AUSGABE 02 / JUNI 2016
Jahresthema: Infrastruktur
Sanierungsstau beim ÖPNV
Interview mit VDV-Präsident
Jürgen Fenske
S. 5
Kommunalwirtschaft aktuell
20. JAHRGANG
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Der neue Jobführerschein
GASAG und PwC engagieren
sich für die Integration
von Flüchtlingen
S. 29
Forum Neue Länder
Das gute Recht der Kommunen?
Roundtable-Gespräch zur
Rekommunalisierung
S. 34
Aus Forschung und Lehre
Von der Serie zum Sachbuch
„Weimarer Erklärung“ und
Buchpräsentation von
„Das kommunale Nagelstudio –
die populärsten Irrtümer zu
Stadtwerke & Co.“
S. 38
Inspirationen/Informationen
Weniger, bunter und ungleicher
Grundzüge der demografischen
Entwicklung in Deutschland
S. 42
www.unternehmerin-kommune.de
gültig ab 13.12.2015
gültig ab 13.12.2015
Niedersachsen
Niedersachsen
Herzberg (Harz) Harzer S
RB 80 Ellrich Wernige
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Stiege
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(Helme)
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Wolkramshausen
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RB 75 RB 51
Gebra (Hainleite)
Sollstedt
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RE 19
Leinefelde
RB 51
RE 9
RE 19
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RE 19
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Beuren
Bodenrod
Wingerode
Bodenrode
RB 51
RB 51
RE 9
Arenshausen
Eichenberg
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Mühlhausen
RB 89 Paderborn / Münster Witzenhausen
RE 17 Hagen
RB 51
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KasselWilhelmshöhe
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fahren Sie besser.
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RE 30, RE 98
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RB 89 Paderborn / Münster Witzenhausen
RE 17 Hagen
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Thüring
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Mitteldeutschlands
neue Züge.
Arenshausen
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Heilbad Heiligenstadt
R 8 Göttingen
Heilbad Heiligenstadt
RB 48 Friedrichroda
S
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Inhaltsverzeichnis
Prolog
4
JAHRESTHEMA: INFRASTRUKTUR
Finanzierung kommunaler Verkehrsinfrastruktur
Eine Kernaufgabe der Kommunen
Wettbewerb auf den Regionalstrecken des deutschen Schienennetzes
5
Der Kanon existentieller Daseinsvorsorge ist dynamisch
Breitbandversorgung – inzwischen (fast) so wichtig ist wie
frisches Wasser
Bindeglied zwischen den Kommunen
16
Digitalisierung und Daseinsvorsorge
8
Vorsprung durch Vertrauen
20
KOMMUNALWIRTSCHAFT AKTUELL
Springer-Sachbuch „Das kommunale Nagelstudio – die populärsten
Irrtümer zu Stadtwerke & Co.“
Stein des Anstoßes
Stiftung Jobführerschein gGmbH
24
GASAG und PwC starten Jobführerschein für Flüchtlinge
29
FORUM NEUE LÄNDER
Das Ob, Warum, Wann und Wie von Rekommunalisierungen
20 Jahre Ostdeutsche Sparkassenstiftung
Bewahren. Stärken. Begeistern.
30
Gebot der Stunde?
34
AUS FORSCHUNG UND LEHRE
Das Buch zur Irrtümer-Serie / Weimarer Erklärung
Plädoyer für potente kommunale Unternehmen
38
INSPIRATIONEN / INFORMATIONEN
Demografische Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland
Weniger, bunter und ungleicher
42
Personalien / Veranstaltungen / Bücher
59
Epilog / Impressum
66
Politik, Verwaltung und kommunale Kompetenzen in der
Schweizerischen Eidgenossenschaft
Ein ganz normaler Staat inmitten Europas?
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
50
Zum Titelbild:
Weder für das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz (GVFG) noch für die
Entflechtungsmittel gibt es bislang Nachfolgeregelungen. Zwei zentrale
Finanzierungsinstrumente des ÖPNV in Deutschland stehen zur Disposition.3
Prolog
Liebe Leserin, lieber Leser,
aufmerksame Leser meiner Kolumne wissen, dass meine Texte im Juniheft immer mal wieder von meinen Urlaubsaufenthalten an der dänischen Nordseeküste in Jütland inspiriert werden. Seit dem Jahr 2000 ist dieses nordische Land
immer von Ende Mai bis Mitte Juni unser Reiseziel. Wir lieben neben Dünen und
Meer vor allem die Leute: sie sind freundlich, hilfsbereit und herrlich unaufgeregt.
Das ist nicht aufgesetzt, es kommt von innen. Insofern wunderte es mich gar
nicht als 2012 zum ersten Mal die Ergebnisse des „World Happiness Report“
veröffentlicht wurden. Dieser für die Vereinten Nationen federführend vom Earth
Institute der renommierten Columbia Universität erstellte Bericht verbindet unter
anderem Daten von Sozialsystemen und Arbeitsmarkt mit Befragungen über die
Selbstwahrnehmung der Menschen. Bei den beiden bisherigen Ausgaben des
Berichts 2012 und 2013 war jeweils Dänemark auf dem ersten Platz gelandet.
Nun liegt die dritte Bestandsaufnahme – sie betrifft das Jahr 2015 und umfasst 160 Länder – vor und in den Ergebnissen am Anfang hat sich kaum
etwas verändert. Zwar hat die Schweiz Dänemark als glücklichstes Land der
Welt abgelöst. Doch die Unterschiede sind marginal. Auf Platz 2 landete Island,
und einen Wimpernschlag dahinter kommen schon wieder die Dänen. Unter
den ersten Zehn finden sich außerdem noch Norwegen, Kanada, Finnland, die
Niederlande, Schweden, Neuseeland und Australien. Deutschland liegt abgeschlagen auf Platz 26. Unter den jeweils zehn glücklichsten Ländern (eigentlich
Menschen!!!) sind seit 2012 aus Europa immer Dänemark, Schweden, Island,
Norwegen, Finnland und die Schweiz dabei.
Ich fühle mich damit ermuntert, auf meine mehrfach formulierte Hypothese zu
verweisen: die europäischen Länder, die auf der Skala der Glückseligkeit ganz
oben stehen, verwirklichen auf kommunaler Ebene ein hohes Maß an bürgerschaftlichen Mitwirkungs- und Gestaltungsmöglichkeiten. Auch bei uns steht ein
ähnliches Postulat im Artikel 28, Absatz 2 im Grundgesetz. Dieses Prinzip wird
in meiner Wahrnehmung, die ich für einigermaßen objektiv halte, immer mehr
ausgehöhlt. Deshalb habe ich auch kürzlich recht drastisch den Begriff von
den drei Totengräbern der kommunalen Selbstverwaltung geprägt: Überregulierung, strukturelle Unterfinanzierung und die nahezu komplette Abschaffung
der Subsidiarität. Ich bin überzeugt, die Erosion des Prinzips der kommunalen
Selbstverwaltung ist die zentrale Ursache dafür, dass Deutschland auf Platz 26
in der Glücksstatistik dahindümpelt.
Familie und Kommune – das sind die
Fundamente unserer Gesellschaft, und
nur wer ihnen dauerhafte Stabilität
verleiht, kann das auch für das ganze
Land bewirken. Die logische Konsequenz aus dieser Wahrheit wäre, die
Kommunen umfassend zu befähigen,
diese definierte Rolle zu unser aller
Nutzen auch auszufüllen. Das heißt
angemessene Finanzausstattung. Das
heißt auch, die kommunale Selbstverwaltung ohne permanente Eingriffe
übergeordneter Ebenen so organisieren zu können, dass damit die aktive
und umfassende Mitwirkung der Menschen mobilisiert werden kann.
Warum uns die Verwirklichung dieser Vision auch glücklicher machen würde?
Dass die nordeuropäischen Länder in der Spitzengruppe sind, liegt daran, dass
Gemeinsinn, Solidarität und individuelle Gestaltungs- und Mitwirkungsmöglichkeiten dort einen herausgehobenen Stellenwert haben. Diese Faktoren haben
in der Bewertung des „World Happiness Report“ einen zentralen Platz.
4
Aus einer sehr interessanten Perspektive, nämlich der der Hirnforschung, hat
Gerald Hüther, einer der bekanntesten Forscher auf diesem Gebiet, untersucht,
was Glück und Gestaltungsmöglichkeiten miteinander zu tun haben: «Die vorherrschende Devise zur Bekämpfung der inzwischen auf allen Ebenen unserer
gesellschaftlichen Entwicklung zutage getretenen Schwierigkeiten lautet: noch
mehr vom Alten. Noch mehr Vorschriften, noch mehr Kontrolle, noch mehr Einsparungen bei gleichzeitiger Forderung nach mehr Wachstum. So werden sich
die Probleme unseres Bildungs- und Gesundheitswesens, unserer sozialen Absicherung, unseres Finanzwesens und Politikbetriebs nicht beheben lassen. In
diesem Mahlstrom ständig wachsender und immer neuer ökonomischer und
sozialer Probleme laufen vor allem unsere Kommunen – unsere Städte, Dörfer
und Gemeinden – zunehmend Gefahr, ihre Eigenständigkeit zu verlieren und
das, was sie leisten sollten, nicht mehr leisten zu können.»
«Was Kommunen also brauchen, um zukunftsfähig zu sein, wäre eine andere,
für die Entfaltung der in den Bürgern angelegten Potenziale günstigere Beziehungskultur. Eine Kultur, in der jeder Einzelne spürt, dass er gebraucht wird,
dass alle miteinander verbunden sind, voneinander lernen und miteinander
wachsen können.» „Wenn Kommunen oder ihre kleineren Einheiten, die Familien, aufhören, diesen sozialen Lernraum bewusst zu gestalten, verliert die
betreffende Gemeinschaft das psychoemotionale Band, das ihre Mitglieder zusammenhält. Solche Gesellschaften beginnen dann gewissermaßen von innen
heraus zu zerfallen.» «Überall dort, wo Angst geschürt, Druck gemacht, genau
vorgeschrieben und peinlich überprüft und kontrolliert wird, wo Mitdenken nicht
wertgeschätzt wird und eigene Verantwortung nicht übernommen werden
kann, verliert der Innovationsgeist der Mitglieder einer solchen Gemeinschaft,
die thermische Strömung, die gebraucht wird, um seine Flügel zu entfalten.»
Die Konsequenz: Engagieren Sie sich bitte weiter für deutsches Glück. Kämpfen Sie für kommunale Selbstverwaltung, die diesen Namen wieder verdient.
Ich bin dafür auch schon lange auf Achse.
Ihr Michael Schäfer
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
JAHRESTHEMA: INFRASTRUKTUR
JAHRESTHEMA:
INFRASTRUKTUR
nachgeschlagen
Der Bundesverkehrswegeplan 2030 enthält rund 1.000 Projekte mit
einem Gesamtvolumen von 264,5 Milliarden Euro. Dies ist eine Steigerung
um 91 Milliarden Euro im Vergleich zum letzten Bundesverkehrswegeplan
aus dem Jahre 2003. Davon entfallen 49,4 Prozent auf die Straße, 41,3
Prozent auf die Schiene und 9,3 Prozent auf Wasserstraßen. Nach einer
sechswöchigen Öffentlichkeitsbeteiligung wird der Plan nun überarbeitet und
später vom Kabinett beschlossen.
Finanzierung kommunaler Verkehrsinfrastruktur
Eine Kernaufgabe der Kommunen
ÖPNV als Querschnittsressort eines modernen Daseinsvorsorgeverständnisses
U
nsere Gesellschaft ist umfassenden Veränderungsprozessen unterworfen. All diese Trends – vom demografischen Wandel, der Urbanisierung,
der Alterung, über die ökologische Wende zu mehr Nachhaltigkeit und Ressourceneffizienz bis hin zur Digitalisierung wirken in besonderem
Maße auf den ÖPNV. In vielen ländlichen Regionen stellt sich die Frage, wie sich in Zukunft die Mobilität von immer weniger und immer älteren
Bürgern organisieren lässt. Der demografische Wandel zwingt die Kommunen zu einer größtmöglichen Effizienz und zur Bündelung von Angeboten
in regionalen Zentren. Diese Konzentration von Infrastruktur kann nur im Gleichklang mit gestärkten Mobilitätsangeboten zwischen der Peripherie und
den definierten Ankerpunkten gelingen. In den großen Metropolregionen wiederum gilt es, attraktive Alternativen für den Individualverkehr mit dem
Auto zu schaffen. Ziel muss es sein, fossile Brennstoffe zunehmend aus dem Stadtverkehr zu verdrängen sowie durch insgesamt deutlich weniger Autos
die Verkehrssicherheit zu erhöhen. Laut Umweltbundesamt war der Straßenverkehr 2015 verantwortlich für ein Fünftel der Treibhausgas-Emissionen
in Deutschland. Zum großen Teil werden diese Schadstoffe im dichten Stadtverkehr von PKWs ausgestoßen, genau dort, wo auch die meisten
Menschen leben oder arbeiten. Der dritte Megatrend unserer Zeit ist die Digitalisierung. Sie wirkt sich nicht spezifisch auf den ÖPNV aus, sondern
betrifft wirklich alle Bereiche unseres Lebens. Im ÖPNV lassen sich vielfältige Potentiale nutzen – etwa bei der Verkehrssteuerung, im Kundenservice
oder bei der Vernetzung mit anderen Verkehrsträgern vom Fahrrad bis zum Flugzeug. All diese Entwicklungen deuten darauf hin, dass sich der
ÖPNV zunehmend zu einem Querschnittsressort der kommunalen Daseinsvorsorge entwickeln wird. Denn die Mobilität wird insgesamt wachsen
und der Individualverkehr ist weder ökologisch, sozial noch unter Sicherheitsaspekten geeignet, dieses Wachstum aufzunehmen. UNTERNEHMERIN
KOMMUNE wird sich daher in diesem Jahr speziell dem ÖPNV als Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge widmen – Aufgaben, die zentral sind, vom
Bürger als zentral empfunden werden, immer zentraler werden, jedoch vom Gesetzgeber noch immer als freiwillig definiert sind.
Zukunft muss finanziert werden und aus den geschilderten Zusammenhängen heraus verdient der ÖPNV eine hohe Priorisierung. Aktuell
stehen jedoch zwei wichtige Finanzierungselemente zur Disposition, womit sich in der Praxis in vielen Städten und Regionen ein gravierender
Sanierungsstau im kommunalen Nahverkehr verbindet.
Eine gemeinsame Studie von Deutschem Städtetag,
Verband Deutscher Verkehrsunternehmen und 13
Bundesländern ermittelte für Neu- und Ausbauprojekte im ÖPNV einen Investitionsbedarf von jährlich 1,8 Milliarden Euro. Darüber hinaus bestünde
ein erheblicher Sanierungsstau in Höhe von 4,5
Milliarden Euro und die im Personenbeförderungsgesetz geforderte vollständige Barrierefreiheit schlage
noch einmal mit mehr als 20 Milliarden Euro zu
Buche schlagen, so die Autoren. Diese Befunde
signalisieren einen enormen Handlungsbedarf, doch
anstatt die Investitionen in den ÖPNV angemessen
zu erhöhen, ringen die politischen Entscheider in
Bund und Ländern seit Jahren um die Fortführung
etablierter Finanzierungsinstrumente. Seit den
1970er Jahren sind über das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz (GVFG) mehr als 100 Milliarden
Euro in die Verbesserung der Verkehrsverhältnisse in
den Kommunen geflossen.
Mit der Föderalismusreform I aus dem Jahre 2007
wurde beschlossen, das mit jährlich 333 Millionen
Euro dotierte GVFG-Bundesprogramm für den
kommunalen ÖPNV nur noch bis Ende 2019 fortzuführen. Auch die jährlich rund 1,33 Milliarden Euro
aus den ehemaligen GVFG-Landesprogrammen,
heute Entflechtungsmittel, sind bis 2019 befristet.
Seit 2014 sind diese Mittel zudem nicht mehr nur für
verkehrliche Investitionen zweckgebunden.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
Doch gerade die langfristige Planbarkeit von
Finanzmitteln ist für größere Bauvorhaben im Verkehrsbereich wichtig. Das, was heute beschlossen wird,
lässt sich oft erst im kommenden Jahrzehnt realisieren.
Da aber die Zukunft von GVFG und Entflechtungsmitteln momentan noch vollkommen unklar ist,
stoppen Kommunen und Verkehrsunternehmen
bereits heute die Planung künftiger Vorhaben.
Doch nicht nur der Bund ist bei der Verlängerung
der Finanzierungstöpfe gefragt. Die Länder haben in
der Föderalismuskommission intensiv für mehr Verantwortung bei Verkehrsplanung und -finanzierung
gestritten. Dieser müssen sie nun auch gerecht werden.
Für die kommunalen Nahverkehrsunternehmen
5
ÖPNV
entwickelt sich der Finanzierungsvorbehalt
zunehmend zur Bedrohung. Je länger Unklarheit
herrscht, desto größer wird der Sanierungsstau und
desto weniger können sich Kommunen und Verkehrsunternehmen darauf konzentrieren, ÖPNV-Angebote
zu entwickeln, die den künftigen demografischen,
technischen und ökologischen Herausforderungen
bzw. Möglichkeiten entsprechen. Schon heute liegen
notwendige Infrastrukturmaßnahmen im ÖPNV
faktisch auf Eis. Das gilt für den barrierefreien Ausbau
von U- und Straßenbahnen in nahezu allen deutschen
Großstädten wie für viele andere Projekte.
Teilhabe, Lebensqualität und Klimaschutz
Interview mit Jürgen Fenske, Präsident des Verbandes Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) und Vorstandsvorsitzender der Kölner Verkehrs-Betriebe AG
Wachsende Mobilität soll einhergehen mit mehr Sicherheit, weniger Emissionen und überschaubaren
Kosten. Das geht eigentlich nur mit starken ÖPNV-Verbünden. Vor diesem Hintergrund wollten wir
von VDV-Präsident Jürgen Fenske unter anderem wissen, warum der ÖPNV noch immer als freiwillige
kommunale Aufgabe definiert wird und wie sich Sanierungsstau und Finanzierungsvorbehalte auf die
Entwicklung tragfähiger Verkehrsangebote auswirken können.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Als Präsident des Verbandes Deutscher Verkehrsunternehmen vertreten sie nahezu vollumfänglich
den Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV)
in Deutschland. Welchen Stellenwert hat diese
Aufgabe im Kanon der öffentlichen Leistungen?
in Staus ersticken. Dies hat man gerade erst bei den
Warnstreiks von ver.di gesehen. Drittens lässt sich das
Thema Klimaschutz nur mit einem starken ÖPNV
in den Griff bekommen. Teilhabe, Lebensqualität
und Klimaschutz wären ohne einen leistungsstarken
ÖPNV nicht auf dem derzeitigen Niveau.
