betreten wird. Andere Irrtümer lassen sich inhaltlich diskutieren. Einige Vertreter der Privatwirtschaft meinen, dass die Privatisierung der Wasserversorgung die einzige und folgerichtige Entwicklung in dieser Branche darstellt. Dem kann man widersprechen, damit kann man sich auseinandersetzen, Erfahrungen aus Praxis und Wissenschaft entgegenhalten. Andere Irrtümer lassen sich weniger leicht widerlegen, UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 weil sie bewusst pauschalisieren und mit unklaren Begriffsbestimmungen spielen. Was genau sind Versorgungsoasen? Was ist Beamtenmentalität? Hiervon unterscheiden sich die angeblich flächendeckend bestehenden kommunalen Nagel-, Fitnessstudios etc. Der Leser, Hörer oder Zuseher braucht keine weitere Erläuterung. Die Information bleibt zunächst solitär stehen, auch deshalb, weil Kommunalwirtschaft ist eine Konstante in den Kommunen, in der Wirtschaft und in der Politik. Sie sollte in allen drei Dimensionen gedacht und fortentwickelt werden. Nur so kann sie nachhaltig gelingen und Mehrwert schaffen. „ ______________________ Dr. Sven-Joachim Otto “ sich ihr Wahrheitsgehalt nur mit erheblichem Aufwand überprüfen lässt. Man kann es glauben oder nicht. Das ist das Gefährliche an diesem Irrtum. Ich möchte mal einen „Klassiker“ nachzeichnen. Im Jahr 2003 musste das OVG Münster zu einem „kommunalen Fitnessstudio“ Stellung beziehen. In diesem Fall betrieb ein kommunales Unternehmen ein Parkhaus und vermietete in diesem auch Räumlichkeiten an einen Unternehmer, der dort wiederum ein Fitnessstudio unterhielt. Dies geschah, um die Auslastung in den umsatzschwachen Abendstunden zu steigern und Betriebskosten „umzulegen“. Das OVG gab dem kommunalen Unternehmen Recht. Danach komme es bei der wirtschaftlichen Betätigung nicht auf den Charakter der konkreten Handlung, sondern auf den Charakter des Betriebes an. Dies war der Betrieb eines Parkhauses und nicht die Vermietung von Nebenräumen. In den anschließenden Diskussionen wurde dann häufig plakativ von einem „kommunalen Fitnessstudio“ gesprochen. Solche Informationen werden dann einfach übernommen und nicht mehr hinterfragt. Das typische kommunale Unternehmen UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Zum Abschluss des Hauptteils werden kommunale Unternehmen aus NordrheinWestfalen und den Neuen Bundesländern vorgestellt. Intention ist, an ganz konkreten Beispielen zu zeigen, dass die zuvor eher grundsätzlich widerlegten Irrtümer auch in der Praxis nicht zutreffen. Diesen Ausflug in den kommunalwirtschaftlichen Alltag leiten Sie mit folgenden Sätzen ein: „Deshalb haben wir aus einer vier- vermutlich sogar fünfstelligen Zahl kommunaler Betriebe 25 Kommunalpublizistik und Verbände (es gibt darüber leider keine genauen statistischen Angaben) eine Handvoll Unternehmen ausgewählt, die wir mit gutem Gewissen als typisch und repräsentativ für alle bezeichnen können. Dass wir uns dabei auf Stadtwerke konzentriert haben, liegt ganz ein- Eine prononcierte Auseinandersetzung mit Vorurteilen, Unterstellungen und böswilligen Kolportagen. fach daran, dass diese Unternehmen quasi als Prototypen der Kommunalwirtschaft gelten. Das zeigt schon der Name: Das „Stadt“-Werk kann nur kommunal sein. Mit dem Begriff Stadtwerk verbinden die Bürgerinnen und Bürger positiv besetzte Werte wie Versorgungssicherheit, Zuverlässigkeit, Nähe sowie lokale Verwurzelung und Verantwortung.“ Warum haben Sie diese Beispiel-Stadtwerke aus Nordrhein-Westfalen und dem Osten Deutschlands ausgewählt? Dr. Otto: Diese Beispiele bilden bezüglich Struktur, Größe, Umsatz, Produktportfolio, Bevölkerungsstruktur und dem kommunalen Umfeld einen Querschnitt ab. Sie stehen für die Mehrzahl der fast 1.000 deutschen Stadtwerke in Deutschland. Selbstredend hat auch diese Gattung der Kommunalwirtschaft ihre Flaggschiffe. Das sind die ganz Großen – die Stadtwerke in Ballungsräumen wie München, Leipzig oder Frankfurt am Main. Diese Unternehmen in prosperierenden Metropolen sind ebenso tüchtig und ebenso kommunal wie ihre von der Dimension her eher „normalen“ Schwestern. Typisch für die Kategorie Stadtwerk ist eine eher mittelständische Dimension. Zu Recht werden diese Unternehmen auch als „Mittelstand der deutschen Energiewirtschaft“ 26 bezeichnet. Und genau unter solchen haben wir UNTERNEHMERIN KOMMUNE: uns umgeschaut. Ganz bewusst haben wir zum Sie schreiben, dass die von Ihnen vorgestellten einen nach Nordrhein-Westfalen geschaut. Das Unternehmen durchaus den Anspruch an bevölkerungsreichste Bundesland ist mit seinem Repräsentativität erfüllen. Woran machen Sie extrem komplizierten Umbauprozess von Kohle das fest, und was ist unter diesem Aspekt das und Stahl hin zu Dienstleistung und HochGemeinsame an einem großen Stadtwerk in technologie durchaus erfolgreich, aber noch lange einer westdeutschen Metropole und einem nicht am Ende. Das wird besonders deutlich an Trinkwasserzweckverband auf dem „flachen den Kommunen, die mit hoher Verschuldung Lande“? und einem ebenso hohen Sanierungsbedarf bei ihren Infrastrukturen konfrontiert sind. Genau Dr. Otto: dort, in Aachen, Essen, Köln, Neuss, Remscheid Im Rahmen meiner Beratungstätigkeit bei und Solingen haben wir unsere Beispiel-StadtPricewaterhouseCoopers habe ich viele Unterwerke gefunden. nehmen kennengelernt, die sich ähnlichen Stadtwerke können keine „SchönwetterFragestellungen und Herausforderungen ausökonomie“ betreiben. Sie müssen auch und gesetzt sahen. Die Vorwürfe, die Vorurteile, gerade unter ungünstigen Rahmenbedingungen die Diskussionen in der Geschäftsführung, im Daseinsvorsorge auf hohem Niveau gewährAufsichtsrat oder im Stadtrat waren nahezu deckungsgleich – zumindest in den grundleisten. Deshalb haben wir neben NRW eine zweite Beispielgruppe im Osten Deutschlands legenden Argumentationslinien. Richtige „Ausgesucht und gefunden. Unter der Überschrift reißer“ habe ich nicht wahrgenommen. „strukturschwach“ firmieren, abgesehen von Allen kommunalen Unternehmen ist wenigen Ausnahmen, fast alle Kommunen der gemeinsam, dass sie auch in privatwirtschaftNeuen Länder. Der Abstand im Bruttoinlandslicher Gesellschaftsform Teil der Verwaltung produkt pro Kopf der Bevölkerung ist im Versind, mit spezifischen Anforderungen, denen gleich zu prosperierenden Regionen sichtbar. nur kommunale Unternehmen genügen Der Anteil der neuen Bundesländer am Bruttomüssen. Hierzu gehören ein besonderes Selbstinlandsprodukt der Bundesrepublik liegt bei verständnis und eine besondere Zielsetzung, lediglich zwölf Prozent. Die Arbeitslosigkeit ist aber auch die Verortung in sowohl öffentlichen mancherorten fast doppelt so hoch wie in den als auch privaten Rechtsnormen. Auch die alten Bundesländern, die Betriebsdichte bei 50 Nähe zur Kommunalpolitik setzt bestimmte Prozent des Westniveaus. Impulse, die im Sinne einer guten UnterAber auch in Gegenden, wo uns die Strukturnehmensführung beachtet werden müssen. schwäche in vielen Kommunen quasi ins Auge fällt, wo die Bevölkerung viel schneller UNTERNEHMERIN KOMMUNE: schrumpft als anderswo und teure Infrastruktur Das Buch endet mit einem Fazit unter für immer weniger Menschen vorgehalten muss, dem Titel „Was man lieb hat, darf man nicht bereden“. Es ist ja in der Tat funktioniert die Kommunalwirtschaft. Und genau ein bemerkenswertes Phänomen, dass an solchen Beispielen haben wir den Mehrwert und die Effekte der Kommunalwirtschaft illustriert. Genannt werden die Stadtwerke in Neubrandenburg, Schwedt (Oder) und Lutherstadt Wittenberg. Wir haben aber auch Projekte vorgestellt, die durch kommunale Unternehmen tolle Beiträge zum regionalen kulturellen Angebot leisten. Von Ausstellungen in Ahrenshoop, über Konzerte in Brandenburg bis hin zu Projekten zur Oberbürgermeister Stefan Wolf (l.) und Thüringens Ministerpräsident Verkehrssicherheit in Weimars Bodo Ramelow bei der Vorstellung des Buches und der Präsentation der Weimarer Sachsen-Anhalt. Erklärung vom 27. April 2016. UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 KOMMUNALWIRTSCHAFT AKTUELL Kommunalpublizistik Erste Reaktionen und die „Weimarer Erklärung“ UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Das „Kommunale Nagelstudio“ wurde – wir haben es eingangs angemerkt – am 27. April der Öffentlichkeit vorgestellt. Dass sich dazu mit Bodo Ramelow der erste linke Ministerpräsident eines deutschen Landes und der Oberbürgermeister der ehemaligen europäischen Kulturhauptstadt Weimar die Ehre gaben, ist schon bemerkenswert. Was bedeutet den beiden Autoren diese Mitwirkung? Dr. Otto: Es zeigt, dass Kommunalwirtschaft Chefsache ist. Kommunalwirtschaft ist eine Konstante in den Kommunen, in der Wirtschaft und in der Politik. Sie sollte in allen drei Dimensionen gedacht und fortentwickelt werden. Nur so kann sie nachhaltig gelingen und Mehrwert schaffen. Der Sitz von PwC in Düsseldorf die inzwischen fast überwältigende Zustimmung zur Kommunalwirtschaft damit einher geht, dass deren angebliche und real nie bewiesene Gebrechen selbst von jenen immer mal wieder kolportiert werden, die bei Meinungsumfragen stabil ihre Sympathie bekunden. Haben Sie eine plausible Erklärung für dieses widersprüchliche Verhalten? Dr. Otto: Ich glaube, dass man bei dieser Fragestellung einen anderen Zusammenhang beleuchten sollte. Die überwältigende Zustimmung kommt aus der Bürgerschaft, die über Jahrzehnte auf gleichbleibend hohem und zuverlässigem Niveau versorgt wurde. Die Vorwürfe kommen vielmehr von Akteuren, die berufliche oder politische Anknüpfungspunkte mit der Kommunalwirtschaft haben. Diese sollten aber einen höheren Grad an Vorwissen, Vorbereitung und Kenntnis über den Einzelfall aufweisen. Und genau daran fehlt es oftmals. Wenn ein Bürger seine Meinung äußert und diese salopp formuliert, kann man darüber hinweg sehen. Wenn aber ein Mandatsträger in einer politischen Diskussion pauschale Vorwürfe adressiert und Irrtümer verbreitet ist das etwas Anderes. Das Amt gebietet eine gewisse Sorgfaltspflicht. In den deutschen Parlamenten, Räten und Verwaltungen werden Entscheidungen von erheblicher Tragweite getroffen. Hier verbietet sich jegliches „Argumentieren im Blindflug“. An dieser Stelle zeigt sich, wer Ideologie verbreitet und wer fundiert diskutieren möchte. UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Bodo Ramelow und Stefan Wolf haben im zeitlichen und inhaltlichen Kontext mit der Allen kommunalen Unternehmen ist gemeinsam, dass sie auch in privatwirtschaftlicher Gesellschaftsform Teil der Verwaltung sind, mit spezifischen Anforderungen, denen nur kommunale Unternehmen genügen müssen. „ ______________________ Dr. Sven-Joachim Otto “ Wir stecken überall unsere Nase rein. Die Innovationskraft ist zentral für die Zukunftsfähigkeit eines Unternehmens. Deshalb arbeiten wir als nachhaltig ausgerichtetes Energieunternehmen an Lösungen zukunftsfähiger Energieversorgung, insbesondere im Bereich erneuerbare Energien. Mehr unter www.mvv-energie.de/nachhaltigkeit UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 27 Kommunalpublizistik Buchvorstellung ihre „Weimarer Erklärung zur Daseinsvorsorge“ vorgestellt. Beide Autoren, der Ministerpräsident und der Oberbürgermeister, haben erwähnt, dass auch das „Irrtümerbuch“ als Impulsgeber für die „Weimarer Erklärung“ wirkte. Wie bewerten Sie diesen Zusammenhang? nutzen und brauchen. Uns sollte klar werden, dass die Leistungen der Daseinsvorsorge nicht vom Himmel fallen. Sie haben einen Preis, der mit dem gesellschaftlichen Nutzen abgewogen werden muss. Wir brauchen eine Aufgabenkritik, eine Priorisierung von Leistungen und grundsätzlich mehr regulatorische Klarheit. Dr. Otto: Es freut mich. Die Arbeit rund um die Irrtümer-Serie war nicht immer leicht. Tritt man den behandelten Irrtümern mit Argumenten, Statistiken und Begriffsklärungen entgegen, sind sehr schnell die eklatanten Mängel in der Diskussion offengelegt und die Irrtümer entlarvt. Um deren Wirkungsmacht nachvollziehen zu können, muss man die Irrtümer aber auch in ihrem spezifischen Kontext interpretieren und ganzheitlich bewerten. Dabei helfen Fakten und Zahlen, aber auch Logik und ein Verständnis vom Geflecht der verschiedenen Partikularinteressen. Dass ähnliche Gedanken in die „Weimarer Erklärung“ einflossen, bestätigt mich darin, dass meine in Teilen subjektive Interpretation auch von anderen Akteuren nachvollzogen wird. UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Zum Schluss noch einmal zurück zum „Kommunalen Nagelstudio“. Haben Sie bei der Arbeit am Buch Erkenntnisse gewonnen, die Sie in Ihrer praktischen Arbeit als Berater, Hochschullehrer und in ihren vielen kommunalen Ehrenämtern nutzen können? UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Welche Aussagen aus der „Weimarer Erklärung“ halten Sie für besonders wichtig? Dr. Otto: Dass wir einen gesellschaftlichen Diskurs brauchen, was Daseinsvorsorge leisten soll. Daseinsvorsorge und Kommunalwirtschaft sind untrennbar miteinander verbunden. Daseinsvorsorge entspringt aus der Mitte der Gesellschaft. Dies garantiert schon das sogenannte „Aufgabenfindungsrecht“ des Artikels 28 Grundgesetz. Sie muss in der Wahrnehmung aber auch konturierter werden. Nicht Behörde, nicht reine Privatwirtschaft, aber etwas, das wir täglich Dr. Otto: Ja, die habe ich. Wenn ich berate, sind Diskussionen schon in vollem Gang. Die uns vorgelegten Probleme haben eine Vorgeschichte und schon deren Schilderung ist vielfach Gegenstand eines internen Diskussionsprozesses. Ich habe aus der Arbeit an dem Buch folgende Lehre gezogen: Begrifflichkeiten verbindlich klären, alles hinterfragen, Interpretationsspielräume überprüfen, nach Möglichkeit objektivieren und die Spezifika des Einzelfalls betrachten. UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Es gibt sicher erste Leserreaktionen. Können Sie bitte kurz zusammenfassen, was Fachleute, aber auch solche Leser sagen, die mit der Kommunalwirtschaft in erster Linie als Nutzer der Daseinsvorsorgeleistungen zu tun haben? Dr. Otto: Die Leser erkennen in dem Buch das, was es sein soll – eine populärwissenschaftliche Untersuchung und trennscharfe Beleuchtung pauschal vorgebrachter Irrtümer. Vielen Lesern hilft das Buch, Vorurteile einzuordnen und die Die beiden Autoren haben einen Nerv getroffen. Das zeigt nicht zuletzt die Resonanz in diesem Blatt. Die vielen Anregungen und Bestätigungen als Reaktion auf die Irrtümer-Serie gaben den entscheidenden Anstoß für ein nunmehr ebenfalls kontrovers diskutiertes Fachbuch, das mit sachlich-logischer Klarheit und in verständlichen Worten die Kolportagen zur Kommunalwirtschaft unter die Lupe nimmt. Mit der „Weimarer Erklärung“ wurde ein weiterer Stein ins Rollen gebracht. Zu hoffen ist, dass in Zukunft noch breiter und vielstimmiger über Sinn und Unsinn, Wohl und Wehe kommunalwirtschaftlichen Handelns debattiert wird. Denn das Licht der Öffentlichkeit wird jenen schaden, die aus eigenen Partikularinteressen heraus mutwillig diskreditierende Falschbehauptungen in Umlauf bringen. Falk Schäfer 28 UNSERE Gesprächspartner Dr. Sven-Joachim Otto, Rechtsanwalt und Dipl. Kaufmann, verantwortet seit 2006 bei der PricewaterhouseCoopers AG WPG (PwC) in Düsseldorf den Bereich Tax & Legal Public Services. PwC bietet branchenspezifische Dienstleistungen in den Bereichen Wirtschaftsprüfung, Steuer- und Unternehmensberatung mit mehr als 220.000 Mitarbeitern in 157 Ländern. Dr. Otto leitet die Arbeit von über 120 Rechtsanwälten und Steuerberatern in den Bereichen Energie-, Umwelt-, Vergabe- und ÖPNV-, Arbeits-, Kommunal-, Steuer- und Regulierungsrecht an acht Standorten in West- und Norddeutschland. Mit seinem Team berät er Energieversorgungsunternehmen, Kommunen, Organmitglieder sowie kommunale und öffentliche Unternehmen und Institutionen. Neben steuerlichen und rechtlichen Fragestellungen begleitet Dr. Otto seine Mandanten mit exzellenter Branchenkenntnis über den gesamten Managementprozess bei der Realisierung einer strategischen Neuausrichtung, Gesellschaftsgründung oder Umsetzung von Kooperationen. Dabei verfolgt PwC einen umfassenden und integrierten Beratungsansatz mit maßgeschneiderten Teams für jede Fragestellung. Diese setzen sich unter anderem aus Rechtsanwälten, Steuerberatern, Wirtschaftsprüfern, Ingenieuren und Betriebswirten zusammen, um eine optimale und ganzheitliche Lösung für den jeweiligen Mandanten zu entwickeln. Dr. Otto ist ehrenamtliches Mitglied im Council of the CEEP – European Centre of Employers and Enterprises providing Public Services, im Kuratorium des Instituts für Berg- und Energierecht der Ruhr-Universität Bochum, im Vorstand des Institutes für Energie- und Regulierungsrecht Berlin e.V. Ferner gehört Dr. Otto als ständiger Gast dem Rechtsausschuss des Verbandes kommunaler Unternehmen e.V. (VKU) und dem Präsidium des Bundesverbandes öffentliche Dienstleistungen (bvöd) an. Dr. Otto ist Autor zahlreicher Fachbeiträge in Zeitschriften und Büchern der Kommunalwirtschaft und widmet sich als Dozent an verschiedenen Hochschulen seit 1996 der Wissenschaft. Gedankenwelt der Kritiker zu beleuchten. Wer sich einmal damit auseinandergesetzt hat, lässt sich nicht mehr hinters Licht führen. n Das Interview führte Falk Schäfer i infos www.pwc.de www.springer.com UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 KOMMUNALWIRTSCHAFT AKTUELL Gesellschaft STIFTUNG JOBFÜHRERSCHEIN gGMBH GASAG und PwC starten Jobführerschein für Flüchtlinge Ein Projekt zur frühzeitigen beruflichen Integration von Flüchtlingen A llein im vergangenen Jahr wurden über eine Million Asylsuchende gezählt. Die meisten kamen aus den Ländern des Balkans, des Mittleren Ostens und aus Afrika. Insbesondere der Krieg in Syrien und die instabilen Regime von Afghanistan bis nach Somalia sorgten für eine nie dagewesene Einwanderungswelle. Spätestens seit Mitte des vergangenen Jahres diskutieren Gesellschaft, Medien, Politik und Wirtschaft intensiv zu den Implikationen dieser massenhaften Migration. Die Debatte hat sich spürbar polarisiert zwischen denen, die Hilfe unbedingt und in jedem Fall für angezeigt halten, und denen, die Deutschland überfordert und mitunter auch ausgenutzt sehen. Dieser Dissens wird sich nur mit dem Mut zur Differenzierung und zum Perspektivenwechsel auflösen lassen. Doch egal, zu welchen Weichenstellungen die Berliner und Brüsseler Politik gelangt, es gilt die Genfer Flüchtlingskonvention. Und diese vermittelt einem wesentlichen Teil der Flüchtlinge eine zumindest mittelfristige Bleibeperspektive. Die deutsche Wirtschaft hat sich in verschiedenen Statements immer wieder für eine liberale Flüchtlingspolitik eingesetzt. Betont werden die Potentiale der Einwanderung im Hinblick auf den demografiebedingten Fachkräftemangel. Eine Initiative der GASAG zusammen mit PricewaterhouseCoopers (PwC) zeigt, wie sich ein Engagement für Flüchtlinge darstellen lässt. Es liegt in der Natur der Sache, dass Verwaltungen und Helfer an ihre Grenzen stoßen, wenn sich innerhalb von wenigen Monaten die Registrierungen von Flüchtlingen mehr als verzehnfachen. Schwierig also, die beengte Situation in den Flüchtlingsunterkünften und die quälend langen Bearbeitungszeiten bei Asyl-Anträgen sinnvoll zu nutzen. Statt eines Lamentos haben sich die GASAG und PwC dafür entschieden, das Beste aus den schwierigen Rahmenbedingungen zu machen und dort anzusetzen, wo die Menschen am ehesten Perspektive und Willkommenskultur benötigen. Nach der Registrierung in Deutschland erhalten Asylbewerber regelmäßig eine Aufenthaltsgestattung. Dieser Status ist ausdrücklich kein Aufenthaltstitel und soll lediglich dazu dienen, die Zeit bis zu einer Entscheidung über die Asylgewährung zu überbrücken. Er ist in der Regel mit einem mindestens dreimonatigen Arbeitsverbot sowie mit einer Residenzpflicht verbunden. Den Asylbewerbern bleibt also keine andere Möglichkeit, als in den Unterkünften bzw. in der betreffenden Stadt die Zeit bis zu einer Entscheidung abzuwarten. Schließlich sind Sprachkurse und andere Integrationsmaßnahmen in der Regel an die Gewährung eines Asylstatus gebunden. Das Projekt von GASAG und PwC setzt genau hier an. Der „Jobführerschein“ soll erste Sprachkenntnisse vermitteln, auf die Anforderungen des Arbeitsmarktes vorbereiten und individuell qualifizieren. Die Angebote gehen deutlich über die Bereitstellung von Praktika hinaus und sind eng mit staatlichen Integrationsmaßnahmen verzahnt. Um das Programm nachhaltig gestalten zu können und offen zu sein für weitere privatwirtschaftliche Förderer, ist von PwC eigens eine gemeinnützige Gesellschaft gegründet worden. Die GASAG wird als Projektpartner der Gründungsphase für den Programmstart und in den ersten zwei Jahren insgesamt 200.000 Euro zur Verfügung stellen. Erste Grundlagen für den Beruf Kern des Jobführerscheins ist ein achtwöchiger Kurs, der einsetzen soll, bevor turnusmäßig die Weiterbildungsangebote der Bundesagentur für Arbeit greifen. Die Initiative von GASAG und PwC zielt insbesondere auf jene Flüchtlinge, die eine realistische Chance auf einen Aufenthaltstitel haben. Dies betrifft in erster Linie die Krisen- und Bürgerkriegsländer Afghanistan, Syrien, Eritrea, Iran, Irak und Libyen. Weitere Zugangsvoraussetzungen sind ein Alter zwischen 18 und 45 Jahren, maximal rudimentäre Deutschkenntnisse und das Beherrschen einer Schriftsprache. Im ersten Kontakt mit der Bundesagentur für Arbeit sollen die in Frage kommenden Asylbewerber gezielt angesprochen und auf das Angebot aufmerksam gemacht werden. Ziel des Jobführerscheins ist es zunächst, eine erste sprachliche Befähigung für den Arbeitsmarkt zu schaffen. Darüber hinaus werden berufliche Qualifikationen und Neigungen identifiziert, Informationen zu Rechten und Pflichten von Arbeitnehmern in Deutschland vermittelt, erste Bewerbungsübungen absolviert und Einblicke in Unternehmen ermöglicht. Nach Bestehen des Die Initiative beweist die enge Bindung der GASAG zur Stadt Berlin. Stabilität, Arbeit und gesellschaftlicher Frieden sind wichtige Voraussetzungen für das Geschäft eines Infrastrukturdienstleisters. Und Teil seiner Verantwortung. Falk Schäfer UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 Vera Gäde-Butzlaff, die Vorstandsvorsitzende der Gasag, sieht ihr Unternehmen in der Verantwortung, aktiv dazu beizutragen, dass Berlin lebendig, kulturell vielfältig und offen gegenüber Jedermann bleibt. Der Jobführerschein werde vor allem deshalb erfolgreich sein, weil er in einer sehr frühen Phase der Integration ansetzt. Gäde-Butzlaff wünscht sich, dass das Engagement der GASAG Schule macht und sich weitere Berliner Unternehmen finanziell am Jobführerschein beteiligen. Kurses erhalten die Teilnehmer mit dem Jobführerschein einen ersten Qualifikationsnachweis für eine berufliche Karriere in Deutschland. Die Qualität der Ausbildung sichert die Handwerkskammer Berlin. Sie wurde beauftragt, in der Pilotphase 16 Kurse á 240 Unterrichtsstunden für jeweils 16 Teilnehmer auszurichten. In Bernau bei Berlin stehen für eine Vielzahl von Berufsgruppen passende Ausbildungsräume zur Verfügung. Zusätzlich zum für die Teilnehmer kostenlosen Kursprogramm stellt die Jobführerschein gGmbH Kursmaterialien, einen Shuttle-Service zum Ausbildungsort und die Verpflegung vor Ort. n i infos www.gasag.de 29 FORUM NEUE LÄNDER nachgeschlagen Die 1996 gegründete Ostdeutsche Sparkassenstiftung ist eine Kulturstiftung und Gemeinschaftswerk aller Mitgliedsparkassen des Ostdeutschen Sparkassenverbandes (OSV) in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Sachsen-Anhalt. Sie wird bis Ende 2016 etwa 1.900 Projekte gefördert, begleitet und selbst realisiert haben. Dafür standen ihr etwa 80 Millionen Euro aus den Vermögenserträgen, dem überörtlichen Zweckertrag des PS-Lotteriesparens sowie den projektbezogenen Zusatzspenden der Sparkassen und ihrer Verbundunternehmen zur Verfügung. 20 Jahre Ostdeutsche Sparkassenstiftung Bewahren. Stärken. Begeistern. Die ostdeutschen Sparkassen und ihr Engagement für Kunst und Kultur D ie Ostdeutsche Sparkassenstiftung ist die Kulturstiftung der 45 Sparkassen im OSV. In den 20 Jahren ihres Bestehens hat sie es sich zur Aufgabe gemacht, das kulturelle Leben in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und SachsenAnhalt zu bereichern. UNTERNEHMERIN KOMMUNE nahm das Jubiläum zum Anlass, den Wirkungskreis der Stiftung zu umreißen, herausragende Projekte vorzustellen und mit dem Vorstandsvorsitzenden Dr. Michael Ermrich Entwicklung, zwei Jahrzehnte der Kulturförderung und ihre Zukunft zu erörtern. Die Sparkassen-Finanzgruppe ist finanziell, personell und ideell die mit Abstand engagierteste Unternehmensgruppe, wenn es darum geht, Kultur, Sport, Wissenschaft, Bildung, Umwelt sowie soziale Belange zu unterstützen und Menschen näher zusammenzubringen. Bundesweit betrug das Gesamtkapital der Sparkassenstiftungen zum Jahresende 2015 über 2,45 Milliarden Euro. Unterschiedliche Projekte konnten auf diese Weise mit rund 70 Millionen Euro im Jahr 2015 gefördert werden. In Ostdeutschland ist die Ostdeutsche Sparkassenstiftung einer der wichtigsten und zugleich größten nicht-staatlichen Förderer des kulturellen Lebens in der Region. Fünf Jahre nach Gründung des Ostdeutschen Sparkassenverbandes (OSV) ist 1996 eine gemeinsame Kulturstiftung der dort vereinigten Sparkassen ins Leben gerufen worden. In 20 Jahren wurden fast 1.900 Projekte gefördert. Dafür standen rund 80 Millionen Euro aus den Erträgen des Stiftungskapitals, Mittel aus dem PSLotterie-Sparen und beachtliche Spenden der 45 OSV-Sparkassen und in Einzelfällen ihrer Verbundunternehmen zur Verfügung. Allein oder gemeinsam mit öffentlichen, vor allem ehrenamtlichen Kulturinitiativen setzt sich die Ostdeutsche Sparkassenstiftung dafür ein, Maßstäbliches und Meisterhaftes in Stadt und Region sichtbar zu machen. Das Spektrum reicht von Kunst und Musik über Literatur und Theater bis hin zur Kulturgeschichte und Denkmalpflege. Im Fokus steht dabei die jüngere Generation. Die Förderung von Talenten 30 und die kulturelle Bildung sollen Anknüpfungspunkte an den reichen Traditionsschatz in einer der ältesten Kulturlandschaften Europas vermitteln. Eine besondere Bedeutung misst die Ostdeutsche Sparkassenstiftung der Aufgabe bei, mittlere und kleinere Städte und vor allem den ländlichen Raum als Kulturstandort zu stärken. In vielen Fällen werden Kooperationen mit ehrenamtlichen Initiativen gepflegt, ohne deren beherzten Einsatz viele Vorhaben nicht zustande kämen. Zu ihrem 20. Jubiläum hat sich die Stiftung daher entschlossen, einmalig einen Ehrenamtspreis in jedem der vier Bundesländer im Wirkungsbereich der Stiftung zu vergeben. Wiederbelebtes Erbe Interview mit Dr. Michael Ermrich, Vorsitzender des Vorstandes der Ostdeutschen Sparkassenstiftung Dr. Michael Ermrich ist seit nunmehr drei Jahren Geschäftsführender Präsident des Ostdeutschen Sparkassenverbandes und Vorstandsvorsitzender der Ostdeutschen Sparkassenstiftung. Deren 20. Jahrestag ist Anlass für eine erste Bilanz, aber auch für einen Blick in die Zukunft. UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Die Ostdeutsche Sparkassenstiftung ist vor nunmehr 20 Jahren ins Leben gerufen worden. Welche Überlegungen standen hinter dieser Gründung? Dr. Michael Ermrich: Über Jahrzehnte war das reiche kulturelle Erbe unserer Städte und Regionen zwischen Ostsee und Erzgebirge, zwischen Oder und Harz sehr vernachlässigt worden. An einzelnen Stellen lag es quasi brach. So drohten nach 40 Jahren DDR an vielen dezentralen, eher versteckten Orten Schätze ganz zu verschwinden oder waren nur noch Erinnerungen geblieben. Es gab kaum privates Engagement zu dieser Zeit, weil die wirtschaftlichen Voraussetzungen dazu fehlten. Die Sparkassen sahen und sehen sich in einer besonderen Verantwortung. Ganz im Sinne der Sparkassenphilosophie „nah bei den Menschen“ zu sein, wollten wir eine lebendige Kultur in kleinen Orten wie großen Städten wiederaufleben lassen und befördern. UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Die Ostdeutschen Sparkassen haben sich mit den Rostocker Leitsätzen ein klares unternehmerisches Profil gegeben. Öffentliche Verantwortung und regionale Bindung genießen einen zentralen Stellenwert. Welchen Anteil UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 FORUM NEUE LÄNDER Sparkassen kann die Ostdeutsche Sparkassenstiftung bei der Bewältigung der enormen strukturellen Herausforderungen leisten, die sich insbesondere in den ländlichen Regionen Ostdeutschlands stellen? Dr. Michael Ermrich Dr. Ermrich: Unsere Stiftung kann nicht alles ausgleichen oder bei allem dabei sein. Wir können helfen, den kulturellen Reichtum in Ost- und Mitteldeutschland zu bewahren und zu stärken und dafür begeistern. Die Festspiele Mecklenburg-Vorpommern sind ein gutes Beispiel. Den ganzen Sommer lang spielen Spitzenmusiker und Ensembles aus aller Welt und aus Mecklenburg-Vorpommern zusammen in Städten sowie an eher versteckten Orten. Das Festival gab den Anschub für viele regionale Entwicklungen und ist heute ein Magnet für Besucher aus ganz Deutschland. Oder blicken wir auf 500 Jahre Reformation, die wir im nächsten Jahr begehen werden. Es gibt viele bedeutende historische Orte wie Mühlberg ganz im Süden Brandenburgs, wo in diesem Kontext ein neues Museum entstanden ist, dass an die Schlacht bei Mühlberg im Jahre 1547 erinnert. Hier und nicht in Bayern oder Köln wurde die Schlacht geschlagen, die für die weitere Entwicklung Deutschlands und Europas eine entscheidende Bedeutung hatte. Für viele Menschen sind diese Kulturerlebnisse noch immer lebendig und geben ihnen ein Heimatgefühl. Kultur verbindet Menschen und belebt ganze Regionen. Das schafft wichtige Voraussetzungen, um die schnellen und tiefgreifenden Veränderungen bewältigen zu können. UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Mit 748 gemeinnützigen Stiftungen ist die Sparkassen-Finanzgruppe die stifterisch engagierteste Unternehmensgruppe in Deutschland. Welche Lesen Sie im Folgenden eine kleine Auswahl aus den annähernd 1.900 Projekten, die seit 1996 durch die Ostdeutsche Sparkassenstiftung gefördert wurden. Viele davon wären ohne das Engagement der ostdeutschen Sparkassen nicht realisiert worden. Brandenburg „Belcantare” Belcantare ist eine Fortbildungsreihe des Landesmusikrates Brandenburg für musikunterrichtende Grund- und Förderschullehrkräfte im Landkreis Elbe-Elster. Die Lehrer erhalten neue Impulse, Materialien und vertiefende praktische und theoretische Kenntnisse rund um das Singen mit Kindern. Die Seminare werden von Fachdozenten geleitet und orientieren sich am Rahmenplan des Grundschulunterrichts. Sie richten sich ausdrücklich auch an fachfremd unterrichtende Musiklehrer und sind vom Landesministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg anerkannt. Das Projekt ist eine Kooperation zwischen dem Landesmusikrat Brandenburg e.V. und dem Lehrstuhl für Musikpädagogik und Musikdidaktik der Universität Potsdam. Finanziell gefördert wird es seit 2012 von der Ostdeutschen Sparkassenstiftung sowie dem Land Brandenburg. Das Projekt war bereits in den Landkreisen Uckermark, Prignitz und Ostprignitz-Ruppin, ganz aktuell im Landkreis Elbe-Elster erfolgreich und wird demnächst in den beiden Landkreisen Spree-Neiße und Oberspreewald-Lausitz fortgesetzt. Der Goldschmuck von Hiddensee kann nun im STRALSUND MUSEUM bewundert werden. © STRALSUND MUSEUM Mecklenburg-Vorpommern „Goldschmuck von Hiddensee” Belcantare vermittelt vertiefende praktische und theoretische Kenntnisse rund um das Singen mit Kindern. Foto: Uwe Tölle UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 Die Insel Hiddensee war vor mehr als einem Jahrtausend ein beliebter Zufluchtsort der Wikinger und wurde während langer Handelsreisen oft als Zwischenstation genutzt. 