Jürgen Fenske:
Der ÖPNV hat eine überragende Bedeutung. Aus
den Gesprächen in Bund und Ländern entnehme
ich, dass dieser Stellenwert aktuell noch weiter
wächst und der ÖPNV weithin als Kernaufgabe
der Kommunen anerkannt ist.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Bis zum Jahre 2050 werden in der Bundesrepublik voraussichtlich nur noch 70 Millionen
Menschen leben. Während sich einige
prosperierende Metropolregionen von diesem
Trend ausnehmen können, werden die weiten
ländlichen Räume dazwischen und auch die ehemaligen Industrieregionen in Mitteldeutschland,
Nordrhein-Westfalen, dem Saarland und anderswo umso stärker von einem Rückgang der Einwohnerzahlen betroffen sein. Auch die Alterung
wird sich insbesondere in den strukturschwachen
Regionen zeigen. Welche Implikationen verbinden sich mit diesen Entwicklungen für einen
ÖPNV in kommunaler Hand?
Jürgen Fenske
Ich möchte das in drei Punkten kurz begründen.
Erstens ist es gesellschaftlicher Konsens, dass ein
leistungsfähiger ÖPNV die Teilhabe am kulturellen
und sozialen Leben in den Städten und Gemeinden
erst ermöglicht. Zweitens besitzt der ÖPNV
eine zentrale Rolle für die Lebensqualität in den
kommunalen Gebietskörperschaften. Ohne einen
leistungsfähigen ÖPNV würden viele unserer Städte
6
Fenske:
Eingangs würde ich die Bevölkerungsprognose
für das Jahr 2050 gerne mit einem Fragezeichen
versehen. Die aktuell erheblichen Wanderungsbewegungen besitzen das Potential, dass die
Schätzungen der vergangenen Jahre deutlich nach
oben gehen könnten. In jedem Fall jedoch werden
sich prosperierende Metropolen und der ländliche Raum sehr unterschiedlich entwickeln. Die
Städte wachsen weiter und mit ihnen der ÖPNV.
In vielen Landkreisen dagegen gibt es zurückgehende Einwohner- und Schülerzahlen. Auch
darauf wird sich der ÖPNV einstellen müssen.
Sinnvoll ist es, ein Grundangebot nach Bedarf
mit ergänzenden Alternativen zu verknüpfen.
Dies können Rufbusse, Bestellverkehre, AnrufSammeltaxis oder Bürgerbusse sein. Hier sind in
den verschiedenen Regionen recht unterschiedliche Konzepte entwickelt worden, die wir im
Teilhabe, Lebensqualität und
Klimaschutz wären ohne einen
leistungsstarken ÖPNV nicht
auf dem derzeitigen Niveau.
„
______________________
Jürgen Fenske
“
Sinne einer kontinuierlichen Evaluation genau
beobachten. Innerhalb des VDV organisieren wir
einen ständigen Arbeitskreis, in dem die Kollegen
aus den verschiedenen Regionen Deutschlands ihre
Erfahrungen weitergeben und austauschen können.
Der zunehmenden Alterung wollen die Verkehrsunternehmen in Deutschland durch die
Beschaffung von barrierefreien Fahrzeugen bzw.
durch den Ausbau von barrierefreien Zugängen
zu Bahnhöfen und Haltestellen gerecht werden.
Diesem Thema widmen sich unsere Unternehmen
seit Jahren und mit stetig wachsender Intensität.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Wenn im Sinne zentraler Orte und dringend
nötiger Effizienzgewinne Daseinsvorsorgeangebote künftig noch stärker konzentriert
sollen, dann wird ÖPNV zur Querschnittsaufgabe im kommunalen Leistungsangebot.
Schließlich müssen die Menschen zu den
jeweiligen Ankerpunkten befördert werden.
Ist es vor diesem Hintergrund noch zeitgemäß,
den ÖPNV lediglich als freiwillige kommunale
Aufgabe zu definieren? Oder wäre es nicht an
der Zeit für eine „Pflichtaufgabe ÖPNV“?
Fenske:
Nach meiner langjährigen Erfahrung sind wir
faktisch eine Pflichtaufgabe. In der täglichen
Praxis wird das auch überall so gelebt. Die Verantwortungsträger in Landkreisen, Städten und
Gemeinden wissen, dass sie auf den ÖPNV
nicht einfach verzichten können. Entscheidend
ist natürlich, welche Standards definiert werden
und wie sich die entsprechenden Leistungen
finanzieren lassen.
Finanzielle Unsicherheiten
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Im Freistaat Thüringen und auch anderswo
fordert die Landespolitik eine noch stärkere
Vernetzung verschiedener kommunaler Unternehmen. Über den steuerlichen Querverbund
sind in etlichen Kommunen Energie und
ÖPNV eng miteinander verknüpft. Ist dieses
Modell der kommunalen Partnerschaft vor
dem Hintergrund der schwierigen Situation
vieler städtischer Energieunternehmen noch
zukunftsfähig?
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
JAHRESTHEMA: INFRASTRUKTUR
ÖPNV
Fenske:
Die Ergebnisse in vielen kommunalen Energieunternehmen gehen aufgrund der Energiewende
zurück. Im steuerlichen Querverbund sinkt in
diesem Kontext auch die Finanzmasse, mit der der
ÖPNV disponieren kann. Dies wird aber mit Sicherheit nicht dazu führen, dass das Finanzierungsmodell „Steuerlicher Querverbund“ in irgendeiner
Form in Frage gestellt wird. Es bleibt ein wichtiger
Baustein in der Finanzierung des ÖPNV. Mit der
Erschließung von Wohn- und Gewerbegebieten ist
der ÖPNV immer auch eine zentrale Infrastrukturaufgabe. Grundsätzlich werden die Potentiale von
Kooperationen zwischen verschiedenen Unternehmen einer Stadt, aber auch über kommunale
Grenzen hinweg bereits vielfältig genutzt. Die
kommunalen Träger im ÖPNV und die einzelnen
Sparten der Daseinsvorsorge sind dennoch aufgerufen, kontinuierlich nach weiteren Synergien
und Möglichkeiten der Vernetzung zu suchen.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Die ökologische Erneuerung von Versorgung
und Verkehr hin zu mehr Nachhaltigkeit und
weniger Emissionen ist eine weitere zentrale
Zukunftsaufgabe. Was ist nötig, damit im Verkehrssektor die „Klimawende“ gelingt?
Fenske:
Die Energiewende und der Klimaschutz werden
nur gelingen, wenn gleichzeitig eine Verkehrswende
hin zu noch mehr ÖPNV erfolgt. Der Anteil des
sogenannten Umweltverbundes aus Fußgängern,
Radfahrern und ÖPNV am gesamten Verkehrsaufkommen muss weiter steigen. Das ist der entscheidende Hebel, um bei Energiewende und
Klimaschutz weiter voranzukommen. Ein zweiter
Punkt sind neue und innovative Antriebstechnologien. Elektro- und Hybridbusse werden noch
deutlich häufiger auf Deutschlands Straßen fahren,
als dies heute der Fall ist. Daneben gilt es, Energie
sinnvoll und möglichst effizient zu nutzen. So kann
beispielsweise in unsere Kölner Stadtbahnfahrzeuge
zurückgespeist werden. Der VDV und auch die
einzelnen Unternehmen als solche werden sich
diesen Themen in den kommenden Jahren weiter
mit Vehemenz widmen. Wir wissen, dass der
ÖPNV in der Öko-Bilanz sehr gut abschneidet und
wir wollen diesen Wettbewerbsvorteil gegenüber
anderen Verkehrsarten weiter ausbauen.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Ein leistungsfähiger ÖPNV kann verbunden
sein mit einem breiten gesellschaftlichen Mehrwert, aber die aktuelle Praxis zeigt sich weniger
schillernd, vor allem in der Finanzierungssituation
des Nahverkehrs: Weder für das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz (GVFG) noch für die
Entflechtungsmittel gibt es bislang Nachfolgeregelungen. Was folgt aus diesen finanziellen
Unsicherheiten für den ÖPNV in Deutschland?
Fenske:
Damit verbindet sich eine ausgesprochen schwierige
Situation. Nach der aktuellen Gesetzeslage laufen
die Förderwege der Gemeindeverkehrsfinanzierung
Ende 2019 aus. Wenn nicht bald Klarheit geschaffen
wird, bereits getroffene politische Entscheidungen
nicht bald in Gesetze übergehen, dann geraten die
Unternehmen in eine äußerst schwierige Situation.
Schließlich wissen sie derzeit noch nicht, mit wieviel
Geld sie planen können.
Wenn eine Stadtbahnstrecke verlängert werden
muss, weil sich die Nachfrage entsprechend entwickelt,
muss Klarheit zu den vorhandenen Investitionsmitteln
bestehen. Größere Verkehrsprojekte benötigen einen
enormen planerischen Vorlauf, sodass die derzeitigen
Unsicherheiten schon jetzt zu einem Antragsstau in
den Kommunen geführt haben.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Sie sind nicht nur Präsident des Verbandes
Deutscher Verkehrsunternehmen, sondern auch
Vorstandschef der Kölner Verkehrs-Betriebe AG.
Zwei Fragen dazu: Wie wirken sich die fehlende
Planungssicherheit und der damit verbundene
In der urbanen, digitalen Mittelschicht ist das Auto ein Statussymbol von gestern. Viele Menschen verzichten nicht
mehr bewusst auf eine individuelle Motorisierung, sie fehlt
ihnen nicht und kommt ihnen auch nicht in den Sinn. Das
ist grundsätzlich eine äußerst begrüßenswerte Entwicklung.
Schließlich zeigen Beispiele aus den Niederlanden und aus
Skandinavien, dass ein weitgehender Verzicht auf das Auto keine Utopie sein muss. Dazu wird es jedoch nötig sein, den ÖPNV nachhaltig zu stärken und noch besser mit anderen umweltschonenden
Verkehrsträgern zu vernetzen. Voraussetzung ist, dass alsbald Klarheit herrscht zu den wichtigsten
Finanzierungstöpfen. Schließlich kommen die Erfolge aus Amsterdam, Kopenhagen oder Stockholm
nicht von ungefähr, sondern sind das Ergebnis einer konsistenten Verkehrspolitik hin zu mehr Nachhaltigkeit und zu weniger individueller Motorisierung.
Falk Schäfer
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
UNSER
Gesprächspartner
Jürgen Fenske wurde 1955 in Lünen/
Westfalen geboren. Nach dem Studium der
Geschichte und Germanistik an der Universität Köln absolvierte er ein Referendariat für
das Lehramt am Gymnasium. Nach dem
Zweiten Staatsexamen wurde Fenske zum
Geschäftsführer der SPD-Fraktion in Kiel.
Von 1994 bis 1998 leitete er das Büro des damaligen Wirtschafts- und Verkehrsministers in
Schleswig-Holstein, Peer Steinbrück. Fenske führte
zudem das Referat für wirtschaftsnahe Infrastruktur, Konjunktur und Zusammenarbeit zwischen
Hamburg und Schleswig-Holstein. Zwischen
1998 und 2003 war er Prokurist der Autokraft
GmbH und der Regionalbahn Schleswig-Holstein.
2000 wurde er zum Geschäftsführer der Regionalbahn Schleswig-Holstein und 2004 zum Geschäftsführer der Autokraft. 2007 leitete Fenske
die Region Nord der DB Stadtverkehr mit den
Gesellschaften S-Bahn Hamburg, Autokraft, WeserEmsBus Bremen, Regionalbus Braunschweig
und PanBus Viborg (DK). Mit Beginn 2009 wechselte er als Vorstandsprecher der Kölner VerkehrsBetriebe AG ins Rheinland. Seit November 2009
ist er Präsident des Verbandes Deutscher Verkehrsunternehmen, seit 2011 Vorstandschef der
Kölner Verkehrs-Betriebe AG.
Sanierungsstau des ÖPNV bei Ihnen in Köln
konkret aus? Und wie wird versucht, eine möglichst optimale Vernetzung verschiedener Verkehrsträger in und um Köln herzustellen?
Fenske:
Köln ist eine wachsende Stadt und deshalb muss
auch die Infrastruktur mitwachsen. Nach aktuellen
Bevölkerungsprognosen werden wir bis zum Jahr
2025 ungefähr 50 bis 55 Millionen mehr Fahrgäste im Jahr haben. Diese zusätzlichen Fahrgäste
schaffen wir in unserem heutigen Netz schlicht
nicht mehr. Wir brauchen einen Ausbau und wir
brauchen damit auch Klarheit zu den konkreten
Finanzierungsbedingungen. Das betrifft etliche
Maßnahmen in der Stadt Köln. Die zentrale Verbindung zwischen Ost und West ist völlig überlastet. Sie muss längere Züge aufnehmen können,
wozu ein Ausbau der Bahnsteige unerlässlich ist.
Der Barbarossaplatz als einer der großen innerstädtischen Kreuzungspunkte muss dringend
barrierefrei umgestaltet werden. Grundsätzlich steht
der barrierefreie Ausbau an vielen Bahnhöfen unter
dem Vorbehalt der Finanzierung. All dies gerät ins
Stocken, solange keine Klarheit herrscht.
n
Das Interview führte Falk Schäfer
i
infos
www.vdv.de
7
Breitbandversorgung
Der Kanon existentieller Daseinsvorsorge ist dynamisch
Breitbandversorgung – inzwischen
(fast) so wichtig wie frisches Wasser
Von Michael Schäfer
I
m Kanon der Daseinsvorsorge gibt es Leistungen, die ohne eine technisch aufwändige und damit auch in Errichtung und Betrieb
kostenintensive Infrastruktur schlichtweg nicht erbracht werden können. Wer ist für die Schaffung dieser verantwortlich? Und zwar
letztlich unabhängig davon, ob die auf dieser Grundlage angebotenen Leistungen auch von allen, die sie benötigen, bezahlt werden
können. Ist die Prämisse für die Refinanzierung die, dass der Preis für die Leistung „um jeden Preis“ auch gewährleisten muss, dass sich
die Investitionen rechnen? Und was passiert mit jenen, die die Leistung zwar benötigen, sie aber nicht bezahlen können?
Die auf dem Papier des Grundgesetzes(ZÜ)
plausible Forderung nach (annährend) gleichwertigen Lebensverhältnissen in Deutschland führt zu einem
der Daseinsvorsorge
– das sind auch
Investitionen
in die Zukunft
immer stärkeren Ausgleichsdruck. Die Gewährleistung
objektiven Unterschiede
zwischen strukturschwachen
Regionen
in der Fläche
und boomenden Metropolen
werden immer größer. Die Kosten für die Verlegung von einem Kilometer Glasfaserkabel aber sind in der Uckermark ähnlich hoch wie in Berlin.
Nur: In der Hauptstadt ist die Zahl der Nutzer der schnellen Internetverbindungen um ein vielfaches höher als in der zwar schönen, aber nach
Das wichtigste Ergebnis, dass Bund, Länder und Kommunen bei der Konsolidierung ihrer Haushalte in
UNESCO-Definition nahezu menschenleeren Region zwischen Oder und Mecklenburger Seenplatte. Eine betriebswirtschaftliche Kalkulation geht
den vergangenen Jahren erzielt haben, ist das weitgehende Ende der Neuverschuldung. Dieser Kurs
hie auf, da nicht. Deshalb balgen sich nur in den Zentren die Anbieter von IT- und TK-Leistungen um einen schier endlosen Wachstumsmarkt. Wer
muss unter allen Umständen gehalten werden. Denn der Schuldenstand liegt weiterhin deutlich über
aber stopft die (Funk)-Löcher in Mecklenburg-Vorpommern, in der Eifel oder im Schwarzwald? Diese Frage wird emotional, ideologisch, richtigerweise
2 Billionen Euro. Daran sind Bund mit rund 62 Prozent, die Länder mit rund 31 Prozent und die
auch betriebswirtschaftlich diskutiert. Noch viel zu selten aber steht die grundsätzliche Perspektive im Fokus. Nämlich die, ob die Leistung eine
Kommunen
rundder
7 Prozent
beteiligt. Dieser
Schuldenberg
abgetragen
werden.
Es„wer
ist völlig
existenzielle Dimension hat? Ein eindeutiges
Ja sollte mit
im Falle
Breitbandversorgung
auf der
Hand liegen.muss
Aber es
hat nach dem
Prinzip,
A sagt,
inakzeptabel,
dass
der
Kapitaldienst
in
Gestalt
von
Zinszahlungen
auf
allen
Ebenen
zu
den
größten
muss auch B sagen“, ebenso eindeutige Konsequenzen. Welche sind das? Und haben die politisch Verantwortlichen beim Bund und den Ländern das
Einzelposten
in denweil
Etats
gehört.
dieser Medaille sind
nämlich die oftakzeptiert,
sogar der ist
Thema deshalb sehr lange wie den „heißen
Brei“ umkreist,
ihnen
einesDie
klarandere
war: werSeite
Breitbandversorgung
als Daseinsvorsorge
dramatisch
zu
nennenden
Kürzungen
von
Investitionen.
auch für die Bereitstellung und ggfls. auch den Betrieb der Infrastruktur – Finanzierung inklusive – verantwortlich.
Dieser Zusammenhang gilt für alle Bereiche der Daseinsvorsorge. In zwei Segmenten – das werden wir nachfolgend zeigen – gibt es aber
Schon im Jahr 2009 galt deutschlandweit die Einschätzung von einem dramatischen Investitionsstau
nach wie vor eine Diskrepanz zwischen verbaler Zustimmung und praktischer, sprich fiskalischer Schlussfolgerung: das betrifft den ÖPNV,
in den Kommunen vor allem bei der Infrastruktur und dem kommunalen Hochbau. Dieser Status
und das betrifft die Breitbandversorgung. In unserem Beitrag gilt das Hauptaugenmerk dem „schnellen Internet“. Wir arbeiten aber auch
verschlechtert sich weiter. Die nachfolgende Fakten haben wir mit dessen freundlicher Genehmigung
heraus, dass es auf einer übergeordneten Ebene dringenden Bedarf gibt, über die Zuständigkeiten für ein sich wandelndes Spektrum der
einem Vortrag des Geschäftsführer des Deutschen Instituts für Urbanistik (DIFU), Dr. Busso Grabow,
Daseinsvorsorge im 21. Jahrhundert einen gesellschaftspolitischen Diskurs zu führen.
entnommen, den dieser beim 3. WELT-Infrastrukturgipfel am 28. September 2015 in Berlin gehalten
hat. Seine zentrale
Aussage lautete, dass
sowohl
auf staatlicher
wie auf
Ebenebzw.
seitAnlage2003
Gewährleistung der
3. WELT-Infrastrukturgipfel
am 28.
September
staatlichen
undkommunaler
kommunalen Sachder
Verzehr
des
staatlichen
und
kommunalen
Sachbzw.
Anlagevermögens
begonnen
und
seither
Daseinsvorsorge – das sind auch
2015 in Berlin gehalten hat. Seine zentrale Ausvermögens begonnen und seither ungebremst
fortgesetzt
wurde.