900 Jahre später – nach der verheerenden Sturmflut des Jahres 1872 – fanden Fischer einen Schatz aus kunstfertig gearbeitetem Goldschmuck am Strand der Ostseeinsel. Zwei Jahre später sollen nach einer neuerlichen Flut wieder hochwertige Schmuckstücke angespült worden sein. Das Hiddenseer Gold stammt vermutlich aus dem zehnten Jahrhundert und ist als Schmuckensemble weltweit ohne Vergleich. Die Wikinger verarbeiteten 22karatiges Gold, also fast Reingold, in einer für die Entstehungszeit herausragenden Schmiedekunst. Ein solcher Fund ist nirgendwo wieder aufgetaucht. Lange Jahre konnte der Schatz nicht gezeigt werden, weil das STRALSUND MUSEUM nicht über die nötige Sicherheitstechnik verfügte. Deshalb unterstützte die Ostdeutsche Sparkassenstiftung zunächst eine Wanderausstellung im Land, die großes Interesse weckte und dazu führte, dass die Kostbarkeiten auch in Kopenhagen, London und Berlin gezeigt wurden. Jüngst wurde die Neugestaltung der Dauerausstellung des STRALSUND MUSEUMs gefördert, sodass der Hiddenseer Goldschatz nun wieder im Original und nah der Hiddenseer Heimat bewundert werden kann. 31 Sparkassen Vorteile verbinden sich aus Ihrer Sicht mit dieser Form der Kulturförderung? Dr. Ermrich: Sparkassenstiftungen und Sparkassen sind dezentral und nachhaltig engagiert. Wir ermöglichen einerseits Blockbuster-Ausstellungen in den größeren Städten und andererseits stärken wir bürgerschaftliche Initiativen, die es sich auf die Fahne geschrieben haben, herausragendes Kulturgut gerade auch in den kleineren Kommunen zu erhalten. So wie die Wiederherstellung und Restaurierung ihrer uralten Kirchenglocken – wie in Meseberg – und die Dauerausstellung mit angekauften Werken im Sparkassenhaus Erich Heckel, der aus Döbeln stammt. Die Sparkassen sind ein regional verwurzelter Partner. Wir verbinden die unternehmerische Perspektive mit der Nutzenorientierung und so werden unsere Erfahrungen, die Kundennähe und Multiplikatorfunktion zu einem Erfolgsfaktor für das Gelingen der Stiftungsprojekte. Kultureinrichtungen und Initiativen vor Orten schätzen uns als stabilen Förderer und verlässlichen Partner an ihrer Seite. Würdigung des ehrenamtlichen Engagements UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Wie ist die Stiftungsarbeit konkret in der Ostdeutschen Sparkassenstiftung organisiert? Wie gelingt es, verschiedene Förderinteressen unter einen Hut zu bringen und eine fundierte Projektauswahl zu gewährleisten? Dr. Ermrich: Dreh- und Angelpunkt sind die regionalen Sparkassen. Dort gehen die Förderanträge zuerst Kultur verbindet Menschen und belebt ganze Regionen. Das schafft wichtige Voraussetzungen, um die schnellen und tiefgreifenden Veränderungen bewältigen zu können. „ ______________________ Dr. Michael Ermrich “ ein. Bereits hier kommt uns das Know-how der Sparkassen zugute, denn über die meisten Antragsteller und Projekte wissen die Sparkassen schon Bescheid. Und da sich die örtliche Sparkasse auch an jeder Stiftungsförderung finanziell beteiligt, ist uns ihr Votum doppelt wichtig. Auf dieser Basis entscheiden unsere Vertreter des jeweiligen Landeskuratoriums zweimal im Jahr. Die dort anwesenden Kulturschaffenden (Fortsetzung aus vorheriger Seite) Sachsen „Arnold. Fischer. Richter – Gehaltene Zeit” Erstmals werden in einer Museumsausstellung die drei Fotografen Ursula Arnold (1929-2012), Arno Fischer (1927-2011) und Evelyn Richter (*1930) gemeinsam präsentiert. Gezeigt wird unter anderem ein bedeutender Neuankauf der Ostdeutschen Sparkassenstiftung für ihr Evelyn Richter Archiv. Zu entdecken sind drei Lebensläufe und Lebenswerke einflussreicher Fotografen, die jeweils einen eigenen Weg wählten, um sich den offiziellen Bildvorstellungen in der DDR zu entziehen. Alle drei Fotografen haben als kritische Beobachter gewirkt. Sie haben die Öffentlichkeit ebenso gesucht wie den Rückzug ins Private. Die Ausstellung ist eine Kooperation des Evelyn Richter Archivs der Ostdeutschen Sparkassenstiftung und des in diesem Jahr neu errichteten Ursula Arnold Archivs der Ostdeutschen Sparkassenstiftung gemeinsam mit der Sparkasse Leipzig und dem Museum der bildenden Künste Leipzig. Parallel dazu ist Die Ausstellung „URSULA ARNOLD. ARNO FISCHER. EVELYN RICHTER. Gehaltene Zeit“ vereint erstmalig die drei wichtigsten Fotografen der DDR und wird vom 3. Juli bis zum 3. Oktober in Leipzig zu sehen sein. © Ursula Arnold Archiv der Ostdeutschen Sparkassenstiftung, Reproduktionsfoto: Harald Richter 32 Kirchenglocke aus dem Dorf Kirchsteitz im Burgenlandkreis. Foto: Thomas Trutschel Sachsen-Anhalt „Glockenförderprogramm” – Ein Land lässt von sich hören. Mitteldeutschland verfügt über die reichste Glockenlandschaft Deutschlands. Was 1997 mit der Restaurierung der „Maria“ in Stendals Bürgerkirche seinen Anfang nahm, reifte bald zum selbstgewählten Auftrag. In allen Teilen Sachsen-Anhalts wurden Bürger und Fördervereine unterstützt, die sich mit Fantasie und Geduld, für das Wiedererklingen „ihrer“ Glocken engagierten. So konnte beispielsweise 1999 durch eine gemein- in der Kunsthal- same Aktion von Bürgern, der Stadt, der Stiftung und der Harzsparkasse le der Sparkas- der Neuguss der „Domina“ für den Halberstädter Dom unterstützt wer- se Leipzig eine den. Das kulturgeschichtlich besonders wertvolle Domgeläut der mittel- Ausstellung mit alterlichen Stadt am Tor zum Harz ist nun wieder vollständig. Schülern von Durch eine gemeinsame Spendenaktion von Gemeinde, Kirche, Stif- Arno Fischer und tung und der Bördesparkasse hat die Meseberger Dorfkirche Sankt Evelyn Richter Laurentius ihre Glocken zurück erhalten. Die 500 Jahre alte Bronzeglo- geplant. Zu bei- cke wurde restauriert und das Dreiergeläut mit einer neu gegossenen den Werkschau- Bronzeglocke komplettiert. en erscheint ein Über 70 Geläute können sich bis heute wieder hören und sehen lassen. gemeinsamer Mit diesem Engagement setzt die Ostdeutsche Sparkassenstiftung einen Katalog. weiteren Förderschwerpunkt im dezentralen Raum. UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 FORUM NEUE LÄNDER Sparkassen und Repräsentanten der Kommunen, einzelner Landesministerien und Sparkassen bewerten die Anträge nach Wichtigkeit, prüfen, in welcher Weise wir in der Region schon tätig geworden sind und wie sich die Bürger vor Ort engagieren. UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Was waren die Prämissen, nach denen die Ostdeutsche Sparkassenstiftung in der Vergangenheit Projekte gefördert hat und welche Schwerpunkte sollen in den kommenden Jahren gesetzt werden? Dr. Ermrich: Erstens wollen wir helfen, gefährdetes Kulturgut zu retten, zu erhalten und auch wiederzubeleben. Zweitens unterstützen wir einzelne, überregional bedeutende Festivals, damit sie für möglichst viele erschwinglich bleiben und an Orten durchgeführt werden können, die nicht unbedingt zu den großen Kulturzentren gehören. Drittens kümmern wir uns um kleine Initiativen, die sich durch ihr besonderes bürgerschaftliches Engagement auszeichnen. Bei den künftigen Schwerpunkten zeichnen sich bereits einige ab: Das Reformationsjubiläum hatte ich schon erwähnt. 2019 begehen wir 100 Jahre Bauhaus und den 200. Geburtstag Theodor Fontanes. Uns gehen die Anknüpfungspunkte, wie Sie sehen, nicht aus. Nachdem in den 20 Jahren bisher zunächst vorrangig wiederaufgebaut wurde, kommen wir nun an einen Punkt, wo wir vermehrt neue, eigene Entwicklungen entstehen sehen. Wir beobachten die Kulturszene aufmerksam, und ich denke, dass wir tolle neue Projekte sehen werden. Eine älter werdende Gesellschaft, die in vielen Regionen schrumpft, stellt auch uns in der Stiftungsarbeit vor neue Herausforderungen. Frische Ideen, wie die Kultur innerhalb wie außerhalb der städtischen Zentren ihren Stellenwert behält, interessieren uns. Das alles miteinander zu verbinden und zu stärken, sehen wir als Kern unseres Auftrages für die kommenden 20 Jahre. UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Die Ostdeutsche Sparkassenstiftung will ihr 20jähriges Jubiläum mit einem Ehrenamtspreis begehen, der in jedem der vier OSV-Bundesländer einmalig vergeben werden soll. Welche Überlegungen standen hinter dieser Entscheidung? Wann, wo, wie und nach welchen Prämissen werden die Preise ihre Adressaten erreichen? Dr. Ermrich: Wir nutzen die Aufmerksamkeit anlässlich unseres Stiftungsjubiläums, um die Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, durch die die beschriebenen Erfolge erst möglich wurden: die ehrenamtlich Engagierten. In den 20 Jahren lernten wir in den städtischen Zentren wie im ländlichen Raum Menschen kennen, die mit Herzblut und vollem Einsatz dabei sind. Sie sind Vorbild und zeigen, welche Freude das Ehrenamt bedeuten kann. Es geht der Stiftung um eine kulturaktive Bürgergesellschaft, die sich das kulturelle Erbe, junge Kunst aller Genres und die kulturelle Bildung junger Menschen auf die Fahnen schreibt. In jedem Bundesland wird Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Sachsen-Anhalt bieten einzigartige Kulturlandschaften. Von den ehrwürdigen Hansestädten an der Ostsee über die preußischen Schlösser und Gärten oder die romanischen Schätze Sachsen-Anhalts bis hin zur Gloria des sächsischen Königtums und zur erzgebirgischen Handwerkskunst vermitteln Baudenkmäler, Landschaften und Künste einen Eindruck von den vielfältigen Traditionslinien durch ganze Epochen. Nach der Deutschen Einheit ist Vieles revitalisiert worden, was in der DDR keine hohe Priorität genoss oder schlichtweg nicht zu finanzieren war. Dieses Aufbauwerk zeigt sich nicht zuletzt in den alten Städten der Region, aber auch in einem vitalen Vereinsleben und in hochwertigen Sammlungen. Kultur stiftet Mitmenschlichkeit, regionale Identität und vor allem Lebensqualität. Sie ist ein nicht zu unterschätzender Standortfaktor im Tourismus- und Ansiedlungsmarketing. Insbesondere für die vor erhebliche strukturelle Herausforderungen gestellten ostdeutschen Regionen verbinden sich mit kulturellen Leuchttürmen zentrale Entwicklungsperspektiven. Seit ihrer Gründung vor nunmehr 20 Jahren folgt die Ostdeutsche Sparkassenstiftung den sich daraus ergebenden Prämissen. Schwerpunkte werden im ländlichen Raum und in der Talenteförderung gesetzt. Das Engagement ist auch dem Volumen nach umfassend und einzigartig. Die ostdeutschen Sparkassen entsprechen mit ihrer Förderung ihren Rostocker Leitsätzen aus dem Jahre 1999 und beweisen eine enge und äußerst verantwortliche Verbundenheit mit der Region. Falk Schäfer UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 UNSERE Gesprächspartner Dr. Michael Ermrich wurde 1953 in Halberstadt geboren. 1976 beendete er sein Diplom-Studium an der TU Ilmenau und promovierte anschließend auf dem Gebiet der elektronischen Schaltungstechnik. Seine kommunalpolitische Laufbahn begann er 1990 als Oberkreisdirektor. Kurz darauf folgte die Wahl zum Landrat des Landkreises Wernigerode. 1994 und 2001 wurde Ermrich in dieser Funktion bestätigt, 2007 zum Landrat des neu gebildeten Landkreises Harz gewählt. Seit 1994 war Dr. Ermrich Präsident des Landkreistages Sachsen-Anhalt und seit 2005 einer von vier Vizepräsidenten des Deutschen Landkreistages. Am 1. Juni 2013 wurde Dr. Ermrich zum Geschäftsführenden Präsidenten des Ostdeutschen Sparkassenverbandes berufen. In Personalunion ist er seitdem auch Vorstandsvorsitzender der Ostdeutschen Sparkassenstiftung. jeweils ein Ehrenamtspreis vergeben, um damit außergewöhnlichen Einsatz und Engagement zu prämieren. Am 11. Juli werden wir im Rahmen einer festlichen Veranstaltung im Museum der bildenden Künste Leipzig das Geheimnis lüften und die Preisträger und ihre Projekte vorstellen. UNTERNEHMERIN KOMMUNE: Zuletzt noch eine persönliche Frage. Nach mehr als zwei Jahrzehnten als Landrat im Harz und nunmehr drei Jahren als Geschäftsführender OSV-Präsident sind sie der ostdeutschen Sparkassenfamilie eng verbunden. Welches Kulturprojekt hat sie in dieser Zeit am stärksten beeindruckt? Dr. Ermrich: Es gibt so vieles, das einen beeindruckt. Wenn sie durch das Verbandsgebiet reisen, gehen ihnen regelmäßig die Augen auf, was sie alles noch nicht kennen und welche spannenden Geschichten noch darauf warten, erzählt zu werden, welche versteckten Orte noch zu entdecken sind. Es freut mich besonders, wenn es mit den Menschen vor Ort und der Unterstützung unserer Stiftung und der Sparkassen gelingt, aus einer guten Idee ein langfristig erfolgreiches Kulturprojekt entstehen zu lassen. Dazu gehören für mich z.B. die Brandenburgischen Sommerkonzerte und die noch laufende Spendenaktion für die künstlerische Neugestaltung der Fenster der Magdeburger Johanniskirche, für die der international renommierte und beinahe 80jährige Maler Max Uhlig gewonnen werden konnte. n i infos www.ostdeutsche-sparkassenstiftung.de 33 Rekommunalisierung Das Ob, Warum, Wann und Wie von Rekommunalisierungen Gebot der Stunde? Gesprächsrunde vom 2. Mai in Potsdam N ach langen Jahren, in denen Kommunen ihre Unternehmen an private Interessenten verkauften, die Verantwortung für elementare Leistungen des täglichen Lebens auslagerten und das Risiko eigenen wirtschaftlichen Engagements scheuten, zeigt sich nun seit fast einem Jahrzehnt ein gegenläufiger Trend. Selbst viele Experten weissagten insbesondere den Stadtwerken, dass sie in liberalisierten Märkten kaum gegen privatwirtschaftliches Know-how und Kapitalkraft standhalten werden. Doch kommunale Unternehmen konnten sich nicht nur behaupten, sie stiegen kontinuierlich in der Gunst von Bürgern und Kunden, trieben die Energiewende nach vorn und weiteten ihren Aktionskreis sukzessive aus. In diesem Zusammenhang hat sich der Terminus Rekommunalisierung zu einem politischen Modewort entwickelt. In etlichen Kommunen wurde abgestimmt, ob die Verantwortung für Netze oder für den Betrieb elementarer Leistungen wie Gas, Strom, Wärme oder Wasser wieder zurück in kommunale Hände gehen soll. Die Plebiszite zeigten in der Regel eine deutliche Präferenz für kommunalwirtschaftliche Strukturen. In vielen anderen Kommunen wurde auch ohne solche Urnengänge ein Mehr an kommunaler Verantwortung beschlossen. Begleitend zu diesen Prozessen ist mit kommunalrechtlichen Novellen in einigen Landesverfassungen auch der regulatorische Handlungsrahmen kommunalfreundlicher gestaltet worden. Soweit die Fakten. Diskutiert werden darf, wie weit das Pendel noch in Richtung Kommunalwirtschaft ausschlagen soll, inwiefern gewachsene Strukturen beeinträchtigt werden und wie sich der tatsächliche Nutzwert einer Rekommunalisierung beziffern lässt. Angesichts der rasanten Entwicklung will UNTERNEHMERIN KOMMUNE in dieser und den kommenden Ausgaben kontrovers und mit engem Bezug zur Praxis über Sinn, Wohl und Wehe von Rekommunalisierungen streiten. Den Auftakt dazu machte eine Gesprächsrunde in Potsdam. Am 2. Mai trafen sich Vertreter von Kommunen, Kommunalwirtschaft sowie mehrheitlich privaten Regionalversorgern mit signifikanten kommunalen Beteiligungen, um zu den Auslösern, Implikationen und Folgen der Rekommunalisierung zu debattieren. Der Begriff der Rekommunalisierung werde oftmals etwas pauschal gebraucht, sagt Sebastian Kunze. Der Moderator der Gesprächsrunde fragt, welche konkreten Zielstellungen die Anwesenden damit verbinden. Karl-Ludwig Böttcher, Geschäftsführer des Städte- und Gemeindebundes Brandenburg, erinnert an die Wurzeln der energiewirtschaftlichen Versorgungsstrukturen in den Neuen Bundesländern. Die Kommunalisierung der Versorgungswirtschaft sei letztlich einigen Aktivisten der ersten frei gewählten Volkskammer nach der politischen Wende in der DDR zu verdanken. Sie hätten mit dem Kommunalvermögensgesetz den Hebel gesetzt, an dem die Kommunen im Stromstreit vor dem Bundesverfassungsgericht ansetzen konnten. Die derzeitigen Strukturen aus mehrheitlich privaten Regionalversorgern mit Anteilen vieler kleinerer Kommunen auf der einen, sowie Stadtwerken auf der anderen Seite fußten in dem 1992 gefundenen Kompromiss. Die kommunale Seite hätte sich auch bei den Regionalversorgern ein signifikantes Mitspracherecht erkämpfen können. Als vor drei, vier Jahren eine ganze Reihe von Konzessionen für die Nutzungsrechte an und in öffentlichen Verkehrswegen Die Runde traf sich in Potsdam-Babelsberg am Sitz des Städte- und Gemeindebundes Brandenburg. 34 UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 FORUM NEUE LÄNDER Rekommunalisierung ausliefen, habe man versucht, die kommunale Familie zusammenzuhalten und den Wert der Beteiligungen an den Regionalversorgern zu betonen, so Böttcher. Nun würde eine ganze Generation der unmittelbar Nach-Wende-geprägten Verantwortungsträger in den ostdeutschen Kommunen zunehmend ihre Ämter abgeben. Daher sei es gerade aktuell angeraten, für eine gemeinsame Verantwortung und für das Solidaritätsprinzip in der Versorgungswirtschaft zu sensibilisieren, so der Geschäftsführer der Städte- und Gemeindebundes Brandenburg. Tim Hartmann ist Vorstandsvorsitzender der EnviaM, einem der größten Regionalversorger in den Neuen Bundesländern. Er soll beantworten, worin die gängigsten Argumente für eine Rekommunalisierung liegen und wie sich enviaM dazu positioniert. „Ich weiß nicht, ob der Begriff der Rekommunalisierung geeignet ist, die aktuelle Entwicklung treffend zu beschreiben. Was wir derzeit erleben, hat im Kern nichts mit Rekommunalisierung zu tun“, so Hartmann. Die zu hundert Prozent kommunale Thüringer Energie AG hätte die gleichen Probleme wie die enviaM. Stadtwerke aus dichter besiedelten Gebieten würden ihre Kostenvorteile nutzen und zunehmend in neue Konzessionen drängen. Dabei picke man sich die Rosinen heraus und so würde auch die enviaM ihre Konzessionen fast ausschließlich in dichter besiedelten Gebieten verlieren. Die aktuellen Entwicklungen zeigen eher eine Entsolidarisierung zwischen Stadt und Land als eine Stärkung kommunaler Verantwortung. Bernd Dubberstein knüpft an diese Ausführungen an. Als Vorstandsvorsitzender der E.DIS Der aktuelle Kommunalisierungsboom wird von den derzeit extrem niedrigen Zinsen angeheizt. Doch betriebswirtschaftlich, regulatorisch und technologisch haben sich die Anforderungen und damit auch die Risiken deutlich erhöht. „ ______________________ Karl-Ludwig Böttcher gesorgt. Wettbewerbliche und ökologische Arguund Geschäftsführer der Stadtwerke Schwedt. Nun mente würden damit ausscheiden, wenn es darum stehe die Suche nach neuen Einnahmequellen mit im ginge, die Rekommunalisierung von Netzen, Vordergrund. Mögliche Netzübernahmen würden insUnternehmen oder Leistungen zu begründen. Im besondere unter dem Stichwort „Wachstumskonzepte“ Regelfall seien es ökonomische Eigeninteressen, die diskutiert. Die strukturelle Unterfinanzierung vieler Kommunen dazu bewegen, ihren wirtschaftlichen Kommunen würde insbesondere in entlegenen Handlungskreis zu erweitern. Dies sei angesichts Regionen dazu zwingen, die eigenen Finanzquellen der Haushaltssituation vieler Kommunen durchaus verständlich, sollte aber nicht hinter vorgeschobenen Scheinargumenten verbrämt werden. Zudem dürfe gefragt werden, ob tatsächlich neue Ertragsquellen erschlossen werden, wenn Fremdkapital aufgenommen werde, um Leistungen einzukaufen. „Wir wollen uns einem fairen Wettbewerb stellen“, Prof. Dr. Michael Schäfer, Helmut Preuße und Bernd Dubberstein (v.l.n.r.) so Dubberstein. Dieser dürfe aber nicht zu einer Entsolidarisierung mit den möglichst vollständig zu optimieren. Jede Kommune Kunden und Bürgern auf dem Land führen. sollte im Vorlauf aber genauestens rechnen, ob sich die „Es spielt aus meiner Sicht keine Rolle, ob ein Risiken einer Fremdfinanzierung oder eines Betriebes Unternehmen mehrheitlich von kommunalen in Eigenregie tatsächlich lohnen. Grundsätzlich seien oder privaten Eigentümern geführt wird. Keine die Kommunen aber die geborenen Player, um die drei Eigentümerstruktur ist per se besser als die D’s „digital“, „dezentral“ und „dekarbonisiert“ mögandere. Das reicht als Begründung für eine lichst optimal in Einklang zu bringen, so Preuße. Auch Rekommunalisierung folglich nicht aus. Die die Stadtwerke Schwedt müssten sich fragen, wie in Motivation ist hier vielmehr, neue Einnahmeeiner schrumpfenden Stadt nachhaltige Wachstumsquellen zu erschließen“, stimmt Tim Hartmann konzepte realisiert werden können. „Wenn wir in seinem Kollegen zu. Aus Sicht der Kommunen sei den Kernstädten Kunden und Geschäfte verlieren, dies durchaus nachvollziehbar, allerdings müssten müssen wir dies über ein Wachstum in der Fläche auch die damit verbundenen Kosten für die Verwieder ausgleichen.“ braucher und die Wettbewerbsfähigkeit des StandBernd Dubberstein folgert, dass sich die Notwendigkeit einer Solidarisierung im Markt orts Deutschland diskutiert werden. Hartmann notwendigerweise aus den energierechtlichen bedauert, dass es für die Energiewirtschaft keine geeinte Interessenvertretung gebe. Zudem seien Rahmensetzungen ergibt. „Es war stets ein Element die Energiemärkte sehr stark reguliert. der Energieversorgung, dass an einem Ort mehr produziert und an einem anderen mehr verbraucht wird.“ Die Eigeninteressen der Kommunen seien Was wir derzeit erleben, sicherlich subjektiv nachvollziehbar, doch „wir hat im Kern nichts mit brauchen auch die Solidargemeinschaft.“ Kommunale Rekommunalisierung zu tun. Wertschöpfung müsse nicht unbedingt über den ______________________ eigenen Betrieb von Anlagen und Netzen organisiert werden. Es seien auch andere Modelle vorstellbar. Tim Hartmann Tim Hartmann konstatiert, dass grundsätzlich alle Unternehmen der Energiebranche wirtschaftAus der Not geboren? lich arbeiten müssten. Die Regulierungsbehörden in Bund und Ländern behandelten diese allerdings auf Helmut Preuße bezeichnet den Stromstreit von 1992 unterschiedliche Weise. So gelte für Unternehmen als „echte Rekommunalisierung“. Hier sei es tatsächmit weniger als 100.000 Kunden eine vereinfachte lich um kommunale Verantwortung und HandlungsRegulierung. „Große Verteilnetzbetreiber, zu denen freiheit gegangen. „Ich gestehe gerne ein, dass sich auch wir gehören, fallen nicht unter diese Regelung. die Motivlage bis heute etwas geändert hat“, sagt der Dabei findet in ihren Netzgebieten die EnergieVorsitzende der Landesgruppe Berlin-Brandenburg wende statt. 90 Prozent der Erneuerbaren Energien sind hier angeschlossen“, so Hartmann. „Durch die im Verband kommunaler Unternehmen (VKU) “ „ AG vertritt auch er einen großen ostdeutschen Regionalversorger. Unmittelbar nach der Wende sei es darum gegangen, die Infrastruktur auf ein angemessenes Level zu heben. Dies sei in der gemeinsamen Anstrengung aus Kommunen und Versorgern gut gelungen. Nunmehr herrsche seit Ende der 1990er Jahre ein funktionierender Wettbewerb, innerhalb dessen die ökologische Komponente durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz besondere Betonung findet. Die Gesetzgebung sei sicherlich verbesserungsfähig, hätte in den vergangenen Jahren jedoch für eine klare Zielorientierung UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 “ 35 Rekommunalisierung Kehrtwende auch in der Regulierung vollzogen. Noch vor einigen Jahren seien die Ertragsabsichten von kommunalen Unternehmen noch als „Teufelszeug“ abgetan worden, nunmehr würden die Kommunalaufsichten aktiv zu einer Steigerung der Erträge aufrufen. „Ich würde viel lieber darüber diskutieren, wie die Kommunen das für die Tim Hartmann, Karl-Ludwig Böttcher und Sebastian Kunze (v.l.n.r.) Erbringung ihrer Aufhohe dezentrale Einspeisung entstehen für die Vergaben notwendige Geld auch erhalten, anstatt den teilnetzbetreiber umfangreiche zusätzliche Aufgaben zu weiten Teilen aus der Not geborenen Trend der und Kosten. Diese werden von den RegulierungsRekommunalisierung bewerten zu müssen.“ Mit den behörden jedoch nicht ausreichend anerkannt.“ Regionalversorgern und den kommunalen StadtZurückkommend auf das Solidarprinzip merkt Hartwerken würden die aktuell vorhandenen Strukturen mann an, dass dieses durch das Herauslösen attraktiver den Vorgaben von Energiewende und dezentraler Netzgebiete mit hohen Einwohnerzahlen außer Kraft Erzeugung bereits entsprechen. Grundsätzlich dürfe gesetzt werde. In der Folge stiegen in ländlichen die Debatte aber nicht auf den Energiebereich verRäumen mit geringer Bevölkerungsdichte die Netzkürzt werden, sondern müsste die verschiedenen entgelte weiter an. In den Netzentgelten der enviaM kommunalen Verantwortlichkeiten in einer Gesamtsei das Solidarprinzip zwischen dem urbanen und schau würdigen, so der Professor für Kommunalwirtdem ländlichen Raum bereits eingepreist. Je mehr schaft an der Hochschule für Nachhaltige Entwicklung Konzessionen aus dichter besiedelten Regionen verin Eberswalde. lorengingen, desto weniger ließe sich dieser Umlagemechanismus anwenden, so Hartmann. Das gute Recht der Kommunen? Prof. Dr. Michael Schäfer stimmt zu, dass die energiepolitische Regulierung teilweise widersprüchlich „Ist das Kaufen von Netzen mit geliehenem Geld und inkonsistent ist. Über die Rekommunalisierung tatsächlich ein Beitrag zur Ertragssicherung?“, fragt ließe sich auch deshalb trefflich streiten, weil bisher Bernd Dubberstein. „Ist es sinnvoll, wenn unterfinanzierte Kommunen ohne nennenswerte Rücklagen Netze erwerben und dies bei einer gleichzeitigen Ist das Kaufen von Netzen mit Zersplitterung gewachsener Regionalstrukturen? Für geliehenem Geld tatsächlich ein den Erfolg der Energiewende brauchen wir auch in den ländlichen Regionen leistungsfähige RegionalnetzBeitrag zur Ertragssicherung? Ist betreiber.“ All die politischen Begründungen im Hines sinnvoll, wenn unterfinanzierte blick auf unzureichenden Wettbewerb, unzureichende Kommunen ohne nennenswerte Zuverlässigkeit oder Behinderung des EEG-Ausbaus Rücklagen Netze erwerben und dies bei einer gleichzeitigen Zersplitterung seien bei näherem Hinsehen nicht zutreffend und waren nie der Grund für eine Netzvergabe an neue leistungsfähiger Regionalstrukturen? bzw. kommunale Bewerber, so der Vorstandschef der ______________________ E.DIS AG. Prof. Dr. Schäfer stimmt zu, dass das Gros der Zielorientierungen keine Rekommunalisierung Bernd Dubberstein erfordere. Zudem werde das Ausmaß der über eine „ “ noch keine eindeutige Begriffsdefinition vorläge. Den stärksten Treiber für eine Stärkung der kommunalen Komponente in der Daseinsvorsorge identifiziert der Professor für Kommunalwirtschaft in der strukturellen kommunalen Unterfinanzierung. Es sei mehr als verständlich, wenn sich ein Bürgermeister in erster Linie für die Einwohner seiner Kommune zuständig fühle und Wege ersinnt, wie sich die Defizite zumindest partiell kompensieren lassen. Grundsätzlich hätte sich in den vergangenen Jahren eine erstaunliche 36 Der unternehmerische Zweck lässt sich auch bei kommunalen Unternehmen in Euro beziffern. Da spielen Aspekte der Solidarität auch mal eine untergeordnete Rolle. „ ______________________ Helmut Preuße “ Rekommunalisierung möglich werdenden Veränderungen nicht selten maßlos überschätzt bzw. überbetont. In Berlin hätte der Energietisch eine neue Energiewelt versprochen, doch tatsächlich sei es im Volksbegehren nur um die Eigentümerschaft an den Netzen und mitnichten um den Betrieb gegangen. „Die Kommunen besitzen die Konzessionen und es ist ihr gutes Recht, diese möglichst gewinnbringend zu vermarkten“, so Tim Hartmann. „Allerdings sollten wir darauf achten, dass die Schere zwischen Stadt und Land nicht immer weiter auseinander geht und die Bewohner ländlicher Räume immer stärker belastet werden. Dies widerspricht dem Grundsatz gleichwertiger Lebensbedingungen.“ Helmut Preuße äußert die Ansicht, dass das Solidarprinzip schon lange nicht mehr gilt. Letztlich entscheide ein mittelfristiger Businessplan über eine Übernahme von Leistungen. Wenn sich mögliche Erträge abzeichnen, Ich würde viel lieber darüber diskutieren, wie die Kommunen das für die Erbringung ihrer Aufgaben notwendige Geld auch erhalten, anstatt den zu weiten Teilen aus der Not geborenen Trend der Rekommunalisierung bewerten zu müssen. „ ______________________ Prof. Dr. Michael Schäfer “ ist eine Kommune fast schon gezwungen, sich diesbezüglich zu engagieren. Tim Hartmann bewertet die Motivationslage in den Kommunen ganz ähnlich. Allerdings sei dies zum großen Teil die Folge gesetzlicher Regelungen. Sebastian Kunze fragt in die Runde, ob die aktuelle Debatte der Rekommunalisierung tatsächlich nur der finanziellen Notlage in den Kommunen geschuldet sei. „Das Generieren eigener Einnahmen ist ganz sicher einer der zentralen Treiber hinter der derzeitigen Entwicklung, doch diese eindeutige Zuordnung ist ihm zu pauschal“, antwortet Böttcher. Gegen die These würde sprechen, dass der Ausbau kommunaler Verantwortung vor allem in solchen Kommunen vollzogen werde, denen es noch vergleichsweise gutgehe. Als Geschäftsführer des Städte- und Gemeindebundes Brandenburg beklagt Böttcher die fehlende Konsistenz in der Industriepolitik. Und auch aktuell werde kein Rechtsrahmen geschaffen, der mit dem Ziel der Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen die Wertschöpfung im ländlichen Raum unterstützen hilft. „Der unternehmerische Zweck lässt sich auch bei kommunalen Unternehmen in Euro beziffern. Da spielen Aspekte der Solidarität auch mal eine untergeordnete Rolle“, sagt Helmut Preuße. Der Geschäftsführer der Stadtwerke Schwedt erkennt aktuell eine wachsende Nüchternheit bei den kommunalen UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 FORUM NEUE LÄNDER Rekommunalisierung Unternehmen. Mittlerweile werde vorsichtiger gerechnet, als noch vor ein paar Jahren. Dazu würde nicht zuletzt die verstärkte Rechtsunsicherheit beitragen. „Die Bäume wachsen auch bei einer Netzübernahme regelmäßig nicht in den Himmel“, so Prof. Dr. Schäfer. Kleineren Kommunen fehlten generell die personellen, finanziellen und sachlichen Kompetenzen für einen Netzbetrieb. Nicht-monetäre Ziele seien nur schwer zu umreißen und könnten hinsichtlich ihres Erreichungsgrades kaum eindeutig bewertet werden. Dies hätte sich nicht zuletzt bei der Debatte um die Rekommunalisierung der Berliner Energienetze gezeigt. Helmut Preuße fordert mit Bezug auf Berlin eine sachliche Debatte. Wenn die Stadt Berlin die Energieversorgung wieder in die eigenen Hände nimmt, so ist es ihr gutes Recht. Aber es muss dennoch gerechnet werden. Termini wie Euphorie oder Traum hätten hier nichts zu suchen. „Komplexität und Regelungsdichte sind in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen“, so Preuße. Vor diesem Hintergrund müssten sich die Kommunen dreimal überlegen, ob sie ihr Portfolio erweitern wollen. Solidarität gesetzlich normieren? „Ich habe noch nie gehört, dass einem Unternehmen eine Konzession genommen wurde, weil es nicht imstande war, den Betrieb von Netzen angemessen zu leisten“, so Dubberstein. Wenn dann noch der unklare Terminus der gemeindlichen Ziele in den Kriterienkatalog des Konzessionsvergaberechts aufgenommen würde, sei die Folge nicht weniger, sondern mehr Rechtsunsicherheit. Karl-Ludwig Böttcher fügt hinzu, dass der aktuelle Kommunalisierungsboom auch von den derzeit extrem niedrigen Zinsen angeheizt werde. Doch nicht nur betriebswirtschaftlich, sondern auch regulatorisch und technologisch hätten sich die Anforderungen und damit auch die Risiken deutlich erhöht. Helmut Preuße thematisiert die aktuellen Herausforderungen sowie die enorme Rechtsunsicherheit. Beim Erneuerbare EnergienGesetz seien zentrale Parameter noch unklar. Bei der Digitalisierung müssten enorme Vorinvestitionen getätigt werden, ehe eine Refinanzierung gelingen Die Teilnehmer der Gesprächsrunde (in namensalphabetischer Reihenfolge) ˆˆ Böttcher, Karl-Ludwig, Geschäftsführer Städte- und Gemeindebund Brandenburg, ˆˆ Dubberstein, Bernd, Vorstandsvorsitzender, E.dis AG, Fürstenwalde ˆˆ Hartmann, Tim, Vorstandsvorsitzender envia Mitteldeutsche Energie AG (enviaM) ˆˆ Preuße, Helmut, Vorsitzender Landesgruppe Berlin-Brandenburg des Verbandes Kommunaler Unternehmen (VKU) ˆˆ Schäfer, Prof. Dr., Michael, Professor für Kommunalwirtschaft, Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde (FH), Herausgeber UNTERNEHMERIN KOMMUNE Es moderierte Sebastian Kunze, Referatsleiter beim Städte- und Gemeindebund Brandenburg. könne. In einigen dünn besiedelten und strukturschwachen Regionen werde man in einigen Jahren vielleicht eher über eine Konsolidierung und nicht über eine weitere Aufspaltung von Strukturen reden, so der Geschäftsführer der Stadtwerke Schwedt. Sebastian Kunze stellt zwei Entwicklungen nebeneinander. Auf der einen Seite wären im Zuge der Verwaltungsreformen in den Neuen Bundesländern immer größere Einheiten entstanden, auf der anderen komme es im Zuge der Rekommunalisierung zu einer zunehmenden Zersplitterung gewachsener Strukturen in der Versorgungswirtschaft. Daran schließt er die Frage an, ob sich aus diesen gegenläufigen Entwicklungen Widersprüche ergeben und wie zukunftsfähig die gewachsenen Versorgungsstrukturen im Land Brandenburg sind. Prof. Dr. Schäfer bedauert, dass bei der Optimierung von Strukturen immer zuerst über Gebietsgrenzen und kaum über Funktionalitäten gesprochen werde. Alle Vorzeichen deuteten darauf hin, dass dieser Fehler bei der anstehenden Verwaltungsreform im Land Brandenburg wiederholt werde. Das schlichte Motto „Aus Zwei mach Eins“ hätte in Mecklenburg-Vorpommern schon nicht funktioniert. Grundsätzlich sei die gesellschaftliche Vernunft nicht der stärkste Impuls menschlichen Handelns. Schlichte Appelle an die Solidarität zwischen Menschen, Einheiten oder Unternehmen würden regelmäßig nicht fruchten. Wenn ein bestimmtes Agieren im Markt als erwünscht erachtet werde, dann müsse dies eben ordnungspolitisch normiert werden. Zur Debatte um mögliche Wenn aus verschiedenen Perspektiven heraus einhellige Kritik geäußert wird, dann sollte man das Gesagte umso ernster nehmen. Die fehlende Konsistenz in der Energiewirtschaftspolitik ist ein solcher Punkt. Daneben erscheint es notwendig, den Begriff der Rekommunalisierung genauer zu umreißen. Gefragt werden muss, welche Ziele erreicht werden sollen und wie realistisch sie sind. Netzübernahmen sind nicht immer aus der Not geboren. In der Mehrzahl der Fälle passieren sie dort, wo die Siedlungsstruktur dichter und die Kommunen finanziell vergleichsweise gut ausgestattet sind. Bei sinkenden Margen und steigendem Wettbewerbsdruck wird sich der Energiemarkt in Zukunft eher konsolidieren. Kommunen sollten sich daher genau überlegen, ob sie sich engagieren und wachsende Risiken in Kauf nehmen wollen. Falk Schäfer UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 Neustrukturierungen im Nordosten Brandenburgs heißt es: „Aktuell gibt es im Barnim und in der Uckermark vier Stadtwerke und einen Regionalversorger.“ Diese gewachsenen und erwiesenermaßen tragfähigen Strukturen der Chimäre eines Kreiswerkes zu opfern, wäre notwendigerweise mit der Vernichtung kommunalen Eigentums verbunden. Bernd Dubberstein entgegnet, dass es am Ende auf Überzeugungen ankäme. Wenn ausreichende Mehrheiten hinter einer Forderung vereint werden könnten, würden die entsprechenden Entscheidungen folgen. In Berlin und anderswo habe sich gezeigt, dass sich die Stimmung durchaus wandeln kann. „Die optimale Größe für einen Energieversorger gibt es nicht“, sagt Tim Hartmann. Die Wettbewerbsfähigkeit hänge davon ab, wie schnell und wie gut es möglich sei, bei den großen Themen der Energieversorgung der Zukunft miteinander zu kooperieren. Ich denke hier zum Beispiel an die Einführung intelligenter Zähler und Messsysteme oder die Entwicklung neuer Dienstleistungen, die nichts mit dem Verkauf von Strom und Gas zu tun haben. enviaM biete schon heute 70 solcher Produkte an und habe damit 2015 15 Prozent des Vertriebsergebnisses erwirtschaftet. Der Druck hin zu einer weiteren Diversifizierung im Angebotsportfolio und hin zu einer stärkeren Kooperation werde weiter zunehmen. Helmut Preuße ist der Ansicht, dass der zunehmende Leidensdruck solche Integrationsprozesse im Markt automatisch befördern werde. Ihm seien Kooperationen grundsätzlich lieber als politisch motivierte Neugründungen mit zweifelhaften Erfolgsaussichten. Schließlich könnten neue Strukturen auch aus intensivierten Kooperationen heraus erwachsen. Prof. Dr. Schäfer stimmt zu, dass im Kernbereich der Kommunalwirtschaft der Kooperationsgrad deutlich ausbaufähig sei. Die Debatte dürfe sich nicht auf den Energiemarkt verengen, da gerade die Stadtwerke in vielen Fällen mehrere Sparten bedienen würden. Neue Gebietsstrukturen würden bei den Sparkassen nahezu automatisch eine Fusion der beteiligten Institute bedingen. Ähnliches sei auch bei Wasser, Abwasser und anderen kommunalen Kernaufgaben denkbar. n Die Veranstaltung dokumentierte Falk Schäfer i infos www.stgb-brandenburg.de 37 AUS FORSCHUNG UND LEHRE zitiert „Selbstverständlich müssen kommunale Unternehmen auch Geld verdienen dürfen. Einzige Prämisse ist, dass sie dieses anschließend wieder zum Wohle der Bürger verantwortlich in die örtliche Infrastruktur investieren.“ Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow anlässlich der Vorstellung des Buches „Das kommunale Nagelstudio – Irrtümer zur Kommunalwirtschaft“ von Dr. Sven-Joachim Otto und Prof. Dr. Michael Schäfer Das Buch zur Irrtümer-Serie / Weimarer Erklärung Plädoyer für potente kommunale Unternehmen Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow und Weimars Oberbürgermeister Stefan Wolf fordern eine Stärkung der kommunalen Daseinsvorsorge V or ziemlich genau fünf Jahren wurde in diesem Medium der Auftakt gesetzt zu einer prononcierten Auseinandersetzung mit all den Unterstellungen, Anwürfen und Missverständnissen, denen sich die kommunale Wirtschaft seit Jahrzehnten gegenübersieht. Ausgangspunkt dieser Idee war die Verwunderung über das eklatante Missverhältnis zwischen der großen Wertschätzung, die öffentliche Unternehmen bei Bürgern und Kunden genießen, sowie der enormen Bandbreite an böswilligen Klischees, die zur kommunalen Wirtschaft kolportiert werden. Dass daraus ein Buch werden würde, war zunächst überhaupt nicht abzusehen. Erst das rege Interesse unserer Leser gab den Anlass, die zu Beginn noch recht lockere Serie zu systematisieren und zu einer wissenschaftlich fundierten Befassung auszubauen. Wir berichten an dieser Stelle nicht nur über uns selbst, sondern auch über erste Impulse, die aus der Serie und später dem Sachbuch erwachsen sind. Die äußerst prominent besetzte Präsentation und die daran anschließende „Weimarer Erklärung“ zeigen, dass ein Nerv getroffen wurde und dass öffentliche Träger allgemein und die Kommunen im Besonderen wieder selbstbewusst für ein extrem erfolgreiches Wirtschaftsmodell zwischen gesellschaftlicher Verantwortung und betriebswirtschaftlicher Effizienz werben wollen. Lesen Sie im Folgenden eine Zusammenfassung der Buchpräsentation und der anschließenden Verkündung der „Weimarer Erklärung“ durch Thüringens Ministerpräsident, Bodo Ramelow, und den Oberbürgermeister von Weimar, Stefan Wolf. Weimars Oberbürgermeister Stefan Wolf, Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow, der Autor des Buches, Prof. Dr. Michael Schäfer, und Stefanie Brich, die als Leiterin des Fachbereiches Wirtschaft beim Springer Fachmedien Verlag durch die Veranstaltung führte (v.l.n.r.). 38 UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 AUS FORSCHUNG UND LEHRE Daseinsvorsorge Die sachlich-kritische, manchmal aber auch bewusst süffisante Auseinandersetzung mit all den Vorurteilen und Unterstellungen zur Kommunalwirtschaft gab den Impuls zur Weimarer Erklärung, einem offensiven Bekenntnis zur Wirtschaftsform an sich und zu ihren Akteuren. Und so hielt sich auch die Choreographie des Nachmittags an diese Reihenfolge. Zunächst ging Prof. Dr. Michael Schäfer als einer der beiden Autoren auf die Beweggründe ein, die ihn und Dr. Sven-Joachim Otto zu diesem Buch veranlassten. Prof. Dr. Schäfer verweist auf das Demoskopie-Institut Forsa, welches seit Jahren regelmäßig nach der Beliebtheit verschiedener Institutionen und der Wertschätzung für öffentliche Unternehmen fragen würde. Stadtwerke und Sparkassen kämen hier regelmäßig auf den ersten beiden Plätzen ein. Und auch insgesamt hätte sich die Einstellung zu kommunaler Verantwortung in der Versorgungswirtschaft deutlich gewandelt. 2007 seien die Präferenzen für Kommunalisierungen und für Privatisierungen noch ausgeglichen gewesen. Nach der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise sowie der Kehrtwende in der Energiepolitik würde nun eine klare Mehrheit von 80 Prozent eine stärkere kommunale Verantwortung befürworten. Dennoch würden sich in einigen, mitunter durchaus einflussreichen, Teilöffentlichkeiten noch immer unsachgemäße Anwürfe, stupide Klischees und dreiste Unterstellungen gegenüber der Kommunalwirtschaft halten. Diese seien nicht selten interessengeleitet und fußten zu einem nennenswerten Anteil in bewussten Falschbehauptungen und Halbwahrheiten, die gestreut würden, um jegliches wirtschaftliches Agieren außerhalb privatwirtschaftlicher Eigentumsformen gezielt zu diskreditieren. Daher sei es ihm um mehr als nur um Aufklärung gegangen, als er dieses Die Weimarer Erklärung zur Daseinsvorsorge – DenkanstöSSe für eine notwendige Debatte Bodo Ramelow, Ministerpräsident des Freistaates Thüringen und Stefan Wolf, Oberbürgermeister der Stadt Weimar 1) Warum es diese Erklärung jetzt, hier und heute gibt. In Deutschland wächst seit der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise 2007/2008 ein neues Bewusstsein für die Bedeutung der Kommunen, der Daseinsvorsorge und mithin auch der Kommunalwirtschaft. Dafür gibt es viele Belege. Stellvertretend dafür stehen nach unserer Einschätzung folgende: (1) Von 2007 bis 2015 haben weit über 200 deutsche Kommunen die Energienetze aus privater Hand wieder in eigene Verantwortung übernommen. Im gleichen Zeitraum wurden rund 100 neue Stadtwerke gegründet. (2) In Thüringen gab es mit der Thüringer Energie AG (TEAG) eine der größten Rekommunalisierungen deutschlandweit. Im Zusammenhang mit den Stadtwerkebeteiligungen der TEAG verzeichnet die Thüringer Energiewirtschaft den höchsten Kommunalisierungsgrad in ganz Deutschland. (3) Vertrauen und Zufriedenheit in und mit kommunalen Unternehmen waren noch nie so groß wie heute. 75 Prozent der Bundesbürger haben zur Kommunalwirtschaft „großes Vertrauen“. 93 Prozent sind mit kommunalen Unternehmen zufrieden und sehr zufrieden (Forsa 2016). Die Entwicklung ist sehr deutlich. Zugleich aber gibt es zu den Themen Daseinsvorsorge und Kommunalwirtschaft noch immer Vorurteile, ja sogar Stigmatisierungen, die nur im Rahmen eines gesellschaftspolitischen Diskurses aufgearbeitet werden können. 2) Wie wir diese Entwicklung interpretieren. Im Bewusstsein der meisten Menschen ist fest verankert, dass die existenziellen Leistungen der Daseinsvorsorge – in erster Linie Trinkwasser, Energie, Entsorgung, Gesundheit, Bildung, Kultur und die dazugehörigen Infrastrukturen – hohen Effizienzanforderungen genügen und auch im Wettbewerb bestehen müssen. Zugleich will die übergroße Mehrheit, dass diese Leistungen in öffentlicher Verantwortung erbracht werden. 2007 waren 50 Prozent der Deutschen gegen Privatisierungen. 2015 wuchs dieser Anteil auf 81 Prozent. Das ist in demoskopischen Dimensionen ein gewaltiger Zuwachs von 31 Prozent (Forsa). Aus unserer Sicht ein eindeutiges Plädoyer für: (1) Daseinsvorsorge vor Ort mit Zuständigen, die ein Gesicht haben und nicht „Hotline“ heißen (2) nachhaltige kommunale Wertschöpfung, bei der Gewinne und soziales Engagement den Bürgern direkt zu Gute kommen (3) demokratische Mitwirkung und Kontrolle in einem Bereich, der die Lebensbedingungen der Menschen unmittelbar betrifft UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 3) Welche Schlussfolgerungen wir ziehen Die Stärkung der kommunalen Daseinsvorsorge sollte wieder Gegenstand des politischen Diskurses werden und zwar unter folgenden Aspekten: (1) Es bedarf einer Diskussion, welchen Rang die Daseinsvorsorge unter tausenden von staatlichen und kommunalen Aufgaben hat. (2) Daseinsvorsorge muss deutlicher von einem allgemeinen Dienstleistungsbegriff abgegrenzt werden. (3) Dieser so abgegrenzte Bereich der kommunalen Daseinsvorsorge sollte wegen seiner existentiellen Dimension nicht den Kräften eines ungezügelten Marktes überlassen werden. (4) Eine einseitige Konzentration auf Monetarisierung und Verbetriebswirtschaftlichung der Daseinsvorsorge ist für ihre Entwicklung hinderlich. (5) Daseinsvorsorge wird zwar in erster Linie kommunal erbracht, sie muss aber gesamtstaatlich gewährleistet werden. 4) Welche praktischen Dimensionen hat dieser Diskurs? Die öffentliche Verantwortung für die Daseinsvorsorge ist mit der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert entstanden. Am Prinzip hat sich bis heute nichts geändert. Dynamisch aber ist der Kanon der zu erbringenden Leistungen. Zu dessen Elementen ist ein permanenter Austausch zwingend geboten. Wir zeigen dies an folgenden Beispielen: (1) Die flächendeckende Breitbandversorgung gilt heute unstrittig als Teil der Daseinsvorsorge, also als staatliche Aufgabe. Wer dies vor 20 Jahren gefordert hätte, wäre mitleidig belächelt worden. Breitbandversorgung heißt aber nicht nur technische Infrastruktur. Im Kern geht es um Partizipation für alle. Das ist der Lebensnerv unseres demokratischen Gesellschaftsmodells. (2) Mit diesem Ansatz muss auch das Thema ÖPNV diskutiert werden. Gerade in strukturschwachen Regionen und in einer älter werdenden Gesellschaft ist der Individualverkehr nicht in der Lage, die lebenswichtige Mobilität zu gewährleisten. 5) Fazit Unser christlich-abendländisch geprägtes Menschen- und Gesellschaftsverständnis nimmt die materiellen Grundbedürfnisse des menschlichen Lebens ernst, isoliert sie aber nicht. „Der Mensch lebt nicht von Brot allein“ (Matthäus 4,4; vgl. Mose 8,3). Wir müssen deshalb auch unser Verständnis von freiwilligen und pflichtigen Leistungen auf den Prüfstand stellen und deshalb noch konsequenter fragen, was wir unter den Stichworten Daseinsvorsorge und Partizipation für alle finanzieren wollen? 39 Daseinsvorsorge Das altehrwürdige Weimar – Hort vieler historischer Ereignisse und nun auch Namensgeber für ein kräftiges Plädoyer pro kommunale Daseinsvorsorge. Buch verfasste. Sondern auch um ein Bekenntnis zu einer Wirtschaftsform, die grundlegenden ethischen Prinzipien verbunden ist. Die kommunale Familie ruft er auf: „Wir müssen in die Offensive gehen. Wir vertreten die Interessen und das Eigentum der Bürger. Es gibt überhaupt keinen Anlass, sich für den verantwortungsvollen und nachhaltigen Umgang mit diesen Werten rechtfertigen zu müssen.“ Klares Bekenntnis Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow verweist auf die vielen Volksentscheide der vergangenen Jahre, die nahezu sämtlich die kommunale Verantwortung gestärkt hatten. Auch er bewertet die Rolle der kommunalen Wirtschaft ausgesprochen hoch. Aktuell würde sich der Freistaat Thüringen in einem Umbauprozess befinden. „Wir wollen auch mittelfristig leistungsfähige Strukturen erhalten und brauchen dazu eine gewisse kommunale Schlagkraft.“ Kommunale Unternehmen seien nicht nur ein Nischenprodukt, sondern stellten einen Wert an sich dar. Zu den Vorurteilen gegenüber der Kommunalwirtschaft erinnert sich der Ministerpräsident, dass sie durchaus mal eine Basis hatten. In den 1980er Jahren, zu Zeiten der co op- und Neue Heimat-Skandale hätten öffentliche Unternehmen deutlich anders funktioniert als dies heute Kommunale Unternehmen leisten Erstaunliches. Ihnen gelingt fast immer der schwierige Balanceakt zwischen ökonomischer Vernunft und gesellschaftlicher Verantwortung. Der einzige Fehler mag darin liegen, dass kommunale Verantwortungsträger oftmals viel zu verdruckst mit dem Erreichten umgehen. Dass sie mit dem gerade erschienenen Sachbuch fundierte Argumentationslinien gegen pauschale Unterstellungen an die Hand bekommen, soll helfen, noch offensiver für die eigenen Interessen werben zu können. Denn diese Interessen sind die Interessen der Bürger und der gewachsenen Gemeinschaften vor Ort. Die „Weimarer Erklärung“ ist direkt aus diesen Impulsen gewachsen. Sie streitet für eine Wirtschaftsform, die sich seit Jahrzehnten erfolgreich an den Märkten behauptet und angesichts der drängenden demografischen, ökologischen und sozialen Herausforderungen am ehesten geeignet ist, jedem Bürger einen angemessenen Zugang zu den essentiellen Leistungen des täglichen Lebens zu ermöglichen und damit die gesellschaftliche Stabilität zu erhöhen. Falk Schäfer 40 der Fall sei. In den mehr als 30 Jahren seitdem sei eine enorme Professionalisierung gelungen, die nicht zuletzt dazu geführt hatte, dass sich kommunale Unternehmen nunmehr im Wettbewerb bestens behaupten. „Wir müssen dafür sorgen, dass das so bleibt.