Das
die beiden
Grafiken
ausDas
dem
Vortrag vondie
Dr.beiden
Investitionen in die Zukunft ungebremst
sage
lautete, dass
sowohl
aufdokumentieren
staatlicher wie auf
fortgesetzt
wurde.
dokumentieren
Grabow: kommunaler Ebene seit 2003 der Verzehr des
Grafiken aus dem Vortrag von Dr. Grabow:
Das wichtigste Ergebnis, dass Bund, Länder und
Kommunen bei der Konsolidierung ihrer Haushalte
in den vergangenen Jahren erzielt haben, ist das weitgehende Ende der Neuverschuldung. Dieser Kurs
muss unter allen Umständen gehalten werden. Denn
der Schuldenstand liegt weiterhin deutlich über 2
Billionen Euro. Daran sind der Bund mit rund 62
Prozent, die Länder mit rund 31 Prozent und die
Kommunen mit rund sieben Prozent beteiligt. Dieser
Schuldenberg muss abgetragen werden. Es ist völlig
inakzeptabel, dass der Kapitaldienst in Gestalt von
Zinszahlungen auf allen Ebenen zu den größten
Einzelposten in den Etats gehört. Die andere Seite
dieser Medaille sind nämlich die oft sogar dramatisch
zu nennenden Kürzungen von Investitionen.
Schon im Jahr 2009 galt deutschlandweit
die Einschätzung von einem dramatischen
Investitionsstau in den Kommunen vor allem bei
der Infrastruktur und dem kommunalen Hochbau.
Dieser Status verschlechtert sich weiter. Die nachfolgende Fakten haben wir mit dessen freundlicher
Genehmigung einem Vortrag des Geschäftsführer
des Deutschen Instituts für Urbanistik (DIFU),
Dr. Busso Grabow, entnommen, den dieser beim
8
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
Breitbandversorgung
JAHRESTHEMA: INFRASTRUKTUR
aller Lebensgrundlage mindestens ebenso wie
löchrige Straßen oder einsturzgefährdete Brücken.
Mindestens? Wir leben im 21. Jahrhundert und
über den neuen Stellenwert von „Datenautobahnen“ müssen hier keine Worte verschwendet
werden………
Daseinsvorsorge im Wandel
der Zeiten. Plädoyer für ein
dynamisches Verständnis
Der Rechtsbegriff der Daseinsvorsorge in
Deutschland geht auf den Staatsrechtler Ernst
Forsthoff und dessen Veröffentlichung „Die
Verwaltung als Leistungsträger“, Stuttgart 1938
zurück. Nach Forsthoff sind die Leistungen
der Daseinsvorsorge „Gemeinwohl orientierte“
Leistungen wirtschaftlicher und nichtwirtschaftlicher Art, an deren Erbringung die Allgemeinheit
und der Staat ein besonderes Interesse haben“. In
den deutschen Gemeindeordnungen ist festgelegt,
Nach
DIFU-Berechnungen
liegtder
derkommunale
kommunaleInvestitionsbedarf
Wir weisen aufimden
Zusammenhang
zwischen
Nach
DIFU-Berechnungen
liegt
Zeitraum
2002 bis 2020
bei 704 dass die Kommunen diejenigen öffentlichen EinInvestitionsbedarf
im Zeitraum
bis 2020
Investitionsstau
und
kommunaler
Unter-bis richtungen schaffen und erhalten sollen, die für
Milliarden
Euro. In dieser
Summe 2002
sind auch
die Investitionen
enthalten,
die von
den Kommunen
das wirtschaftliche, soziale und kulturelle Wohl
bei nicht
704 Milliarden
Euro. InGar
dieser
Summe
sind
finanzierung
deshalbWohnungsbau
hin, weil die
dato
realisiert wurden.
nicht
berücksichtigt
worden sindvor
derallem
kommunale
auch
die Investitionen Die
enthalten,
von den
dramatische
von Konsum,
hier geht
und
Finanzinvestitionen.
größtendie
Einzelpositionen
innerhalb Diskrepanz
des definierten
Gesamtbedarfs
von und die Förderung des Gemeinschaftslebens Ihrer
Kommunen
dato
nicht
wurden.
Gar die es
in erster
Linie
um der
ständig
steigende
Einwohner erforderlich sind“.2
704
Mrd. Eurobis
sind
laut
DIFUrealisiert
die Straßen
(23%),
Schulen
(10%)
sowie
ÖPNV
und die Sozialnicht berücksichtigt
worden
sindweist
der kommunale
ausgaben
und
Akkumulation
aus unserer Sicht
„Als Bestandteile der Daseinsvorsorge
Sportstätten
mit je 5%.
Grabow
zu Recht darauf
hin, dass
trotz
absolut gestiegener
Wohnungsbau
Finanzinvestitionen.
die Hauptursache
dafür ist, dass
existentielle
Investitionen
derund
Rückstand
weiter wachse. Die Tatsache,
dass die Investitionen
seitdie
2003
in Summe gelten im Allgemeinen Abfallentsorgung,
größten
innerhalb
desalso Daseinsvorsorge
fehlender oder
nicht ist Energieversorgung, Wasser/Abwasser, ÖPNV,
nicht Die
einmal
mehrEinzelpositionen
die Abschreibungen
decken,
der beschriebenewegen
Substanzverzehr
stattfindet,
Gesamtbedarfs
Mrd. Euro
sind
bedarfsgerechter
Infrastruktur
auf kommunaler
Wohnungswirtschaft, Telekommunikation,
eindefinierten
wesentlicher
Beleg fürvon
die704
strukturell
angespannte
finanzielle Lage
der Kommunen.
Die
laut DIFU die Straßen
(23inProzent),
die Schulen Finanzreport
Ebene zunehmend
wird.darauf hin, dass öffentliche Sicherheit und Ordnung, BrandBertelmann-Stiftung
weist
ihrem „Kommunalen
2015“1gefährdet
ausdrücklich
Prozent)
sowie
der ÖPNV
und die und
Sportstätten
An dieser
Stelle
seien – zum
zum dritten
besseren
Verschutz, Rettungswesen, Gesundheitswesen,
im(10
Jahr
2014 die
Städte,
Gemeinden
Kreise in Deutschland
zwar
in Summe
Mal
in
mit je 5 Prozent. Grabow weist zu Recht darauf
ständnis der folgenden Darlegungen – zwei
Alten-, Pflege- und Behindertenhilfe, SchulFolge einen Überschuss erzielten, damit aber von allgemeiner finanzieller Gesundung keine Rede sein
hin, dass trotz absolut gestiegener Investitionen
Anmerkungen gestattet:
landschaft, technische sowie kulturelle Infrakönne. Belege dafür seien u.a. die Tatsachen weiter steigender Kassenkredite und die Zunahme der
der Rückstand weiter wachse. Die Tatsache, dass
Erstens untersucht das Deutsche Institut
struktur. Diese Aufzählung ist keinesfalls
Kluft zwischen den wenigen reichen und den mehrheitlich armen Kommunen in Deutschland.
für Urbanistik gar nicht alle kommunalen
die Investitionen seit 2003 in Summe nicht einfeststehend und unveränderlich. Die Dynamik
Esmal
bedarf
zurdie
dringend
gebotenen
Auflösung
des Investitionsstaus
eines
grundsätzlichen
Umsteuerns
mehr
Abschreibungen
decken,
also der
Investitionen im
Bereich
Infrastruktur.
Erfasst
des Begriffs zeigt sich beispielsweise daran, dass
aufbeschriebene
gesamtstaatlicher
Ebene. Erste
Initiativen
des Bundes,
Linie das im Jahr 2015
begonnene
Substanzverzehr
stattfindet,
ist ein
werdenininerster
der DIFU-Systematik
offenbar
nur
nach heutigem Verständnis das Angebot eines
kommunale
ein (viel zu) kleiner,
aber richtigerder
Schritt
(Volumen:Gebiets5 Mrd.
wesentlicherInvestitionsprogramm
Beleg für die strukturellistangespannte
die Aufwendungen
kommunalen
schnellen Internetzugangs, nicht jedoch die VerEuro
im Zeitraum
2015
– 2018). Im
dazu sei
noch einmal an
den vom DIFU
finanzielle
Lage der
Kommunen.
DieVergleich
Bertelmannkörperschaften.
Investitionen
in dieermittelten
Infrastruktur
sorgung mit Grundnahrungsmitteln, unter den
Stiftung weist
in ihrem „Kommunalen
werden2002
in erheblichem
auch von
den
Daseinsvorsorgebegriff fällt.“3
kommunalen
Investitionsbedarf
erinnert,Finanzder im Zeitraum
bis 2020 beiUmfang
704 Milliarden
Euro
1
report 2015“ ausdrücklich darauf hin, dass im
kommunalen Unternehmen (oder vergleichbaren
Schon aus dem gerade definierten Kanon der
liegt.
Jahr 2014 die Städte, Gemeinden und Kreise in
Einrichtungen außerhalb der Kernverwaltung)
Daseinsvorsorgeleistungen wird ersichtlich, dass
all diese Aufgaben vor Ort, in den Kommunen
Deutschland zwar in Summe zum dritten Mal in
zur Erbringung von Daseinsvorsorgeleistungen
und Regionen verfügbar sein müssen, und dort
Folge einen Überschuss erzielten, damit aber von
geleistet.
Zweitens
spielt
inistder
Bestandsaufnahme
des
allgemeiner
Gesundung keine Rede
im Regelfall auch erbracht werden. Nach dem
1 Nach
Recherchefinanzieller
unter www.bertelsmann-stiftung.de
am 01. Oktober
2015. Die
Studie
dort
als Download kostenlos
sein könne. Belege dafür seien u.a. die Tatsachen
DIFU die Infrastruktur für IT und TK wohl
Verständnis des Autors hat die Daseinsvorverfügbar.
weiter steigender Kassenkredite und die Zunahme
deshalb keine Rolle, weil sie der Privatwirtschaft
sorge unter allen Aufgaben, die im Rahmen der
der Kluft zwischen den wenigen reichen und den
zugeordnet wird. Dies muss aber – das wollen
kommunalen Selbstverwaltung gelöst werden
mehrheitlich armen Kommunen in Deutschland.
wir im Folgenden zeigen – kritisch hintermüssen, eine zentrale, ja herausragende Stellung.
Es bedarf zur dringend gebotenen Auflösung des
fragt werden. Denn aus dem inzwischen überDaseinsvorsorge – das ist die Gewährleistung
Investitionsstaus eines grundsätzlichen Umsteuerns
wiegenden gesellschaftlichen Verständnis dafür,
der existentiellen Bedingungen und Lebensumauf gesamtstaatlicher Ebene. Erste Initiativen des
dass die Breitbandversorgung zur Daseinsvorsorge
stände der Menschen. Es bedarf keiner weiteren
Bundes, in erster Linie das im Jahr 2015 begonnene
gehört, leitet sich zwingend auch eine öffentliche
Argumentation, dass deshalb die Daseinsvorkommunale Investitionsprogramm ist ein (viel zu)
Zuständigkeit und Verantwortung ab.
sorge unter allen kommunalen Aufgaben die
kleiner, aber richtiger Schritt (Volumen: 5 Mrd.
Drittens ist also der Investitionsstau, den
höchste Priorität hat.
Euro im Zeitraum 2015 – 2018). Im Vergleich
das DIFU nachweist, sogar noch deutlich
1 Nach Recherche unter www.bertelsmann-stiftung.de am 01. Oktober
dazu sei noch einmal an den vom DIFU ermittelten
größer. Und er gefährdet mit den dramatischen
2015. Die Studie ist dort als Download kostenlos verfügbar.
2 Vgl. Linke, F., S. 4ff.
kommunalen Investitionsbedarf erinnert, der im ZeitDefiziten in der Breitbandversorgung den
3 Linke, F., S. 28.
raum 2002 bis 2020 bei 704 Milliarden Euro liegt.
Industriestandort Deutschland und damit unser
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
9
Breitbandversorgung
Daraus folgt, dass alle kommunalen
Funktionalitäten und Strukturen so ausgestaltet
werden müssen, dass sie optimale Bedingungen
für die Gewährleistung der Daseinsvorsorge bieten.
Die Beweisführung dafür haben wir bei dem
bereits genannten Ernst Forsthoff gefunden. In
einer seiner späten Schriften – erschienen 1958
unter dem Titel „Die Daseinsvorsorge und die
Kommunen“ – begründet er, warum wegen des
überragenden Ranges der Daseinsvorsorge im
kommunalen Aufgabenkanon selbige als staatliche Aufgabe im Grundgesetz verankert werden
müsste. Diese Forderung wurde nie erfüllt. Sie
scheint sogar komplett vergessen.
Lesen wir nach, wie Forsthoff seine Auffassung
begründet: Er zeigt zunächst den „historischen
Prozess der Veränderung der individuellen
Daseinsbedingungen und dessen wesentliche
Folge: mit der Schrumpfung des individuell
beherrschten Lebensraumes hat der Mensch die
Verfügung über wesentliche Mittel der Daseinsstabilisierung verloren. Er schöpft das Wasser
nicht mehr aus dem eigenen Brunnen, er verzehrt
nicht mehr die selbstgezogenen Nahrungsmittel,
er schlägt kein Holz mehr im eigenen Wald für
Wärme und Feuerung. Im Ablauf der Dinge
ist hier eine eindeutige Entscheidung gefallen,
wenigstens im Bereich der deutschen Staatlichkeit: dem Staat (im weitesten Sinne des Wortes)
ist die Aufgabe und die Verantwortung zugefallen,
alles das vorzukehren, was für die Daseinsermöglichung des modernen Menschen erforderlich ist.
was in Erfüllung dieser Aufgabe notwendig ist,
nenne ich Daseinsvorsorge.“4
Daraus zieht Forsthoff folgende Schlussfolgerung:
„Die Tatsache (gemeint ist die Existenz der
meisten Menschen ohne von ihnen beherrschten
Lebensraum – Anm. des Autors) ist von allergrößter, noch keineswegs in ihrer vollen Tragweite
erkannten Bedeutung (auch diese Einschätzung
trifft leider bis heute zu – Anm. des Autors). Man
wird es sich bis in die speziellen Konsequenzen
hinein vergegenwärtigen müssen, was es für
den modernen Menschen bedeutet, dass er
die wesentlichen Bedingungen seiner Daseinsführung nicht in der Hand hat, sondern auf
das Funktionieren der sekundären Systeme
schlechterdings angewiesen ist.“5
„In der Daseinsvorsorge“, so Forsthoff weiter,
„ist ein moderner Daseinsbereich angesprochen,
der an der rechtstaatlichen Verfassung vorbeilebt, der deshalb notwendig im wesentlichen mit
den Mitteln der Verwaltung gemeistert werden
muss. Diese deshalb (rechtstheoretisch – Anm.
des Autors) mögliche Konversion der Daseinsvorsorge in Herrschaftsmittel wäre das gefährlichste Attentat auf die individuelle Freiheit, das
nach Lage der Tatsachen dem Staat zu Gebote
stünde. Dazu schweigt die Verfassung und überlässt es uns, eine ungeschriebene Verbotsnorm aus
10
dem Sinn und dem System unseres öffentlichen
Rechts abzuleiten. Ich gebe diesen Hinweis nur,
um anschaulich zu machen, in welchem Maße
uns die rechtstaatliche Verfassung auf dem Felde
der Daseinsvorsorge im Stich lässt.“6
Abschließend Forsthoff zur gesellschaftlichen
Dimension:
„Daseinsvorsorge kann sich in der Wirtschaftlichkeit ihrer Durchführung nicht erschöpfen. Die
Daseinsvorsorge ist wesentlich auch eine soziale
Funktion. Es kommt nicht nur darauf an, dass sie
dem Menschen unserer Tage zu ihrem Teil ihre
daseinswichtigen Dienste leisten, sondern auch,
unter welchen Bedingungen das geschieht. Hier
sind dem Gewinnstreben Schranken gesetzt, die
der Wirtschaft fremd sind, und es müssen auch
Risiken eingegangen, Wechsel auf die Zukunft
gezogen werden, zu denen sich die Wirtschaft
nicht veranlasst sehen würde.“7
Zu lang und zu viel Theorie?! Das muss
manchmal sein. Aber für den ganz eiligen Leser
nun die Quintessenz:
Erstens:
Der Mensch, gemeint ist der „normale“ Bürger,
der „Otto-Normalverbraucher“, ist seit Beginn der
modernen Industriegesellschaft objektiv gar nicht
mehr in der Lage, für seine lebensnotwendigen
Existenzbedingungen selbst zu sorgen. Der Deal:
„Ich gebe meine Arbeitskraft und gliedere mich
in den komplizierten arbeitsteiligen Prozess der
Wertschöpfung ein. Du (Staat) garantierst mir
dafür etwa saubereres Trinkwasser, Gesundheitsversorgung und Mobilität – um nur einige
Aspekte der Daseinsvorsorge zu nennen.
Zweitens:
Solche Verabredungen trifft man heutzutage
nicht mehr per Handschlag. Deshalb hat der
Staatsrechtler Ernst Forsthoff 1958 gefordert,
diese staatliche Verpflichtung ins Grundgesetz
zu schreiben. Deshalb in unser wichtigstes Gesetz,
weil es ums „Eingemachte“ geht, nämlich um die
Bereitstellung jener Güter und Leistungen, die
uns am Leben halten.
Was es für Auswirkungen zum Beispiel für die
Breitbandversorgung hat, dass diese Forderung nie
umgesetzt wurde, lesen Sie bitte im nächsten Absatz.
Hoheitlich vs. Markt und was in
den Leistungskanon gehört
Was ist lebenswichtig? Diese Frage musste gestern
anders beantwortet werden als heute. Daraus leiten
wir die Annahme ab, dass es auch in Zukunft lebensnotwendige Leistungen geben wird, die wir heute
nicht mal dem Namen nach kennen. Die Breitbandversorgung ist für eine solche Entwicklung ein
gutes Beispiel. Das uns heute geläufige „www“ gibt
es seit 1989. Allerdings nicht einmal ansatzweise in
der gewaltigen Dimension und der massenhaften
Nutzung im neuen Jahrtausend. Deshalb wäre jeder
ausgelacht worden, der 1989 den Zugang zum Internet der Daseinsvorsorge zugerechnet hätte. Der
Kanon ist also erstens dynamisch bezogen auf die
dort „gelisteten“ Leistungen. Wäre dieser Kanon
verbindlich – hier erinnern wir an das Grundgesetz – dann müsste der Staat auch dafür sorgen,
dass die Leistung verfügbar ist. Er ist es aber nicht.
Was hinein gehört, wird oft nach Kassenlage entschieden. Beispiel Öffentlicher Personennahverkehr
(ÖPNV). In den Hochzeiten des Fetisch Auto und
der Gleichsetzung des modernen Menschen damit,
dass er natürlich Teilnehmer am Individualverkehr
ist, konnte man ungestraft, ja unbeachtet in eine
deutsche Kommunalverfassung schreiben, dass der
Prof. Dr. Michael Schäfer
ÖPNV nur eine freiwillige Leistung ist. So steht es
eben noch heute. Die Welt aber hat sich gedreht.
Viele Menschen leben in strukturschwachen
Regionen und werden immer älter. Autofahren
geht noch gerade so (hoffentlich ist man allein auf
der Straße) oder gar nicht mehr. Aber der Bus in
die Kreisstadt zum Arzt fährt nur noch einmal am
Tag. Und zwar nicht als Teil des ÖPNV, sondern als
Schülerverkehr. Und wenn es keine Schüler mehr zu
transportieren gibt (das gibt’s heute tatsächlich schon
in einigen Gegenden), dann fährt auch kein Bus.