“ Dazu gehöre auch, dass Kommunen und ihre Unternehmen die eigenen Möglichkeiten realistisch einschätzen. Selbstverständlich müssten kommunale Unternehmen auch Geld verdienen dürfen. Einzige Prämisse sei, dass sie dieses anschließend wieder zum Wohle der Bürger verantwortlich in die örtliche Infrastruktur investieren. Stefan Wolf, Oberbürgermeister von Weimar, thematisiert die Entwicklung seiner Stadt. Dass sich Weimar seit der Wende derart gut entwickeln konnte, sei nicht zuletzt den kommunalen Unternehmen zu verdanken. Glücklicherweise hätte der Verkauf der kommunalen Wohnungsgesellschaft verhindert werden können, sodass die Stadt auch heute noch proaktiv ihren Gebäude- und Wohnungsbestand zum Wohle der Gemeinschaft gestalten könne. Bei der Breitbandversorgung hätte sich gezeigt, dass sich die großen Konzerne nur für hohe Renditen interessieren. Vor einigen Jahren habe sich kein privater Anbieter für die Breitbandversorgung in der Stadt gefunden. Nun hätte sich Weimar auch dank des kommunalen Engagements zu einem prosperierenden Wachstumskern gemausert. „Und nun interessieren sich auch die Konzerne…“ n i infos www.springer.com UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 Ansbacher Str. 6 • D 10787 Berlin • Tel + 49 (0)30-212 99 20 • Fax +49 (0)30-212 99 234 eMail: info@hotelairinberlin.de • www.hotelairinberlin.de Buchen Sie unser Serviceangebot unter dem Stichwort „Kommune“ entweder telefonisch oder über unsere eMail Adresse. Eine Gemeinschaftsaktion von HOTEL AIR IN BERLIN und UNTERNEHMERIN KOMMUNE, überregionale Fachzeitschrift für kommunalwirtschaftliches Handeln INSPIRATIONEN/INFORMATIONEN übrigens nehmen die schweizerischen Parlamentarier auf Bundes- oder auf Kantonsebene ihr Mandat grundsätzlich nebenberuflich wahr. Für ihren Aufwand beziehen sie eine Entschädigung, die in etwa der Höhe eines Facharbeiterlohns entspricht. Pensionsansprüche werden nicht gewährt. Demografische Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland Weniger, bunter und ungleicher Aus unserer Serie: Statistik kommunal I m vergangenen Heft hatte sich diese Rubrik den demografischen Entwicklungen innerhalb der Europäischen Union gewidmet. Dabei zeigte sich, dass die Bundesrepublik im EU-weiten Vergleich ein deutlich unterdurchschnittliches Wachstum bzw. eine überdurchschnittliche Schrumpfung aufweist. Trotz der aktuell guten und im europäischen Vergleich außerordentlichen Konjunktur weist Deutschland zusammen mit einigen ost- und südeuropäischen Staaten die niedrigste Fertilitätsrate auf. Insbesondere dieser Umstand wird dazu führen, dass der derzeit unangefochtene Rang als bevölkerungsreichstes Land der EU in Bälde eingebüßt werden wird. Aller Voraussicht nach wird im Jahr 2050 das Vereinigte Königreich die meisten Einwohner innerhalb der EU haben. Schon 2080 wird Deutschland mit dann vermutlich 65 Millionen Menschen hinter dem Vereinigten Königreich und Frankreich deutlich auf den dritten Rang zurückgefallen und auch von Italien eingeholt worden sein. Aufgrund der Schwerfälligkeit demografischer Prozesse kann die Einwohnerentwicklung mittelfristig mit großer Treffgenauigkeit prognostiziert werden. Und selbst wenn die Politik mit mutigen familienpolitischen Programmen reagieren sollte, ließen sich die Effekte erst nach zwei Generationen ablesen. Kurz- bis mittelfristig bleibt kaum eine andere Alternative als sich sukzessive an die vorhergesagten Entwicklungen anzupassen. Lesen Sie im Folgenden einen Überblick über die demografischen Trends innerhalb der Bundesrepublik. Die Schrumpfung begann in Deutschland schon lange bevor der demografische Wandel überhaupt zum Thema wurde. Seit 1972 werden deutlich weniger Kinder geboren als für eine ausgeglichene Entwicklung nötig wäre. In den kommenden Jahren und Jahrzehnten werden die in der BabyBoom-Generation geborenen Menschen diese Welt nach und nach verlassen. Das bereits seit den 1970er Jahren bestehenden Delta zwischen Sterbefällen und Geburten wird sich in diesem Zusammenhang noch deutlich weiter ausprägen. In den Neuen Bundesländern konnte man bereits nachvollziehen, wie Schrumpfung eine Gesellschaft verändern kann. Zwischen 1990 und heute ist die Einwohnerzahl der Neuen Bundesländer um mehr als zwei Millionen oder 15 Prozent zurückgegangen. Angeführt wird diese eher unangenehme Statistik vom Land SachsenAnhalt. Hier hat sich mit dem Geburteneinbruch nach der Wende und bei einer kontinuierlichen Abwanderung eine ganze Generation 42 mehr als halbiert. Abseits von Berlin-Potsdam, Dresden, Leipzig und den mittleren Gliedern der Thüringer Städtekette grassiert in allen Teilen der Neuen Bundesländer eine radikale Schrumpfung. Besonders hart getroffen wurden jene Städte, die in der DDR gezielt zu industriellen Zentren der sozialistischen Produktion ausgebaut wurden. Hoyerswerda, Schwedt, Eisenhüttenstadt, Suhl, Altenburg und Frankfurt an der Oder mussten nach der Deutschen Einheit allesamt Rückgänge von mehr als einem Drittel verkraften. Noch verheerender ist die Situation in den weiten ländlich geprägten Regionen von Vorpommern bis nach Südthüringen. Hier sind die Amts- und Mandatsträger vor Ort praktisch seit der Deutschen Einheit gefragt, sich aktiv und kreativ an einen schnellen und tiefgreifenden Wandel anzupassen. Von den dort gemachten Erfahrungen können im Sinne eines Demografielabors Ost auch Regionen aus den Alten Bundesländern profitieren. Denn auch dort wird man sich in den kommenden Jahren zunehmend mit den Themen Schrumpfung und Alterung auseinandersetzen müssen. Da mittlerweile alle deutschen Bundesländer außer Berlin einen Sterbeüberschuss verzeichnen, kann nur noch hinzugewinnen, wer den Verlust durch Zuwanderer ausgleicht. Während bis 2005 im Westen nur das Saarland an Bevölkerung verlor, schrumpfen jetzt auch Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz. Die Hauptwanderungsziele haben sich in der jüngeren Vergangenheit auf wenige Regionen verengt. Mit Abstand am beliebtesten ist Bayern, gefolgt von Baden-Württemberg. Außerhalb Süddeutschlands konnten lediglich die Stadtstaaten Berlin und Hamburg einen signifikanten Wanderungsüberschuss generieren. Auch einige Teile Schleswig-Holsteins, das westliche Niedersachsen oder die nordrhein-westfälische Rheinschiene bis hin zur belgischen Grenze konnten Zuwächse verzeichnen. UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 INSPIRATIONEN/INFORMATIONEN Statistik Verlassen werden im Westen die Gebiete entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze. Dies gilt für das südöstliche Niedersachsen, Nordhessen sowie Nordbayern. Auch im Ruhrgebiet, in der Südwestpfalz oder auf der Schwäbischen Alb zeigen sich Abwanderungsprozesse. Ursachen sind fast immer eine wirtschaftliche Strukturschwäche oder die abgelegene Lage jenseits von urbanen Ballungsräumen. Durchschnitt angeglichen. Das nach wie vor ausgeprägte Delta zum Reproduktionsniveau von 2,1 sowie die anhaltende Abwanderung sorgen aber weiterhin für einen kontinuierlichen Bevölkerungsverlust. Während sich die Schrumpfung in den Neuen Bundesländern flächendeckend auswirkt, gibt es im Alt-Bundesgebiet noch immer größere Wachstumsregionen. So hat sich die Ein- Bevölkerungszahl von 1950 bis 2060 Ab 2014 Ergebnisse der 13. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung Unterdurchschnittliche Fertilität Mitte der 1960er Jahre stellte sich sowohl in Ost als auch in West der sogenannte Babyboom ein. Allein im Jahr 1964 kamen grenzüberschreitend knapp 1,4 Millionen Kinder zur Welt. Dies entsprach einer Fertilität von annähernd 2,5 Kindern pro Frau. Die bei gleichbleibender Lebenserwartung und ausgeglichenem Wanderungssaldo für eine stabile Bevölkerungsentwicklung notwendige Marge von 2,1 Kindern pro Frau wurde damit deutlich übertroffen. Mit der massenweisen Einführung und Nutzung der Antibabypille ist die durchschnittliche Fertilität allerdings schnell wieder gesunken und pendelte sich ab Mitte der 1970er Jahre bei einem Wert von 1,4 Kindern pro Frau ein – ziemlich genau ein Drittel unter dem Reproduktionsniveau von 2,1. Seitdem gilt, dass jede neue Generation um ein Drittel kleiner ist als die vorherige. In den vergangenen 20 Jahren war eine leichte Erholung vom historischen Tiefstwert (1,21 Kinder pro Frau) aus dem Jahre 1994 zu verzeichnen, an den grundlegenden Entwicklungen wird sich damit allerdings nichts ändern. In Ostdeutschland ist 1994 mit 0,77 Kindern pro Frau ein Wert ermittelt worden, der weltweit und historisch ohne Beispiel ist. Bis heute hat er sich fast verdoppelt und damit an den bundesweiten wohnerzahl Bayerns zwischen 1995 und 2014 um etwa 700.000 auf nun 12,7 Millionen erhöht. Baden-Württemberg konnte im gleichen Zeitraum einen Zuwachs von 400.000 auf nun 10,7 Millionen Einwohner verzeichnen. In NordrheinWestfalen hingegen zeigt sich schon heute ein Rückgang der Bevölkerungszahlen. Dieser fällt zwar nicht ansatzweise so gravierend aus wie im Osten der Bundesrepublik, wird sich aber in den kommenden Jahren noch weiter verstärken. 2011 ist die Einwohnerzahl des Saarlandes erstmals seit Wiedereingliederung in die Bundesrepublik im Jahre 1956 unter die Marke von einer Million gerutscht – ein Einbruch von fast zehn Prozent zwischen 1995 und heute. Das Saarland ist die demografisch problematischste Region der Alten Bundesländer. Wirkten sich die soziostrukturellen Unterschiede zumindest in der Ost-West-Relation in den 1990er Jahren noch erheblich auf die Fertilitätsrate aus, haben sich die Werte bis heute weitgehend angeglichen. Viele westdeutsche Landkreise mit ehemals hohen Kinderzahlen haben sich dem Durchschnitt angepasst oder liegen sogar darunter. Dagegen haben die meisten ostdeutschen Regionen aufgeholt. Vor allem in urbanen Gebieten mit vielen gut qualifizierten und erwerbstätigen Frauen ist die Fertilität gestiegen. UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 Die Zahl der Neugeborenen hängt aber nicht nur von der Fertilität ab, sondern auch von der Zahl der potentiellen Mütter. Letztere ist seit 35 Jahren kontinuierlich gesunken. In den kommenden Jahren wird dieser Trend ungebrochen weiter laufen, sodass auch im äußerst unwahrscheinlichen Fall einer stark bis an das Reproduktionsniveau heranwachsenden Fertilitätsrate weiter weniger Kinder geboren werden als in der Generation zuvor. Familienpolitische Maßnahmen können realistisch nur eine leichte Verlangsamung der demografischen Entwicklungen bewirken. Immerhin jedoch haben sich die regionalen Verwerfungen etwas eingeebnet. Aktuell werden vor allem in ruralen und agrarisch geprägten Regionen die meisten Kinder geboren. So finden sich das vorpommersche Demmin, die niedersächsischen Landkreise Cloppenburg und Osnabrück, der nordrheinwestfälische Landkreis Lippe und der badenwürttembergische Landkreis Tuttlingen an der Spitze der Statistik. Die vier deutschen Millionenstädte, Berlin, Hamburg, München und Köln, liegen sämtlich unter dem Wert von 1,3. Der Run auf die Städte ist allerdings ungebrochen und hat sich in den zurückliegenden Jahren nochmals verstärkt. Trotz der etwas höheren Fertilität zeigt sich daher eine deutlich überdurchschnittliche Schrumpfung im ländlichen Raum. Lediglich Schleswig-Holstein und Bayern können aufgrund der landschaftlichen Attraktivität und der Nähe zu den Metropolen Hamburg und München auch im ländlichen Raum noch ihre Bevölkerung relativ stabil halten. In den Bundesländern mit stark rückläufiger Einwohnerzahl blutet der ländliche Raum regelrecht aus. Während Leipzig und Dresden wachsen, verlieren die Regionen dazwischen massiv an Einwohnern. Ein ähnliches Muster lässt sich in Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Sachsen- Anhalt beobachten. Aufgrund der bundesweit rückläufigen Bevölkerungszahlen wird sich der Wettbewerb um Einwohner, insbesondere um Familien und gut verdienende Steuerzahler, verschärfen. Die Zahl der Gewinner wird zurückgehen, die der Verlierer zunehmen. Tendenziell dürften sich nur die größeren Städte stabilisieren. Für die kommunalen Finanzen bedeutet Schrumpfung einen Rückgang der Steuer- und Gebühreneinnahmen bei kaum geringeren Infrastrukturkosten. Aus finanziellen aber auch aus ökologischen Gründen ist es nicht sinnvoll, in stark schrumpfenden, dünn besiedelten Regionen weiterhin flächendeckend die heute übliche Infrastruktur zu erhalten und den Glauben zu vermitteln, man könne die demografische Entwicklung umkehren. 43 Statistik Fertilitätsrate (Kinder pro Frau) nach Bundesländern im Jahr 2014 Migration und Integration Seit dem ersten Anwerbeabkommen, welches die Bundesrepublik im Jahre 1955 mit Italien schloss, sind per Saldo mehr als neun Millionen Ausländer nach Deutschland gekommen. In deutlich geringerem Maße kooperierte auch die DDR mit ihren Partnerstaaten und warb um Arbeitskräfte. 1973 zählten die Gastarbeiter und deren Angehörige allein in der Bundesrepublik bereits vier Millionen Menschen. Im selben Jahr einigte man sich auf einen Anwerbestopp. Doch im Zuge der Familienzusammenführung kamen auch in den folgenden Jahrzehnten Millionen Menschen aus dem Süden Europas und vor allem aus der Türkei. Heute leben circa 17 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland. Darunter fallen per Definition alle Menschen, die selbst nach Deutschland zugewandert sind oder bei denen dies mindestens für ein Elternteil gilt. Migranten machen heute ein Viertel der Wohnbevölkerung aus. Dies ist schon heute mehr als die Einwohnerzahl aller fünf Neuen Bundesländer und Berlins zusammengenommen. 2060 werden zwischen 35 und 50 Prozent der Menschen in Deutschland ihre Wurzeln im Ausland haben. Ohne Einwanderung würde die Bevölkerung Deutschlands schon heute bei lediglich 70 Millionen liegen; 2060 würden es 50 Millionen statt der zu erwartenden 70 Millionen sein. Trotz dieser recht eindrucksvollen Zahlen ist Zuwanderung jedoch kaum geeignet, den demografischen Wandel zu kontern. Zu hoch sind die Integrationskosten und zu stark wirkt der gegenläufige Trend einer niedrigen Geburtenrate. 44 Gegen Ende der 1990er Jahre nach der Verschärfung des Asylrechts und dem Abebben des kriegsbedingten Flüchtlingsstroms aus dem ehemaligen Jugoslawien konnte die Bundesrepublik für einige Jahre deutlich weniger Zuwanderung generieren, als noch in den Jahrzehnten zuvor. 2008 gab es erstmals seit 1984 mehr Emigranten als Immigranten. Auslöser waren die wirtschaftlichen Krisen der 1990er und 00er Jahre sowie der Umstand, dass es viele gut ausgebildete Deutschtürken in die boomende Heimat ihrer Eltern zog. Selbst viele autochthon deutsche Staatsbürger wanderten vermehrt in wirtschaftlich attraktivere Länder aus – in die Schweiz, nach Österreich, ins Vereinigte Königreich, in die USA oder nach Kanada. Unter den Zugewanderten und deren Nachkommen sind vergleichsweise viele jüngere Menschen. Das liegt zum einen daran, dass tendenziell im jungen Erwerbsalter eingewandert wird, und zum anderen an einer höheren durchschnittlichen Kinderzahl. So stellen Migranten bei nur 20 Prozent Bevölkerungsanteil mehr als ein Drittel des Nachwuchses in Deutschland. Menschen mit Migrationshintergrund konnten von der seit 2005 deutlich sinkenden Arbeitslosenrate zwar überdurchschnittlich profitieren, dennoch bleiben Zugewanderte und deren Nachkommen etwa doppelt so häufig auf Transferleistungen des Staates angewiesen wie Alteingesessene. Seit 2008 haben sich die Einwanderzahlen in die Bundesrepublik deutlich verstärkt. Zunächst war dies eine Folge der Öffnung des Arbeitsmarktes innerhalb der Europäischen Union. In den vergangenen fünf Jahren haben insbesondere die wirtschaftlichen Krisen in den Staaten Südund Südosteuropas zu einer verstärkten Migration in die Bundesrepublik beigetragen. Zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte wanderten vermehrt überdurchschnittlich qualifizierte Menschen nach Deutschland ein. Seit mittlerweile zweieinhalb Jahren steigen die Zahlen der in Deutschland gestellten AsylErstanträge. 2015 ersuchten mehr als eine Million Menschen in der Bundesrepublik um Asyl. Sämtliche Einwanderungsquellen – EU-Binnenmigration, qualifizierte Zuwanderung über Arbeitsvisa, Familiennachzug und Asylanträge – zusammengenommen, war 2015 das Jahr mit der höchsten Einwanderung in der Geschichte der Bundesrepublik. Welchen Einfluss diese Prozesse auf die deutsche Gesellschaft haben werden, wird sich vermutlich erst mittelfristig beantworten lassen. Grundsätzlich ist der Integrationserfolg einzelner Migrantengruppen recht unterschiedlich. Zuwanderer aus EU-Ländern sowie aus Ostund Südostasien sind ökonomisch gut integriert. Hier lassen sich hinsichtlich der Erwerbstätigenquote kaum Unterschiede zu den autochthonen Deutschen erkennen. Bei Spätaussiedlern insbesondere aus der ehemaligen Sowjetunion ist Migrantenanteil nach Bundesländern – in Prozent UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 INSPIRATIONEN/INFORMATIONEN Statistik die Erwerbslosenquote doppelt, bei Türkischstämmigen dreimal und bei Menschen aus dem arabischen Sprachraum (Naher und Mittlerer Osten / Maghreb) gar viermal so hoch. Diese schlechten Werte setzen sich bei einigen Zuwanderergruppen bis in die zweite und dritte Generation fort. Je attraktiver eine Region in der Vergangenheit für Zuwanderer war – etwa weil die dortige Industrie viele Arbeitskräfte brauchte – umso größer ist heute der Anteil unqualifizierter Migranten. So ist in den früheren Schwerindustrie-Metropolen Essen und Duisburg der Anteil von Personen ohne Schulabschluss unter Migranten etwa elfmal so hoch wie unter Alteingesessenen, in einigen Industriestädten zwischen Rhein, Main und Neckar werden gar Quoten von 1 zu 17 erreicht. Grundsätzlich besteht eine ausgeprägte Proportionalität zwischen dem Migrantenanteil und der wirtschaftlichen Stärke. So leben in den prosperierenden drei südlichen Bundesländern Baden-Württemberg, Bayern und Hessen durchweg mehr als 20 Prozent Migranten. Die wirtschaftlich nicht ganz so erfolgreichen westdeutschen Bundesländer Saarland, Niedersachsen und Schleswig-Holstein erreichen Werte zwischen 17,6 und 12,7 Prozent. Ostdeutschland rangiert nicht nur im Hinblick auf zentrale wirtschaftliche Kennziffern wie Industriedichte, Produktivität, Arbeitslosenrate und Steuerkraft ganz hinten, sondern mit Quoten zwischen 4,3 und 5,2 Prozent auch beim Migrantenanteil. Eine weitere Wechselwirkung lässt sich zwischen der Größe einer Kommune und dem Migrantenanteil formulieren. Auch hier weisen die prosperierenden Zentren des Südens die höchsten Werte auf. Ganz vorn rangiert Frankfurt am Main mit etwa 43 Prozent. Danach folgen in dieser Reihenfolge: Stuttgart, Nürnberg, München, Düsseldorf, Hannover, Bremen, Dortmund, Duisburg, Hamburg und Berlin. In den beiden größten Städten der Neuen Bundesländer, Leipzig und Dresden, leben lediglich acht bzw. sieben Prozent Migranten – deutlich mehr als im ostdeutschen Schnitt, deutlich weniger als in den anderen deutschen Städten dieser Größenordnung. Arbeitslosigkeit und Fachkräftemangel Die weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise war der erste Lackmus-Test für die Robustheit der unter der rot-grünen Schröder-Regierung geschaffenen Strukturen. Zwischen 2008 und 2010 stieg die Erwerbslosenquote nur geringfügig an und lag im Juni 2010 bei lediglich 7,4 Prozent. Im Gegensatz zu den meisten anderen EU-Staaten hat sich der Arbeitsmarkt in der Folge wieder entspannt. Die Erwerbslosenquote liegt Bevölkerungsentwicklung der deutschen Bundesländer zwischen 1990 und 2015 – in Prozent Schleswig-Holstein bei deutlich unterdurchschnittlichen 4,5 Prozent. Aktuell stellt sich eher das entgegengesetzte Problem eines gravierenden Fachkräftemangels. Die Zahl der 15- bis 18jährigen ist zwischen 2005 und 2008 um 360.000 Personen geschrumpft. Während bis 2006 noch 40.000 bis 50.000 Anwärter keine Lehrstelle bekamen, waren es 2009 nur 9.600. Ostdeutschland, wo derzeit die halbierte Nachwendegeneration ins Ausbildungsalter kommt, konnte 2009 erstmals ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen angebotenen Lehrstellen und Nachfragern registrieren.1 Die geburtenstarken Jahrgänge der BabyBoomer scheiden zunehmend aus dem Erwerbsleben aus. Nach Vorausberechnungen des Statistischen Bundesamtes dürfte die Bevölkerung im Erwerbsalter von 20 bis 64 Jahren bis 2050 um elf bis 14 Millionen Menschen schrumpfen. Im gleichen Zeitraum wird die Gruppe der über 64jährigen um sechs bis sieben Millionen Menschen anwachsen und sich der Anteil der Über80jährigen verdreifachen.2 Das heißt, die Deutschen müssen künftig länger arbeiten, sich aber dennoch mit bescheideneren Renten abfinden. Besonders betroffen sind dabei die Gebiete, aus denen viele junge Menschen abgewandert sind – also vor allem die Neuen Bundesländer. Während die Neuen Bundesländer hinsichtlich des Altenanteils bis 2040 noch deutlich an der Spitze rangieren, wird sich in den darauffolgenden Jahrzehnten eine Entspannung ergeben. Grund ist die zahlenmäßig sehr kleine Generation, die nach 1990 in den Neuen Bundesländern geboren wurde. In den westdeutschen Bundesländern wird die Alterung auch nach 2040 weiter anhalten, sodass sich Alt- und Neu-Bundesgebiet UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 bis voraussichtlich 2070 aneinander angeglichen haben werden. Beim verfügbaren Einkommen lagen die allermeisten Regionen der Neuen Bundesländer im Jahr 1995 noch bei unterhalb von 80 Prozent des durchschnittlich verfügbaren Einkommens je Einwohner. Bis heute haben sich einige Regionen Ostdeutschlands etwas regenerieren können. Die wohlhabendsten ostdeutschen Landkreise sind der thüringische Wartburgkreis und PotsdamMittelmark – mit 89 bzw. 95 Prozent des gesamtdeutschen Mittelwertes. Weite strukturschwache Regionen bleiben aber weiterhin von wirtschaftlicher Dynamik abgekoppelt und dürften angesichts stark alternder und schrumpfender Bevölkerungen kaum noch aufholen. Die vorpommersche Grenzregion zu Polen bleibt mit 73 Prozent des durchschnittlich verfügbaren Einkommens das Armenhaus der Republik. Am deutlichsten zurückgefallen ist die Hauptstadt Berlin – von 98 Prozent im Jahr 1995 auf nur noch 83 Prozent 2008. Auch im Westen Deutschlands haben sich die regionalen Disparitäten weiter ausdifferenziert. Einige der reichsten Regionen wie Starnberg oder das Münchner Umland sind noch reicher geworden. Im Saarland oder auch im Ruhrgebiet stellen sich hingegen stetig dringlicher werdende Herausforderungen. Baden-Württemberg Im Ländle erwirtschaftet das produzierende Gewerbe ein Drittel der gesamten Wirtschaftsleistung – im bundesweiten Vergleich ein deutlich überdurchschnittlicher Anteil. Baden-württembergische 45 Statistik Produkte können sich in der Regel sehr gut auf den Weltmärkten behaupten. Die damit verbundene Exportabhängigkeit macht das Land aber auch anfällig für internationale Krisen. Baden-Württemberg zeichnet sich aus durch einen hohen Anteil von Investitionen in Forschung und Entwicklung. Es ist das Flächenland mit der geringsten Jugendarbeitslosigkeit und dem zweithöchsten Migrantenanteil bundesweit. Als einziges Bundesland hat Baden-Württemberg in den kommenden Jahren keine wesentlichen Bevölkerungsverluste zu befürchten. Weil in fast allen Landkreisen genügend Arbeitsplätze verfügbar sind, wird das Land auch künftig junge Menschen aus dem In- und Ausland anziehen. Einwohner 2014 – 10,717 Mio. Einwohner 2025 – 11,112 Mio Fertilitätsrate – 1,46 Kinder pro Frau Bevölkerungsdichte – 300 Einwohner / km² Migrantenanteil – 27,1 Prozent Durchschnittsalter – 43,3 Jahre Haushaltsnettoeinkommen – 2.989 Euro / Monat Bayern Mit mehr als 70.000 Quadratkilometern ist Bayern das flächenmäßig größte Bundesland. Hinsichtlich der Einwohnerzahl liegt es mit 12,5 Millionen auf Rang zwei. Wirtschaftlich erzielt Bayern nach Hamburg, Bremen und Hessen das vierthöchste Bruttoinlandsprodukt pro Kopf. Bayern hat die höchste Beschäftigungs- und mit 4,8 Prozent die niedrigste Arbeitslosenquote. Das hohe Bruttoinlandsprodukt wird von einem breit gestreuten Spektrum an Branchen erwirtschaftet. Diese Struktur aus Großunternehmen und starken Mittelständlern macht die bayerische Wirtschaft vergleichsweise krisenresistent. Doch im Gegensatz zum fast flächendeckend wirtschaftsstarken Baden-Württemberg zeigen sich in Bayern neben Spitzenwerten in Sachen Arbeitsmarkt und Wohlstand regional auch echte Tiefpunkte. Dies gilt insbesondere für die Grenzregionen zu Thüringen, Sachsen und Tschechien. So weist Oberfranken ein unterdurchschnittliches Haushaltseinkommen, eine starke Überalterung und eine insgesamt schrumpfende Bevölkerung auf. Bei der Fertilitätsrate liegt Bayern zwar im unteren Mittelfeld, gleich dies aber durch überdurchschnittliche Zuwanderung aus. Das Kraftzentrum des Landes liegt eindeutig in und rund um die Landeshauptstadt München. Dort ist auch der Migrantenanteil besonders hoch. Nürnberg und München sind nach Frankfurt am Main und Stuttgart die deutschen Großstädte mit den meisten Migranten. 46 Einwohner 2015 – 12,744 Mio. Einwohner 2025 – 12.838 Mio. Fertilitätsrate – 1,45 Kinder pro Frau Bevölkerungsdichte – 181 Einwohner / km² Migrantenanteil – 20,4 Prozent Durchschnittsalter – 43,4 Jahre Haushaltsnettoeinkommen – 3.009 Euro / Monat Berlin Die allzu positiven Wachstumsszenarien haben sich in den 1990er Jahren nicht nur in den Neuen Bundesländern nicht bewahrheitet, sie haben auch in der Hauptstadt Erwartungen geweckt, die nicht erfüllt wurden. Seit 2005 hat sich eine Trendwende vollzogen. Berlin wächst wieder, zieht vermehrt Zuwanderer aus dem In- und Ausland und immer mehr Touristen an. Die Stadt ist dennoch weiterhin auf Transferzahlungen des Bundes und der finanzstarken Länder angewiesen, was insbesondere an der nahezu vollständig fehlenden Produktivwirtschaft liegt. Berlin, das sich so gern mit Paris oder London vergleicht, erreicht gerade einmal das wirtschaftliche Niveau von Warschau oder Budapest.3 Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf liegt bei der Hälfte Hamburgs. Als einziges Bundesland verzeichnete Berlin in den vergangenen Jahren gleichzeitig Wanderungsgewinne und einen leichten Geburtenüberschuss. Damit hat die demografische Entwicklung eine überraschende Wendung genommen. Mittelfristig ist mit einem leichten Wachstum zu rechnen. Der Migrantenanteil in Berlin liegt im Durchschnitt der deutschen Großstädte. Hinsichtlich der Integration stellen sich jedoch besondere Herausforderungen. Derzeit fangen in Berlin nur halb so viele Migrantenkinder eine Lehre an wie im bundesweiten Schnitt. Zudem sind die Migranten in der Hauptstadt stärker von öffentlichen Hilfen abhängig als in anderen Städten. Dies gilt allerdings gelichermaßen für die deutschstämmigen Berliner. aktuell recht positiven Entwicklung in der Hauptstadt. Vier der 20 deutschen Landkreise mit den höchsten Wanderungsgewinnen haben einen Anteil am Speckgürtel Berlins. Doch auch sechs der 20 Landkreise mit den stärksten Wanderungsverlusten liegen in Brandenburg. Je weiter man sich von Berlin entfernt, desto mehr ähnelt die demografische Struktur den umliegenden ostdeutschen Bundesländern. In den peripheren Gebieten Brandenburgs sind Jugendarbeitslosigkeit und Schulabbrüche besonders stark ausgeprägt. Auch beim Migrantenanteil zeigt sich eine starke Verschiebung vom vergleichsweise bunten Berliner Umland hin zu peripheren Regionen mit einer nahezu ausschließlich deutschstämmigen Bevölkerung. Einwohner 2015 – 2,465 Mio. Einwohner 2025 – 2,339 Mio. Fertilitätsrate – 1,55 Kinder pro Frau Bevölkerungsdichte – 83 Einwohner / km² Migrantenanteil – 5,2 Prozent Durchschnittsalter – 47,9 Jahre Haushaltsnettoeinkommen – 2.298 Euro / Monat Bremen Die Doppelstadt steht unter den Metropolregionen Deutschlands nicht sonderlich gut da. Jeder fünfte Bremer unter 65 Jahren bekommt Hilfe zum Lebensunterhalt oder lebt von Hartz IV. Und nicht nur die Bewohner sind arm – auch das Bundesland selbst ist finanziell am Ende. Bremen und Bremerhaven haben mit dem Niedergang der Werftindustrie zu kämpfen. Verschärft wird die prekäre Finanzlage durch den Umstand, dass viele Menschen zwar in der Freien Hansestadt arbeiten, aber im niedersächsischen Umland wohnen und dort ihre Steuern zahlen. Bremen weist den höchsten Migrantenanteil aller Bundesländer auf, im Vergleich der deutschen Metropolen liegt die Stadt aber eher im Mittelfeld. Einwohner 2015 – 3,490 Mio. Einwohner 2025 – 3,810 Mio. Fertilitätsrate – 1,46 Kinder pro Frau Bevölkerungsdichte – 3.914 Einwohner / km² Migrantenanteil – 27,8 Prozent Durchschnittsalter – 42,9 Jahre Haushaltsnettoeinkommen – 2.421 Euro / Monat Einwohner 2015 – 0,664 Mio. Einwohner 2025 – 0,658 Mio. Fertilitätsrate – 1,46 Kinder pro Frau Bevölkerungsdichte – 1.582 Einwohner / km² Migrantenanteil – 28,6 Prozent Durchschnittsalter – 44 Jahre Haushaltsnettoeinkommen – 2.341 Euro / Monat Brandenburg Hamburg Das Land an Elbe, Havel, Spree und Oder zeigt eine äußerst disparate Entwicklung. Die Gemeinden rund um Berlin profitieren enorm von der Der Stadtstaat Hamburg wird als einer der großen urbanen Räume weiter vom demografischen Wandel profitieren. Die Gewinne UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 INSPIRATIONEN/INFORMATIONEN Statistik sind jedoch ausschließlich der Zuwanderung zuzurechnen, denn in Hamburg werden mit 1,41 Kindern pro Frau mit die wenigsten Kinder geboren. Wirtschaftsleistung, Arbeitsplätze und Kaufkraft sind deutlich überdurchschnittlich. Hinsichtlich Pro- Kopf-Einkommen und Bruttoinlandsprodukt liegt Hamburg mit an der Spitze der deutschen Metropolen. Sozial ist Hamburg gespalten. Die Spreizung zwischen arm und reich ist größer als in jedem anderen Bundesland. In der Stadt wohnen überdurchschnittlich viele sozial Abgehängte und schlecht integrierte Migranten. Einwohner 2015 – 1,770 Mio. Einwohner 2025 – 1,823 Mio. Fertilitätsrate – 1,41 Kinder pro Frau Bevölkerungsdichte – 2.331 Einwohner / km² Migrantenanteil – 28,2 Prozent Durchschnittsalter – 42,4 Jahre Haushaltsnettoeinkommen – 2.677 Euro / Monat Hessen Hessen ist nicht nur geographisch, sondern auch wirtschaftlich und logistisch das Zentrum Deutschlands. In und um Frankfurt am Main liegen Deutschlands wichtigste Börse, das Bankenzentrum und der größte Flughafen. Unter anderem deshalb wird in Hessen nach den Stadtstaaten Hamburg und Bremen das höchste Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf erwirtschaftet. Doch diese Zahlen gelten nicht für das gesamte Bundesland. Hessen teilt sich wirtschaftlich und demografisch in drei sehr unterschiedliche Zonen – den boomenden Süden, die einigermaßen stabile Mitte und den schwächelnden Norden. Kein westdeutsches Flächenland ist derart eindeutig in unterschiedlich prosperierende Regionen geteilt. Besonders stark ist der Einwohnerrückgang im Norden des Bundeslandes. Das liegt zum einen an der geringen Geburtenrate und zum anderen an einer signifikanten Abwanderung. Unterm Strich erweist sich Hessen nur deshalb als demografisch stabil, weil der Süden die Gesamtwerte nach oben zieht. Hessen ist das Flächenland mit dem höchsten Migrantenanteil. Die Stadt Frankfurt am Main liegt bei den deutschen Metropolen ganz vorn. Die Integrationswerte sind sehr unterschiedlich. Während Frankfurt am Main überdurchschnittlich stark