Daseinsvorsorge nach Kassenlage? Das geht
natürlich nicht. Es muss also ehrlich definiert
werden, was lebenswichtig ist, und was davon
durch den Staat erbracht werden muss. Und
genau das muss dann auch bereitgestellt werden.
Und zwar nicht in alleiniger Zuständigkeit der
oft armen Kommunen, sondern durch den
Staat. So wäre es, wenn die Daseinsvorsorge im
Grundgesetz stünde. Da steht sie aber nicht. Aber
vielleicht stimmen Sie mir nach diesen Beispielen
4
Forsthoff, S. 6f
Ebenda, S. 7
6 Ebenda, S. 9
7 Ebenda, S. 13f
5
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
Die Partnerschaft Becker Büttner Held ist einer der führenden deutschen Berater in den Bereichen Energie-,
Kommunal- und Infrastrukturrecht mit europaweiter Verflechtung. Als integrierte Partnerschaft ist BBH mit
mehr als 300 Rechtsanwälten, Wirtschaftsprüfern, Steuerberatern und Ingenieuren sowie insgesamt über 550
Mitarbeitern an den Standorten Berlin, München, Köln, Hamburg, Stuttgart, Erfurt und Brüssel vertreten.
Unsere Tätigkeitsschwerpunkte liegen u.a. in der kom-
Industrieunternehmen sowie internationale Konzer-
munalwirtschaftlichen Beratung – hier bspw. in der
ne. Diese unterstützt BBH sowohl in allen Rechtsfra-
Rekommunalisierung sowie hinsichtlich örtlicher
gen als auch betriebswirtschaftlich und strategisch
Energiekonzepte, der Integration und des Ausbaus
bei ihrem wirtschaftlichen Engagement.
von Erneuerbaren Energien, städtebaulicher Beratung,
Entwicklung und Begleitung von Öffentlich-Privaten-
Weiterhin ist BBH in der Politikberatung sowie der
Partnerschafts-Modellen, Beratung des ÖPNV sowie
Beratung von öffentlichen Körperschaften und Ver-
(steuerlicher) Optimierung der Wasserver- und Ab-
bänden erfolgreich tätig. Von Vorteil für diese viel-
wasserentsorgung. Daneben stehen Unternehmen
schichtigen Beratungsaufgaben ist unser bundes-
des Health-Care-Bereiches sowie die Umstruktu-
weit gespanntes universitäres Netzwerk.
rierung und Gründung von Unternehmen im Fokus
unseres Handelns.
Den Kern der Mandantschaft bilden zahlreiche
www.bbh-online.de
Energie- und Versorgungsunternehmen, vor allem
bbh@bbh-online.de
Stadtwerke, Kommunen und Gebietskörperschaften,
www.derenergieblog.de
www.invra.de
BERLIN · MÜNCHEN · KÖLN · HAMBURG · STUTTGART · ERFURT · BRÜSSEL
Unsere rechtsgebiete: Energierecht • Infrastrukturrecht • Rekommunalisierung • Kommunalberatung • Umwelt- und Verwaltungsrecht • Unternehmensgründung/
Umstrukturierung • Urheberrecht/Gewerblicher Rechtsschutz • Compliance • Internationale Rechts- und Steuerberatung • Steuerberatung • Wirtschaftsprüfung
Öffentliche Auftragsvergabe • Wettbewerbs- und Kartellrecht • Wasser-/Abwasserrecht • Health Care • Zivil- und Arbeitsrecht
Mitglied der aeec – Associated European Energy Consultants e.V.
.
www.aeec-online.de
Breitbandversorgung
zu, dass der alte Forsthoff Recht hatte, ja mit
seiner Forderung sogar sehr modern, quasi auch
schon auf „Breitband-Höhe“ war.
Dynamisch ist die Daseinsvorsorge nicht nur
hinsichtlich der an den Beispielen Breitband
und ÖPNV gezeigten Veränderungen in den
Leistungen selbst oder deren Bedeutung unter
dem Aspekt „lebensnotwendig“.
Diese Dynamik betrifft auch den Rahmen,
in dem die Leistung erbracht wird. In den
Anfängen der modernen Daseinsvorsorge
war dies in erster Linie das kommunale oder
staatliche Monopol. Danach gab es die eherne
Überzeugung, dass Markt und Wettbewerb dies
alles viel besser zuwege bringen. Und heute: wir
kommen zurück zu unseren Beispielen Breitbandversorgung und ÖPNV. Weiße Flecken
in Gestalt der Info „kein Netz, nur Notruf“
oder eines Busfahrplans mit einer Hin-und
Her-Frequenz pro Tag und einer leeren Spalte
an den Wochenenden. Das zu ändern, dafür
gibt es leider keine staatliche Verpflichtung.
Aber Druck und die Kraft des Faktischen
können schon einiges bewegen. Leider nur
im Schneckentempo. Unsere Internetdefizite
kennen wir seit vielen Jahren. Dass es andere
viel besser können, merken wir bei Urlaubsreisen etwa nach Skandinavien und erst recht ins
(fast) menschenleere Island. Ein Bundesförderprogramm, das tatsächlich einiges bewegen
wird, aber gibt es erst seit 2015.
Das derzeit bereitgestellte
öffentliche Geld reicht nicht aus,
um diesen 50 MBit/s-Standard
tatsächlich auch flächendeckend
durch Breitbandinfrastruktur
abzusichern.
„
______________________
Prof. Dr. Michael Schäfer
“
Die Telekom, als sie noch staatlich war,
konnte jedem Bürger der alten Bundesrepublik
einen Telefonanschluss garantieren. Sie hat dafür
sogar geworben. Jetzt ist das Unternehmen privat.
Manfred Krug hat uns mit seinem Charme
und seiner sonorer Stimme zu Volksaktionären
„gemacht“. Wir haben Aktien, aber wenn wir
das Video vom Enkel aus der Uckermark nach
Berlin schicken wollen, ist eine lange Nacht am
Bildschirm angesagt.
Nein, ich plädiere nicht für eine Rückkehr
der Telekom unter das staatliche Dach. Wohl
aber dafür, dass der Staat – siehe oben seine Verantwortung für die Daseinsvorsorge wahrnimmt.
Denn die erwähnte Dynamik beim Rahmen
lässt sich gerade bei der Breitbandversorgung sehr
12
gut erklären. In den Metropolen mit ganz vielen
Kunden richtet es der Markt. Eine große Bedarfsdichte ermöglicht Investitionen, die sich schnell
refinanzieren und zu bezahlbaren Preisen für Endkunden und gewerbliche Wirtschaft führen. In
einer strukturschwachen Region wiederum ist
schnelles Internet eine hoheitliche Aufgabe.8
Natürlich gehört
Breitbandversorgung zur
Daseinsvorsorge
Tippen Sie mal bei Google folgende Frage ein: Ist
Breitbandversorgung Daseinsvorsorge? Wenn Sie
alles lesen wollen, was sich dazu findet, reichen
Sie am besten einen Urlaubsantrag ein. Mit überwältigender Übereinstimmung wird natürlich
bejaht, dass der Zugang zum schnellen Internet
eine existentielle Dimension hat. Dazu werden
viele Gründe genannt. Die wichtigsten wollen
wir kurz zusammenfassen. Da wäre zunächst
die individuelle Ebene. Ohne Breitband gäbe es
nicht die in Artikel 3 des Grundgesetzes verbriefte
gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen. Wer
auf dem flachen, schlecht mit Internet versorgten
Lande lebt, der hat natürlich ganz erhebliche Einschränkungen zu erleiden. Machen Sie unter
diesen Bedingungen mal ein Fernstudium mit
online-Bausteinen und Recherchehausaufgaben.
Über gleiches Recht auf Bildung muss man da
nicht reden. Und wenn der letzte Dorfladen auch
noch dicht gemacht hat? Einkaufen via Netz
Fehlanzeige oder zumindest sehr kompliziert.
Wir reden also nicht einfach nur über bessere
oder schlechtere Lebensqualitäten, wir reden
über Grundrechte.
Das ist auch die Dimension für die Wirtschaft.
Denn natürlich muss es gleiche Bedingungen
für alle Teilnehmer am Markt und am Wettbewerb geben. Der Chef eines Architektur- oder
Ingenieurbüros an einem idyllischen See in
„Mäc-Pom“ wird seinen Standort regelmäßig
auch verfluchen. Auf jeden Fall immer dann,
wenn er gigantische Dateien mit Zeichnungen
und Grafiken an seine Kunden übermitteln muss,
also nicht nur täglich, sondern stündlich….
Ein „bißchen schwanger geht
nicht“: Oder warum man nach deren
Privatisierung von der Telekom
nicht erwarten darf, dass sie in
altruistischer Euphorie ein dichtes
Glasfasernetz im märkischen Sand
verbuddelt
Die Deutsche Telekom AG ist in ihrer heutigen
Form am 1. Januar 1995 aus der früheren
Deutschen Bundespost TELEKOM entstanden.
War zunächst der Bund alleiniger Aktionär,
begann 1996 – begleitet von einer beispiellosen
Werbekampagne – der Börsengang. Wenngleich
der Bund auch heute noch mit 31,7 Prozent am
Unternehmen beteiligt ist, so muss diese neue
Telekom AG nach allen dafür heranzuziehenden
Kriterien als global agierendes Unternehmen der
Privatwirtschaft klassifiziert werden. Was bedeutet
das konkret für das Thema Breitbandversorgung
in Deutschland?
1. Ob die Privatisierung der Telekom richtig
oder falsch war, kann in diesem Beitrag nicht
Gegenstand einer umfassenden Analyse sein.
Der Autor kann allerdings auch an dieser
Stelle seine Grundüberzeugung nicht verleugnen, dass Unternehmen mit strategischer
Bedeutung für die Daseinsvorsorge mehrheitlich in staatlicher oder kommunaler
Hand sein sollten. Aber auch wenn die
Telekom noch komplett oder überwiegend
dem Bund gehören würde, wäre damit
nicht automatisch gewährleistet gewesen,
dass wir heute über eine flächendeckende
Breitbandversorgung verfügen könnten.
Wir schauen auf die Deutsche Bahn AG,
deren Privatisierung oder Teilprivatisierung
offenbar vom Tisch ist (vielleicht auch deshalb, weil die gerade geäußerte Auffassung
des Autors inzwischen politisch mehrheitsfähig ist). Die Tatsache, dass die Bahn
sogar komplett dem Bund gehört, hat den
geradezu dramatischen Investitionsstau
bei der Infrastruktur nicht verhindert. Die
Finanzierung wäre aus betriebswirtschaftlicher Perspektive für die DB AG auch gar
nicht darstellbar. Das, was der Bund Jahr für
Jahr an Investitionsmitteln bereitgestellt hat,
übertrifft die Gewinnabführung der DB AG
um ein Vielfaches. Es hat trotzdem nicht
gereicht.
2. Es ist also am Ende immer eine staatliche Entscheidung, auch in solche Infrastrukturen zu
investieren, die sich nicht „rechnen“. Und
zwar deshalb, weil sie Daseinsvorsorgestatus
haben. Und das betrifft das Netz der DB AG
genauso wie jenes, das für eine schnelle Breitbandversorgung vonnöten ist.
3. Die Telekom AG muss genauso wie die staatliche DB AG nach betriebswirtschaftlichen
Erfordernissen handeln. Das ist kein beliebiges
Gut. Jeder Manager, der diese Regeln verletzt, also mehr ausgibt, als er hat, und was
der Leistungsfähigkeit seines Unternehmens
entspricht, macht sich strafbar.
4. Dieses Prinzip hat auch ein Gutes. Denn es
betrifft alle Marktteilnehmer. Dass sich davon
in Deutschland bei der Telekommunikation
8 Wenn der letzte Laden in einem schwer erreichbaren Dorf in Mecklen-
burg geschlossen hat und der ÖPNV „außer Betrieb“ ist, stellt sich
ebenso zumindest die Frage, wer dafür verantwortlich ist, jene zu versorgen, die mit dem eigenen Auto nicht mehr in die nächste Stadt
fahren können, und deren Angehörige 700 Kilometer weit weg nach
Süddeutschland verzogen sind.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
JAHRESTHEMA: INFRASTRUKTUR
Breitbandversorgung
etliche tummeln, verdanken wir wiederum
(auch) der Privatisierung der Telekom AG und
natürlich der Liberalisierung dieses Marktes.
Wie immer gilt auch hier: schwarz oder weiß
sind theoretische Kategorien. Im Leben
dominiert das einerseits und andererseits.
5. Alle Marktteilnehmer verhalten sich im
Grundsatz wie die Telekom. Sie investieren
in Breitband, wenn eine solide betriebswirtschaftliche Analyse zeigt, dass die
Refinanzierung dargestellt werden kann.
Anders geht es auch deshalb nicht, weil
Kredite aufgenommen werden müssen.
Keiner der Anbieter kann die Volumina aus
dem Eigenkapital stemmen.
Gleiches Verhalten im Grundsatz heißt
im Falle Breitband aber auch, dass es im
konkreten Agieren deutliche Unterschiede
gibt. „Gewaltig“, nannte der frühere
Bundesaußenminister Klaus Kinkel den
Beitrag der Telekom für eine moderne ITund Telekommunikationsinfrastruktur.
Im Interview mit UNTERNEHMERIN
KOMMUNE für das Oktoberheft 2015
bilanzierte Kinkel: „Kein anderes deutsches
Unternehmen hat so viel Geld in den Breitbandausbau investiert. Derzeit sind es etwa
4 Milliarden Euro, die seitens der Telekom
jährlich in den Breitbandausbau fließen.
Das ist auch notwendig. Wir brauchen eine
leistungsfähige Infrastruktur, um in einer
zunehmend digitalisierten Welt mithalten
zu können.“9
6. Dass die Telekom AG auch dort investiert,
wo es unternehmerisch zumindest riskant
ist, hat ganz sicher auch mit der Marktstellung des Unternehmens in Deutschland
zu tun. Obwohl der Wettbewerb hier bestens
funktioniert (Beweis: die Telekom hat in
nahezu allen Geschäftsfeldern deutlich an
andere Marktteilnehmer verloren), ist sie
auch zwanzig Jahre nach der Privatisierung
noch die Nummer eins im Land. Die damit
verbundene wirtschaftliche Stärke ermöglicht größere Risikodimensionen. Marktmacht hat nach unserem Verständnis von
sozialer Marktwirtschaft auch etwas mit
Gemeinwohlverpflichtungen zu tun. Diese
Maßstäbe gelten für die Telekom AG wie
für Volkswagen, und wenn sie verletzt
werden, hat das eine gesellschaftspolitische
Dimension.
7. In dieser Logik diskutieren wir über Abgasmanipulationen bei den Wolfsburgern und
auch darüber, dass Manager trotz einer
Schadenssumme in Milliardenhöhe auf ihren
Bonuszahlungen bestehen. Bei der Telekom
wiederum ist nicht erkennbar, dass sie sich
ihrer Gemeinwohlverantwortung beim Breitbandausbau entzieht.
Nicht nur große kommunale Regionalversorger wie EWE mit ihrer Tochter EWETEL/osnatel, sondern auch
Stadtwerke engagieren sich zunehmend beim Ausbau des Breitbandnetzes. Unser Foto illustriert das Engagement der Stadtwerke Schwedt GmbH, das seine Heimat in der strukturschwachen Uckermark hat. Das
Bild dokumentiert die Inbetriebnahme des Glasfasernetzes in den Gemeinden Jamikow und Schönow (Amt
Passow). Diese beiden Gemeinden sind bereits die 45. und 46. Gemeinde die die Stadtwerke in vier verschiedenen Landkreisen im Rahmen der Breitband-Initiative des Landes Brandenburg mit modernen Glasfaserkabel erschlossen haben. Dafür wurden rund 700.000 Euro investiert und es können Bandbreiten bis zu
100 Megabit angeboten werden. Bei der Inbetriebnahme waren der Landrat des Uckermarkkreises, Dietmar
Schulze, der Ortsteilbürgermeister Hanke, der Aufsichtsvorsitzender der Stadtwerke und Bürgermeister der
Stadt Schwedt, Jürgen Polzehl, der Geschäftsführer der Stadtwerke, Helmut Preuße, und weitere Gäste und
Bürger anwesend.
8. Denn ein bisschen Altruismus ist schon dabei,
wenn die Telekom AG Glasfaserleitungen
auch dort verbuddelt, wo die Refinanzierung
nicht in unmittelbarer Reichweite liegt. Man
könnte das auch kalkuliertes Risiko nennen.
Unternehmerische Verantwortung in betriebswirtschaftlichen Risikodimensionen (also mehr
als sie eigentlich müsste) nimmt die Telekom
auch im Vectoring-Ausbau außerhalb der Nahbereiche wahr: Die Telekom hat einen Anteil
von über 80 Prozent; den Rest „teilen“ sich fast
80 weitere Unternehmen.
9. Der komplette „Altruismus“ – lassen Sie
uns den Begriff mit „Daseinsvorsorge aus
übergreifenden Motiven“ übersetzen – bei
der Breitbandversorgung muss vom Staat
kommen. Basierend auf der Erkenntnis, dass
diese Infrastruktur existentiell ist und mithin
für alle Menschen verfügbar sein muss, egal,
ob sie in Berlin oder Templin im Melderegister stehen. Die Selbstlosigkeit hört
natürlich bei der Finanzierung auf. Etwas,
was wir brauchen, das sich aber nicht überall
rechnet, muss mit Steuermitteln, also dem
Geld der Bürger, bezahlt werden.
10.Wenn das Geld dafür nicht reicht, muss
man neue Prioritäten setzen oder dem
Bürger nach dem Kassensturz sagen, dass
seine Erwartungen weder heute, noch
morgen, vielleicht aber übermorgen erfüllt
werden können.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
11.Politik ist aus Gründen, die der Autor langsam nicht mehr nachvollziehen kann (der
Bürger reagiert nämlich aufgeschlossen,
positiv und goutiert diese Regung sogar
mit einem Kreuz auf dem Wahlzettel bei
denen, die ihn ernst genommen haben,
indem sie ihm die ungeschminkte Wahrheit gesagt haben) seltsam mutlos, wenn
es darum geht, auch unbequeme Realitäten zu kommunizieren. Da es aber einen
Schuldigen geben muss, wird die bewährte
Methode angewendet, den Sack zu schlagen,
wenn man den Esel meint. Geprügelt
werden also die Vodafones, Telekoms und
alle weiteren Verdächtigen. Der eigentliche Adressat aber ist – das haben wir sehr
detailliert gezeigt – der Staat. In erster Linie
der Bund, dann die Länder, aber überhaupt
nicht die Kommunen. Das sei so ausdrücklich festgehalten, weil auch sie regelmäßig
in der „Sackrolle“ sind. Und weil die
9
Dass die Telekom Ausnahmesituationen – und dazu gehört auch
der Breitbandausbau – meistern kann, hat sie nach der Wende
bewiesen. Darauf wies Klaus Kinkel in besagtem Interview hin und
formulierte: „Die total maroden Telekommunikationsnetze in der
DDR waren eine der wichtigsten „Baustellen“ bei der Schaffung neuer
wettbewerbsfähiger Strukturen. 1990 verfügten neun von zehn Haushalten in den Neuen Bundesländern über keinen Telefonanschluss,
zwischen Ost und West gab es lediglich 800 Leitungen, zwei Drittel
der technischen Anlagen waren älter als 40 Jahre und 1,3 Millionen
Anträge auf einen Telefonanschluss unerledigt. Mit einem riesigen
Investitionsvolumen ist es der Telekom innerhalb von nur sieben
Jahren gelungen, die Netze in den Neuen Bundesländern nahezu
vollständig zu modernisieren.“
13
Breitbandversorgung
Landkreise und Städte dicht am Bürger und
dessen Nöten sind, ergreifen die unschuldig
Geprügelten oft sogar die Initiative und
kümmern sich lokal ums Breitband. Das ist
aus der Not geboren. Es entlastet aber den
eigentlich Verantwortlichen, den Staat, und
ist überhaupt nur dann legitim, wenn solche
Initiativen wenigstens von ihm finanziert
werden. Dass solche Aktionen möglichst
im Verbund mit denen, die dafür fachlich
ausgewiesen sind, gestartet werden sollten,
liegt auf der Hand.
Ein biSSchen schwanger“ geht aber doch……….
Warum und wie sich Bund und Länder bei der Breitbandversorgung nun doch (aber noch lange nicht ausreichend) engagieren
Weil die Breitbandversorgung vor allem im ländlichen Raum deutlich langsamer vonstatten ging als von der Politik gefordert und erwartet, haben
Bund und Länder dafür Förderprogramme aufgelegt. Neben dem zu langsamen Ausbautempo ist ein zweiter Grund mindestens ebenso wichtig: Die
Folgen der Unterversorgung erreichen in vielen Regionen zunehmend eine
existentielle Dimension. Eingeschränkte Teilhabe, Probleme bei der Versorgung mit lebenswichtigen Gütern via Internet sind Stichworte für die Sphäre
der Bürger; gravierende Wettbewerbsnachteile für die Wirtschaft.
Nachfolgend stellen wir das Bundesprogramm aus dem Jahr 2015 im
einzelnen vor und geben einen tabellarischen Übersicht über die Fördermaßnahmen der Länder.
Bundesebene
Förderrichtlinie des Bundes für den Breitbandausbau (beschlossen am
21. Oktober 2015)
Zeitrahmen:
2016 – 2018
Volumen:
2,7 Mrd. Euro
Adressaten:
Kommunen und Landkreise
Fördersatz: 50 Prozent der zuwendungsfähigen Kosten
Höchstbetrag je Projekt: 15 Mio. Euro
Kombination mit Länder-Programmen:
möglich (dadurch können bis zu 40 Prozent
an weiterer Projektförderung hinzukommen;
der Eigenanteil der Kommunen reduziert
sich damit auf bis zu zehn Prozent)
Bewertung der Anträge:
anhand transparenter Kriterien (Scoring);
ein Punktesystem bildet die Grundlage
für eine Förderentscheidung
Förderung Planungs- und Beratungskosten:
unabhängig von Projektförderung; Förde-
rung mit bis zu 100 Prozent bei einem
Maximalbetrag von 50.000 Euro
Ziele:
Breitbandausbau in bis dato unterversorgten Regionen
Schließen von Wirtschaftlichkeitslücken, die sich bei Telekommunikationsunternehmen ergeben, wenn diese ein Breitbandnetz in unterversorgten
Gebieten errichten (Wirtschaftlichkeitslückenmodell)
Unterstützung der Kommunen, die passive Infrastrukturen wie z.B. Glasfaserstrecken errichten wollen, um diese an Netzbetreiber zu verpachten
(Betreibermodell)
Forcierung der Planungsprozesse durch die separate und vorgelagerte
Förderung von Planungs- und Beratungskosten von bis zu 100 Prozent
Bundes- und Länderebene
Das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVdI)informiert umfassend über alle öffentlichen Förderprogramme zur Verbesserung der Breitbandversorgung. Diesen, so das BMVdI, liegt das Prinzip
zu Grunde, nur dort zu fördern, wo ausreichende Marktlösungen nicht zustande kommen. Dies ist dann der Fall, wenn für den jeweiligen Bedarf bei
den gegebenen wirtschaftlichen, infrastrukturellen und topographischen
Gegebenheiten auch unter Einbeziehung aller technologischen und wettbewerblichen Alternativen keine Lösung durch den Markt möglich ist.
14
Die bestehenden Programme unterstützen die Kommunen im Wesentlichen bei der Förderung der folgenden Aktivitäten:
Machbarkeitsuntersuchungen und Beratungsleistungen;
Realisierung einer Breitbandversorgung oder eines lokalen Breitbandnetzes;
Verlegung von Leerrohren, die für Breitbandinfrastruktur genutzt
werden können.
Die Förderung erfolgt einerseits aus Programmen, die aus einer Kombination von Bundes-, Landes- oder auch EU-Mitteln aufgebracht werden
(sogenannte „kofinanzierte Programme”). Hier legen die finanzierenden
Körperschaften gemeinsam die grundsätzlichen Förderbedingungen fest,
also z.B. Bund und Land, jedoch haben die Länder nicht nur die Wahl,
ob sie am Programm teilnehmen, sondern auch Spielräume bei der
konkreten Ausgestaltung.
Es bestehen auch Programme, die allein aus den Mitteln der Bundesländer finanziert und deren Zuwendungsvoraussetzungen eigenständig
von dem finanzierenden Land im Einklang mit den Vorgaben des europäischen Beihilfenrechts festgelegt werden. Die Länder Baden-Württemberg, Bayern, Sachsen und Niedersachsen haben für ihre spezifischen
Landesprogramme eigene beihilfenrechtliche Genehmigungen bei der
EU-Kommission eingeholt.
Die Broschüre „Möglichkeiten der Breitbandversorgung” des BMVdI stellt die
allgemeinverbindlichen Förderbedingungen der kofinanzierten Programme
dar und erläutert die landesspezifischen Details. Allen Programmen ist
gemeinsam, dass die Administration (unabhängig von der Finanzierung)
immer durch das entsprechende Bundesland erfolgt. Folglich ist der maßgebliche Ansprechpartner für alle Programme im Bereich Breitbandförderung die zuständige Stelle des jeweiligen Bundeslandes.
Fördermaßnahmen für die flächendeckende Breitbanderschließung müssen vor ihrer Umsetzung von der Europäischen Kommission genehmigt
werden. Sie prüft diese Maßnahmen am Maßstab der „Leitlinien der Gemeinschaft für die Anwendung der Vorschriften über staatliche Beihilfen im
Zusammenhang mit dem schnellen Breitbandausbau” (Breitbandleitlinien).
Mit der erfolgten Genehmigung wurde die beihilfenrechtliche Grundlage für die
Förderung der Betreiber von Breitbandnetzen durch Bereitstellung von Leerrohren mit oder ohne Kabel durch Bund, Länder und Kommunen geschaffen.
Bund und Länder haben verschiedene Programme genehmigen lassen,
mit denen die Errichtung von Breitbandinfrastrukturen der Grundversorgung gefördert werden kann. Mit der Bundesrahmenregelung Leerrohre wurde auf Basis der Beihilfenleitlinien eine Maßnahme genehmigt,
die den Breitbandausbau im NGA-Bereich („Next Generation Access”)
elementar unterstützen soll. Ziel dieser Maßnahme ist der konditionierte Aufbau passiver Infrastrukturen (Leerrohre und Kabel) als Vorbereitung für den Aufbau eines hochleistungsfähigen Breitbandnetzes
insbesondere in ländlichen Gebieten. Die Rahmenregelung ist selbst kein
Förderprogramm, sondern konkretisiert die Anforderungen an ein beihilfenkonformes Verfahren. Die Regelung wird im Rahmen der GRW (Gemeinschaftsaufgabe Regionale Wirtschaftsstruktur) sowie von einzelnen
Ländern und Kommunen genutzt.
i
infos
www.zukunft-breitband.de
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
JAHRESTHEMA: INFRASTRUKTUR
Breitbandversorgung
Ist das, was technisch möglich ist,
überall auch nötig?
Auch für die Breitbandversorgung gilt, was wir in
diesem Beitrag an anderer Stelle schon formuliert
haben: differenzierte Standards in der Daseinsvorsorgeinfrastruktur sind nicht etwa nur die
Zukunft mit Blick auf reale Bedarfe und verfügbare finanzielle Ressourcen zu definieren. Sie
sind schon heute Realität. Die Verkehrsangebote
im ÖPNV sind auf dem flachen Lande andere
als in den Städten, und wer die Krankenhausund Facharztdichte Berlins in der Uckermark
erwartet, lebt auf einem anderen Stern. Es sind
jedoch mitnichten nur fiskalische Gründe, die
zu diesen Differenzierungen im Angebot führen.
Infrastrukturen sind im Regelfall öffentlich
finanziert und mithin auch dem Solidarprinzip
flächendeckend durch Breitbandinfrastruktur abzusichern. Hier steht folgende dringende Frage im
Raum: bleibt es beim Bekenntnis zu diesem gerade
genannten Standard? Wenn ja, müssen Bund und
Länder die Finanzierung sichern. Alternativ könnte
man aber auch regional differenzierte Übertragungsgeschwindigkeiten definieren. Auch mit Blick
darauf, dass ein Netz nicht nur errichtet, sondern
möglichst auch wirtschaftlich betrieben werden
sollte. Ein Kriterium für solche differenzierte
Standards für Regionen mit immer weniger,
dafür aber immer älterer Menschen müssten m.E.
Erfordernisse der Telemedizin sein, mitnichten aber
der durchaus denkbare individuelle Wunsch, den
Blockbuster in 3-D online auf den Bildschirm zu
projizieren (wenn man den Firm herunterlädt und
dafür zwei Stunden braucht, wäre das ganz sicher
durchaus im Bereich des „Zumutbaren“.
Als Marktführer bei Telekommunikation ist die Telekom Deutschland auch beim Breitbandausbau maßgeblich
engagiert. Unser Foto zeigt einen Bautrupp des Unternehmens, an dem die Bundesrepublik Deutschland noch
einen Anteil von 31,7 Prozent hält.
verpflichtet. Das wurde beispielsweise nicht
beachtet, als in Ostdeutschland nach der Wende
überdimensionierte Kläranlagen projektiert und
errichtet wurden. Künstlich hoch gerechnete
Bedarfe sicherten ordentliche Vergütungen für
Ingenieurbüros und Baubetriebe. Eine solide
Analyse der absehbaren Bevölkerungsentwicklungen hätte ungeachtet aller „BlühendeLandschaften“-Euphorien ganz sicher zum
Vorrang für dezentrale Lösungen bis hin zu
Ausnahmen beim Anschluss- und Benutzungszwang geführt.
Aus diesen Fehlern sollten wir beim Breitbandausbau lernen. Die Bundesregierung hat sich zum
50-Mbit-Standard für alle bekannt. Das dafür
derzeit bereitgestellte öffentliche Geld reicht aber
nicht aus, um diesen Standard tatsächlich auch
Natürlich ist technisch sehr viel möglich.
Dort, wo diese besonderen Standards von
Industrie und Forschung benötigt werden –
hier müssen wir sehr exakt den Unterschied
zwischen Daseinsvorsorge für alle (das ist der
Privatmensch zwischen Rügen und Zugspitze)
und gewerblichen Bedarfen beachten – werden
sie ganz sicher auch bereitgestellt. Das sind ganz
klassische Business-to-Business-Beziehungen,
mit denen der Staat im Regelfall eher weniger
zu tun hat. Auch bei der Telekommunikation
gibt es nämlich den eindeutigen Standard der
Grundversorgung.
n
i
infos
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
www.unternehmerin-kommune.de
UNSER
AUTOR
Prof. Dr. Michael Schäfer lehrt seit
2010 an der Hochschule für nachhaltige Entwicklung in Eberswalde (HNEE) als Professor für
Kommunalwirtschaft. Er ist einer der maßgeblichen Initiatoren des deutschlandweit ersten Masterstudienganges Kommunalwirtschaft an dieser
Bildungsstätte. (www.hnee.de). Schwerpunkte
seiner wissenschaftlichen Arbeit sind die Themen
Daseinsvorsorge, strategische Führung kommunaler Unternehmen und Rekommunalisierung.
Von 2006 bis 2015 hat Schäfer an insgesamt
21 Studien zu kommunalwirtschaftlichen Sachverhalten zumeist federführend mitgewirkt und
diese Projekte auch initiiert und geleitet.
Schäfer ist Autor des ersten Standardwerkes zur
Kommunalwirtschaft, das 2014 bei Springer/
Gabler Wiesbaden unter dem Titel „Kommunalwirtschaft. Eine gesellschaftspolitische und
volkswirtschaftliche Analyse“ erschien. Auch die
Definition zur Kommunalwirtschaft im renommierten „Gabler Wirtschaftslexikon“ stammt aus
seiner Feder. Im Jahr 2016 erschien von ihm –
Co-Autor ist Sven-Joachim Otto – ebenfalls bei
Springer sein Buch „Das kommunale Nagelstudio. Stadtwerke & Co. – Die populärsten Irrtümer
zur Kommunalwirtschaft“ (www.springer.com).
Prof. Dr. Michael Schäfer ist Herausgeber und
Chefredakteur der seit 1997 bestehenden Fachzeitschrift für Kommunalwirtschaftliches Handeln,
UNTERNEHMERIN KOMMUNE. (www.unternehmerin-kommune.de). Schäfer ist Mit-Initiator des
„Verbundnetz für kommunale Energie“ (VfkE).
Dieses 2003 etablierte Diskussionsforum ostdeutscher Kommunalpolitiker konzentriert sich auf die
kommunalwirtschaftliche Betätigung und gilt als
wichtigste derartige Kommunikationsplattform in
den neuen Ländern (www.vfke.org).
Im Ehrenamt ist er Geschäftsführender Vorstand
des IWK Wissenszentrum Kommunalwirtschaft,
e.V. Dieser Verein mit Sitz in Berlin hat das Ziel,
Forschungen zu kommunalwirtschaftlichen Themen zu initiieren und zu fördern und vereint namhafte Mitglieder wie u.a. den VKU, die Thüga AG
München, Berliner Stadtreinigung, Ostdeutscher
Sparkassenverband, Stadtentsorgung Potsdam
unter seinem Dach (www.wissenszentrumkommunalwirtschaft.de).
Literatur:
Forsthoff, Ernst: Die Verwaltung als Leistungsträger,
Kohlhammer, Stuttgart/Berlin, 1938
Forsthoff, Ernst: Die Daseinsvorsorge und die
Kommunen, Sigillum-Verlag Köln-Marienburg, 1958
Linke, Franziska: Genesis des Begriffs Daseinsvorsorge und Überlegungen zu einer dynamischen
Definition als Reflektion sich verändernder demographischer und fiskalischer Rahmenbedingungen,
Erfurt, 2011
15
ÖPNV
Wettbewerb auf den Regionalstrecken des deutschen Schienennetzes
Bindeglied zwischen den Kommunen
Interview mit Dirk Ballerstein, Geschäftsführer Abellio Rail Mitteldeutschland GmbH
A
m 27 Dezember 1993 trat das Gesetz zur Neuordnung des Eisenbahnwesens (Eisenbahnneuordnungsgesetz – ENeuOG)
in Kraft. Neben dem Artikel 87 des Grundgesetzes wurden damit rund 130 Gesetze geändert. Diese Änderungen waren
notwendig, um die Deutsche Bahn AG zu gründen, Aufgaben der staatlichen Daseinsvorsorge von unternehmerischen Aufgaben
der Bahnen zu trennen, den Schienenpersonennahverkehr zu regionalisieren und die Beamten der ehemaligen Bundesbahn in ein
Dienstüberlassungsverhältnis zwischen DB AG und Bundeseisenbahnvermögen zu überführen. Teil dieses Pakets, mit dem die Bahnreform
in Deutschland auf den Weg gebracht wurde, war das Gesetz zur Regionalisierung des öffentlichen Personennahverkehrs (RegG), das
sogenannte Regionalisierungsgesetz.
Das Gesetz definiert die Sicherstellung ausreichender Verkehrsleistungen im Öffentlichen Personennahverkehr als eine Aufgabe der
Daseinsvorsorge. Im Sinne des Regionalisierungsgesetzes ist öffentlicher Personennahverkehr „die allgemein zugängliche Beförderung
von Personen mit Verkehrsmitteln im Linienverkehr, die überwiegend dazu bestimmt sind, die Verkehrsnachfrage im Stadt-, Vorort- oder
Regionalverkehr zu befriedigen. Das ist der Fall, wenn in der Mehrzahl der Beförderungsfälle eines Verkehrsmittels die gesamte Reiseweite
50 Kilometer oder die gesamte Reisezeit eine Stunde nicht übersteigt.“
Während der Schienenpersonenfernverkehr von jedem Eisenbahnverkehrsunternehmen eigenwirtschaftlich, also ohne staatliche Hilfe
betrieben wird, wird der Schienenpersonennahverkehr überwiegend mit Hilfe der Regionalisierungsmittel finanziert. Sie stehen den
Ländern vom Bund aus dem Mineralölsteueraufkommen für die Bestellung der Nahverkehrsleistungen zur Verfügung. Das Land bzw.
die Zweckverbände legen die Verkehrslinien, den Verkehrsumfang und weitere Kriterien wie Takte und Fahrzeuge fest. Auf dieser Basis
ermitteln sie durch Ausschreibungen das preiswerteste Angebot für eine Vertragslaufzeit von meist mehr als fünf Jahren. Daneben gibt es
Direktvergaben und freihändige Vergabeverfahren.
Eine der Intentionen der Bahnreform war es, Wettbewerb beim Personennah- und Fernverkehr zu ermöglichen. Aus der Deutschen
Bundesbahn wurde die DB AG, die sich inzwischen den Markt vor allem im Nahverkehr mit Wettbewerbern aus dem In- und Ausland teilen
muss. Einer dieser Akteure ist die niederländische Abellio mit Sitz in Utrecht. Die Abellio GmbH ist deutsche Tochter der niederländischen
Abellio Transport Holding B.V. mit Sitz in Utrecht, die in Deutschland, den Niederlanden und Großbritannien täglich mit 17.000 Mitarbeitern
für die Mobilität von über 1,5 Millionen Fahrgästen sorgt.
Die Abellio GmbH ist in Berlin beheimatet und führt von dort aus Regionalgesellschaften, die für das operative Geschäft zuständig sind. Eine sehr
erfolgreiche Tochter ist die Abellio Rail Mitteldeutschland GmbH. Mit deren Geschäftsführer, Dirk Ballerstein, führten wir das nachfolgende Interview.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Wir haben die Aktivitäten von Abellio in
Deutschland nur ganz knapp umrissen.
Könnten Sie uns bitte etwas detaillierter über
das informieren, was unter dem Namen Abellio
auf deutschen Schienen passiert, und bei dieser
Gelegenheit auch die wichtigen Fakten zu der
von Ihnen geführten Gesellschaft nennen?