von Qualifikation und Erwerbstätigkeit profitieren kann, finden sich im benachbarten Offenbach am Main überdurchschnittliche viele Migranten mit geringer oder gar keiner Qualifikation. Die Erwerbsquote ist entsprechend gering. Einwohner 2015 – 6,094 Mio. Einwohner 2025 – 5,946 Mio. Fertilitätsrate – 1,46 Kinder pro Frau Bevölkerungsdichte – 289 Einwohner / km² Migrantenanteil – 27,6 Prozent Durchschnittsalter – 43,9 Jahre Haushaltsnettoeinkommen – 2.942 Euro / Monat Einwohner 2015 – 7,861 Mio. Einwohner 2025 – 7,648 Mio. Fertilitätsrate – 1,53 Kinder pro Frau Bevölkerungsdichte – 165 Einwohner / km² Migrantenanteil – 17,4 Prozent Durchschnittsalter – 43,4 Jahre Haushaltsnettoeinkommen – 2.606 Euro / Monat Mecklenburg-Vorpommern Nordrhein-Westfalen Mecklenburg-Vorpommern ist das Land mit der geringsten Bevölkerungsdichte. Auch die Industriedichte ist außerordentlich gering und die Wirtschaftsstruktur vor allem agrarisch oder touristisch geprägt. Die Abwanderung nach der Deutschen Einheit wirkte sich demografisch auch deshalb so verheerend aus, weil vor allem junge Frauen das Land verließen. Nach der Wende lebte in Mecklenburg-Vorpommern die jüngste Bevölkerung Deutschlands. Dies hat sich bis heute grundlegend gewandelt. Vor allem in den Regionen jenseits der Küste und abseits der Universitätsstädte sind die Aussichten trübe. Beim Pro-Kopf-Einkommen liegt Mecklenburg-Vorpommern auf dem letzten Rang. Das Bildungsniveau ist schlechter als in den anderen ostdeutschen Bundesländern und die Quote der Transferempfänger entsprechend hoch. Die Ostseeküste weist nahezu bei allen Parametern deutlich bessere Werte auf als das Binnenland. Das hinsichtlich der Einwohnerzahl mit deutlichem Abstand größte Bundesland steckt seit Jahrzehnten in einem tiefgreifenden Strukturwandel. Vor allem den Städten und Gemeinden des Ruhrgebietes gelingt es immer weniger, ausgeglichene Finanzierungskonzepte aufzustellen. Im Rheinland oder rund um die Universitätsstadt Münster sind die Rahmenbedingungen weniger herausfordernd. Auch demografisch ist die Lage im Bundesland sehr unterschiedlich. Im Ruhrgebiet zeigt sich eine grassierende Abwanderung, während es den meisten anderen Regionen deutlich besser geht. Köln-Bonn-Düsseldorf, die Städteregion Aachen sowie das überwiegend katholische Ostwestfalen mit seinen vergleichsweise hohen Geburtenraten konnten in den vergangenen Jahren mit ihren Zuwächsen die Bevölkerung des Landes gerade noch stabil halten. Doch in naher Zukunft wird auch Nordrhein-Westfalen deutlich schrumpfen. Für die Rheinschiene zwischen Bonn und Düsseldorf lassen sich recht positive Entwicklungen erwarten. Hier finden sich die höchste Unternehmensdichte und ein vergleichsweise hohes Pro-Kopf-Einkommen. Der wirtschaftliche Schwerpunkt des Landes hat sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten vom Ruhrgebiet hierher verlagert. Hinsichtlich des Migrantenanteils liegt Nordrhein-Westfalen im Schnitt der westdeutschen Flächenländer. Insbesondere im Ruhrgebiet zeigen sich erhebliche Integrationsprobleme. Die Erwerbsquote, die Bildungsabschlüsse und auch die Kriminalitätsraten von Migranten sind deutlich schlechter als in anderen Regionen des Landes und bundesweit. Einwohner 2015 – 1,601 Mio. Einwohner 2025 – 1,490 Mio. Fertilitätsrate – 1,49 Kinder pro Frau Bevölkerungsdichte – 69 Einwohner / km² Migrantenanteil – 4,3 Prozent Durchschnittsalter – 45 Jahre Haushaltsnettoeinkommen – 2.140 Euro / Monat Niedersachsen Niedersachsen ist demografisch und wirtschaftlich gespalten. Während sich im Westen eine wirtschaftlich erfolgreiche Agrarindustrie entwickelt hat, sieht es im Osten düster aus. Von den 20 deutschen Kreisen mit den höchsten Geburtenraten liegen acht in Niedersachsen, und zwar vor allem im westlichen Teil. Auch das Umland von Hamburg prosperiert – in Landkreisen wie Stade, Lüneburg und Harburg findet sich das landesweit höchste Haushaltseinkommen. Im Südosten Niedersachsens hingegen ist die Bevölkerung stark gealtert. In der Summe gleichen sich diese beiden Extreme aus. Ob bei Demografie-, Bildungs- oder Wirtschaftsindikatoren – Niedersachsen ist fast überall Durchschnitt. UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 Einwohner 2015 – 17,683 Mio. Einwohner 2025 – 17,030 Mio. Fertilitätsrate – 1,49 Kinder pro Frau Bevölkerungsdichte – 518 Einwohner / km² Migrantenanteil – 24,8 Prozent Durchschnittsalter – 43,2 Jahre Haushaltsnettoeinkommen – 2.704 Euro / Monat 47 Statistik Zahl der Unter20jährigen dürfte sich im Saarland binnen 50 Jahren fast halbieren. Einwohner 2015 – 0,989 Mio. Einwohner 2025 – 0,932 Mio. Fertilitätsrate – 1,35 Kinder pro Frau Bevölkerungsdichte – 385 Einwohner / km² Migrantenanteil – 17,6 Prozent Durchschnittsalter – 44,8 Jahre Haushaltsnettoeinkommen – 2.548 Euro / Monat Sachsen Hoyerswerda im Freistaat Sachsen hat seit 1990 mehr als die Hälfte seiner Einwohnerzahl verloren. Rheinland-Pfalz Rheinland-Pfalz wird mittelfristig Einwohner verlieren. Insbesondere die ländlichen Regionen am Rande des Saarlandes und an der luxemburgischen Grenze sind überdurchschnittlich von Abwanderung und Geburtenrückgang betroffen. Die Wachstumsregionen liegen entlang des Rheins. Die besten Aussichten haben die Landeshauptstadt Mainz bzw. deren Umland. Rheinland-Pfalz hat eine der niedrigsten Arbeitslosenraten bundesweit. Doch dies liegt insbesondere an den hohen Pendlerquoten vor allem in Richtung Frankfurt am Main, aber auch nach Luxemburg. Hinsichtlich der Fertilität gruppiert sich Rheinland-Pfalz im Mittelfeld der Bundesländer. Der Migrantenanteil ist ebenfalls durchschnittlich. Ähnlich wie in anderen Ländern zeigt sich eine heterogene Verteilung mit einer Konzentration in den Großstädten entlang des Rheins und einer eher homogen deutschstämmigen Bevölkerung in den ländlich geprägten Regionen des Westens. Motor des Wirtschaftswunders, hat sich in den vergangenen Jahrzehnten ein massiver Strukturwandel vollzogen. Das Saarland leidet unter einer niedrigen Beschäftigungsquote und geringer Wirtschaftsleistung. Die Region ist mit dem nahen Luxemburg und Rhein-Main zudem von wirtschaftlich prosperierenden Nachbarn umgeben. Seit den 1990er Jahren geht die Einwohnerzahl des Saarlandes kontinuierlich zurück. Die Abwanderung hält an und neben Hamburg weist das Saarland die niedrigste Fertilitätsrate bundesweit auf. Nach aktuellen Prognosen verliert das Saarland bis zum Jahr 2030 rund ein Zehntel seiner Einwohner. Der Rückgang betrifft vor allem die Jüngeren und die Gruppe im Erwerbsalter zwischen 20 und 64 Jahren. Die Zusammen mit SachsenAnhalt ist Sachsen das Land mit dem höchsten Durchschnittsalter. Insbesondere in den ehemaligen Industrieregionen im Erzgebirgsvorland und in der Oberlausitz haben die wirtschaftlichen Krisen der 1990er Jahre zu einer grassierenden Abwanderung und zu einer außerordentlich geringen Geburtenrate geführt. Allein Leipzig und Dresden zeigen einen stabilen Bevölkerungstrend, können sich aber nur auf Kosten ihres Umlands von der Schrumpfung ausnehmen. Die ehemals kreisfreie Stadt Hoyerswerda weist unter allen deutschen Städten den stärksten Bevölkerungsrückgang auf. Hier hat sich seit der Deutschen Einheit die Einwohnerzahl mehr als halbiert. Sachsenweit ist mittel- und langfristig mit einer weiter anhaltenden Schrumpfung zu rechnen. Daran wird auch die derzeit überdurchschnittliche Geburtenrate nichts ändern. Der Rückgang wird in Sachsen jedoch weniger gravierend ausfallen, als in den anderen Neuen Bundesländern. Einwohner 2015 – 4,018 Mio. Einwohner 2025 – 3,883 Mio. Fertilitätsrate – 1,47 Kinder pro Frau Bevölkerungsdichte – 202 Einwohner / km² Migrantenanteil – 20,3 Prozent Durchschnittsalter – 43,6 Jahre Haushaltsnettoeinkommen – 2.765 Euro / Monat Saarland Das kleine Saarland ist die demografisch problematischste Region der Alten Bundesländer. Mit Bergbau und Schwerindustrie einst ein 48 Die Landeshauptstadt München hat im gleichen Zeitraum mehr als 200.000 Einwohner hinzugewonnen. UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 INSPIRATIONEN/INFORMATIONEN Statistik Der Migrantenanteil liegt leicht über dem ostdeutschen Schnitt bei 5,1 Prozent. Dresden ist unter den 20 größten deutschen Metropolen diejenige mit dem geringsten Migrantenanteil. Einwohner 2015 – 4,056 Mio. Einwohner 2025 – 3,857 Mio. Fertilitätsrate – 1,58 Kinder pro Frau Bevölkerungsdichte – 220 Einwohner / km² Migrantenanteil – 5,1 Prozent Durchschnittsalter – 46,3 Jahre Haushaltsnettoeinkommen – 2.177 Euro / Monat Sachsen-Anhalt Sachsen- Anhalt hat zwischen 1990 und heute fast ein Viertel seiner Einwohner verloren. In keinem anderen Bundesland und keiner anderen europäischen Region war der Schwund größer. Insbesondere die ehemaligen Industrieregionen im Süden des Landes haben unter einem gravierenden Strukturwandel zu leiden. Jedes Jahr gibt es in Sachsen-Anhalt etwa 13.000 mehr Sterbefälle als Kinder neu geboren werden. Da SachsenAnhalt noch immer ein Abwanderungsland ist und trotz der aktuellen Flüchtlingskrise kaum mit Zuwanderern gerechnet werden kann, werden sich die dramatischen Zahlen in die Zukunft fortschreiben. Im Vergleich zum Wendejahr 1989wird sich Sachsen-Anhalt bis 2050 – also in nur 60 Jahren – mehr als halbiert haben. Das vollständige Fehlen von Wachstumsregionen ist selbst für Ostdeutschland ungewöhnlich. Einzig die Landeshauptstadt Magdeburg hat den massiven Rückgang der 1990er Jahre nach Beginn des neuen Jahrtausends zumindest aufhalten können. Wenig Hoffnung machen die allgemeinen Strukturdaten. Hinsichtlich Produktivität, Erwerbsquote, Kaufkraft oder Bruttowertschöpfung liegt Sachsen-Anhalt jeweils auf einem der beiden letzten Plätze. Einwohner 2015 – 2,231 Mio. Einwohner 2025 – 2,008 Mio. Fertilitätsrate – 1,5 Kinder pro Frau Bevölkerungsdichte – 109 Einwohner / km² Migrantenanteil – 4,4 Prozent Durchschnittsalter – 46,9 Jahre Haushaltsnettoeinkommen – 2.190 Euro / Monat Schleswig-Holstein Während das Hamburger Umland von der Anziehungskraft der Hansestadt profitiert und auch künftig demografisch wachsen dürfte, verlieren Städte wie Kiel, Neumünster oder Lübeck Einwohner. Die Hafen- und Militärstandorte haben nach wie vor Probleme mit dem Strukturwandel. Touristisch reizvolle Gebiete an den Küsten können stabile Bevölkerungszahlen erwarten. Insgesamt gehört das Land zwischen zwei Meeren zu den strukturschwächeren im AltBundesgebiet. Im Hinblick auf wichtige Strukturdaten wie Wertschöpfung, Industriedichte und Kaufkraft liegt Schleswig-Holstein zusammen mit dem Saarland auf den letzten Rängen. Daher kann das Land auch keine nennenswerte Attraktivität für Migranten entfalten. Mit einem Anteil von lediglich 12,7 Prozent ist SchleswigHolstein das Alt-Bundesland mit dem niedrigsten Migrantenanteil. Der demografische Wandel in Deutschland hat bereits im 19. Jahrhundert begonnen. Zwischen 1870 und 1905 sank die Geburtenrate von annähernd fünf auf lediglich zwei Kinder pro Frau und damit unter das Reproduktionsniveau. Auf diesem langfristigen Pfad befinden wir uns noch heute. Und nicht nur wir, sondern auch viele unserer Nachbarn. Angesichts auch international sinkender Geburtenraten verschmälert sich zunehmend das Potential, Defizite bei der Fertilität durch Zuwanderung ausgleichen zu können. Die Wirksamkeit familienpolitischer Maßnahmen lässt sich nur schwer nachweisen, in jedem Fall werden Erhöhungen des Kindergeldes oder die Intensivierung der öffentlichen Kinderbetreuung nicht ausreichen, um die demografische Trendwende einzuleiten. Es bleibt also nichts anderes übrig, als sich auf eine kontinuierliche Schrumpfung einzustellen, sich daran anzupassen und ansonsten ein familienfreundliches Umfeld zu kreieren. Regionale Unterschiede werden sich vertiefen. Die Politik ist gefragt, die Mitte zu finden zwischen dem Erhalt des ländlichen Raums und der Stärkung urbaner Zentren. Falk Schäfer UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 Einwohner 2015 – 2,841 Mio. Einwohner 2025 – 2,789 Mio. Fertilitätsrate – 1,48 Kinder pro Frau Bevölkerungsdichte – 180 Einwohner / km² Migrantenanteil – 12,7 Prozent Durchschnittsalter – 43,8 Jahre Haushaltsnettoeinkommen – 2.732 Euro / Monat Thüringen Wie alle ostdeutschen Bundesländer hatte auch Thüringen nach der Wende mit einem enormen Strukturwandel zu kämpfen. Dass die Erwerbsquote im Freistaat etwas höher ist, als in den anderen Neuen Bundesländern liegt eher an der zentralen Lage und der hohen Zahl von Pendlern in Richtung Bayern, Hessen und Niedersachsen. Für ihre Arbeit werden die Thüringer unterdurchschnittlich bezahlt. Nirgendwo sonst werden derart niedrige Einkommen erzielt. Demografisch zeigen sich innerhalb Thüringens sehr unterschiedliche Entwicklungen. Die zentralen Glieder der Thüringer Städtekette – Erfurt, Weimar und Jena – können sogar Zuwächse vorweisen. Ein ganz anderes Bild bietet sich in den östlichen Gliedern Gera und Altenburg. Diese Städte und ihr Umland gehören zu den deutschlandweit am stärksten schrumpfenden Regionen. Gleiches gilt für die ehemalige Bezirksstadt Suhl und das umgebende Südthüringen. Eine in Bezug auf Thüringen durchschnittliche Entwicklung zeigt sich im Westen und im Norden des Freistaates. Mittelfristig wird auch die derzeit über dem bundesweiten Mittel liegende Geburtenrate nichts daran ändern können, dass der Freistaat auch weiterhin zu den am stärksten schrumpfenden Regionen der Bundesrepublik gehören wird. Einwohner 2015 – 2,155 Mio. Einwohner 2025 – 1,942 Mio. Fertilitätsrate – 1,55 Kinder pro Frau Bevölkerungsdichte – 133 Einwohner / km² Migrantenanteil – 4,3 Prozent Durchschnittsalter – 46,4 Jahre Haushaltsnettoeinkommen – 2.204 Euro / Monat n i infos www.berlin-institut.org www.ifad-berlin.de www.bpb.de www.destatis.de 1 Bundesministerium für Bildung und Forschung: Berufsbildungsbericht 2010. Bonn 2010. 2 ebd. 3 Europäische Kommission: Eurostat Datenbank. Luxemburg 2010. 49 Blick über den Gartenzaun Politik, Verwaltung und kommunale Kompetenzen in der Schweizerischen Eidgenossenschaft Ein ganz normaler Staat inmitten Europas? Aus unserer Serie „Blick über den Gartenzaun“ U nser südwestlicher Nachbar gilt in fast jeder Hinsicht als Sonderfall. Wir teilen zwar eine lange Grenze und mit annähernd drei Vierteln der Schweizer auch dieselbe Sprache, doch kulturell und politisch muten uns einige Gepflogenheiten geradezu exotisch an. Die Schweiz ist eine Insel inmitten der Europäischen Union. Als solche pflegt sie eine Vielzahl von politischen Traditionen, die manchmal Bewunderung, manchmal Verärgerung hervorrufen, in jedem Fall jedoch prägnante Identifikationsmerkmale darstellen. Da wurde die immerwährende Neutralität derart strikt ausgelegt, dass die Schweiz erst nach der Jahrtausendwende den Vereinten Nationen beigetreten ist und bis heute keinen Interessengemeinschaften von Staaten angehört. Da lockt das Bankgeheimnis Milliarden unversteuerter deutscher Euros in die kleine Alpenrepublik zwischen Genfer und Bodensee. Da werden die Bürger zu jeder wesentlichen Kontroverse befragt und können auch aus eigener Initiative heraus – siehe Minarettverbot – Aufsehen erregende gesellschaftliche Weichenstellungen herbeiführen. Da wird in einem äußerst komplexen politischen Ausgleichsystem selbst gebildeten Europäern kaum klar, wer welche Einflüsse geltend machen kann. Da existiert auf engstem Raum eine europaweit einzigartige Mischung aus Konfessionen, Sprachen, Traditionen und Kulturen. Und da verfügen selbst kleinste politische Einheiten über derart weitreichende Kompetenzen, dass sie als souveräne Völkerrechtssubjekte angesehen werden können. Trotz dieser Besonderheiten zeigen sich aber auch in der Schweiz die gleichen kulturellen Leitlinien, die gleichen Zwänge und ähnliche Herausforderungen, wie auch in anderen Ländern Mitteleuropas. Lesen Sie im Folgenden einen Beitrag aus unserer Rubrik „Blick über den Gartenzaun“ – zum komplexen politischen System der Schweiz, zum Kompetenzverhältnis zwischen Zentrale, föderalen Gliedstaaten und den Kommunen und zu der Frage, ob die Schweiz tatsächlich solch ein Exot innerhalb der europäischen Staatenfamilie ist, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Das Territorium der heutigen Schweiz war seit der Ausformung der europäischen Zivilisationen ein Bindeglied zwischen den zentraleuropäischen Ebenen und den Regionen der Mittelmeerküste. Im 1. Jahrhundert wurde das Gebiet durch die Truppen Julius Cäsars unterworfen und somit integraler Bestandteil des Römischen Reiches. Nach dem Einfall der Goten ins Weströmische Reich zogen sich alle römischen Truppen zum Schutz Italiens aus den Gebieten nördlich der Alpen zurück. Die Herrschaft über die Westschweiz ging an das Reich der Burgunder, die Zentral- und Ostschweiz wurde von den Alemannen kontrolliert und besiedelt. Während sich in der Westschweiz weiter lateinische Dialekte hielten, übernahm die romanische Bevölkerung der Ost- und der Zentralschweiz die alemannische Sprache. Nach kurzer Unabhängigkeit wurden die Reiche der Burgunder und der Alemannen im 6. Jahrhundert in das Fränkische Reich Gemäß der Legende schlossen Vertreter der Landstädte Uri, Schwyz und Unterwalden auf dem Rütli, einer Wiese am Vierwaldstättersee, per Eid einen Bund gegen die tyrannischen Vögte der Habsburger. Dies mündete in einen offenen Aufstand und führte mittelbar zur Entstehung der Alten Eidgenossenschaft. 50 UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 INSPIRATIONEN/INFORMATIONEN Blick über den Gartenzaun eingegliedert. In dieser Zeit ist das gesamte Gebiet der heutigen Schweiz vollständig christianisiert worden. Mit der Teilung des Frankenreiches unter den drei Enkeln Karls des Großen kam die Westschweiz zuerst zu Lotharingen und später zum Königreich Burgund. Die Ostschweiz gehörte von Beginn an zum Ostfrankenreich. Mit der Übernahme Burgunds durch die Ottonen kam schließlich das gesamte Gebiet der heutigen Schweiz zum Ostfrankenreich bzw. zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Für die deutschen Kaiser waren die Alpenpässe von zentraler Bedeutung – für die Kontrolle Italiens und speziell für die Romzüge anlässlich der Kaiserkrönungen. Daher wurden umfangreiche Gebiete im Alpenraum zu Reichsgütern deklariert, die unmittelbar von der Kaiserkrone verwaltet wurden. Das Aussterben mächtiger Adelsgeschlechter sowie die Auseinandersetzungen zwischen Kaiser und Papst begünstigten im 13. Jahrhundert die Verselbstständigung der wichtigeren Städte und Talschaften der Schweiz. 1218 wurden Zürich, Bern, Freiburg und Schaffhausen zu Reichsstädten. Auch Uri (1231) und Schwyz (1240) erhielten das Privileg der Reichsunmittelbarkeit. Diese Städte und Landschaften unterstanden unmittelbar dem Kaiser und waren von der lokalen Herrschaftsgewalt ausgenommen. Die drei Waldstädte Uri, Schwyz und Unterwalden bilden den Kern der Alten Eidgenossenschaft. 1291 erneuerten sie ein älteres Bündnis. Dieser sogenannte Bundesbrief wird heute mythologisch als Gründung der Alten Eidgenossenschaft verstanden. 1309 bestätigte König Heinrich VII. die Reichsunmittelbarkeit von Uri und Schwyz und bezog nun auch Unterwalden ein. Das Kernbündnis in der heutigen Innerschweiz erweiterte sich schrittweise um weitere Partner; insbesondere die Einbeziehung der Reichsstädte Zürich und Bern trug wesentlich zur machtpolitischen Festigung und territorialen Erweiterung bei. Die expansionistische Politik der Stadt Bern führte die nur lose zusammengefügte Eidgenossenschaft 1315 in eine erste Konfrontation auf europäischer Ebene. Die Burgunderkriege endeten mit einem aufsehenerregenden Sieg und begründeten den guten Ruf der Schweizer Söldner. Die Eidgenossenschaft konsolidierte sich und wurde zur vorherrschenden Macht im süddeutschen Raum. Im Frieden zu Basel musste der deutsche König Maximilian I. die faktische Selbständigkeit anerkennen. De jure blieb die Zugehörigkeit der Eidgenossen zum Reich aber bis 1648 bestehen. Durch die Reformation wurde die Eidgenossenschaft langfristig stark geschwächt. Die konfessionelle und politische Spaltung wurde 1586 durch den Goldenen Bund der sieben katholischen Kantone besiegelt. In den Hugenottenkriegen in Frankreich kämpften die Eidgenossen je nach Konfession in unterschiedlichen Lagern. Während des Dreißigjährigen Krieges jedoch blieb die Schweiz als Ganzes Graubünden – hier eine Ansicht aus dem Engadin – ist der flächenmäßig größte Kanton der Schweiz. neutral. Jede Parteinahme hätte den Bürgerkrieg und damit das Ende des Bundes bedeutet. Im Westfälischen Frieden von 1648 erreichten die Schweizer Kantone ihre Exemtion, waren damit nicht mehr Kaiser und Reich unterstellt. Diese Entscheidung wurde allgemein als Ausgliederung aus dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation verstanden und überwiegend als Anerkennung der völkerrechtlichen Souveränität. Seither verkehrten die eidgenössischen Orte als souveräne Subjekte auf Augenhöhe mit anderen europäischen Staaten. Konsolidierung und Staatswerdung Im 18. Jahrhundert brachen sich auch in der Schweiz starke absolutistische Tendenzen Bahn. Die Macht übten in der Regel alteingesessene Familien oder die Zünfte aus. 1798 wurde die Alte Eidgenossenschaft von napoleonischen Truppen besetzt. Unter deren Hoheit und nach französischem Vorbild sind die bisher selbstständigen Kantone zu simplen Verwaltungseinheiten degradiert worden. Mit der Helvetischen Republik entstand also ein zentralistischer Einheitsstaat. 1802 kam es nach dem Abzug der französischen Truppen zu einem kurzen Bürgerkrieg zwischen Zentralisten und Föderalisten, der unter Mediation Napoleons in einem Kompromissfrieden endete. Die Schweizerische Eidgenossenschaft zählte nunmehr 18 Kantone. Zu den 13 alten kamen die fünf neuen Kantone St. Gallen, Aargau, Thurgau, Tessin und Waadt. Im Dezember 1813 löste sich das von Napoleon geschaffene schweizerische Staatswesen unter dem Druck der innenpolitischen Gegenrevolution und der anrückenden Truppen der sechsten Koalition wieder auf. Die Schweiz stand zur Zeit des Wiener Kongresses kurz vor einem Bürgerkrieg und erst unter äußerem Druck rückten die nur noch lose im Bundesverein von 1813 organisierten Kantone UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 enger zusammen. Mit den neu dazu stoßenden Kantonen Genf, Wallis und Neuchatel waren nunmehr 22 Kantone im eidgenössischen Staatenbund miteinander verschmolzen. Die bis heute bestehenden inneren und äußeren Grenzen der Schweiz sind seit den Entscheidungen des Wiener Kongresses weitgehend unverändert geblieben. Um das strategisch wichtige Alpengebiet aus dem Einflussbereich Frankreichs zu lösen, verordneten die Großmächte im Zweiten Pariser Frieden der Schweiz die „immerwährende bewaffnete Neutralität“. Im Innern wurde 1815 der Bundesvertrag geschlossen und die Wehr-, Münz- sowie Zollhoheit wieder den Kantonen übertragen. Mit der liberalen „Regeneration“ von 1830/31 mussten die aristokratischen Vorherrschaften endgültig weichen und wurden durch demokratische Systeme ersetzt. Die fortwährende Polarisierung zwischen liberalen und konservativen Kantonen führte 1847 in den Sonderbundskrieg, der nach dem Sieg der Liberalen die Verfassungsstruktur der Schweiz wesentlich veränderte. So wurde der Weg frei für eine Zentralisierung und Liberalisierung des bisherigen lockeren Staatenbundes zu einem einheitlicheren und strafferen parlamentarischen Bundesstaat mit föderaler Grundstruktur. Die neue schweizerische Bundesverfassung trat im September 1848 in Kraft. Die Vereinheitlichung von Maß- und Münzwesen sowie die Abschaffung der Binnenzölle kreierten einen zusammenhängenden Wirtschaftsraum. Ab 1863 kämpfte eine „Demokratische Bewegung“ für den Übergang von der repräsentativen zur direkten Demokratie und für wirtschaftlich-soziale Reformen. Schrittweise erstritten die Demokraten Verfassungsrevisionen in den Kantonen. Diese hatten etwa in Zürich die Einführung der Volksinitiative, des obligatorischen Gesetzesreferendums sowie die Volkswahl der Regierung zum Inhalt. 1874 wurde 51 Blick über den Gartenzaun auch die Bundesverfassung im Sinne der Demokraten revidiert. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts weichten sich die traditionellen Konfliktlinien zwischen Liberalen und Konservativen durch das Aufkommen der Arbeiterbewegung zunehmend auf. 1888 schlossen sich kantonale Arbeiterparteien zur Sozialistischen Partei (SP), der heutigen Sozialdemokratischen Partei, zusammen. Nur wenige Jahre später vereinigten sich auch die konservativen und liberal-demokratischen Bewegungen auf nationaler Ebene in Parteien. Neutrale Insel im Weltenbrand Während des Ersten Weltkriegs bewahrte die Schweiz die bewaffnete Neutralität. Obwohl französische und italienische Pläne bestanden, die Mittelmächte mittels Durchmarsch durch die Schweiz zu attackieren, blieb das Land von militärischen Übergriffen verschont. Noch gefährlicher für das Fortbestehen der Schweiz war die politische und kulturelle Spaltung entlang der Konfliktlinien zwischen deutsch und welsch bzw. bürgerlich und sozialistisch. Teile der deutschschweizer Bevölkerung sympathisierten mit den Mittelmächten, während in der Westschweiz Frankreich unterstützt wurde. Nach dem Ende des Krieges versuchte das österreichische Vorarlberg, einen Anschluss an die Schweiz zu erreichen. In den Pariser Vorortverträgen wurde die Neutralität der Schweiz erneut bestätigt, Vorarlberg aber definitiv Österreich zugeteilt. 1920 trat die Schweiz nach einer Volksabstimmung dem Völkerbund bei, der seinen Sitz in Genf hatte. Damit begann eine Phase der differenzierten Neutralität, die zwar an wirtschaftlichen, nicht aber an militärischen Sanktionen des Völkerbundes teilnahm. Im Oktober 1919 wurde der Nationalrat erstmals im Proporzwahlrecht bestimmt, was ein Ende der Dominanz der Liberalen und einen starken Aufschwung für die Sozialisten bedeutete. Grundsätzlich war die Zwischenkriegszeit gekennzeichnet durch einen Antagonismus zwischen Sozialisten und bürgerlichen Parteien. Auch die Schweiz geriet in den frühen 1930er in den Sog der Weltwirtschaftskrise, was erheblich zur Entstehung einer rechtsbürgerlichen antimarxistischen nationalen Bewegung beitrug. Angesichts dieser faschistisch-nationalsozialistischen Bedrohung kamen sich Sozialisten und bürgerliche Parteien wieder näher. Nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich kehrte die Schweiz zurück zur integralen Neutralität. Unter dem Eindruck der deutschen Expansion bekräftigten Schweizer Politiker, Gelehrte und Militärs den geistigen und militärischen Widerstands- und Selbstbehauptungswillen. Mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs berief sich die Schweiz erneut auf die bewaffnete Neutralität und ordnete die allgemeine Mobilmachung an. Das Parlament gewährte dem Bundesrat unter Berufung auf den Staatsnotstand umfassende Vollmachten, die erst nachträglich von der Legislative bewilligt werden mussten. Nach der völligen Einkreisung der Schweiz durch die Achsenmächte schloss der Bundesrat notgedrungen mit Deutschland ein Wirtschaftsabkommen. Die Schweiz musste dem Deutschen Reich Kredite im Umfang von einer Milliarde Franken gewähren. Im März 1945 einigten sich die Schweiz und die Alliierten im Currie-Abkommen auf ein Ende der Ausfuhren nach Deutschland und eine teilweise Auslieferung deutscher Vermögenswerte. Von kriegerischen Aktivitäten blieb die Schweiz weitgehend verschont. Doch während des Krieges suchten etwa 300.000 Flüchtlinge Schutz in der Schweiz. Angesichts der prekären Versorgungslage war deren Die Kantone der Schweiz 52 UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 INSPIRATIONEN/INFORMATIONEN Blick über den Gartenzaun Liste der Kantone der Schweizerischen Eidgenossenschaft Kanton StandesBeitritt stimme Hauptort Einwohner Fläche in km² Bev.-dichte Einw./km² Amtssprache Zürich 1 1351 Zürich 1.446.354 1.729 837 Deutsch Bern 1 1353 Bern 1.009.418 5.959 169 Deutsch Waadt 1 1803 Lausanne 761.446 3.212 237 Französisch Aargau 1 1803 Aarau 653.317 1.404 465 Deutsch St. Gallen 1 1803 St. Gallen 495.824 2.026 245 Deutsch Genf 1 1815 Genf 477.385 282 1.693 Luzern 1 1332 Luzern 394.604 1.493 264 Tessin 1 1803 Bellinzona 350.363 2.812 125 Wallis 1 1815 Sitten 331.763 5.224 64 Französisch, Deutsch Fribourg 1 1481 Fribourg 303.377 1.671 182 Französisch, Deutsch Basel Landschaft ½ 1501 Liestal 281.301 518 543 Deutsch Thurgau 1 1803 Frauenfeld 263.733 991 266 Deutsch Deutsch Solothurn 1 1481 Solothurn 263.719 791 333 Basel-Stadt ½ 1401 Basel 196.668 37 5.315 Graubünden 1 1803 Chur 195.886 7.105 28 Französisch Deutsch Italienisch Deutsch Deutsch, Rätoromanisch, Italienisch Neuchatel 1 1815 Neuchatel 177.327 803 221 Französisch Schwyz 1 1291 Schwyz 152.759 908 168 Deutsch Zug 1 1352 Zug 120.089 239 502 Deutsch Schaffhausen 1 1501 Schaffhausen 79.417 298 267 Jura 1 1979 Delemont 72.410 838 86 Appenzell Ausserrhoden ½ 1513 Herisau, Trogen 54.064 243 222 Nidwalden ½ 1291 Stans 42.080 276 152 Deutsch Glarus 1 1352 Glarus 39.794 685 58 Deutsch Obwalden ½ 1291 Sarnen 36.834 491 75 Deutsch Deutsch Französisch Deutsch Uri 1 1291 Altdorf 36.008 1.077 33 Deutsch Appenzell Innerrhoden ½ 1513 Appenzell 15.854 173 92 Deutsch Schweiz 23 1291 Bern 8.039.060 41.285 195 Aufnahme in der Bevölkerung umstritten. Da das schweizerische Asylrecht nur politische Fluchtgründe anerkannte, wurde deutschen Juden, die „aus Rassegründen“ verfolgt wurden, die Einreise verweigert. Erst im Juli 1944 sind Juden als politische Flüchtlinge anerkannt worden. Die moderne Schweiz Die Schweiz verhielt sich im Kalten Krieg politisch und militärisch neutral, gehörte aber ideologisch klar zum westlichen Lager. Aus Neutralitätsgründen wurde weder der UNO noch der NATO beigetreten. Vor allem in der unmittelbaren Nachkriegszeit war die unzerstörte Schweiz sowohl wirtschaftlich als auch militärisch ein wichtiger Faktor in Mitteleuropa. Bis 1967 wurden erste Schritte zu einer atomaren Aufrüstung unternommen. Mit der Unterzeichnung des Atomsperrvertrages 1969 gab die Schweiz diese Option freiwillig auf. 1970 unternahm der Bundesrat erste Schritte in Hinblick auf eine europäische Integration. Diese mündeten 1972 in ein Freihandelsabkommen mit der EWG und 1973 in den Beitritt zur Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Wirtschaftlich erlebte die Schweiz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine nie gesehene Hochkonjunktur, die bis in die 1970er Jahre anhielt. Der Ausbau des Wohlfahrtsstaates und die Reduktion der Arbeitszeiten bei gleichzeitigem starkem wirtschaftlichen Wachstum sorgten bis in die 1990er Jahre hinein für einen ausgeprägten sozialen Frieden. Das Wirtschaftswachstum machte seit den 1960er Jahren den Import von „billigen“ Arbeitskräften nötig. Der Anteil der ausländischen Wohnbevölkerung stieg zwischen 1960 und 1970 von zehn auf 17,5 Prozent an. Mehrere Versuche, die Zahl der Ausländer durch sogenannte „Überfremdungsinitiativen“ zu beschränken, scheiterten in einer Volksabstimmung. Der Bundesrat versuchte zwar, mit der Schaffung des Saisonnierstatutes die dauerhafte Niederlassung von Arbeitsmigranten zu verhindern, schuf damit jedoch nur soziale Härtefälle und behinderte eine rasche Integration. UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 Deutsch, Französisch, Italienisch, Rätoromanisch Erst 1971 stimmten die Schweizer Männer für die Einführung des Frauenstimmrechts. Auf kantonaler Ebene ließ zuletzt der Kanton Appenzell Innerrhoden 1991 das passive und aktive Frauenstimmrecht zu. Frauen erhielten nach der politischen Gleichberechtigung erst 1981 auch jene auf gesellschaftlicher Ebene juristisch zugesprochen. Innenpolitisch wurde die Schweiz durch die seit 1959 geltende Konkordanz unter den führenden Parteien geprägt, die sich in der sogenannten Zauberformel bei der Verteilung der Bundesratssitze manifestierte. Mit dem Aufstieg der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei unter Christoph Blocher wurde dieses Verteilsystem jedoch teilweise in Frage gestellt. Der Bundesrat scheiterte wiederholt bei dem Versuch, die politische Selbstisolation der Schweiz zu beenden. 1986 lehnte das Stimmvolk die Integration in die UNO und 1992 auch die in den Europäischen Wirtschaftsraum ab. Doch auch ohne formellen Beitritt vollzog die Schweiz autonom EU-Recht nach und einigte sich auf eine Teilintegration in den EU-Binnenmarkt. 53 Blick über den Gartenzaun Appenzell Innerrhoden – hier eine Luftansicht der Hauptstadt Appenzell – ist der Fläche nach der zweitkleinste und mit lediglich knapp 15.000 Einwohnern der bevölkerungsärmste Kanton der Schweiz. Appenzell Innerrhoden ist zugleich auch der Kanton, der als letztes und erst nach Entscheid eines Bundesgerichtes im Jahr 1990 das Frauenstimmrecht einführte. Die 1990er Jahre waren geprägt durch eine langjährige Wirtschaftskrise bzw. durch geringes Wirtschaftswachstum. Der Niedergang der schweizerischen Maschinen- und Textilindustrie führte besonders in der Ostschweiz zu einer nachhaltigen Deindustrialisierung. In dieser Zeit wurden zahlreiche Flüchtlinge aus verschiedenen internationalen Konfliktregionen aufgenommen, insbesondere aus Sri Lanka, der Türkei und dem ehemaligen Jugoslawien. Als einer der letzten international anerkannten Staaten trat die Schweiz nach einer Volksabstimmung am 10. September 2002 den Vereinten Nationen bei. Dies war zuletzt nur noch von den rechtskonservativen Kräften um die SVP bekämpft worden. Komplexer Staatsaufbau Das schweizerische Verfassungs- und Regierungssystem gilt wegen seiner zahlreichen Spezifika – der direkten Demokratie, der Kollegialregierung, des Fehlens eines besonderen Staatsoberhaupts, des ausgeprägten Föderalismus und einer eigenständigen Staats- und Demokratietradition als Sonderfall schlechthin. Ungeschriebene Elemente 54 der politischen Kultur wie die Konkordanz oder die allgegenwärtige Proportionalisierung des öffentlichen Lebens erschweren dem Beobachter den Zugang zum Verständnis von Strukturen. Dennoch bestehen vielfältigen Parallelen zu anderen Regierungssystemen. Der föderalistische Staatsaufbau ist neben der direkten Demokratie eines der wichtigsten Strukturelemente der schweizerischen Staatsverfassung. Nicht nur der Bund, sondern auch die 26 Kantone verfügen über eine eigene Verfassung. Den rund 3.000 Gemeinden wird im Rahmen der kantonalen Ordnung eine weitgehende Selbstorganisation und Autonomie in der Wahrung ihrer Aufgaben eingeräumt. Bund, Kantone und Gemeinden erheben eigene Einkommen- und Vermögensteuern. Die Steuerhoheit der Kantone umfasst das Recht, nicht nur die Ausgaben, sondern auch die Einnahmen selbst festzulegen. Legislative, Exekutive und richterliche Gewalten sind auf allen drei Ebenen vorzufinden. Der Verzicht auf zentrale Strukturen und die Gewährung lokaler Autonomie haben historisch das friedliche Zusammenleben der Sprachund Konfessionsgruppen erleichtert sowie das Weiterbestehen kultureller Vielfalt begünstigt. Gleichzeitig war der Bund seit dem 19. Jahrhundert das wichtigste Element für die Entfaltung einer schweizerischen, multikulturellen Identität. Der Umstand, dass alle drei politischen Ebenen über eine volle Gewaltenteilung verfügen, macht es möglich, den Grundsatz der Subsidiarität konsequent umzusetzen. Neue Aufgaben werden üblicherweise zunächst von den Gemeinden übernommen, kantonale Lösungen erst gesucht, wenn örtliche Autoritäten oder zwischengemeindliche Zusammenschlüsse überfordert sind. Für übergeordnete Aufgaben sind wiederum zunächst die Kantone zuständig. Die Übertragung von Aufgaben auf den Bund setzt die Zustimmung des Volkes und der Kantone voraus. Dies macht die Schweiz zu einem der dezentralisiertesten Länder der Welt. Die Zentralregierung kontrolliert nur knapp 30 Prozent der öffentlichen Einnahmen und Ausgaben. 40 Prozent entfallen auf die Kantone und 30 Prozent auf die Gemeinden. Dem Bund kamen ursprünglich nur Zölle, Gebühren und Verbrauchssteuern zu. Die seit den 1930er Jahren erhobenen Bundessteuern auf Einkommen und Vermögen beruhen bis heute auf befristeten Erlassen. Die hohen politischen Konsenshürden führen allerdings auch dazu, dass ökonomisch UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 INSPIRATIONEN/INFORMATIONEN Blick über den Gartenzaun oder staatspolitisch sinnvolle Zentralisierungsschritte nicht oder nur sehr spät erfolgen und dass der Bund nicht überall über ausreichende Kontrollmöglichkeiten verfügt. Kollegial, konsensorientiert und überparteilich Das schweizerische System verzichtet auf die Institution eines herausgehobenen Staatsoberhaupts und weist dessen Funktion dem jährlich wechselnden Bundespräsidenten oder dem Bundesrat als Ganzem zu. Der Bundesrat als quasiRegierung wird von der gemeinsamen Sitzung von National- und Ständerat, der Vereinigten Bundesversammlung, für eine Amtsdauer von vier Jahren gewählt. Die Wahl jedes der sieben Mitglieder erfolgt einzeln. Gewählt ist ein Kandidat, wenn er die absolute Mehrheit der Stimmen erreicht. Sind mehrere Wahlgänge erforderlich, fällt jeweils der Kandidat mit der geringsten Stimmenzahl aus der folgenden Wahl. Es gibt keine Abwahl und auch kein Misstrauensvotum, mit dem das Parlament die Gesamtregierung oder einzelne Bundesräte zum Rücktritt zwingen könnte. Auch die Nicht-Wiederwahl eines erneut kandidierenden Bundesrats kam bis 2003 nicht vor. Bei den Parlamentswahlen 2003 erzielte die Schweizerische Volkspartei (SVP) große Gewinne vor allem auf Kosten der Christlich-Demokratischen Volkspartei (CVP). Die SVP machte daraufhin ihren Anspruch auf einen der beiden CVP-Sitze im Bundesrat geltend und erreichte dieses Ziel dank der Unterstützung der FreisinnigDemokratischen Fraktion. Mit diesem Wechsel in der Zusammensetzung des Bundesrats blieb die Konkordanz im Sinne der Regierungsbeteiligung der vier größten Parteien zwar bestehen; die zahlenmäßige Vertretung wurde jedoch den veränderten Wählerstärken angepasst. Wie schon 2003 erfolgte 2007 die Abwahl eines amtierenden Bundesrates. Die davon betroffene SVP wollte die Ersetzung eines ihrer Bundesratsmitglieder durch eine andere Person aus ihren Reihen nicht akzeptieren und kündigte die Mitarbeit in der Konkordanz auf. Ob und wie lange die grundsätzliche Opposition anhalten und die seit 1959 bestehende Konkordanz der vier Regierungsparteien schwächen wird, ist offen. Von diesem Einzelfall abgesehen, bestimmen Bundesräte den Zeitpunkt ihres Rücktritts faktisch selbst. Häufig treten einzelne Mitglieder der Regierung vor Ablauf der ordentlichen Wahlperiode zurück, worauf eine Ersatzwahl in der Reihenfolge der Rücktritte vorgenommen wird. Obwohl die Bundesversammlung die Möglichkeit hätte, zu Beginn jeder Legislaturperiode eine personell oder parteipolitisch völlig veränderte Regierung zu bestellen, entspricht die faktische Stellung der Regierung eher einem Präsidialsystem. Dass die nach Artikel 175.2 Bundesverfassung gegebenen Möglichkeiten eines parlamentarischen Regierungssystems nicht ausgeschöpft werden, hängt einzig mit der politischen Tradition zusammen. Der schweizerische Bundesrat ist eine sogenannte Kollegialbehörde. Der Präsident des Kollegiums leitet die Sitzungen, hat aber kein Weisungsrecht. Jeder Bundesrat ist damit gleichberechtigtes Mitglied des Kollegiums und zugleich Vorsteher eines der sieben Departemente der Bundesverwaltung – 1. Inneres; 2. Äußeres; 3. Justiz und Polizei; 4. Volkswirtschaft; 5. Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation; 6. Finanzen sowie 7. Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport. Alle wichtigeren Entscheidungen werden vom Gesamtbundesrat mit einfacher Mehrheit getroffen und nach außen verantwortet. Das System der siebenköpfigen Kollegialregierung ist seit Gründung des Bundesstaates in seinen Grundzügen nicht verändert worden. Die einzigen nachhaltigen Neuerungen waren die Schaffung von Staatssekretären zur Vertretung im Ausland sowie der Ausbau der Bundeskanzlei. Bundeskanzler und zwei Vizekanzler bilden den Kopf einer leistungsfähigen Stabsstelle der Regierung. Sie entsprechen damit funktional dem Bundeskanzleramt bzw. dem Kanzleramtsminister in Deutschland. Parlamentsarbeit im Ehrenamt Das schweizerische Parlament besteht analog zu den USA oder zu Deutschland aus zwei Kammern und fungiert eher als Arbeits- denn als Redeparlament. Das Wahlverfahren für die Volksvertretung (Nationalrat) und die Kantonsvertretung (Ständerat) ist unterschiedlich. Die 200 Sitze des Nationalrats werden für jede Wahl den Kantonen nach ihrer Bevölkerungszahl zugeteilt. In diesen Wahlkreisen erhält jede Partei so viele Sitze, wie es ihrem Anteil an den Wahlberechtigten entspricht. Der Nationalrat wird in den Kantonen mit mehr als einem Sitz durch Verhältniswahl gewählt. Die Nationalräte der sechs kleinsten Kantone Appenzell Ausserrhoden, Appenzell Innerrhoden, Glarus, Nidwalden, Obwalden und Uri hingegen werden durch Mehrheitswahlrecht bestimmt. Der Präsident des Nationalrates ist protokollarisch der höchste Repräsentant des Schweizer Volkes. Der Ständerat (46 Sitze, zwei für jeden der 20 Vollkantone und je einen für die sechs Halbkantone) wird nach kantonalem Recht gewählt. In den meisten Kantonen wird nach dem Mehrheitswahlrecht und zeitgleich mit den Nationalratswahlen abgestimmt. Im Ergebnis findet sich im Nationalrat tendenziell eine proportionale Verteilung der Sitze, im Ständerat dagegen dominieren die drei bürgerlichen Parteien FDP, CVP und SVP. Die schweizerischen Parlamentarier nehmen ihr Mandat nebenberuflich wahr. Für ihren Aufwand beziehen sie eine Entschädigung in etwa in Höhe eines Facharbeiterlohns. Entsprechend dem Prinzip der Gleichwertigkeit beider Kammern werden alle Vorlagen sowohl im National- als auch im Ständerat vollständig behandelt. Die beiden Ratsbüros verständigen sich in der sogenannten Koordinationskonferenz. Jede Vorlage bedarf der Zustimmung beider Kammern. Ergeben sich im Verlauf der Beratungen unterschiedliche Vorschläge, findet ein Differenzbereinigungsverfahren statt. Einigen sich National- und Ständerat auch dort nicht auf eine übereinstimmende Fassung, ist die Vorlage gescheitert. Konkordanz Die Konkordanz der Schweiz ist nicht von der Verfassung aufgetragen, sondern entwickelte sich langsam aus der politischen Kultur der Schweiz mit ihrem ausgeprägten Minderheitenschutz. Schon 1943, als mit Ernst Nobs der erste sozialdemokratische Bundesrat gewählt worden war, waren alle wesentlichen Parteien in die Regierung eingebunden. 1959 kam es nach dem Rücktritt von vier Bundesräten zur so genannten Zauberformel, in der die wichtigsten Parteien nach ihrem damaligen Gewicht im siebenköpfigen Bundesrat vertreten waren: je zwei Sitze erhielten FDP (Liberale), CVP (Konservative), und SP (Sozialdemokraten), einen die BGB, die Vorgängerin der rechtspopulistischen SVP. Diese Parteizusammensetzung blieb bis 2003 unverändert. Die vier Bundesratsparteien erreichten bei den Wahlen 2003 einen Anteil von zusammen 81,6 Prozent und besetzen zusammen 217 der 246 Sitze in der Vereinigten Bundesversammlung. Wenn die Konkordanz nach Proporz durchgeführt wird, sind alle Parteien wähleranteilsmäßig in der Regierung vertreten und können sich auf Augenhöhe sachlich miteinander auseinandersetzen, anstatt sich im Koalition–Opposition-Schema laufend gegeneinander abgrenzen zu müssen. Die schweizerische Konkordanzdemokratie zielt auf Stabilität und kontinuierliche Entwicklung. Eine eigentliche Opposition im Parlament gibt es seit längerem nicht mehr. Auch ist es in der Schweiz auf keiner Ebene möglich, die Regierung durch einen Misstrauensantrag aus dem Amt zu stürzen. Da der Bundesrat wie auch die kantonalen und kommunalen Regierungen eine Kollegialbehörde ist, kann sich eine Regierungspartei zeitweise gegen die Regierung stellen. Doch nach einer Abstimmung müssen sich die unterlegenen Kräfte dem Gremium, beziehungsweise dem Volk, unterordnen und ihre weitere Regierungsarbeit durch die gefassten Beschlüsse bestimmen lassen. Die Konkordanz verlangt von allen Mitgliedern eine starke Konsensfähigkeit, da ansonsten die Regierungstätigkeit blockiert würde. UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 55 Blick über den Gartenzaun Der formelle Handlungsspielraum des Parlaments ist groß: Es kann auch gegen den Willen der Regierung ganze Vorlagen ohne weitere inhaltliche Diskussion zurückweisen oder in der Detailberatung beliebige Änderungen beschließen. Das Instrument der parlamentarischen Initiative erlaubt es beiden Räten, selbständig Gesetzes- oder Verfassungsänderungen unter Umgehung des Vorverfahrens von Regierung und Verwaltung auszuarbeiten. Direkte Demokratie Die Idee der schweizerischen Volksrechte stellt Verfassungs- und wichtige Gesetzesentscheide einer Volksabstimmung durch Referendum anheim. Der Stimmbürgerschaft wird zudem Gelegenheit gegeben, eigene Vorschläge durch Volksinitiative zur Abstimmung zu bringen. Die Volksrechte entwickelten sich auf der kantonalen Ebene noch vor Gründung des Bundesstaates. Sie entstanden aus einer basisdemokratischen Bewegung, die dem Repräsentativsystem misstrauisch gegenüberstand und der es um die Begrenzung parlamentarischer Macht ging. Daraus ist ein Regierungssystem gewachsen, in welchem die drei Organe der Regierung, des Parlaments und der Stimmbürgerschaft folgendermaßen zusammenarbeiten. Das Volk trifft die zentralen Letztentscheide, das Parlament die wichtigen und die Regierung jene von zweitrangiger Bedeutung. Das theoretische Dilemma zwischen einer unbefriedigenden Repräsentativität und der unmöglichen Utopie direkter Demokratie wird auf pragmatische Weise gelöst: Die direkte Der Ständerat vertritt die Kantone auf der Ebene des Bundes. Mitsprache des Volkes soll nicht in allen, aber in den wichtigsten Fragen möglich sein. Damit wird verständlich, warum die Gegenstände der Volksabstimmungen nicht ad hoc bestimmt werden, sondern von Verfassung und Gesetz vorgeschrieben sind. Während auf Kantonsebene auch Finanz- und wichtige Verwaltungsentscheide dem Vorbehalt der Volksrechte unterstehen, beschränken sich die Volksrechte beim Bund auf Verfassungs- und Gesetzesentscheide sowie auf die Genehmigung wichtiger internationaler Verträge. Dabei ist zu unterscheiden zwischen Der Nationalrat in Bern ist das Parlament des Schweizer Volkes. 56 a. dem obligatorischen oder (Verfassungs-) Referendum Der obligatorischen Nachentscheidung durch Volk und Stände (Kantone) unterliegen alle Änderungen der Verfassung sowie die Genehmigung von Staatsverträgen, welche den Beitritt zu Organisationen für kollektive Sicherheit oder zu supranationalen Gemeinschaften zum Gegenstand haben. Das obligatorische Referendum verlangt die doppelte Zustimmung von Volk und Kantonen. Für das sogenannte Ständemehr zählt jeder Vollkanton mit einer und jeder Halbkanton mit einer halben Stimme. b. dem fakultativen oder (Gesetzes-) Referendum Gesetze, allgemeinverbindliche Bundesbeschlüsse sowie völkerrechtliche Verträge, welche unbefristet und unkündbar sind, den Beitritt zu einer internationalen Organisation vorsehen oder eine multilaterale Rechtsvereinheitlichung herbeiführen, sind vom Parlament mit einer Referendumsklausel zu versehen. Verlangen mindestens 50.000 Stimmbürger innerhalb von drei Monaten ein Referendum, so wird der Parlamentsbeschluss der Volksabstimmung unterstellt. Das Gesetz tritt nur dann in Kraft, wenn die Mehrheit der Abstimmenden die Vorlage annimmt. Mit dem sogenannten Dringlichkeitsrecht kann das ordentliche Referendum aufgeschoben werden. Derartige Beschlüsse bedürfen der absoluten Mehrheit in beiden Kammern. Das Dringlichkeitsrecht ist zeitlich befristet. Beschlüsse ohne zureichende Verfassungsgrundlage müssen innerhalb Jahresfrist von Volk und Kantonen genehmigt werden; andernfalls treten sie außer Kraft. UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 INSPIRATIONEN/INFORMATIONEN Blick über den Gartenzaun c. der Volksinitiative Ein Quorum von mindestens 100.000 Bürgern ist erforderlich, um beim Bund die Aufhebung, Änderung oder Neuschaffung eines Verfassungsartikels zu verlangen. Kommt eine Volksinitiative zustande, so wird sie vom Bundesrat und vom Parlament beraten und den Stimmbürgern mit einer meist ablehnenden Empfehlung vorgelegt. Das Parlament kann den Stimmbürgern gleichzeitig einen Gegenvorschlag unterbreiten. Zur Annahme einer Verfassungsinitiative braucht es analog zum Verfassungsreferendum eine doppelte Mehrheit im Volk und den Kantonen. Werden in einer Abstimmung sowohl die Volksinitiative wie der Gegenvorschlag angenommen, entscheidet die Stimmbürgerschaft über eine angefügte Eventualfrage, welcher der beiden Vorschläge angenommen ist. Kantone und Gemeinden kennen vergleichbare Volksrechte. In den Kantonen gibt es im Gegensatz zum Bund auch das Recht einer vom Volk ausgehenden Gesetzesinitiative. Zudem kommt das Referendum bei wichtigen Verwaltungsentscheidungen zum Zuge. In den Gemeinden sind die Volksrechte unterschiedlich ausgebaut. Generell spielen Referendum und Initiative in den deutschschweizerischen Gemeinden eine größere Rolle als in der Westschweiz. Ausgeprägter Föderalismus Der Föderalismus ist eines der wesentlichen Strukturmerkmale der Schweizerischen Eidgenossenschaft – ideengeschichtlich, politisch und kulturell. Ähnlich wie die Vereinigten Staaten hat sich auch die Schweiz sukzessive von einem lockeren Staatenbund zu einem modernen Bundesstaat entwickelt. Die ehemals faktisch souveränen Kantone genießen auch heute ausgeprägte Hoheitsrechte. Sie sind über den Ständerat eng an der Politikfindung auf Bundesebene beteiligt. Zudem können sie nach dem Grundsatz der Subsidiarität innerhalb ihrer Möglichkeiten vollständig autark agieren. Jeder Kanton hat eine eigene Verfassung und eigene legislative, exekutive und rechtsprechende Gewalten. Alle Kantone besitzen ein Einkammerparlament. Dieses hat je nach Kanton 49 bis 180 Sitze. Die Regierungen bestehen entweder aus fünf oder aus sieben Mitgliedern. In jedem Kanton existiert ein zweistufiges Gerichtssystem, dem eine Schlichtungsbehörde vorangestellt ist. Alle staatlichen Bereiche, die nicht von der schweizerischen Bundesverfassung dem Bund zugewiesen bzw. von einem Bundesgesetz geregelt werden, gehören in die Kompetenz der Kantone. Dies sind etwa die kantonale Staats- und Verwaltungsorganisation, Strafvollzug, Schulwesen, Sozialhilfe, Baurecht, Polizei, Notariatswesen, kantonales und kommunales Steuerrecht, zu großen Teilen auch Gesundheitswesen, Planungsrecht, Gerichtsverfassung, lokale/regionale Verkehrsinfrastruktur, Regionalplanung und weiteres mehr. In vielen Bereichen verfügen sowohl der Bund als auch die Kantone über Kompetenzen. Oft kommt es vor, dass der Bund allgemeine Regeln aufstellt, für deren Ausgestaltung die Kantone zuständig sind. Dies gilt beispielsweise für die Raumplanung oder das Forstrecht. Eine andere Möglichkeit ist, dass Bund und Kantone verschiedene Aspekte einer Aufgabe ordnen. Insbesondere im Kulturbereich gibt es auch parallele Kompetenzen, bei denen Bund, Kantone und Gemeinden selbständig Entscheidungen treffen können. Selbst dort, wo der Bund das materielle Recht regelt, sind oft die Kantone für die konkrete Umsetzung zuständig und erlassen die nötigen Organisations- und Verfahrensbestimmungen. Kantone sind wie die deutschen Länder derivative Völkerrechtssubjekte und können innerhalb ihrer Kompetenzen Staatsverträge untereinander oder mit fremden Staaten schließen. Die Kantone können auch ihren Gemeinden eine gewisse Autonomie gewähren. Das Ausmaß der Gemeindekompetenzen ist von Kanton zu Kanton verschieden. In zwei Kantonen – Glarus sowie Appenzell Innerrhoden – bestimmt das Volk während einer Versammlung aller Bürger – der sogenannten Landsgemeinde – seine Kantonsvertreter und entscheidet über Sachfragen. In allen anderen Kantonen finden Wahlen und Abstimmungen an der Urne statt. Die Kantone können unabhängig direkte Steuern erheben, stehen damit aber untereinander in einer erheblichen Steuer- und Ansiedlungskonkurrenz. Neben dem Bund können auch die Kantone einen eigenen Einkommensteuersatz festsetzen. Die Gemeinden dürfen relativ zu den kantonalen Steuersätzen ebenfalls an der Einkommensteuer partizipieren. Zusätzlich können die Kantone eigene Sätze bei der Gewinn- und Kapitalsteuer, der Erbschaft- und Schenkungsteuer, der Liegenschaftsteuer, der Grunderwerbsteuer, der Grundstückgewinnsteuer und der Motorfahrzeugsteuer definieren. Reform der föderativen Ausgleichsmechanismen Der Föderalismus als konstitutives Merkmal des politischen Systems der Schweiz steht unter dem Druck, von Zeit zu Zeit an die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen angepasst zu werden. Schon in den 1960er Jahren gab es Überlegungen zu einer umfassenden Staats- und Verfassungsreform. 