Dirk Ballerstein:
Abellio möchte einer der führenden Anbieter von
Schienenverkehrsleistungen werden. Mit diesem Ziel
verbindet sich ein äußerst hoher Qualitätsanspruch
bei Pünktlichkeit, Sauberkeit, Zuverlässigkeit und
Kundennähe. Mittelfristig wollen wir im Bereich der
privaten Anbieter die Marktführerschaft erringen. Wir
schauen uns sehr aktiv aktuelle Ausschreibungen von
Verkehrsleistungen in Deutschland an und wollen
weiter auf Expansionskurs bleiben.
Derzeit betreibt Abellio Netze in Nordrhein-Westfalen und in Mitteldeutschland.
Dies entspricht etwa 14 Millionen Zugkilometern im Jahr. Mit den von uns gewonnenen
Ausschreibungen zum Rhein-Ruhr-Express, in
Stuttgart und in Sachsen-Anhalt werden wir uns
in den kommenden drei Jahren um weitere 24
Millionen Zugkilometer vergrößern.
16
Die Abellio Rail Mitteldeutschland fährt mit
ihren 35 Zügen knapp zehn Millionen Kilometer
im Jahr. Wir beschäftigen 360 Mitarbeiter und
betreiben sehr erfolgreich das Schienennetz in
der Region Saale-Thüringen-Südharz zwischen
Kassel, Halle-Leipzig, Eisenach und Saalfeld.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Warum hat sich Abellio in Deutschland
engagiert, und welche Ziele gibt es kurz-,
mittel- und langfristig?
Ballerstein:
Das Unternehmen Abellio ist ursprünglich aus
einem kommunalen Betrieb heraus entstanden.
Die Essener Verkehrs AG verfolgte den Ansatz,
zu einem Systemhaus für Mobilität in der Region
zu werden. Mit der Übernahme durch die niederländische Staatsbahn NS im Jahre 2008 wurde
diese Philosophie fortgeführt.
Die Niederländische Staatsbahn NS will
ihr Engagement im Ausland weiter ausbauen.
Dies entspricht einem Trend, der sich unter den
europäischen Staatsbahnen schon seit einigen
Jahren zeigt. Als privater Anbieter, aber auch
als Tochter der NS, wollen wir in Europa weiter
wachsen.
Dirk Ballerstein
Kurzfristig werden wir das Niederrhein-Netz
in Betrieb nehmen und damit erstmalig auch
grenzüberschreitend in die Niederlande fahren.
Mittelfristig streben wir die Qualitäts- und
Marktführerschaft unter den privaten Anbietern
in Deutschland an. Langfristig soll Abellio in ganz
Europa erfolgreich aktiv sein.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
JAHRESTHEMA: INFRASTRUKTUR
ÖPNV
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Wir haben in unserem Vorspann darauf
hingewiesen,
dass
das
sogenannte
Regionalisierungsgesetz aus dem Jahr 1993 den
Schienenpersonennahverkehr als Teil der staatlichen Daseinsvorsorge definiert. Das ist plausibel,
denn nach unserem praktischen wie wissenschaftlichen Verständnis gehört diese Form von Mobilität in den Kanon. Was uns aber immer wieder
wundert, ist die Tatsache, dass der ÖPNV in den
Kommunalverfassungen der meisten Bundesländer als freiwillige Aufgabe definiert ist. Unserer
Auffassung nach ist der Schienenpersonennahverkehr doch Teil des ÖPNV oder liegen wir da
komplett falsch?
zum ÖPNV. Beides, sowohl den schienen- als auch
den straßengebundenen öffentlichen Verkehr in
der Region, verstehe ich als elementaren Teil der
öffentlichen Daseinsvorsorge. Dies wird de facto
auch überall so gelebt. Möglicherweise ist der
Ansatz, den ÖPNV in den meisten Kommunalverfassungen als freiwillige Aufgabe zu definieren,
tatsächlich einer gedanklichen Trennung zwischen
Schiene und Straße zuzurechnen. Der Gesetzgeber
will die Kommunen offensichtlich dazu anhalten,
sich auf lokale Verbünde zu konzentrieren und
den regionalen Schienenverkehr in der Hand der
Länder zu belassen.
Ballerstein:
Der Schienenpersonennahverkehr (SPNV) ist eine
Teilmenge des ÖPNV. Im Gegensatz zu anderen
Segmenten wird die Vergabe allerdings im Regelfall
über die Länder organisiert und nicht über Landkreise, Städte und Gemeinden. Die kommunale
Ebene konzentriert sich daher auf den straßengebundenen ÖPNV inklusive der Straßenbahnen.
Hier dominieren kurzfristige Ziele und der Verbundgedanke. Der SPNV orientiert sich eher auf
der Ebene der Zweckverbände und Aufgabenträger.
Sicherlich besteht Abstimmungsbedarf zwischen
Straße und Schiene, zwischen Kommunen und
Ländern, doch zweifelsfrei gehören beide Segmente
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Profitiert
die
Daseinsvorsorgeleistung
Schienenpersonennahverkehr davon, dass es
Wettbewerb gibt, und wenn ja, in welcher Weise?
Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang
die Fernbus-Liberalisierung?
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Sie haben einen deutschen Pass. Wir möchten
Sie trotzdem darum bitten, einmal mit niederländischen Augen auf die deutsche Schiene zu
schauen. Was müsste aus dieser Perspektive
am Personenverkehr in Deutschland optimiert
werden, im Nah- und auch im Fernbereich,
und wie beurteilen Sie die derzeitige Marktund Wettbewerbssituation?
Ballerstein:
Der Wettbewerb hat die regionalen Verkehrsmärkte
spürbar belebt und insgesamt dafür gesorgt, dass
die Preise teilweise deutlich gesunken sind. Jüngst
in Stuttgart konnte man nachvollziehen, dass
die gleichen Leistungen, die über Jahre von der
Deutschen Bahn im Monopol erbracht wurden,
Ballerstein:
In den Niederlanden sind die Vertriebssysteme
einheitlicher organisiert. In Deutschland dagegen
ist das Dickicht an verschiedenen Verbünden
und Tarifen kaum zu durchschauen. Die deutlich höhere Komplexität im deutschen System
lässt sich mit Unterschieden in der Infrastruktur
Mehr Wettbewerb, sinkende Preise
nun für die Hälfte des Preises von vor 15 Jahren vergeben worden sind. Auch in Bezug auf die Qualität hat es einen erheblichen Sprung nach vorne
gegeben. Die Fahrzeuge sind moderner, deren
Ausstattung stärker auf die Kundenbedürfnisse
abgestimmt und der Service ist einfach besser.
Die Fernbusse entwickeln sich zu ernstzunehmenden Konkurrenten, dies allerdings eher
auf den Fernstrecken der Deutschen Bahn, als auf
den regionalen Linien, auf denen Abellio aktiv ist.
Insgesamt sehe ich die Fernbusse als Ergänzung
zu bestehenden Verkehrsangeboten.
Nachruf
Am 27. April 2016 ist der langjährige VDV-Geschäftsführer Reiner Metz im Alter von 55 Jahren
völlig überraschend und plötzlich verstorben. Er war über 20 Jahre im Verband Deutscher
Verkehrsunternehmen tätig, zunächst als Leiter des Fachbereichs „Personenbeförderungsrecht
und Finanzierung“, seit dem 01. Juli 2003 als Geschäftsführer Personenverkehr.
Der VDV blickt voller Dankbarkeit und Respekt auf Reiner Metz Lebensleistung für den Verband
und für die ÖPNV-Branche. Er zählte zu den Persönlichkeiten, die den VDV und den ÖPNV in
Deutschland nachhaltig geprägt haben. Durch seinen kontinuierlichen und unermüdlichen
Einsatz haben der Verband und die Branche vielerorts hohe Anerkennung erfahren. Während
seiner fast 13-jährigen Tätigkeit als Geschäftsführer hat er mit Geschick und außergewöhnlichem
Engagement an der Schnittstelle zwischen Ehrenamt und Hauptamt die Geschicke des VDV maßgeblich mit gesteuert.
Ihm war es immer ein besonderes Anliegen, den öffentlichen Personenverkehr in Deutschland als relevanten und
unverzichtbaren Teil der Gesellschaft zu positionieren und weiterzuentwickeln.
Mit großer Hingabe kämpfte Reiner Metz vor allem bei der Politik in Europa, im Bund sowie in den Ländern und Kommunen
für einen fairen Rechts- und Ordnungsrahmen und eine ausreichende Finanzierung der Branche.
Er wird uns, den Mitgliedern und Mitarbeiter/innen des VDV, als freundlicher, ehrlicher und immer verbindlicher Kollege
in Erinnerung bleiben. Wir danken Reiner Metz für alles, was er für den Verband, seine Mitglieder und den ÖPNV in
Deutschland getan und gemeinsam mit uns entwickelt hat. Er fehlt uns als Weggefährte und Experte sehr.
Unsere Gedanken und unser Trost gelten den Hinterbliebenen.
In stillem Gedenken nehmen Abschied
Präsidium, Geschäftsführung und Mitarbeiter/innen
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
17
ÖPNV
Diese modernen Züge verkehren unter anderem zwischen Erfurt und Leipzig.
nicht hinreichend erklären. Es ist vielmehr die
ausgeprägte Kleinstaaterei, die übergreifende
Angebote unmöglich macht. In den Niederlanden
kann man sich mit einer einheitlichen Chipkarte
am Startbahnhof ein- und am Zielbahnhof wieder
ausloggen – und dies übergreifend über verschiedene Verkehrsträger und Regionen hinweg.
Die Abrechnung erfolgt monatlich. In Deutschland
sind wir von solchen Lösungen leider noch recht
weit entfernt. Der Wettbewerb funktioniert hier
wie dort. So wie sich die Niederländische Staatsbahn mit Abellio in Deutschland engagiert, versucht auch die Deutsche Bahn mit ihrer Tochter
Arriva in den Niederlanden zu reüssieren. In den
Niederlanden wird den Wettbewerbern allerdings
von vornherein auferlegt, sich in die Vertriebssysteme zu integrieren.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Sie sind mit Abellio auf dem Netz der
Deutschen Bahn AG unterwegs. Der Zustand
der Infrastruktur steht zunehmend in der
Kritik. Es gibt große Modernisierungsbedarfe, nicht nur bei den Brücken. Wo sehen
Sie die Defizite, und wie wirkt sich das auf
die Erbringung der Verkehrsleistungen im
Schienenpersonennahverkehr aus?
Ballerstein:
Im Zuge des geplanten Börsenganges der
Deutschen Bahn wurde über Jahre versucht,
Kosten zu senken. Unmittelbare Folge dieser
18
Politik ist der erhebliche Sanierungsbedarf, der
sich vor allem in der Infrastruktur bis heute zeigt.
Durch die zweite und erheblich aufgestockte
Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung
zwischen der DB Netz und dem Bund ist spürbar
mehr Geld vorhanden. Die Deutsche Bahn hat
nun das entgegengesetzte Problem, die erhebliche
Summe von 3,8 Milliarden Euro im Jahr auch
Der Wettbewerb hat die
regionalen Verkehrsmärkte spürbar belebt und insgesamt dafür
gesorgt, dass die Preise teilweise
deutlich gesunken sind. Jüngst
in Stuttgart konnte man nachvollziehen, dass die gleichen
Leistungen, die über Jahre von
der Deutschen Bahn im Monopol
erbracht wurden, nun für die
Hälfte vergeben worden sind.
„
______________________
Dirk Ballerstein
“
Wir sprechen uns für eine Novellierung der
Schienennetznutzungsbedingungen aus, da die
Deutsche Bahn sich beständig weigert, Regressansprüche anzuerkennen. Private Anbieter erbringen
30 Prozent der Leistungen im Schienenpersonennahverkehr mit deutlich steigender Tendenz. Im
vergangenen Jahr wurden drei Viertel aller öffentlich
ausgeschriebenen Netze an Wettbewerbsbahnen
vergeben. Die Bahn kam nur auf ein Viertel. Wenn
Wettbewerb tatsächlich gewollt ist, dann ergibt sich
daraus auch der Anspruch, bei der Novellierung
des Regulierungsrahmens zumindest angehört
zu werden. Bei der Neuformung des EisenbahnRegulierungsgesetzes wurden jedoch nur die beiden
Gewerkschaften und die Deutsche Bahn beteiligt.
Deutlich weniger Geld für den
Osten
zu verbauen. In diesem Zusammenhang leidet
die Koordination der verschiedenen Projekte.
Das Baustellenmanagement verschlechtert sich,
viele Bauarbeiten dauern länger als geplant, Vollsperrungen werden angeordnet, wo zumindest
eingleisig noch gefahren werden könnte.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Die Regionalisierung stellt sich dem Betrachter
nicht nur als Erfolgsgeschichte dar. Ein Indikator
ist der ständige Streit um die Finanzierung
zwischen Bund und Ländern. Ist die Finanzierung
ausreichend, wenn man das mit dem hohen Maßstab misst, dass es sich ja nicht um Luxusmobilität, sondern um Daseinsvorsorge handelt?
Ballerstein:
Ich sehe zwei zentrale Streitpunkte. Zum einen geht
es um die Höhe der Beträge und zum anderen um die
Dynamisierung und den Verteilungsschlüssel. Auch
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
JAHRESTHEMA: INFRASTRUKTUR
dieses Jahr sind die Regionalisierungsmittel unter
dem von unabhängigen Gutachtern berechneten Satz
geblieben. Damit kann schon einmal weniger Geld verteilt werden. Insbesondere für die Neuen Bundesländer
hat aber auch der neu gefasste Verteilungsschlüssel
erhebliche Auswirkungen. Im Osten Deutschlands
wird in den kommenden Jahren deutlich zu spüren
sein, dass dort durch den sogenannten Kieler Schlüssel
etwa vier Milliarden Euro weniger ankommen.
Insgesamt sind die Kosten für die Nutzung
der Infrastruktur überproportional zu den
Regionalisierungsmitteln gestiegen. Damit steht für
den tatsächlichen Betrieb immer weniger Geld zur
Verfügung. Direkte Folge ist die Einstellung kleinerer
Strecken und eine weitere Ausdünnung der Netze.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Unabhängig davon, dass für den Schienenpersonennahverkehr die Länder zuständig sind,
gehört er doch in erster Linie zur Lebenswirklichkeit in den Kommunen. Auch die Züge, die unter
dem Label Abellio unter anderem durch Mitteldeutschland fahren, sind integraler Bestandteil
von Verkehrsverbünden, es gibt Schnittstellen zu
Bussen und Trams. Sie könnten auf dem Standpunkt stehen, wir fahren, natürlich auf hohem
Niveau, was die Länder bestellen. Wir wissen,
dass Sie eine andere Perspektive haben. Können
Sie uns diese Sichtweise erläutern, und uns auch
sagen, warum Sie den intensiven Dialog mit
den kommunalen ÖPNV-Aufgabenträgern, den
Landkreisen und kreisfreien Städten pflegen, und
was Gegenstand dieses Austausches ist?
Ballerstein:
Wir pflegen einen engen Dialog mit den kommunalen
Aufgabenträgern. Die Kommunen haben in den
vergangenen Jahren ihre Verkehrsverbünde weiter
ausgeweitet und stärker miteinander vernetzt. Wir
sind integraler Bestandteil davon und fahren mit
einheitlichen Tarifen. Im kontinuierlichen Dialog
mit den Kommunen werden auch die Fahrpläne der
regionalen Bus- und Straßenbahnunternehmen mit
unseren Schienenverkehrsleistungen abgestimmt.
Ziel ist ein integriertes System. Zusammen mit
den kommunalen Aufgabenträgern sind wir hier
in den vergangenen Jahren ein deutliches Stück
vorangekommen. Kooperation und Koordination
funktionieren insgesamt sehr gut.
Abellio versteht sich als Bindeglied zwischen
den einzelnen Verbünden. Wir sorgen für den
Transport zwischen den kommunalen Aufgabenträgern und sind daher auf eine möglichst
optimale Abstimmung angewiesen. Unter den
Verbünden zeigt sich allerdings ein unterschiedlicher Reifegrad. Ich kann aus meiner Erfahrung
UNSER
Gesprächspartner
Dirk Ballerstein wurde 1964 in Braunschweig geboren. Dem Abitur folgte ein Studium des Maschinenbaus. Im Anschluss war
Ballerstein zehn Jahre lang in der Erdöl- und
Erdgasindustrie tätig. Nach leitenden Funktionen im In- und Ausland wechselte er 1999 in
die Bahnindustrie. Dort arbeitete er für führende Schienenfahrzeughersteller im Bereich
Vertrieb und Service. Seit 2014 ist Ballerstein
bei Abellio Rail Mitteldeutschland und übernahm dort die Geschäftsführung am Standort
Halle (Saale).
nur zu größeren Einheiten raten. Es gibt eine
gewisse Mindestgröße, die Voraussetzung für
koordinierte, effiziente und professionelle
Angebote ist. Die Potenziale interkommunaler
Kooperationen sind im ÖPNV noch lange nicht
ausgeschöpft. Das betrifft den Datenverkehr
zwischen den verschiedenen Unternehmen oder
auch ein integriertes Tarifsystem.
n
Das Interview fühte Falk Schäfer
i
infos
www.abellio.de
Netze für
neue Energie
E.DIS investiert seit vielen Jahren in moderne und
leistungsstarke Energienetze in Brandenburg
und Mecklenburg-Vorpommern. So sichern wir
eine zuverlässige und umweltfreundliche Energieversorgung in der Region. 2015 ist bereits so viel
Grünstrom ins E.DIS-Netz aufgenommen worden,
wie hier insgesamt verbraucht wurde.
www.e-dis.de
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
19
Digitalisierung
Digitalisierung und Daseinsvorsorge
Vorsprung durch Vertrauen
Zweites Roundtable-Gespräch zu den Potentialen von Kommunen und kommunalen Unternehmen
bei Vernetzung und Digitalisierung
D
ie Digitalisierung prägt die mittelfristige Zukunft der kommunalen Unternehmen wie kaum ein anderer Megatrend unserer
Zeit, gerät bei all den Debatten um Energiewende und demografischen Wandel aber oft und sehr zu Unrecht ins Hintertreffen.
Denn gerade die strukturellen und ökologischen Herausforderungen, vor denen die Versorgungswirtschaft steht, lassen sich
mit vernetzten und digitalen Konzepten deutlich besser lösen als in einem rein analogen Umfeld. Digitalisierung geht einher mit dem
Sammeln und dem Austausch unendlicher personalisierter Datenmengen. Kommunale Unternehmen und Stadtwerke im Besonderen
genießen nach aktuellen Umfragen einen enormen Vertrauensvorschuss. In der hochsensiblen Datenwelt ist dieses in die kommunale
Wirtschaft gesetzte Vertrauen ein wichtiges Faustpfand im Wettbewerb.
Kommunale Unternehmen können und sollten dies nutzen, um den Bürgern den Übertritt in den digitalen Raum zu erleichtern und Angebote
zu zimmern, die in der konkreten Lebenswirklichkeit der Menschen vor Ort Hilfe und Unterstützung entfalten können.