1998 wurde eine neue Bundesverfassung von beiden Kammern des Parlamentes und 1999 auch vom Volk angenommen. Dies bildete die Grundlage für eine weitreichende Föderalismusreform, die sich zwei Schwerpunkten widmete: zum Ersten der Revision des Finanzausgleiches und zum Zweiten der Entflechtung kantonaler und bundesstaatlicher Zuständigkeiten und Kompetenzen. Äußerer Anlass der Reform war der in den 1990er Jahren weiter gestiegene finanzielle Abstand zwischen den Kantonen, der durch das bestehende System nicht mehr ausgeglichen Der Kanton Zürich rund um die namensgebende größte Stadt der Schweiz ist mit Abstand der einwohnerreichste Kanton der Schweiz. UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 57 Blick über den Gartenzaun werden konnte. Der 2003 von der Vereinigten Bundesversammlung und 2004 vom Volk bestätigte „Neue Finanzausgleich und Aufgabenneuordnung zwischen Bund und Kantonen“ (NFA) trat 2008 in Kraft. Die kantonale Finanzautonomie sollte gestärkt sowie die unterschiedlichen Leistungsfähigkeiten und Steuerbelastungen zwischen den Kantonen verringert werden. Durch den Ressourcenausgleich, der sowohl eine Umverteilung zwischen den Kantonen wie auch eine Zuschusskomponente durch den Bund enthielt, sollten die maßgebenden eigenen Ressourcen jedes Kantons pro Einwohner mindestens 85 Prozent des schweizweiten Durchschnitts erreichen. Nach Absatz 4 des Gesetzes ermittelt der Bundesrat jährlich zusammen mit den Kantonen das Ressourcenpotential der Kantone pro Kopf. Über die Hälfte der Ausgleichsmittel muss vom Bund kommen. Der Beitrag der ressourcenstarken Kantone beträgt mindestens zwei Drittel und höchstens 80 Prozent der Leistungen des Bundes. Der zweite Topf ist der Lastenausgleich für topografisch oder demografisch benachteiligte Kantone. In Deutschland entspricht dies in etwa den Bundesergänzungszuweisungen. Im Unterschied zu Deutschland und Österreich gibt es aber die Möglichkeit, die Kantone in bestimmten Aufgabenbereichen zu Zusammenarbeit und Lastenausgleich zu verpflichten. Auch kann die Bundesversammlung interkantonale Rahmenvereinbarungen für allgemeinverbindlich erklären oder einzelne Kantone zur Beteiligung an interkantonalen Verträgen verpflichten. Einen dritten Ausgleichstopf bildet der Härteausgleich, aus dem für eine Übergangszeit von maximal 28 Jahren die durch den NFA schlechter gestellten Kantone eine Kompensation erhalten können. Der Härteausgleich wird zu zwei Dritteln vom Bund und zu einem Drittel von den Kantonen gespeist. Insgesamt hatte der NFA bei seinem Inkrafttreten ein Volumen von über vier Milliarden Franken, wovon mehr als drei Viertel auf den Ressourcenausgleich entfielen. Der NFA umfasst aber nicht nur eine Reorganisation des Finanzausgleiches, sondern auch eine Entflechtung der Aufgaben. Von den insgesamt 33 Kompetenzen, für die Bund und Kantone bis 2007 gemeinsam zuständig waren, wurden sieben alleinig dem Bund und zehn alleinig den Kantonen zugesprochen. Damit halbierte sich die Zahl der Verbundaufgaben von 33 auf 16. Kommunale Selbstverwaltung Die politischen Gemeinden bilden die dritte Stufe im Verwaltungsaufbau der Schweiz. Sie gehen als historisch gewachsene Gebilde bis ins Mittelalter zurück. Auch die sich als Stadt bezeichnenden Orte haben als Gebietskörperschaften die Rechtsform der politischen Gemeinde. Die politische Gemeinde verfügt über die allgemeine Kompetenz in kommunalen Angelegenheiten und nimmt alle kommunalen Aufgaben wahr, die durch übergeordnetes Recht nicht zum Wirkungskreis eines anderen Gemeindetyps erklärt werden. Der Umfang der Gemeindeautonomie wird durch kantonales Recht nach dem Subsidiaritätsprinzip geregelt. Das Aufgabengebiet der politischen Gemeinden umfasst somit alle Bereiche, die nicht durch Bund und Kantone abschließend geregelt sind. Die Kompetenzen unterscheiden sich innerhalb der Schweiz beträchtlich. Allgemein lässt Manches trägt in der Schweiz einen anderen Namen. Dies ist ein Umstand, der vor allem aufgrund der gemeinsamen Sprache auffällt. Erwähnung finden muss natürlich auch die deutlich längere Demokratietradition. Doch auf den zweiten Blick sind sich die Bundesstaaten Schweiz und Deutschland eher ähnlich als fremd – hinsichtlich ihrer politischen Strukturen, in Bezug auf das Kompetenzgeflecht zwischen den verschiedenen Ebenen und auch bei den zentralen Problemstellungen. Hier wie dort wird das Hohelied der kommunalen Selbstverwaltung zwar gesungen, steht dieser politische Grundsatz in der Praxis jedoch vor einem erheblichen Finanzierungsvorbehalt. Hier wie dort passen sich die Kommunen in Zuschnitt und Aufgabenerledigung kontinuierlich an demografische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen an. Hier wie dort besteht eine mächtige Zwischenebene, die die Fähigkeit zur selbsttätigen Erneuerung erst noch unter Beweis stellen muss. Trotz einer noch höheren strukturellen Komplexität ist es in der Schweiz gelungen, die föderativen Strukturen zumindest im Ansatz zu optimieren. Daraus lässt sich für die Bundesrepublik lernen, dass man nicht zwangsläufig vor einer größtenteils selbst geschaffenen Komplexität kapitulieren muss. Falk Schäfer 58 sich sagen, dass der Grad der Autonomie von Ost nach West abnimmt. Über den größten Spielraum verfügen traditionell die Gemeinden im Kanton Graubünden, der bis Mitte des 19. Jahrhunderts eine Föderation aus unabhängigen Gemeinden bildete. Trotz des seitens der Kantone ausgeübten Fusionsdrucks bestehen heute noch mehr als 2.200 politische Gemeinden. Die größten Gemeinden sind die Großstädte Zürich, Genf, Basel, Bern, Lausanne und Winterthur. St. Gallen, Luzern, Lugano und Biel haben mehr als 50.000 Einwohner. Insgesamt 129 Gemeinden weisen mehr als 10.000 Einwohner auf und gelten damit statistisch als Stadt. Etwa die Hälfte aller politischen Gemeinden hat weniger als 1.000 Einwohner. Die durchschnittliche Einwohnerzahl der schweizerischen Gemeinden liegt bei unter 3.000. Rund ein Fünftel der Gemeinden hat ein eigenes Parlament. Dies gilt vor allem für die Städte. Die anderen vier Fünftel treffen gemeindliche Entscheidungen in der Gemeindeversammlung, an der alle stimmberechtigten Einwohner teilnehmen können. Neben den vom Bund und von den Kantonen übertragenen Aufgaben – bspw. Einwohnerregister oder Zivilschutz – obliegen den Gemeinden auch eigene Zuständigkeiten, etwa: ˆˆ im Schul- und Sozialwesen ˆˆ in der Energieversorgung ˆˆ im Straßenbau ˆˆ bei der Ortsplanung und ˆˆ bei den Steuern Der Wirkungskreis der schweizerischen Gemeinden lässt sich mit dem der deutschen Gemeinden vergleichen, allerdings verfügen die Gemeinden in der Schweiz über eine größere Eigenständigkeit hinsichtlich ihrer Steuereinnahmen. Als direkte Steuern werden erhoben: ˆˆ Einkommen- und Vermögensteuer (hier in Abhängigkeit vom kantonalen Steuersatz) ˆˆ Gewinn- und Kapitalsteuer ˆˆ Erbschaft- und Schenkungsteuer ˆˆ Liegenschaftsteuer (nur in einigen Kantonen) ˆˆ Grunderwerbsteuer ˆˆ Grundstücksgewinnsteuer ˆˆ Lotteriesteuer Indirekte Steuern sind die Hundesteuer oder die in einigen Kantonen noch erhobene Vergnügungssteuer. n i infos www.admin.ch/gov/de/start.html UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 Personalien / Veranstaltungen / Bücher Personalien Katherina Reiche zur Präsidentin des Europäischen Dachverbandes CEEP gewählt Katherina Reiche, Hauptgeschäftsführerin des Verbandes kommunaler Unternehmen (VKU) und Präsidentin des Bundesverbands öffentliche Dienstleistungen (bvöd) ist neue Präsidentin des Europäischen Verbandes der öffentlichen Arbeitgeber und Unternehmen (CEEP). Sie wurde am 8. Juni in Brüssel einstimmig von der Generalversammlung in dieses Ehrenamt zunächst bis Ende 2017 gewählt. In ihrem Statement auf der Mitgliederversammlung sagte Reiche, dass es „gerade jetzt, wo die Europäische Union vor zahlreichen Herausforderungen steht, starke öffentliche Dienstleister braucht. Sie sind der Garant eines stabilen Wirtschaftsstandorts und genießen das Vertrauen der Bürger. Zudem ermöglichen die öffentlichen Dienste erst die globale Wettbewerbsfähigkeit der EU.“ Der öffentliche Dienstleistungssektor gehört zu den größten Branchen in der EU. Dort arbeiten 30 Prozent aller Beschäftigten, etwa 64 Millionen Arbeitnehmer, Veranstaltungen VKU-Stadtwerkekongress 2016 in Leipzig „Stadtwerke als Motor für Wettbewerb und Innovation“ – so lautet das Motto des VKUStadtwerkekongresses 2016, dem Branchentreff der deutschen Energiewirtschaft. Die kommunalen Energieversorger stehen für Wettbewerb im europäischen und nationalen Energiebinnenmarkt. Sie sind Sinnbild eines diversifizierten Marktes, treiben die Energiewende in der Fläche voran und können vor Ort mit den Bürgern direkt kommunizieren. Lokale und regionale Lösungen bedürfen immer wieder der Anpassung; insoweit mangelt es kommunalen Energieversorgern auch nicht an Ideenreichtum, Innovationskraft und neuen Geschäftsmodellen. Katherina Reiche und mehr als 500.000 Dienstleistungsanbieter versorgen rund 500 Millionen Europäer. Reiche: „Ich freue mich sehr über die Wahl und das damit einhergehende Vertrauen. Mein Ziel ist es, der europäischen Politik den Mehrwert öffentlicher Arbeitgeber und Unternehmen näher zu bringen. Wir sind ein Schlüsselelement der europäischen Wirtschaft. Gemeinsam mit der Politik Damit Stadtwerke den Energiebinnenmarkt weiter vorantreiben können, brauchen sie verlässliche politische, rechtliche und wirtschaftliche Rahmenbedingungen. Dies gilt insbesondere für die Verteilnetze. Nur smarte Verteilnetze können weiterhin die steigende Zahl der ErneuerbareEnergien-Anlagen integrieren und für Systemstabilität sorgen. Gleichzeitig bietet die Digitalisierung völlig neue Herausforderungen: Datenhoheit, Datensicherheit und Datenmanagement sind Schlagwörter, die im Zentrum dieser Entwicklung stehen. In diesem Zusammenhang wächst auch die Bedeutung von Kooperationen aller Art. Gerade beim Thema Digitalisierung bieten sich den Stadtwerken nicht nur Chancen in der Optimierung und Automatisierung ihrer Prozesse, sondern insbesondere in der Gestaltung ihre Dienstleistungsportfolios. Gerade sie haben die Möglichkeit, die Modernisierung der Infrastruktur ihrer Städte müssen wir daran arbeiten, die aktuellen, gravierenden Herausforderungen bestmöglich zu bewältigen: Es gibt zahlreiche Bürger, die den Mehrwert der EU in Frage stellen, die Mitgliedstaaten sind uneins, wie sie mit den Folgen der Flüchtlingswelle umgehen sollen, und internationale Handelsabkommen werden mit größter Skepsis und Misstrauen beäugt. Ich danke auch meinem Vorgänger Hans-Joachim Reck, der sich mit viel Energie immer wieder um die europäische Sache verdient gemacht hat.“ Der Europäische Verband der öffentlichen Arbeitgeber und Unternehmen (CEEP) ist der europäische Interessenverband der Unternehmen und Organisationen mit öffentlicher Beteiligung. Er vertritt zudem die Unternehmen und Organisationen, die Dienstleistungen im Allgemeininteresse erbringen, und das unabhängig von ihrer Trägerschaft. Als Verband der öffentlichen Arbeitgeber ist der CEEP einer der drei von der EU-Kommission anerkannten europäischen Sozialpartner. Zu seinen Mitgliedern gehören Unternehmen und Organisationen aus den Sektoren Verkehr, Energie- und Wasserversorgung, Entsorgung, Wohnungswirtschaft, Post und Telekommunikation sowie weitere öffentliche Dienstleistungsbereiche. i infos www.vku.de wesentlich mitzugestalten und vor Ort mit neuen Geschäftsmodellen für Bürger, Gewerbe und Industrie in zukünftige Wachstumsmärkte einzusteigen – kurz: sich als kommunale Stütze und Treiber der Digitalisierung zu positionieren. All diese Themen werden in Leipzig diskutiert – sowohl national als auch in einem europäischen Kontext – denn für 2016 werden umfangreiche Vorlagen zum europäischen Strommarkt von der Europäischen Kommission erwartet. Auf dem VKU-Stadtwerkekongress am 13. und 14. September 2016 in Leipzig werden Entscheider und Experten aus Politik und Wirtschaft die aktuellen Themen auf den Punkt bringen. Dort haben Sie die Möglichkeit, sich mit Ihren Kollegen zu vernetzen und Lösungen für die anstehenden Herausforderungen zu diskutieren. i infos www.stadtwerkekongress.de einrichtung deutschlandweit auf kommunale Themen spezialisiert hat. Deren Leiterin, Marion Hecker-Voß, zugleich auch Chefin der Landesbibliothek in der Stiftung Zentral und Landesbibliothek, und Martha Ganter, Fachlektorin für kommunalwissenschaftliche Veröffentlichungen, haben für das Juni-Heft folgende Auswahl getroffen. Bücher Kommunalwissenschaft aktuell: In dieser Rubrik stellen wir Ihnen seit Juni 2015 Publikationen zu kommunalen Themen vor, die neu auf dem Markt sind, und die wir Ihnen aus inhaltlich- INSPIRATIONEN/INFORMATIONEN thematischen Gründen ganz besonders an Herz legen wollen. „Aufgespürt“ werden diese Titel von der Senatsbibliothek Berlin, die sich als einzige Spezial- UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 i infos Senatsbibliothek Berlin in der Stiftung Zentral- und Landesbibliothek Berlin, Breite Straße 30-36, 10178 Berlin www.senatsbibliothek.de 59 Personalien / Veranstaltungen / Bücher Cronauge, Ulrich; Pieck, Stefanie: tung, die sich aus dem demografischen Wandel, den Auswirkungen der Finanzkrise, der Energiewende und dem geplanten TTIP-Abkommen ergeben. (Verlag) Geisz, Johannes: ISBN 978-3-503-13658-2, Senatsbibliothek: R 641/2 Bolsenkötter, Heinz: Berlin: Wissenschaftlicher Verlag Berlin, 2015. Kommunale Unternehmen und damit die Ausgliederung kommunaler Aufgaben aus der „Rathaus”Verwaltung haben in der kommunalen Praxis an Bedeutung gewonnen. Diese sogenannte mittelbare Kommunalverwaltung mit ihren vielfältigen Aufgabenfeldern steht ständig im Spannungsfeld von effizienter Aufgabenerfüllung und notwendiger Steuerung und Kontrolle durch die Trägerkommune. Der Autor schreibt aus kommunalem Blickwinkel, unter dem die Vor- und Nachteile der jeweiligen Rechtsform eines Unternehmens verdeutlicht werden. Entstanden ist ein Handbuch, das sich an Entscheidungsträger in den Gemeindevertretungen und Gemeindeverwaltungen richtet, denen es als Entscheidungshilfe dient und Möglichkeiten und Grenzen der Ausgliederung kommunaler Aufgaben zeigt. Die erweiterte Neuauflage bezieht politische und gesellschaftliche Entwicklungen mit ein. Der Autor erläutert auch vertiefend die aktuellen Herausforderungen der kommunalen Selbstverwal- Öffentlich-Rechtliche Unternehmen der Gemeinden: länderübergreifende Darstellung. ISBN 978-3-86573-876-9, Senatsbibliothek: R 641/1 Kommunale Unternehmen. Berlin: Erich Schmidt Verlag, 2016. Stuttgart: Kohlhammer, 2015. ISBN 978-3-17-019872-2, Senatsbibliothek: R 641/3 Dieses länderübergreifende Handbuch erläutert sowohl die einschlägigen kommunalrechtlichen Vorschriften als auch relevantes anderes Recht, insbesondere Handels- und Steuerrecht. Den Hauptteil des Buches bildet – auch in der vorliegenden Auflage – die Kommentierung der Vorschriften über Wirtschaftsführung und Rechnungswesen einschließlich Bilanzierung und Abschlussprüfung. Die aktuellen Entwicklungen in den Ländern seit der Vorauflage werden anschaulich dargestellt. Ausführlich behandelt wird außerdem die Anstalt des öffentlichen Rechts (Kommunalunternehmen) mit ihren Gemeinsamkeiten und Unterschieden zum Eigenbetrieb. (Verlag) Unsere Gastrezension: Von Prof. Dr. Thomas Edeling Das kommunale Nagelstudio. Die populärsten Irrtümer zu Stadtwerke & Co. Nun hat der Herausgeber dieser Zeitschrift wieder ein Buch geschrieben. Nach seinem 2014 beim renommierten Verlag SpringerGabler erschienenen ersten Standardwerk „Kommunalwirtschaft. Eine gesellschaftspolitische und volkswirtschaftliche Analyse“ folgt nun das im gleichen Hause verlegte Buch „Das kommunale Nagelstudio. Die populärsten Irrtümer zu Stadtwerke & Co.“. Mit diesem Titel startete Springer eine neue Sachbuchreihe. Viel Ehre für eine Schrift zum Thema Kommunalwirtschaft, das im Regelfall eher ein Nischendasein führt. Dass der Autor, Michael Schäfer (Co-Autor ist Sven-Joachim Otto) diese Edition in seiner Zeitschrift nicht vorstellen kann, liegt auf der Hand. Andererseits wäre es töricht, es in UNTERNEHMERIN KOMMUNE mit ihrer fachlich wahrlich „passenden“ Leserschaft quasi unter den Tisch fallen zu lassen. Bücher werden ja doch bitte schön – jetzt folgt eine Binsenwahrheit – geschrieben, um gelesen zu werden!!! Wie raus aus diesem kleinen Dilemma? Die „Prob- Eine Lanze für die Kommunalwirtschaft! Die kommunale Wirtschaft in Deutschland ist seit ihrem Entstehen im 19. Jahrhundert umstritten und in ihrer Existenzberechtigung neben der Privatwirtschaft ideologisch und politisch umkämpft. Öffentliches Eigentum generell wie kommunales Eigentum im besonderen werden 60 Die Grenzen der Privatisierung kommunaler öffentlicher Einrichtungen. Die Kommunen der Bundesrepublik Deutschland stellen ihren Einwohnern verschiedene öffentliche Einrichtungen zur Nutzung bereit. Die vorliegende Arbeit untersucht, ob und wie diese im Rahmen kommunaler Daseinsvorsorge vorgehaltenen kommunalen öffentlichen Einrichtungen nach der geltenden Rechtslage privatisiert werden dürfen, welche Vorgaben bei der Umsetzung der verschiedenen Privatisierungsarten zu beachten sind und welche kommunalen Pflichten in der Privatisierungsfolgephase fortbestehen. Exemplarisch werden einzelne Einrichtungen aus dem Bereich der freiwilligen Selbstverwaltungsaufgaben sowie der kommunalen Pflichtaufgaben einer näheren Betrachtung unterzogen. So untersucht der Autor die Privatisierungsmöglichkeiten kommunaler Volksfeste und Märkte, der Wasserversorgung sowie der Abwasserbeseitigung. (Verlag) lemlösung“ ist eine Gastrezension. Dass ich Prof. Dr. Thomas Edeling darum gebeten habe, liegt daran, dass er als Wissenschaftler über die anerkannte Sachkunde verfügt. Mindestens ebenso wichtig war mir bei der Auswahl sein Ruf als kritischer und unbestechlicher Geist. Ich wusste, er wird das aufschreiben, was er denkt. Eine Jubelbotschaft konnte ich also nicht per se erwarten. Insofern war meine Neugier auf das Fazit aus seiner Feder ebenso groß wie der Respekt vor notwendigen kritischen Anmerkungen. Üblicherweise stellen wir unsere Gastrezensenten den Lesern kurz vor: Thomas Edeling wurde 1948 in Halle/Saale geboren. Nach kaufmännischer Lehre im Maschinenbauhandel, dem Studium von Wirtschaftswissenschaften und Soziologie und einer Assistenzzeit an der Humboldt-Universität zu Berlin wurde Edeling 1993 zum Professor für Organisations- und Verwaltungssoziologie an der Universität Potsdam berufen. Einschlägige Publikationen aus seiner Feder zur Kommunalwirtschaft sind unter anderem: Öffentliche Unternehmen zwischen Privatwirtschaft und öffentlicher Verwaltung (zusammen mit Stölting und Wagner), Wiesbaden 2004; Brüchige Grenzen: Delegitimierung kommunalen Wirtschaftens durch Angleichung an die Privatwirtschaft? In: Haug/Rosenfeld (Hg.): Neue Grenzen städtischer Wirtschaftstätigkeit, Baden-Baden 2009. Kommunalwirtschaftlich ausgewiesen ist er auch durch die Studie „Kommunalwirtschaft im gesamtwirtschaftlichen Kontext“, die er 2006 im Rahmen eines Lehrforschungsprojekts am Kommunalwissenschaftlichen Institut der Universität Potsdam als einer der wissenschaftlichen Leiter verantwortete. Thomas Edeling ist nach seiner Emeritierung im Jahr 2013 weiter wissenschaftlich engagiert. mit „organisierter Verantwortungslosigkeit“ gleichgesetzt, die auf wirtschaftliche Anreize des Marktes nicht reagiere und Risiken und Kosten wirtschaftlicher Entscheidungen kollektiv so umverteile, dass weder die Aussicht auf Gewinn noch die Furcht vor Verlusten öffentliche Eigentümer zu rationalem Handeln veranlasse. Aus einer solchen von der Figur des „homo oeconomicus“ bestimmten Perspektive scheinen sich Effizienz und Effektivität, Unternehmertum und Innovation für öffentliche wie kommunale Betriebe per se auszuschließen, während Trägheit und Schlendrian quasi von Natur zum Erscheinungsbild dieser Betriebe gehörten. Genau diesem Zerrbild kommunaler Unternehmen, das bis heute viele öffentliche Diskurse prägt, ruft Michael Schäfer und Sven-Joachim Otto auf den Plan, in einer zugegebenermaßen „etwas UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 Personalien / Veranstaltungen / Bücher parteiischen Auseinandersetzung“ eine Lanze für die kommunale Wirtschaft zu brechen und auf der Grundlage langjähriger und umfassender Kenntnis des Feldes gegen die „populären Irrtümer“ über die kommunale Wirtschaft zu Felde zu ziehen. Das bei Springer in diesem Jahr herausgekommene Buch von Schäfer und Otto gliedert sich in fünf Kapitel, von denen die ersten drei in den Gegenstand der Untersuchung einführen (S. 1 – 47), indem sie „Kommunalwirtschaft“ als die „Gesamtheit der wirtschaftlichen Betätigung der Kommunen im Rahmen von Strukturen, die vollständig oder mehrheitlich in kommunalem Eigentum sind“ (S. 5), vom Umfang her definieren und inhaltlich durch das für kommunale Betriebe handlungsleitende Prinzip „Nutzenstiftung vor Gewinnmaximierung“ (S. 15) von der Privatwirtschaft abgrenzen. In privater Rechtsform auftretende Unternehmen zählen damit zur Kommunalwirtschaft, sofern sie sich mehrheitlich im Eigentum von Gemeinden, Städten oder Landkreisen befinden und – das bleibt natürlich immer die Krux – sich in der Art ihres Wirtschaftens von Privatunternehmen unterscheiden. Den Kern des Buches bildet das 4. Kapitel (S. 49 – 181), das landläufige Irrtümer, Unterstellungen und Fehldarstellungen kommunalen Wirtschaftens aufspießt, um sie zunächst argumentativ zu zerlegen und dann im abschließenden 5. Kapitel (S. 183 – 233) zu widerlegen. Da ist zunächst das kommunale Nagelstudio, das dem Buch zum Titel verholfen hat. Es steht – gleich Weinbergen oder Stadtgärtnereien – für die angeblich immense Zahl kommunaler Unternehmen, die der mittelständischen Wirtschaft den Atem nehmen und Privatbetriebe verdrängen. Direkt beleidigt fühlen könnten sich kommunale Unternehmen, wenn sie als „Beamtenladen“ diffamiert und bar jeglicher Unternehmungslust hingestellt werden. Abgesehen davon, dass Beamte besser sind als ihr Ruf, fragen Schäfer und Otto zurecht, wie auf diese Weise geschmähte Stadtwerke seit zwanzig Jahren in offenen Märkten unter Wettbewerbsbedingungen erfolgreich – und ohne Subventionen – überlebt haben und als Auftraggeber für die Privatwirtschaft lokal eine große Rolle spielen, und das erst recht in strukturschwachen Regionen. Ein nicht minder beliebtes, aber trotzdem falsches Bild zeigt kommunale Unternehmen als „Versorgungsstation für verkrachte Politiker“. Verkracht allerdings sind solche Leute durchaus nicht, vielmehr bilden sie – politisch erfahren und mit Führungsqualitäten ausgestattet – die nötige Scharnierstelle zwischen Kommunalpolitik und Kommunalwirtschaft, über die politische Steuerung ausgeübt wird. Personalpolitik dient hier (als „Herrschaftspatronage“ im Verständnis Theodor Eschenburgs) der für alle kommunalen Unternehmen unerlässlichen Sicherung politischen Einflusses auf das wirtschaftliche Handeln des Managements im Sinne politisch definierter öffentlicher Interessen. „Gewinnmaximierung vor Nutzenstiftung“ bleibt in Markt und Wettbewerb immer eine Versuchung! Die Liste der „populären Irrtümer“ über die kommunale Wirtschaft ist länger als bisher angesprochen und endet auch bei Schäfer und Otto an dieser Stelle noch längst nicht. Erwähnt werden soll aber immerhin noch ein erster Versuch, auf Grund einer empirischen Erhebung im Rahmen einer Masterthesis an der Hochschule für nachhaltige Entwicklung (betreut von Michael Schäfer, der dort eine Professur für Kommunalwirtschaft innehat) dem Vorwurf entgegenzutreten, Korruptionsfälle seien in der Kommunalwirtschaft häufiger als in der Privatwirtschaft. Die umfassenden empirischen Daten zur relativen Häufigkeit von diesbezüglichen Ermittlungsverfahren in der öffentlichen und privaten Wirtschaft sprechen eine andere Sprache und entlasten die kommunale Wirtschaft vom Verdacht, anfälliger für Korruption zu sein als die Privatwirtschaft. Ansatz und Methode der Erhebung von Korruptionsfällen versprechen mehr Licht in diesem Dunkelfeld und sollten zur Fortsetzung und Vertiefung ermutigen. Interessant schließlich ist auch die Auseinandersetzung, die die Autoren nicht nur mit den Kritikern kommunalen Wirtschaftens führen, sondern auch mit manchen ihrer gutwilligen und zuweilen naiven Befürworter: Dürfen UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 INSPIRATIONEN/INFORMATIONEN kommunale Unternehmen in das Gewand einer privaten Rechtsform schlüpfen, und dürfen sie überhaupt Gewinne machen? Schäfer und Otto betonen zurecht, dass kein Unternehmen ohne Gewinne investieren und überleben könnte. Das gilt auch für kommunale Unternehmen. Gewinne sind also nichts Anrüchiges, sofern sie dazu beitragen, diese Unternehmen als Instrumente zur Verwirklichung öffentlicher Interessen zu erhalten und zu stärken. Über die Übernahme einer privaten Rechtsform ließe sich länger diskutieren. Realistisch muss man sehen, dass die Mehrzahl der kommunalen Unternehmen heute in der Rechtsform der GmbH existiert. Eben dies gibt ihnen größeren Handlungsspielraum und beschränkt die Haftung der Kommunen, wie die Autoren erläutern. Unbestritten ist aber auf der anderen Seite auch, dass die Übernahme einer privaten Rechtsform, erst recht wenn sie mit Teilprivatisierungen einhergeht, zu politischen Steuerungsverlusten führt. Wer am Ende der Lektüre dieser flüssig geschriebenen Streitschrift das Buch zuklappt, hat sich nicht nur einen Lesegenuss gegönnt, sondern ist auch besser gewappnet, Irrtümern über die kommunale Wirtschaft entgegenzutreten. Das Buch immer mal wieder aufzuschlagen, ist dennoch nicht verkehrt, denn Vorurteile und Legenden leben lange und tauchen in veränderter Gestalt immer wieder auf. Angesichts von Zeitgeist und Ideologien, wechselnden Theoriewellen, Organisationsmythen und Managementmoden, mit deren Brille wir die Welt beobachten, wird die Vorstellung irrig, nur glauben zu wollen, was man sieht. Wäre es so einfach, hätten sich all die Irrtümer auch und gerade über die kommunale Wirtschaft längst erledigen müssen. „Ich werde es sehen, wenn ich es glaube“, provoziert der amerikanische Organisationsforscher Karl Weick, und macht so darauf aufmerksam, wie unsere Vorstellungen von Vorurteilen bestimmt werden. Wer glaubt, dass ein kommunales Unternehmen ein „Beamtenladen“ oder „politischer Zirkus“ ist, wird diesen Laden oder Zirkus auch überall sehen. Den Glauben aber an Trugbilder dieser Art gründlich und hoffentlich andauernd erschüttert zu haben, ist das Verdienst des Buches von Schäfer und Otto. Wer es gelesen hat, sieht besser! Michael Schäfer / Sven-Joachim Otto infos Das Kommunale Nagelstudio. Die populärsten Irrtümer zu Stadtwerke & Co. Springer-Verlag, Heidelberg 1. Auflage 2016 ISBN 978-3658098711 www.springer.com i 61 Personalien / Veranstaltungen / Bücher Abweichend von der sonstigen strengen Struktur dieses Rezensionsteils möchte ich an dieser Stelle eine kurze Vorbemerkung machen. Ich gebe zu, dass ich die Bücher, die ich nachfolgend kurz vorstelle, alle (noch) nicht so gründlich zur Kenntnis genommen habe, dass eine wirklich fundierte Rezension verantwortbar wäre. Das liegt einfach daran, dass ich mich mit meinem Pensum vor meinem Urlaub – wie seit vielen Jahren bin ich auch 2016 in den ersten beiden Juniwochen an der dänischen Nordseeküste in Jütland – hoffnungslos übernommen habe. Dass die Zeit nicht reichte, liegt vor allem an ein paar persönlichen Umständen, auf die ich hier nicht eingehen will. Wer mich kennt, weiß, dass ich Preuße durch und durch bin, und weiß auch, es müssen schon besondere Dinge sein, die dazu führen, dass ich einmal nicht ganz so gründlich bin. Im nunmehr 42. Arbeitsjahr darf ich bitte auch mal „schwächeln“. Es wird also auch im unmittelbaren Wortsinn „nur“ eine Vorstellung. Deshalb verzichte ich auch auf eine Bewertung, sondern urteile für alle Bücher summarisch: - Sehr lesenswert (alle) - Originelle Gedanken und Informationen, gottlob nicht mit der „political correctness“-Schere im Kopf zu Papier gebracht (Sarrazin, Wagenknecht, Gysi/ Schorlemmer) - Brillante Populärwissenschaft (Dawkins) Also haben Sie bitte Nachsicht. Dass manche Kollegen eh nur die Klappentexte abschreiben, ist natürlich kein Maßstab. Mir ging es nur darum, Ihnen diese ganz druckfrischen Werke (außer Dawkins) zeitnah ans Herz zu legen. Der Weg in die Buchhandlung lohnt sich. Das, was Sie gerade lasen, war der Stand der Dinge am 26. Mai, dem Tag unserer Abreise ins Dänenland. Eine Tasche mit Arbeit – Dinge, die einfach noch erledigt werden müssen, weil Termine drücken, und solche, die mir Spaß machen – ist im Urlaub immer dabei. Die Termin“-fälle“ waren schneller abgearbeitet als vermutet. Also war Lesezeit angesagt. Start mit Belletristik: „Der Überläufer“ von Siegfried Lenz. Dieser Anfang der 50er Jahre entstandene Roman wurde als Manuskript erst im Nachlass des großartigen, 2014 verstorbenen Erzählers gefunden. Ein wunderbares, ein aufrüttelndes Buch. Kaum vorstellbar, dass ein 25jähriger das so zu Papier bringen konnte. Vermutlich nur dadurch erklärbar, dass Lenz wie andere Literaten seiner Generation so durch das 62 unvorstellbare Grausen des Kriegs geprägt wurden, dass sie quasi noch im Jünglingsalter diese unglaublich Reife hatten. Kaum vorstellbar auch, dass Hoffmann und Campe, diesem Verlag hielt Lenz bis an sein Lebensende die Treue, das Manuskript verwarf – Lenz akzeptierte das, und so landete es im Nachlass – und zwar mit der Begründung, dass man einen solchen Text im Jahr 1946 hätte eventuell noch vertreten können. Nicht aber in der Bundesrepublik des Jahres 1952. Zu dieser Zeit sei ein Wehrmachtssoldat, der zur Roten Armee übergelaufen war, als positiver Held eines Romans einer Mehrheit der Menschen nicht mehr zu vermitteln. Das war der „neue Zeitgeist“ der Restauration, und das Lesen darüber ließ mich ähnlich erschauern wie die Lektüre von Ursula Krechels „Landgericht“, das ich im Dezemberheft 2012 vorgestellt habe. Die damalige Empfehlung will ich hier ausdrücklich wiederholen: die alte Bundesrepublik hat mindestens genauso viele Gründe, mit Scham auf ihre Nachkriegsgeschichte, in der Hundertausende Nazis weißgewaschen in die Schulzimmer und Gerichtssäle als Lehrer und Richter zurückkehrten und fröhlich weitermachten, zu schauen, wie der Osten auf die demokratiefeindliche Pervertierung der per se doch guten Idee, die Menschheit von Ausbeutung zu befreien. Nachdem Lenz gelesen war, schaute ich auf den verbliebenen Stapel (nach wie vor schleppe ich die Bücher kiloweise ins Dänenreich und verschmähe die neumodischen Lesegeräte), und es regte sich eine Mischung aus Preußentum – siehe oben – und Neugier. In dieser Melange war Sarrazin der Nächste, und deshalb bekommen Sie zu einem der in dieser Ausgabe „nur“ vorgestellten Bücher eine richtige Rezension. Wunschdenken Werden wir gut regiert? Oder bleibt die Politik hinter ihren Möglichkeiten zurück? Und wenn das so ist – woran liegt das? Wie kommen politische Fehlentwicklungen zustande und wie kann man sie vermeiden? Thilo Sarrazin beschreibt die Bedingungen und Möglichkeiten guten Regierens und untersucht typische Formen politischen Versagens. Daraus generiert er die fünf Erbsünden der Politik: Unwissenheit, Anmaßung, Bedenkenlosigkeit, Opportunismus und Betrug, Selbstbetrug. Diese Typologie ist schon auf dieser abstrakten Ebene schockierend. Sarrazin hat sie aber auch konkret für Politikfelder belegt, die für unser Gemeinwesen existentielle Dimensionen haben. Ob Flüchtlinge oder die Energiewende, um dafür nur zwei Beispiele zu nennen. Überall treffen wir auf diese Entscheidungen, die als Sündenfälle gelten müssen. Thilo Sarrazin hat Recht: Wir werden überwiegend schlecht regiert. Es ist nicht tröstlich, dass sich Deutschland dabei in „guter Gesellschaft“ befindet. Im Gegenteil. Es muss uns noch mehr Angst machen. Wie wir aus dieser bestandsgefährdenden Lage herauskommen, habe ich bei Sarrazin nicht gefunden. Aber vielleicht gibt’s ja gar keine Lösung?! Diesen knappen Vorstellungstext hatte ich noch in Berlin geschrieben. Nachdem ich nunmehr die 570 Seiten komplett gelesen habe, also sogar den umfangreichen Anhang, kann ich diese Zusammenfassung mit gutem Gewissen stehen lassen. Es bleibt dabei: Sarrazin hat wieder ein Buch geschrieben, das ich für gut, wichtig, mithin also für lesenswert halte. Allein die Tatsache, dass meine intellektuelle und emotionale Lage bei der Lektüre die Skala von großer Begeisterung und Zustimmung über kritische Skepsis zu den Thesen und Argumenten Sarrazins bis hin zu Wut über die Ignoranz großer Teile des uns regierenden politischen Personals umfasste, dürfen Sie als rundum positives Votum werten. Welches Sachbuch auf den Bestsellerlisten mit so welterschütternden Themen wie unseren Gedärmen oder den Befindlichkeiten unserer Bäume hat ein solches Potenzial? Was im Einzelnen lohnt es, den neuen Sarrazin zu lesen? Erstens ist der inhaltlich-methodische Ansatz, Politikversagen an UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 Personalien / Veranstaltungen / Bücher Gegenständen zu zeigen, die für den Bestand unseres deutschen Heimat- und Vaterlandes eine existenzielle Dimension haben. Der Autor hat folgende Felder ausgewählt: (1) Der souveräne Staat und seine Grenzen (2) Staat und Währung (3) Wohlstand mit den Unterkapiteln Bildung sowie Demografie und Einwanderung (4) Gerechtigkeit (5) Klima und Umwelt Wer die Vita Sarrazins kennt und zudem seine bisherigen Bücher gelesen hat, der weiß, dass er sich zu den Themen Staat, Währung, Finanzen, Migration und Bildung bestens auskennt. Es ist also nur folgerichtig, dass unter den gerade genannten fünf Feldern die Punkte 1 – 3 herausragen. Dort brilliert Sarrazin mit Argumentationskraft, die sich auf eine sorgfältige und durch viele seriöse Quellen gestützte Analyse stützt. Wer die Passagen zur deutschen Flüchtlingspolitik liest, kann sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass die in Verantwortung stehenden deutschen Politiker dazu ernsthafte Gegenargumente vorbringen könnten. Sie tun’s ja auch nicht! Weil – so die These von Sarrazin – fünf „Erbsünden“ prägend für die deutsche Politik sind: (1) Unwissenheit – Täuschungen über die Wirklichkeit (2) Anmaßung – Täuschungen über die eigenen Handlungsmöglichkeiten (3) Bedenkenlosigkeit – Kollateralschaden politischen Handelns (4) Egoismus und Betrug (5) Selbstbetrug Diese von Sarrazin strukturierte Typologie (S. 194f ) wendet er auf die gerade genannten Politikfelder an. Nach einer jeweils umfassenden Sachdarstellung endet der Autor, dass er für diese Bereiche konkret zeigt, dass sein Erbsündenmodell auch praktisch funktioniert. Das ist sehr überzeugend bei den Themen, bei denen sich Sarrazin bis ins Detail auskennt. Das ist auch noch plausibel bei Überschriften wie Gerechtigkeit, Klima und Umwelt. Dass Sarrazin diese Segmente ausgewählt hat, leuchtet mir ein. Was mir nicht schlüssig ist, dass sich der bekanntlich sehr fleißige und bestens strukturierte Autor hier nicht gründlicher eingearbeitet hat (das ist eine Zeitfrage, und ob man die hat oder sich nimmt, das ist schon eine komplizierte Entscheidung, wenn Autor und Verlag auf der Erfolgsspur sind und verständlicherweise diesen guten Lauf nicht durch allzu lange Pausen unterbrechen wollen). Wenn der Rezensent auch der Lektor gewesen wäre, hätte er ersatzweise die Themen Rentenpolitik und Staatsfinanzen empfohlen. Da steht Sarrazin im Stoff, existentiell sind sie alle Male, und bezogen auf die Intention, Politikversagen nachzuweisen wäre die Analyse profunder und weniger angreifbar gewesen. Apropos Intention: dazu passt der Buchtitel – siehe die von Sarrazin identifizierten fünf Erbsünden – überhaupt nicht. Wunschdenken ist ja per se etwas allzu Menschliches und grundsätzlich auch nichts Unanständiges. Sarrazin prangert aber den Vorsatz an, und die Bereitschaft inklusive dem Vollzug zu Lüge und Täuschung. Was ich am Titel kritisiere, das führt hin zu einer grundsätzlich kritischen Anmerkung: Anders als bei „Deutschland schafft sich ab“ und „Europa braucht den Euro nicht“, wo Sarrazin einen zentralen Gegenstand definiert und ihn ebenso komplex und hervorragend strukturiert bearbeitet, habe ich bei „Wunschdenken“ das Gefühl, der Autor sei seltsam unentschlossen, was die durchgängige Hauptaussage dieses Buches betrifft. Das beginnt schon bei den drei Eingangskapiteln, mit denen der Autor in einer Mischung aus Geschichtsund Politikwissenschaft sowie Philosophie zum Kernthema, dem Politikversagen hinleiten will. Natürlich ist es richtig, heutige Politik aus der historischen Perspektive zu betrachten. Sarrazin zeigt auf diesen ersten 166 Seiten, dass das aktuelle Dilemma vieltausendjährige Wurzeln hat, und bestätigt einmal mehr, dass sich Geschichte zwar nicht einfach wiederholt, aber doch immer wieder bestimmten elementaren Regeln und Abläufen folgt. Ja, das Bedürfnis nach Gerechtigkeit, nach Transparenz, nach Demokratie ist so alt wie die Menschheit. Doch selbst in utopischen Phantasien gelingt dies nicht einmal ansatzweise, erinnert sich der Rezensent, wenn er Sarrazins knappes Fazit zum Land „Utopia“ von Thomas Morus liest. Aber dort und erst recht bei dem Versuch, den philosophisch-ökonomischen Welterklärungsversuch von Karl Marx auf knapp zwei Buchseiten auszubreiten, muss Sarrazin scheitern. In dieser Reduktion bleibt von Hegel als genialem „Erfinder“ des dialektischen Prinzips nicht mal ein Torso übrig. Ganz sicher ist Thilo Sarrazin ein herausragender Volkswirt, aber gerade deshalb sollte er in aller Bescheidenheit würdigen, dass Marx der bis heute beste und theoretisch fundierteste Erklärer jenes Wirtschaftssystems ist, das wir – wenn es denn gepaart ist mit einer wehrhaften und tatsächlich vom Volke ausgehenden Demokratie – mit einiger Berechtigung für das Beste halten, was wir bis dato auf unserem Erdenrund als gesellschaftliche Existenzform hatten. Und natürlich – hier irrt Sarrazin – hat Marx seine gesellschaftliche Entwicklungstheorie in Korrelation zum Menschen entwickelt, und ebenso können wir bei ihm nachlesen, dass UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 INSPIRATIONEN/INFORMATIONEN Demokratie im Grundsatz den Status eines zwingenden Postulats hat. Heftiger Widerspruch auch zur Aussage, dass „Utopien gefährlich sind“ (S. 73): Wie arm, lieber Thilo Sarrazin, wäre unsere Welt, und auf welch noch viel desaströserem Niveau stünde sie heute, wenn es diese Menschen nicht geben würde, die sich nicht nur eine bessere Erde wünschen, sondern auch darüber nachdenken, wie sie aussehen könnte, und auf welchen Wegen man sie erreicht!!! Und damit meine ich ausdrücklich nicht jene, die uns als deren Karikatur, als sogenannte Gutmenschen daher kommen, indem sie solitäres individuelles Tun von Minoritäten als Universalformel zur Lösung der Menschheitsprobleme erheben. Statt der bruchstückhaften und damit auch unzulässig groben und oft auch einseitigen Darstellung der politischen Menschheitsgeschichte hätte Sarrazin besser damit getan, sich noch viel intensiver auf die Linien jener Denker zu konzentrieren, aus denen er seine eigenen Positionen ableitet: Immanuel Kant und Max Weber. Bei Kant nimmt er in erster Linie den kategorischen Imperativ als Maxime, bei Weber ist es die Unterscheidung zwischen Gesinnungsund Verantwortungsphilosophie. Beide Kernaussagen begegnen uns im Buch immer wieder. Sarrazin wendet sie einleuchtend an, wenn er Vorschläge für ein modernes Gesetzes- und Regelwerk von Kant herleitet oder Absurditäten der Flüchtlingspolitik unter Hinweis auf Weber beleuchtet. Aus einer nationalen Verantwortungsethik leitet der Autor zu Recht ab, dass wir selbstverständlich die Frage stellen müssen, wieviele Flüchtlinge wir tatsächlich integrieren können. Und selbstverständlich sind hier die vorwiegend fehlgeschlagenen Eingliederungsbemühungen der Vergangenheit zu berücksichtigen. Ebenso richtig ist es, in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass die in Deutschland gewachsenen moralischen, ethischen, kulturellen, politischen und juristischen Regeln und Strukturen das Primat haben. Logische Konsequenz aus dieser Prämisse ist dann wiederum die Frage, ab welcher Dimension von Ein- und Zuwanderung dieser Wertekanon dahingehend gefährdet ist, dass er einfach nicht zur Kenntnis genommen wird, und im zweiten Schritt ein anderer Kanon mit der Überzeugungskraft einer großen Zahl einfach dagegen gesetzt wird? Diese Fragen darf man nicht nur stellen, man muss es. Sarrazins leidenschaftliches Plädoyer für unsere offene Gesellschaft, der ich mich ebenso leidenschaftlich anschließe, schließt doch ausdrücklich ein, dass wir solche Prozesse im Diskurs, und mit Blick auf das staatliche Gewaltmonopol auch nur recht ohnmächtig steuern können. Gottlob 63 Personalien / Veranstaltungen / Bücher ist es doch für uns – im Gegensatz zu etlichen arabischen und afrikanischen Despotien – völlig unvorstellbar, dass die Bundeswehr einen Migrationskiez mit automatischen Waffen stürmen könnte, weil die dort mehrheitlich Lebenden der Meinung sind, dass fortan ihre Regeln gelten…… Ich stelle gerade fest, dass ich die vielen handschriftlichen Notizen, die ich auf meinem Block und über 50 gelben Zetteln im Buch selbst verewigt habe, nicht einmal ansatzweise in dieser Rezension verarbeiten kann. Vielleicht besteht ja demnächst die Möglichkeit, darüber mit Thilo Sarrazin persönlich und unter Mitwirkung eines interessierten Auditoriums zu diskutieren. Für hier und heute nur noch drei kurzen Anmerkungen: (1) Ich habe mich gefreut, dass – nachdem offenbar einige Sozialdemokraten in den dafür zuständigen Gremien „Deutschland schafft sich ab“ tatsächlich auch gelesen haben – Sarrazins SPD-Rausschmiss sehr schnell vom Tisch war. Das war ihm ja offenbar wichtig. Deshalb verstehe ich erst recht nicht, warum ein so analytischer Denker so pauschal gegen „Linke“ (wer das auch immer sein mag) austeilt. Hier bitte viel mehr Differenzierung und auch inhaltliche Präzision. Es ist doch bitte wahr, dass sich die durch Ausbeutung „produzierte“ Ungleichverteilung der irdischen Reichtümer ständig vergrößert, also mitnichten nur gleich bleibt, wie Sarrazin behauptet. Wenn er sich mit Thomas Piketty inhaltlich auseinandergesetzt hätte, wäre ihm das aufgegangen. (2)  Es ist mir völlig unklar, warum Sarrazin in seinem Buch über Politikversagen in Deutschland die Legislative komplett ausgeblendet hat. Zynisch und ein wenig boshaft ist meine Vermutung, dass er das deshalb getan hat, weil er mit Blick auf die „Abstimmungsorganisation“ in unseren Parlamenten davon ausgeht, dass er diesen wichtigsten Teil unserer demokratischen Willensbildung zunehmend vernachlässigen kann? Zudem: die Genesis des Versagens ist ja ein sehr komplexer Prozess: Legislative, Exekutive, Judikative, die Medien, die Lobbyisten und am Ende die These (wieder Marx), dass sich die ökonomisch herrschende Klasse den Staat schafft (das ist natürlich sehr vereinfacht, im Grundsatz aber richtig und auch beweisbar), der seine ökonomischen Interessen optimal durchsetzt. Wenn dies im Kräfteparallelogramm der „Sozialen Marktwirtschaft“ Ehrhardscher Prägung – lang, lang ist’s her – gesteuert und gebändigt wird, kann ich übrigens gut damit leben. (3)   Mit großem Interesse habe ich Sarrazins Ausführungen zu den wirtschaftlichen Betätigungen des Landes und der Kommune 64 Berlin – vor allem natürlich im Bereich der Daseinsvorsorge – gelesen. Die Maxime, die er zur Führung der Beteiligungen (S. 185) aufgestellt hat, finde ich klug und überzeugend. Ein Buch nur zu diesem Thema, das würde ich mir von Sarrazin als Nächstes wünschen. i infos Thilo Sarrazin: Wunschdenken Deutsche Verlagsanstalt, München 1. Auflage 2016 ISBN 978-3-421-04693-2 www.dva.de Kurz vorgestellt: Was bleiben wird dass dieses Prokrustebett einer bolschewistischtschekistischen Partei auf den Sperrmüll geworfen wurde. Wir haben Kommunisten denunziert. Wir haben nicht respektiert, dass Menschen sich ändern können. Wir erstarren in der Pose der Dauerschuldzuweisung. Sie ist noch nach so vielen Jahren Mauerdurchbruch öde Praxis, und sie ist unwürdig.“ Was bleibt? Es gab mit der DDR den ernsthaften Versuch vieler Menschen, eine Alternative zum Kapitalismus zu schaffen. Dass dies ehrliche Absicht war, ist ebenso wahr, wie die Pervertierung dieser Idee durch eine intellektuell dürftige, bornierte und machtversessene Funktionärskaste. Geduldet von der Mehrheit des Staatsvolkes, das sich in den Nischen des Systems etabliert hatte. Wer hier mangelnden Mut geißelt, der muss sich die Frage gefallen, was wir heute, ausgestattet mit allen bürgerlich-demokratischen Grundrechten, den vielen Ungerechtigkeiten unserer kapitalistischen Welt an Worten und Taten entgegensetzen. i Gregor Gysi / Friedrich Schorlemmer: Was bleiben wird Aufbau Verlag GmbH & Co. KG Berlin 1. Auflage 2015 ISBN 978-3-351-03599-0 www.aufbau-verlag.de infos Das egoistische Gen Das Gespräch, das Hans-Dieter Schütt für dieses Buch mit Friedrich Schorlemmer und Gregor Gysi führte, ist nicht sein erstes dieser Art. Ich finde, er beherrscht diese Art von Literatur – und darum handelt es sich zweifelsfrei – inzwischen meisterhaft. Das Thema ist – das schmerzt, denn seit der Wende sind inzwischen fast 27 Jahre vergangen, genug Zeit also für kritische, dabei aber differenzierte Reflektionen – die DDR und die immer noch mehrheitlich unter Verdikt stehende Frage, ob es neben dem Ampelmännchen auch Dinge von Bedeutung gab, die wir als bedenkenswert zur Kenntnis nehmen dürfen. Eine Kostprobe aus dem Munde von Friedrich Schorlemmer: „Ja, wir haben nach dem Ende der DDR, aus historisch begründbarer Berührungsangst, auf viel geistiggestaltungswillige Kompetenz verzichtet – auf Linke, die doch mit uns gemeinsam froh waren, Das ist – kurz gefasst – die These von Richard Dawkins: Wir werden von unseren, von Generation zu Generation weitergegebenen Genen gesteuert, und dies passiert aus einem einzigen Grund. Nämlich dem, dass sich diese damit selbst erhalten. Denn ohne uns sind wir nichts. Nur wir vergehen, UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 Personalien / Veranstaltungen / Bücher sie bleiben. Die Position hat aber, wie immer im richtigen Leben, auch eine andere, die bessere Seite. Denn so hilflos wie es auf den ersten Blick erscheint, sind wir unserem Schicksal gar nicht ausgeliefert. Dawkins meint nämlich, dass wir die einzige Spezies seien, die in der Lage sei, gegen ihr genetisches Schicksal anzukämpfen. Dawkins ist Evolutionsbiologe, ein sehr anerkannter dazu. Und er hat – vermutlich wegen guter Spezialgene – die ganz seltene Gabe, eine hochkomplexe und ebenso komplizierte Materie so vor uns auszubreiten, dass wir sie mit den Rudimenten unseres schulbiologischen Wissens auch gut verstehen. Ich bin per Zufall auf diesen Klassiker gestoßen, der in den 90er Jahren zum ersten Mal in Deutschland erschienen ist. Die zweite Auflage stammt aus dem Jahr 2007, ist gottlob noch lieferbar, und hätte viele neue Leser verdient. i Richard Dawkins: Das egoistische Gen Springer Spektrum Heidelberg 2. Auflage, 2007 ISBN 978-3-642-55390-5 www.springer-spektrum.de infos Reichtum ohne Gier Dass der derzeitige Kapitalismus nur sehr wenig mit dem vernünftigen Konzept der sozialen Marktwirtschaft eines Ludwig Ehrhard gemeinsam hat, davon ist die Mehrheit der Menschen auf unserem Planeten kraft eigener Anschauung überzeugt. Sahra Wagenknecht hat dazu in ihrem 2011 erschienenen Buch „Freiheit statt Kapitalismus“ auch eine überzeugende Argumentation geliefert und viele mit ihrem Lob für Ludwig Ehrhards Konzept verblüfft. Das nun erschienene „Reichtum ohne Gier“ kann man mit gutem Gewissen als Fortsetzung bezeichnen. Sehr gelungen ist diesmal die Mischung aus ökonomischen, soziologischen und gesellschaftspolitischen Perspektiven. Denn in der Tat kann man den Kapitalismus nicht auf seine rein ökonomische Funktionalität reduzieren. Sahra Wagenknecht räumt radikal mit den Lebenslügen dieses Systems auf. Denn natürlich ist die Geschichte „vom Tellerwäscher zum Millionär“ ein Unikat. Die Realität ist eine ständig wachsende Disparität von arm und reich und eine ebenso zunehmende Chancen-Ungerechtigkeit. Natürlich war der Manchester-Kapitalismus des Beginns gnadenlose Ausbeutung. Aber er war auch ungeheuer innovativ und mit dem Wettbewerb produzierte er nicht nur Profit, sondern auch technischen und wissenschaftlichen Fortschritt. Der Raubtierkapitalismus hat sich mit seinen gnadenlosen, menschverachtenden Praktiken aus Europa verzogen. In Bangladesh beispielsweise aber kann man ihn weiterhin besichtigen. Aber das Pendant, nämlich Motor des Fortschritts zu sein, das hat erhebliche Blessuren erlitten. So hatte ich die „Wegwerfgesellschaft“ noch nicht gesehen. Was ist daran innovativ, Produkte zu „erfinden“, die nach genau geplanten Szenarien ihr Leben aushauchen, nicht mehr repariert werden können, und deshalb einem Neuen weichen müssen? Ähnlich schlecht geht’s dem Wettbewerb: Pseudomärkte, mächtige Monopole, die die Welt unter sich aufgeteilt haben, und die ihre Risiken regelmäßig an tüchtige und innovative Mittelständler delegieren. Denn die sind leider von ihnen abhängig. Aus fundierten und brillant geschriebenen Analysen entwickelt Wagenknecht ihr Modell eines unabhängigen Wirtschaftseigentums und fordert: „Wenn wir wirklich besser leben wollen, geht es daher nicht bescheidener und kleiner: Dann müssen wir unsere Demokratie und die Marktwirtschaft vor dem Kapitalismus retten, und die Gestaltung einer neuen Wirtschaftsordnung in Angriff nehmen.“ (S. 28). Ich bin dafür, dass die Oberschicht, das Finanzkapital, für ihre gesellschaftsschädigenden Sünden endlich zahlen muss, und nicht wir Steuerzahler. Nur, wer überzeugt davon die Milliardäre? Und mit welchen Methoden? Vielleicht finden wir die Antworten im nächsten Buch von Sahra Wagenknecht. Lesen Sie aber erst mal dieses. Es lohnt sich. i Sahra Wagenknecht: infos Reichtum ohne Gier Campus Verlag, Frankfurt am Main 1. Auflage 2016 ISBN 978-3-593-50516-9 www.campus.de UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 INSPIRATIONEN/INFORMATIONEN Kommunale Unternehmen Es ist ein, nein es ist d e r Klassiker. Der „Cronauge“ – wieviel Studenten, Wissenschaftler, Entscheider in den Kommunen und kommunalen Unternehmen hat er begleitet?! Wenn der Autorenname den Titel ersetzt, dann ist der Olymp im Fachbuchgenre erreicht. Endlich – zu Beginn dieses Literaturteils haben Sie es bereits in den Empfehlungen der Berliner Senatsbibliothek gelesen – gibt’s vom „Cronauge“ eine neue Auflage. Es ist die sechste. Der Autor hat Nr. 5 völlig neu bearbeitet, erweitert, aber auch entschlackt. Er ist wieder allein auf dem Titel, und das hat er sich auch verdient. Zum Inhalt haben Sie in der Annotation der Senatsbibliothek alles gelesen. Ich sage an dieser Stelle, dass das Buch auf den Tisch jedes Menschen gehört, der sich ernsthaft mit Kommunalwirtschaft befasst. So wie ein aufrechter Christenmensch ohne Bibel nicht vorstellbar ist. i infos Cronauge: Kommunale Unternehmen Erich Schmidt Verlag Berlin 6. Auflage 2016 ISBN 9783503 13658 2 www.esv.info 65 Epilog / Impressum Liebe Leserinnen, liebe Leser, die Flüchtlingskrise scheint medial und politisch beendet. Deutschlands Leitmedien sprechen von einer deutlichen Entspannung, doch die nackten Zahlen lassen sich auch anders interpretieren. Allein zwischen Januar und April dieses Jahres sind knapp 250.000 Asylanträge gestellt worden. Dies ist bereits deutlich mehr als im gesamten Jahr 2014; übersteigt im Übrigen auch die Zahlen für denselben Zeitraum des Vorjahres. Und der Sommer steht erst bevor. Hochgerechnet auf das ganze Jahr 2016 würden bis zum Dezember 750.000 Asylanträge eingehen. Dies wäre der zweithöchste Wert in der bundesdeutschen Geschichte. Und angesichts der Tatsache, dass in Nordgriechenland, entlang der türkischen Ägäis und zunehmend wieder an den Küsten Nordafrikas Hunderttausende Durchlass nach Mitteleuropa begehren, scheint die Flüchtlings- und Migrationskrise mitnichten gelöst. Sicher ist, dass dieses Land wirtschaftlich in der Lage ist, die aktuellen Aufwände zu stemmen. Schließlich geht die Steuerschätzung von weiter und noch stärker sprudelnden Einnahmen aus. Damit wird Deutschland auch in aktuell bewegten Zeiten die Schwarze Null verteidigen. Bei der Beantwortung der Frage, ob wir das schaffen oder eher nicht, sind jedoch nicht nur pekuniäre Aspekte von Bedeutung. Das Mantra „refugees are welcome“ wird durch ständige Wiederholung nicht wahrer, sondern changiert als Zustandsbeschreibung vor den sozialen und politischen Hintergründen. Man kann und sollte den Aufstieg einer rechtspopulistischen Partei oder das Aufkommen offen rassistischer Bewegungen bedauern, muss sich aber eingestehen, dass sie ein Ergebnis der bundesdeutschen Migrationspolitik sind, von der sich nennenswerte Teile der Gesellschaft überfordert sehen. Nach Erdoğans Sieg bei den Präsidentschaftswahlen 2014 verfolgt er und seine Partei, die AKP, aktiv das Ziel, die Türkei zu einem islamistischen Präsidialsystem umzugestalten. Das „Gesetz zur Bekämpfung des Terrorismus“ ermöglicht das Verbot von Zeitungen und anderer Medien. Hunderte von Journalisten sitzen in Haft. Vor wenigen Wochen ist die Immunität fast aller kurdischen Abgeordneten aufgehoben worden. Deren politischer Verfolgung ist damit Tür und Tor geöffnet. Die Beziehungen zu den Nachbarn Iran, Armenien und Russland sind genauso vergiftet, wie jene zu Israel. Der Integrationsprozess in die EU wurde abgebrochen. Im Land tobt ein grausamer Bürgerkrieg und in Syrien ist die Türkei aktive Kriegspartei mit fehlender Abgrenzung zu den Terroristen des Islamischen Staates. Dies ist der Partner, auf den die Bundespolitik die Lösung der Flüchtlingskrise stützt. Unter den bestehenden Voraussetzungen wird es nicht möglich sein, gleichzeitig für Menschen-, Freiheitsund Minderheitenrechte einzutreten und zu erwarten, dass die AKP-Regierung unter Präsident Erdoğan als Puffer zwischen Millionen migrationswilliger Bürger und deren Traumzielen in Europa wirkt. Der Sommer wird neue Entwicklungen bringen. UNTERNEHMERIN KOMMUNE wird weiter versuchen, angemessen und neutral zu bewerten, welche Konsequenzen sich damit für die deutschen Kommunen verbinden. Ihr Falk Schäfer IMPRESSUM Herausgeber und Verleger: Prof. Dr. Michael Schäfer, Professor für Kommunalwirtschaft Verlag: Dr. Bernd Kahle GmbH und UNTERNEHMERIN KOMMUNE, Ansbacher Straße 6 - Dachgeschoss, 10787 Berlin HRB: 160181 B Amtsgericht Berlin-Charlottenburg, Geschäftsführender Gesellschafter: Prof. Dr. Michael Schäfer, www.unternehmerin-kommune.de Redaktion: Prof. Dr. Michael Schäfer, Chefredakteur (V. i. S. d. P.) Telefon: +49 (30) 9 444 130, Mobil: +49 (173) 607 2183, Telefax: +49 (30) 9 444 708, E-Mail: dr.schaefer@unternehmerin-kommune.de Falk Schäfer, Verantwortlicher Redakteur Telefon: +49 (30) 28 508 050, Mobil: +49 (173) 617 4627, Telefax: +49 (30) 28 508 049, E-Mail: f.schaefer@unternehmerin-kommune.de Anzeigenleitung: Angelika Schäfer, Prokuristin Telefon: +49 (30) 9 444 268, Mobil: +49 (173) 683 2648, Telefax: +49 (30) 9 444 708, E-Mail: a.schaefer@unternehmerin-kommune.de Satz und Layout: proform Michael Schulze, Seelower Straße 12, 10439 Berlin, Telefon: +49 (30) 4 442 637, E-Mail: proform-berlin@gmx.de Kooperationen: UNTERNEHMERIN KOMMUNE kooperiert redaktionell mit: • IWK Institut Wissenszentrum Kommunalwirtschaft e.V. • Senatsbibliothek Berlin – einzige kommunalwissenschaftliche Spezialbibliothek für die Bundesrepublik Deutschland • Spitzenverbände der Städte und Gemeinden der neuen Länder • Studiengang Kommunalwirtschaft an der Hochschule für nachhaltige Entwicklung in Eberswalde (deutschlandweit einziger Masterstudiengang Kommunalwirtschaft) • „Verbundnetz für kommunale Energie“ – Diskussionsforum zur kommunalwirtschaftlichen Betätigung • VKU-Landesgruppen der neuen Länder Druck: Das Druckteam Berlin, Gustav-Holzmann-Straße 6, 10317 Berlin, Telefon: +49 (30) 67806890 Erscheinungsweise: vierteljährlich Einzelpreis: Die Verbreitung von UNTERNEHMERIN KOMMUNE erfolgt namens- und funktionsbezogen an einen exakt definierten Bezieherkreis in Kommunalpolitik, Kommunalwirtschaft, Landes-, Bundes- und Europapolitik sowie einen ausgewählten Verteiler im Bereich der Privatwirtschaft. Der Bezug über den definierten Bezieherkreis hinaus ist möglich. Bestellungen sind direkt an den Verlag zu richten. Einzelpreis: 4,50 € incl. 7% MwSt. (einschließlich Zustellung über Pressevertrieb). Urheber- und Verlagsrecht: Die Zeitschrift UNTERNEHMERIN KOMMUNE und alle in ihr enthaltenen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Mit Annahme des Manuskripts gehen das Recht zur Veröffentlichung sowie die Rechte zur Übersetzung, zur Vergabe von Nachdruckrechten, zur elektronischen Speicherung in Datenbanken, zur Herstellung von Sonderdrucken, Fotokopien und Mikroskopien an den Verlag über. Jede Verwertung außerhalb der durch das Urheberrecht festgelegten Grenzen ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. In der unaufgeforderten Zusendung von Beiträgen und Informationen an den Verlag liegt das jederzeit widerrufliche Einverständnis, die zugesandten Beiträge bzw. Informationen in Datenbanken einzustellen, die vom Verlag oder von mit diesem kooperierenden Dritten geführt werden. Gebrauchsnamen: Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen und dgl. in dieser Zeitschrift berechtigt nicht zu der Annahme, dass solche Namen ohne weiteres von jedermann benutzt werden dürfen; oft handelt es sich um gesetzlich geschützte, eingetragene Warenzeichen, auch wenn diese nicht als solche gekennzeichnet sind. 66 UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016 www.pwclegal.de Besser verstehen. Schneller handeln. Ob Automobilindustrie oder Energieversorgung, ob kommunale Unternehmen oder Einrichtungen der öffentlichen Hand: Unsere Rechtsanwälte zeichnen sich nicht nur durch juristische Expertise aus, sondern auch durch spezifisches Branchenwissen. So können sie sich in kürzester Zeit in Ihre Fragestellungen einarbeiten und Sie in allen Rechtsgebieten gezielt beraten. An 21 Standorten in Deutschland und dank unseres weltweiten PwC Legal-Netzwerks auch weit darüber hinaus. Ihr Kontakt: Dr. Sven-Joachim Otto, Tel.: +49 211 981-2739, sven-joachim.otto@de.pwc.com © 2015 PricewaterhouseCoopers Legal Aktiengesellschaft Rechtsanwaltsgesellschaft. Alle Rechte vorbehalten. „PwC Legal“ bezeichnet in diesem Dokument die PricewaterhouseCoopers Legal Aktiengesellschaft Rechtsanwaltsgesellschaft, die zum Netzwerk der PricewaterhouseCoopers International Limited (PwCIL) gehört. Jede der Mitgliedsgesellschaften der PwCIL ist eine rechtlich selbstständige Gesellschaft. G ASAG | LÖSUNGE N GASAG – Ihr Energiemanager. Ganzheitliche Lösungen, individuell zugeschnitten. Energielieferung und -beschaffung Quartiersentwicklung Energiemanagement Contracting Virtuelles Kraftwerk Arealnetze Eco-Mobilität Energiepartnerschaft Smart Home www.gasag.de/loesungen Energievermarktung
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