Welche Herausforderungen und Möglichkeiten sich mit der Digitalisierung für kommunale Unternehmen verbinden, welche Synergien
sich nutzen lassen und wie Bürger und Kommunen von den technischen Potentialen am ehesten profitieren können, ist Gegenstand einer
Gesprächsreihe, die UNTERNEHMERIN KOMMUNE im vergangenen Heft startete. Nach einem Besuch im sachsen-anhaltischen BitterfeldWolfen ging es nun ins sauerländische Iserlohn. Auch dort konnten Vertreter der Stadt, der Wohnungswirtschaft, der Stadtplanung und nicht
zuletzt der Stadtwerke für eine kontroverse Debatte gewonnen werden. Der ebenfalls vollständig kommunale Netzdienstleister Alliander steuerte
seine externe Expertise bei. Lesen Sie im Folgenden eine Zusammenfassung der Gesprächsrunde vom 10. Mai in Iserlohn.
Das Kerngeschäft der Daseinsvorsorge werde vor
dem Hintergrund von Energiewende und demografischem Wandel in den kommenden Jahren
sicher nicht einfacher werden, leitet Prof. Dr.
Michael Schäfer die Gesprächsrunde ein. Das
Wort der Digitalisierung sei derzeit in aller Munde,
wenn es darum gehe, Zukunftsprojektionen zu entwerfen und Antworten auf die aktuellen Herausforderungen zu finden. Doch jeder verstehe davon
etwas anderes und deshalb wolle er bei den versammelten Akteuren am Tisch die jeweils eigene
Sichtweise erfragen. „Man kann sich dem nicht
entziehen“, antwortet Dr. Klaus Weimer. „Heute
gibt es elf Milliarden verbundene Geräte bei lediglich sieben Milliarden Menschen auf der Welt. Bis
zum Jahr 2030 werden 33 Milliarden Geräte im
weltweiten Netz miteinander gekoppelt sein. Als
kommunales Unternehmen sind wir gezwungen, auf
die damit verbundenen Bedürfnisse einzugehen.“
Um die Tragweite der Veränderungen ablesen
zu können, brauche man nur das eigene Nutzerverhalten im Wandel der vergangenen Jahre zu
analysieren. Die jüngere Generation würde fast ihr
gesamtes Leben über das Smartphone ordnen. Und
die Zahl der Alternativen, Optionen und Angebote
wachse von Tag zu Tag. Die kommunale Wirtschaft
in Gänze hätte sich diesem Trend noch nicht ausreichend gewidmet und müsse nun schnellstens
mit eigenen Konzepten nachlegen. Ziel müsse es
sein, den Kontakt mit den Kunden auf die neuen
Oberflächen zu überführen und möglichst zu vertiefen, so Dr. Weimer. Caspar von Ziegner stimmt
zu. Die Kommunen müssten sich schnellstmöglich diesem globalen Megatrend anschließen.
Der Senior Projektmanager der Alliander AG
beschreibt den Wandel zumindest in Teilen als
20
disruptiv. „Diejenigen, die sich nicht öffnen und
den Anschluss verlieren, werden aus dem Markt ausscheiden.“ Die kommunale Wirtschaft sei gehalten,
den Wandel offensiv anzugehen und möglichst
selbst zu gestalten.
Dr. Peter Paul Ahrens, blickt zurück auf die
Privatisierungen der 1990er Jahre. Selbstverständlich gehöre Breitband zur Daseinsvorsorge, durch
Ordnungsregeln sei der Betrieb der dazugehörigen
Netze allerdings weitgehend auf die Privatwirtschaft übergegangen. In diesem Dickicht an Verantwortlichkeiten, Potentialen und Normsetzungen
falle es den Kommunen schwer, die eigene Rolle
zu bestimmen. Grundsätzlich stimmt auch Iserlohns Bürgermeister dem Befund zu, dass die
Digitalisierung das Lebensumfeld der Menschen
und die sozialen Umgangsformen in einem Maße
verändern werde, wie kaum eine technologische
Revolution zuvor.
Ahrens sieht seine Aufgabe darin, eine lebenswerte Stadt anzubieten. Dazu zähle heute selbstverständlich auch die digitale Vernetzung. So sei es
bei der Unterbringung der Flüchtlinge in Iserlohn
eine der drängendsten Aufgaben gewesen, möglichst
schnell ein leistungsfähiges WLAN in den Unterkünften anzubieten. „Die neuen Geschäftsmodelle
basieren nicht mehr auf Anlagen und Maschinen,
oftmals reicht eine Oberfläche aus, an die man
sich andocken kann“, sagt Reiner Timmreck. Die
Kommunen müssten sich fragen, ob die Zukunft in
der reinen Infrastruktur oder auch in einer digitalen
Wertschöpfung liegen soll. Digitale Angebote würden
Die Runde traf sich im Konferenzraum der Stadtwerke Iserlohn.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
JAHRESTHEMA: INFRASTRUKTUR
Digitalisierung
Dr. Klaus Weimer (l.) und Olaf Pestl
dort funktionieren, wo sie den Nutzern einen deutlichen Mehrwert bieten. Bezogen auf die Verwaltung
könnten die Stichworte Entbürokratisierung, Vernetzung, Prozessoptimierung und Kundennähe
lauten. Hier lohne sich ein Perspektivwechsel mit
einer stärkeren Sensibilität für die Bedürfnisse der
Kunden, so Timmreck, der neben Dr. Weimer als
Geschäftsführer der Stadtwerke Iserlohn fungiert.
Thomas Junge ist Geschäftsführer der Gesellschaft für Wirtschaftsförderung Iserlohn mbH. Seiner
Ansicht nach seien die Potentiale der Digitalisierung
im öffentlichen Diskurs hinreichend beschrieben.
Die Herausforderungen und Dysfunktionalitäten,
die sich mit einer solchen Entwicklung verbinden
können, fänden dagegen deutlich seltener Beachtung.
So würden die enormen Veränderungen im Kaufverhalten die gewachsenen Strukturen vieler Innenstädte
in Nordrhein-Westfalen und Deutschland bedrohen.
Abseits von wirtschaftlichen Gesichtspunkten und
Renditeaspekten sei es von Zeit zu Zeit sinnvoll,
auch die soziale Dimension eines solchen Prozesses
zu bewerten.
Timmreck ergänzt, dass auch Nachhaltigkeit ein
Aspekt der Daseinsvorsorge ist. Das Geschäft sei insgesamt deutlich schnelllebiger geworden. In immer
kürzeren Abständen würden sich Investitionsmöglichkeiten auftun, die man bewerten und zu
denen man sich verhalten müsse. Investitionen
wollten gut geplant sein, Vorsicht und Achtsamkeit dürften aber nicht dazu führen, dass die
kommunalen Unternehmen den digitalen Trend
nur passiv nachvollziehen.
Sicherlich ließen sich einige kritische Aspekte
im veränderten Kaufverhalten der Deutschen ausmachen, so Dr. Weimer. Die Kommunen seien
jedoch nicht in der Lage, derartige Entwicklungen
in irgendeiner Weise zu steuern. Die Menschen
würden mit ihrer Tastatur über die Infrastruktur
von morgen abstimmen und die Kommunen und
ihre Unternehmen sollten lieber nicht versuchen,
gegen den Strom zu schwimmen.
Eine leistungsfähige Breitbandversorgung sei
heute oftmals wichtiger als die Höhe der Nebenkosten, sagt Olaf Pestl. Der Geschäftsführer der
Thomas Junge (l.) und Dr. Peter-Paul Ahrens
Iserlohner Gemeinnützigen Wohnungsgesellschaft
mbh verdeutlicht damit die hohe Priorität, die Bürger
und Kunden einer Teilhabe an der Digitalisierung
beimessen. „Breitband ist eine echte Standortfrage nicht nur für Unternehmen, sondern auch
für Wohnimmobilien.“ Die Wohnungswirtschaft
beschäftige sich aktuell intensiv mit Konzepten
des Ambient assisted living. Dies seien Systeme,
die eine digitale Steuerung von Haushaltsgeräten
ermöglichen und bis hin zu einer medizinischen
Überwachung reichen. Diese und andere Angebote
müssten verständlich und lebensnah gestaltet sein,
damit sie die Nutzer nicht überfordern und von
ihnen auch angenommen werden. Caspar von
Ziegner ergänzt, dass die angesprochenen Themen
vom Smart home bis hin zum Ambient assisted
living neue lukrative Geschäftsfelder für die Stadtwerke sein könnten. Zudem hätten Smart CityProjekte in Amsterdam und anderswo gezeigt, dass
Digitalisierung nicht zwingend eine Vereinsamung
und Individualisierung bedingen muss, sondern
schon jetzt dazu geeignet ist, Menschen auch
physisch zusammenzubringen.
„Dinge werden angenommen, weil sie gut sind“,
so Timmreck. Auch kommunale Unternehmen
müssten sich stärker nach den Nutzern richten
und fragen, wie deren Bedürfnisse am besten gestillt
werden können. Timmreck sieht die Stadtwerke in
der Verpflichtung ein attraktives infrastrukturelles
Grundangebot vorzuhalten. Sie sollten aber auch
intelligente Systeme entwickeln, die darüber hinaus
Nutzen stiften und Erträge generieren können.
Dinge werden angenommen, weil
sie gut sind. Auch kommunale
Unternehmen müssen sich stärker
nach den Nutzern richten und
fragen, wie deren Bedürfnisse am
besten gestillt werden können.
„
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
______________________
Reiner Timmreck
“
Kommunale Unternehmen seien auch dann
gefragt, wenn andere sich nicht mehr für bestimmte
Leistungen interessieren, so Dr. Weimer. Beispielhaft
wird die Breitbandversorgung in einem abgelegenen
Stadtteil von Iserlohn mit vergleichsweise geringer
Siedlungsdichte genannt. Hier würden kommunale
Unternehmen ihrer Verantwortung für die Stadt in
besonderer Weise gerecht. Schließlich seien Breitbandanbindung und Übertragungsrate zentrale Kategorien
für die Ansiedlung von Menschen und Gewerbe.
Die Breitbandversorgung zählt Dr. Weimer ganz
selbstverständlich zum Daseinsvorsorgekanon. Hier
seien Stadt und kommunale Unternehmen gefragt,
in die Zukunftsfähigkeit der Region zu investieren.
Die Breitbandversorgung hätte inzwischen eine
existenzielle Dimension angenommen und sei inso-
Die Digitalisierung wird das
Lebensumfeld der Menschen und
die sozialen Umgangsformen in
einem Maße verändern, wie kaum
eine technologische Revolution
zuvor.
„
______________________
Peter Paul Ahrens
“
weit natürlich ein Kernelement der Daseinsvorsorge, so Prof. Dr. Schäfer. Dass Bund und Länder
inzwischen Programme auflegten, um eine flächendeckende Versorgung zu finanzieren, sei Ausfluss
dieses neuen Verständnisses. Die öffentliche Verantwortung bedinge aber auch, dass Kommunen
über mögliche Konsequenzen der Digitalisierung für
Städte und Regionen nachdenken. Auch hier müsse
die Kommunalwirtschaft Impulse setzen.
Völlig neue Geschäftsmodelle
Nach einer allgemeinen Einordnung und Begriffsbestimmung will Prof. Dr. Schäfer wissen, welche
Implikationen sich mit der Digitalisierung konkret
21
Digitalisierung
Die Potentiale der Digitalisierung
sind hinreichend beschrieben.
Doch abseits von wirtschaftlichen
Gesichtspunkten und Renditeaspekten ist es von Zeit zu Zeit
sinnvoll, auch die soziale Dimension
eines solchen Prozesses zu bewerten.
„
______________________
Thomas Junge
“
für die am Tisch versammelten kommunalwirtschaftlichen Spartenunternehmen verbinden und wie
neue technologische Potentiale zu einer stärkeren
Vernetzung untereinander führen können. In der
Energiewirtschaft spielten digitale Prozesse auf allen
Wertschöpfungsstufen von der Erzeugung bis hin
zum Vertrieb eine zentrale Rolle, so Dr. Weimer.
Über die Analyse des Verbrauchsverhaltens
ließen sich die Angebote an die Kunden noch deutlich optimieren. Daher müssten bewusst Anlässe
geschaffen werden, um mit den Kunden in Kontakt
zu treten. Das ausgeprägte Vertrauen in die Stadtwerke als verantwortlichem Unternehmen mit einer
starken Bindung zu Stadt und Region sei der größte
Wettbewerbsvorteil auf dem liberalisierten Energiemarkt. Aktuell sei eine Applikation für das Smartphone entwickelt worden, über die die Kunden der
Stadtwerke bei Verbundunternehmen Vorteile wahrnehmen könnten.
Auch einige Einzelhandelsunternehmen seien
in ein Rabattsystem eingebunden, welches über die
genannte Applikation verfügbar sein wird. „Wir
müssen unser Angebot diversifizieren, weil wir
erkennen, dass sich das alte Geschäftsmodell der
Stadtwerke in den kommenden Jahren deutlich
reduzieren wird“, so Dr. Weimer. Die Stadtwerke
würden es als ihre Aufgabe verstehen, Menschen
vor Ort zu verbinden und lokale Strukturen zu
stärken, ergänzt Reiner Temmrick. Vernetzte
digitale Angebote im Zusammenspiel mit dem
Prof. Dr. Michael Schäfer (l.) und Reiner Timmreck
22
lokalen Einzelhandel seien auch geeignet, die
Wertschöpfung in der Stadt zu vertiefen.
Auch Caspar von Ziegner glaubt, dass sich das
Geschäftsmodell der Stadtwerke in den kommenden
Jahren signifikant ändern werde. Die Alliander
NV hat als Unternehmen der niederländischen
Kommunen einen Pool ins Leben gerufen, in dem
eigene Start-ups aufgezogen werden. Die dort entwickelten Ideen seien nicht selten geeignet, das
Geschäftsmodell der Netzbetreiber komplett zu
untergraben. „Doch wenn wir es nicht machen,
macht es jemand anderes“, so von Ziegner. Alliander
betreibe 80.000 Kilometer Stromleitungen. Hier
müsse der Einbau intelligenter Messsysteme einhergehen mit einer Verbrauchsoptimierung.
Andernfalls würde sich der Aufwand nicht
lohnen. So könnten Wärmepumpen ihre Einsatzzeiten eigenständig am Börsenpreis optimieren.
Ein entsprechendes Projekt laufe im rheinischen
Heinsberg, wo Alliander die Stromnetze betreibt.
Um das deutlich höhere Informationsvolumen disponieren zu können, sei bei Alliander eine Datendrehscheibe entwickelt worden, die sowohl auf der
Mit den Möglichkeiten wächst auch
die Komplexität. Nicht alles, was
theoretisch denkbar ist, lässt sich
auch in die Praxis umsetzen.
„
______________________
Olaf Pestl
“
Ebene der Applikationen wie bei den Geräten eigene
Oberflächen anbiete. So werde die von Alliander
betriebene Stadtbeleuchtung in niederländischen
Kommunen über ein eigenes System gesteuert.
Grundsätzlich würde die informationstechnologische
Forschung und Entwicklung im Open-Source-Verfahren stattfinden. Dies bedeutet nicht, dass es sich
um eine „offenes System“ handelt, sondern vielmehr um eine Offenheit in der Entwicklung. Hierdurch würden eine hohe
Innovationsdynamik
und eine Herstellerunabhängigkeit garantiert.
Alliander sehe sich
selbst in der Rolle, diese
Schaffensprozesse zu
begleiten.
Die für Forschung
und
Entwicklung
ungewöhnliche Offenheit begründet von
Ziegner mit der Notwendigkeit
einer
Standardisierung, die
letztlich bei allen Playern
am Markt Voraussetzung
Caspar von Ziegner
für eine konsistente Entwicklung sei. Zudem könne
Alliander innerhalb eines solchen Modells auch von
externen Ideen profitieren, wie sich die Vielzahl von
Daten für einen größeren Mehrwert nutzen lasse.
Thomas Junge nimmt Bezug auf die von Dr.
Weimer erwähnte, kurz vor der Markteinführung
stehende Applikation der Stadtwerke und regt an,
auch die Iserlohner Parkhäuser dort zu integrieren.
Grundsätzlich sei es bei einem derart umfassenden
Trend wie der Digitalisierung sinnvoll, ein übergreifendes Prozessmanagement zu implementieren,
das alle Unternehmen der Stadt und später auch
weitere interessierte Gewerbetreibende umfasse.
Caspar von Ziegner ergänzt: „Hier sind wir genau an
dem Punkt, an dem eine unternehmensübergreifende
Datendrehscheibe sinnvoll wird, an deren Schnittstellen sich alle andocken können.“
Die Stadtwerke müssten sich fragen, worin am
Ende der Mehrwert liegt, sagt Reiner Temmrick.
„Wo wird Wertschöpfung generiert und wie können
diejenigen, die die Daten produzieren auch an deren
weiteren Nutzung partizipieren.“ Allerdings seien
Fragen des Datenschutzes in der Debatte bislang
etwas zu kurz gekommen. Nicht alles, was an Vernetzung innerhalb einer Kommune oder zwischen
den kommunalen Unternehmen denkbar und sinnvoll erscheine, sei auch rechtlich umsetzbar.
Dr. Weimer hält es nicht für gänzlich ausgeschlossen, dass Strom in einigen Jahren nur noch
verschenkt werde. Im Hinblick auf die immer stärkere
Stromproduktion aus Erneuerbaren Energien könne
Hier sind wir genau an dem Punkt,
an dem eine unternehmensübergreifende Datendrehscheibe sinnvoll
wird, an deren Schnittstellen sich
alle andocken können.
„
______________________
Caspar von Ziegner
“
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
JAHRESTHEMA: INFRASTRUKTUR
Digitalisierung
sich der Strompreis sukzessive der Nulllinie annähern.
Nun locke das Geschäft mit den Daten. Auch die
Stadtwerke müssten sich mit neuen Geschäftsfeldern
vertraut machen, Kundenprofile erstellen und das
Verbraucherverhalten analysieren. Dabei sei das große
Vertrauen der Bürger in die soziale, ökologische und
nicht zuletzt die datenschutzrechtliche Kompetenz
der Stadtwerke durchaus von Vorteil.
Genau davon hätte auch Alliander profitieren
können, als in Heinsberg Smart Meter implementiert
wurden, sagt von Ziegner. Mittlerweile seien 95 Prozent der Anschlüsse in der Kernstadt mit Smart
Metern ausgestattet, was zu deutlich weniger
Problemen mit falschen Abrechnungen und zu
einer spürbar gewachsenen Kundenbindung geführt
hätte. Nun könne gefragt werden, ob die neuen
datenbezogenen Geschäftsfelder dem Auftrag der
Daseinsvorsorge entsprechen, doch zum Kernauftrag der Stadtwerke zähle es schließlich auch, Geld
für die Kommune zu verdienen.
Das ausgeprägte Vertrauen in die
Stadtwerke als verantwortlichem
Unternehmen mit einer starken
Bindung zu Stadt und Region ist
der größte Wettbewerbsvorteil auf
dem liberalisierten Energiemarkt.
„
______________________
Dr. Klaus Weimer
“
Die Iserlohner Gemeinnützige Wohnungsgesellschaft (IGW) sei zwar nicht auf der Suche
nach neuen Geschäftsfeldern, dennoch ließen sich
über die Digitalisierung signifikante Mehrwehrte
schaffen, sagt Geschäftsführer Olaf Pestl. Auch
die IGW entwickle aktuell eine eigenständige
Applikation, mit der sich Wohnungsangebote direkt
auf das Smartphone laden lassen. Bereits seit einigen
Jahren würde erhoben, wie neue Mieter auf Wohnangebote aufmerksam wurden. Erstaunlicherweise
DIE TEILNEHMER DER GESPRÄCHSRUNDE
(in namensalphabetischer Reihenfolge)
Ahrens, Dr., Peter Paul, Bürgermeister Stadt Iserlohn
Junge, Thomas, Geschäftsführer Gesellschaft für Wirtschaftsförderung Iserlohn mbH (GfW)
Pestl, Olaf, Geschäftsführer Iserlohner Gemeinnützige Wohnungsgesellschaft (IGW)
Timmreck, Reiner, Geschäftsführer Stadtwerke Iserlohn GmbH
Weimer, Dr., Klaus, Geschäftsführer Stadtwerke Iserlohn GmbH
Ziegner v., Caspar, Senior Projektmanager Unternehmensentwicklung, Alliander AG
Moderation: Prof. Dr. Michael Schäfer, Herausgeber von UNTERNEHMERIN KOMMUNE und
Professor für Kommunalwirtschaft an der Hochschule für Nachhaltige Entwicklung in Eberswalde (HNEE).
sei der Anteil derer, die über die Website gekommen
sind, vergleichsweise gering. Mund-zu-MundPropaganda oder auch die Schaukästen in der
Stadt spielten noch immer eine wesentliche Rolle.
In Zukunft werde sich dies vermutlich ändern.
Die Iserlohn-App
Die Digitalisierung hätte das Potential, in erheblichem Maße zu einer Optimierung von Prozessen
innerhalb einer Kommune beizutragen, sagt Prof.
Dr. Schäfer. Dies beträfe Back-Office-Leistungen
über das Verwaltungshandeln bis hin zu Telemedizin
und Notfallvorsorge. Gefragt wird, inwieweit diese
Potentiale in Iserlohn bereits genutzt werden. Mit
den Möglichkeiten wachse auch die Komplexität,
so Olaf Pestl. Nicht alles, was theoretisch denkbar
sei, ließe sich auch in die Praxis umsetzen. Gerade
für eine Wohnungsgesellschaft sei es von elementarer
Bedeutung, Anlässe zu haben, zu denen man sich
ein persönliches Bild vor Mietvertragsunterzeichnung
von den Mietern machen könne. Digital generierte
Informationen unterlägen engen datenschutzrechtlichen Beschränkungen und könnten den direkten
Kontakt nicht ersetzen. Bei den Stadtwerken sei
eine Digitalisierung leichter vorstellbar, denn hier
beschränke sich das Risiko auf den Zahlungsausfall,
sagt Pestl. Dies schließe aber nicht aus, dass sich verschiedene Angebote in der Kommune untereinander
vernetzen, entgegnet Caspar von Ziegner. Schließlich
Die Debatte hat gezeigt, dass Digitalisierung auch Vernetzung bedeutet. Auf der Angebotsseite sind die kommunalen Unternehmen gefragt, ihren Vertrauensvorschuss
bei den Kunden für neue abgestimmte und innovative
Angebote zu nutzen. Neben der enormen Wertschätzung,
die sich insbesondere die Stadtwerke in den vergangenen
Jahrzehnten erarbeitet haben, besitzen sie eine genaue Kenntnis der lokalen Gegebenheiten und
damit einen weiteren entscheidenden Wettbewerbsvorteil. Sie müssen es nur tun. Ähnlich wie in
Iserlohn wird in vielen Kommunen seit Jahren über mehr Vernetzung und Innovation nachgedacht. Vieles ist erreicht worden, anderes harrt der Umsetzung. Neue Angebote wollen gut überlegt sein, das entbindet aber nicht von der Notwendigkeit, schnell und kreativ auf Marktprozesse
und technologische Möglichkeiten zu reagieren.
Falk Schäfer
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
könnten die Wohnungsunternehmen ihren persönlichen Kontakt zu den Kunden dazu nutzen, auf
Angebote der energetischen Optimierung durch die
Stadtwerke hinzuweisen.
Olaf Pestl bringt eine „Iserlohn-App“ ins Spiel,
mit der auf alle Angebote der Stadt gezielt zugegriffen
werden könnte. Neben der Entwicklung neuer
Ebenen in der Kundenkommunikation müssten
sich die Unternehmen auch überlegen, welche
Angebote man den Kunden konkret unterbreiten
will, fügt Dr. Weimer an. Vom Notfallmanagement
über die Kundenbetreuung bis hin zu einem
Schlüsselservice seien etliche Leistungen denkbar,
die zumindest einer gründlichen Potentialanalyse
unterzogen werden könnten. Aus Kundensicht sei
die Vernetzung verschiedener Angebote eine geeignete
Antwort auf die gestiegene Komplexität in den
Daseinsvorsorgemärkten und im alltäglichen Leben
überhaupt, so Prof. Dr. Michael Schäfer. Insofern
sei eine gemeinsame Applikation mit allen Unternehmen und Angeboten der Stadt durchaus sinnvoll. Prof. Dr. Schäfer zitiert eine aktuelle Umfrage
des Meinungsforschungsinstituts Forsa, nach denen
kommunale Unternehmen mit weitem Abstand
diejenigen Institutionen sind, denen das meiste Vertrauen entgegengebracht wird. „Wenn diese Unternehmen für die Kunden vernetzte und abgestimmte
Angebote schnüren und zusammen mit ihnen einen
digitalen Mehrwert schaffen können, – warum dann
noch zögern?“
Die Kundenbindung der Stadtwerke
korreliere in keiner Weise mit Erhebungen zur
theoretisch ausgesprochen hohen Wechselwilligkeit im Markt, so Prof. Dr. Schäfer.
„Das ist der Smart-City-Gedanke“, der beispielsweise
in Amsterdam schon recht erfolgreich umgesetzt
wurde, so von Ziegner. Aktuell würde Alliander auch
in Heinsberg ein ähnliches Projekt verfolgen. In der
Praxis stünden alle Gedankenspiele vor dem Petitum
der technischen und rechtlichen Umsetzbarkeit, doch
mit großer Sicherheit könnten in fast jeder Kommune
noch erhebliche Synergien realisiert werden.
n
Die Veranstaltung dokumentierte Falk Schäfer
i
infos
www.stadtwerke-iserlohn.de
www.alliander.de
23
KOMMUNALWIRTSCHAFT AKTUELL
nachgeschlagen
Mit Rekommunalisierung werden Prozesse bezeichnet, in denen
eine Privatisierung zuvor öffentlich-rechtlicher Aufgaben und
Vermögen wieder rückgängig gemacht wird und diese erneut in
kommunale Trägerschaft übergehen. Nach gemischten Erfahrungen mit
Privatisierungen in Deutschland, vor allem in den 1990er und 2000er
Jahren, gibt es seither eine gegenläufige Entwicklung.
Springer-Sachbuch „Das kommunale Nagelstudio – die populärsten Irrtümer zu Stadtwerke & Co.“
Stein des Anstoßes
Interview mit Dr. Sven-Joachim Otto, Leiter des Bereichs Tax & Legal Public Services bei der
PricewaterhouseCoopers AG WPG (PwC) in Düsseldorf
Z
wischen März 2011 und Dezember 2013 veröffentlichte UNTERNEHMERIN KOMMUNE eine Serie zu gängigen Vorurteilen
und pauschalen Unterstellungen im Hinblick auf die Kommunalwirtschaft. Mit aller Deutlichkeit wurden die verschiedenen
Stigmatisierungen zu Kommunen und deren Unternehmen aufs Korn genommen und mit Fakten und Argumenten widerlegt.
Die Beiträge fanden ein unisono positives Echo unter den Lesern. Die „Aufklärung“ war vor allem Balsam für die Seele, denn
Überzeugungsarbeit zu den Tugenden der Kommunalwirtschaft musste hier nicht mehr geleistet werden. Abseits dieser Fachöffentlichkeit
sollten aber auch breitere Kreise die Gelegenheit erhalten, sich fundiert, verständlich und sachlich-logisch zu den tatsächlichen Umständen
kommunalwirtschaftlichen Handelns zu informieren. Dies schien durchaus angeraten, denn die Einstellung zu kommunalen Unternehmen
trug und trägt bis heute teilweise schizophrene Züge. Einerseits wird über vermeintlich träge und bürokratische Monopolisten hergezogen,
andererseits den Stadtwerken und Sparkassen bei Umfragen und in Kundenbeziehungen das größte Vertrauen ausgesprochen. Schließlich
kann man in der Regionalzeitung meist nur dann etwas über Kommunalwirtschaft lesen, wenn Preise der Marktentwicklung angepasst
werden oder ein Stadtwerkefest als zu teuer gebrandmarkt wird.
Allein dieser Gemütszustand, diese Mischung aus inniger Zuneigung und verbaler Abwertung, hätte ausgereicht als Auslöser für ein
kontroverses Buch zur Kommunalwirtschaft. Doch auch darüber hinaus hielten es die Autoren für überfällig, endlich mit althergebrachten
Vorurteilen aufzuräumen, die aus einer anderen Zeit stammen, mit den heutigen Realitäten nichts mehr zu tun haben, rein sachlogisch oft
nicht nachzuvollziehen sind und nicht selten böswillige Kolportagen darstellen. „Das kommunale Nagelstudio – die populärsten Irrtümer
zu Stadtwerke & Co.“ richtet sich an all diejenigen, die zwar nicht unmittelbar in die wirtschaftlichen Aktivitäten der Kommunen involviert
sind, den kommunalen Unternehmen als Kunden und Eigentümer jedoch aufs Engste verbunden sind – die Bürger dieses Landes.
Das Buch ist jüngst beim Springer-Fachbuchverlag in Wiesbaden erschienen. Mit dem Gabler Wirtschaftslexikon und vielen weiteren
Publikationen gehört Springer zu den führenden Fachverlagen der Wirtschaftswissenschaften. Erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt wurde
die Publikation am 27. April in Weimar bei einer Pressekonferenz zusammen mit Bodo Ramelow, Ministerpräsident des Freistaates
Thüringen, und Stefan Wolf, Oberbürgermeister der Stadt Weimar. Die genannten Politiker präsentierten zu diesem Anlass eine von ihnen
verfasste „Weimarer Erklärung zur Daseinsvorsorge“. UNTERNEHMERIN KOMMUNE sprach mit einem der beiden Autoren des Buches,
Dr. Sven-Joachim Otto, über die Gründe für diese pointierte Auseinandersetzung mit dem Themenfeld Kommunalwirtschaft, über die erste
Resonanz und auch über mögliche Weiterungen, die sich aus der getroffenen Analyse ergeben.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Wir haben es eingangs erwähnt: die Serie zu den
„Populärsten Irrtümern der Kommunalwirtschaft“ in UNTERNEHMERIN KOMMUNE
begann bereits im Jahr 2011. Den Startschuss gab
ein Auftaktinterview mit dem damaligen Hauptgeschäftsführer des Verbandes kommunaler
Unternehmen (VKU), Hans-Joachim Reck. Es
folgten zehn prononcierte Beiträge, die sich
recht meinungsfreudig mit einzelnen Facetten
24
des Themas auseinandersetzten. Wann und vom
wem kam die Idee, daraus ein Buch zu machen?
Dr. Sven-Joachim Otto:
Die Idee wurde von den Lesern an uns herangetragen. Prof. Dr. Schäfer berichtete von der
großen und überaus positiven Resonanz, welche
die Irrtümer-Reihe auslöste. Gelobt wurden
insbesondere die populärwissenschaftliche Aufbereitung des Themas und der Mut zu klaren
Schlussfolgerungen. Einige Leser fragten gezielt
nach, ob man die behandelten Vorwürfe, der sich
die Kommunalwirtschaft ausgesetzt sieht, nicht
auch konsolidiert und „aus einem Guss“ kaufen
könne. So entstand im vergangenen Jahr die Idee
zum Buch.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
„Das kommunale Nagelstudio“ beginnt
mit einer umfassenden Einführung zur
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
KOMMUNALWIRTSCHAFT AKTUELL
Kommunalpublizistik
Kommunalwirtschaft in Deutschland.
Dieser Text ist im besten Sinne populärwissenschaftlich verfasst, aber auch recht
umfangreich. Gibt es bei „Otto-Normalverbraucher“ – und für den war das Buch
ja gedacht – tatsächlich so viel Unkenntnis
zu einer Wirtschaftsform, mit der er täglich
konfrontiert ist?
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Das Hauptkapitel des Buches nimmt die
„Populärsten Irrtümer zu Stadtwerke & Co.“,
also zur Kommunalwirtschaft, auf ’s Korn. Das
sind 14 an der Zahl. Können Sie diese bitte kurz
und bewusst plakativ benennen, damit sich auch
jene Leser einen Eindruck machen können, die
das Buch bis dato noch nicht kennen.
Dr. Otto:
Die ersten Kapitel widmen sich unter anderem
der Genesis der Kommunalwirtschaft. Dargelegt wird, dass der Daseinsvorsorgegedanke
aus einem genossenschaftlichen und gemeinschaftlichen Impuls heraus entstanden ist, von
Anfang an beseelt war von Bürgernähe und
demokratischen Ideen. Man wollte für „alle“
da sein, Aufgaben im Interesse „aller“ erledigen.
Dass sich das bis heute nicht geändert hat, zeigt
auch, dass andere Zuschnitte sich nicht durchsetzen konnten.
Dr. Otto:
Den Anfang machte „Das kommunale Nagelstudio“ als namensgebendes Kapitel für das spätere
Buch. Hier wurde quantitativ untersucht, wie viele
kommunale Fitness-Studios, Gärtnereien, Kneipen
oder sonstige „abwegigen“ Angebote die Kommunen
unterhalten. Es zeigte sich ein typisches Ergebnis. Es
gab derartige Fälle schlichtweg nicht.
Darauf folgten inhaltliche Auseinandersetzungen mit den Vorwürfen, kommunale Unternehmen würden nicht innovativ arbeiten und
seien „verstaubt“, würden subventioniert, Steuern
verschwenden oder dienten als Versorgungsoasen
für ausgediente und glücklose Politiker. Das Buch
widmet sich der Unterstellung, kommunale
Unternehmen würden gezielt den Mittelstand
behindern, hätten unfaire Vorteile am Markt und
kämen in den Genuss von Privilegien. Geprüft
wurde, ob kommunale Unternehmen tatsächlich
eine ausgeprägte Beamtenmentalität pflegen und
das Gegenteil einer erfolgreichen Unternehmensführung darstellen, ob sie ineffizient und viel zu
altruistisch arbeiten und Profite gedankenlos verteilen. Schließlich setzen wir uns mit den Irrtümern
auseinander, dass sich die Geschäftsführungen
kommunaler Unternehmen allzu gremienlastig
ausrichten, dass sich kommunale Unternehmen
als Selbstbedienungsladen beim Bürger verstehen
und ihnen die private Rechtsform nicht zusteht.
Dr. Sven-Joachim Otto
Damals wie heute betreiben kommunale
Unternehmen Schlachthöfe, Straßenlaternen,
Friedhöfe, Abwasser usw. Das rückt in der
öffentlichen Wahrnehmung leider etwas in
den Hintergrund. Sicherlich ist dieser Tage
die Energieversorgung das dynamischste
Feld, doch der Bürger begegnet kommunalen
Unternehmen in seinem Alltag noch weitaus
häufiger. Diese Bereiche funktionieren seit
Jahrzehnten ohne Beanstandungen, aber auch
ohne größere Wertschätzung. Sie rücken aus
dem öffentlichen Fokus. Ich möchte nicht
von Unkenntnis sprechen, aber von einer
„Entfernung und Entfremdung“ des Bürgers
in seiner Wahrnehmung kommunaler Unternehmen. Dies hat nun auch die „Weimarer
Erklärung zur Daseinsvorsorge“ in den Mittelpunkt gestellt.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Eine vermutlich schwierige Frage: was sind
unter den identifizierten Irrtümern die drei,
die den kommunalen Unternehmen und vor
allem auch den dort Beschäftigten in der Realität besonders schaden?
Dr. Otto:
Nach meinem Dafürhalten ist der Anwurf, es
würde kommunale Nagelstudios, Fitness-Studios,
Gärtnereien und Kfz-Werkstätten geben, besonders
gefährlich. Dies deshalb, weil hier das Feld der
bewussten Irreführung betreten wird. Andere
Irrtümer lassen sich inhaltlich diskutieren. Einige
Vertreter der Privatwirtschaft meinen, dass die
Privatisierung der Wasserversorgung die einzige
und folgerichtige Entwicklung in dieser Branche
darstellt. Dem kann man widersprechen, damit
kann man sich auseinandersetzen, Erfahrungen aus
Praxis und Wissenschaft entgegenhalten. Andere
Irrtümer lassen sich weniger leicht widerlegen,
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
weil sie bewusst pauschalisieren und mit unklaren
Begriffsbestimmungen spielen. Was genau sind Versorgungsoasen? Was ist Beamtenmentalität?
Hiervon unterscheiden sich die angeblich
flächendeckend bestehenden kommunalen Nagel-,
Fitnessstudios etc. Der Leser, Hörer oder Zuseher
braucht keine weitere Erläuterung. Die Information
bleibt zunächst solitär stehen, auch deshalb, weil
Kommunalwirtschaft ist eine
Konstante in den Kommunen, in
der Wirtschaft und in der Politik.
Sie sollte in allen drei Dimensionen
gedacht und fortentwickelt werden.
Nur so kann sie nachhaltig gelingen
und Mehrwert schaffen.
„
______________________
Dr. Sven-Joachim Otto
“
sich ihr Wahrheitsgehalt nur mit erheblichem Aufwand überprüfen lässt. Man kann es glauben oder
nicht. Das ist das Gefährliche an diesem Irrtum.
Ich möchte mal einen „Klassiker“ nachzeichnen.
Im Jahr 2003 musste das OVG Münster zu einem
„kommunalen Fitnessstudio“ Stellung beziehen. In
diesem Fall betrieb ein kommunales Unternehmen
ein Parkhaus und vermietete in diesem auch Räumlichkeiten an einen Unternehmer, der dort wiederum
ein Fitnessstudio unterhielt. Dies geschah, um die
Auslastung in den umsatzschwachen Abendstunden
zu steigern und Betriebskosten „umzulegen“. Das
OVG gab dem kommunalen Unternehmen Recht.
Danach komme es bei der wirtschaftlichen Betätigung
nicht auf den Charakter der konkreten Handlung,
sondern auf den Charakter des Betriebes an. Dies
war der Betrieb eines Parkhauses und nicht die Vermietung von Nebenräumen. In den anschließenden
Diskussionen wurde dann häufig plakativ von einem
„kommunalen Fitnessstudio“ gesprochen. Solche
Informationen werden dann einfach übernommen
und nicht mehr hinterfragt.
Das typische kommunale
Unternehmen
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Zum Abschluss des Hauptteils werden
kommunale Unternehmen aus NordrheinWestfalen und den Neuen Bundesländern
vorgestellt. Intention ist, an ganz konkreten
Beispielen zu zeigen, dass die zuvor eher
grundsätzlich widerlegten Irrtümer auch in
der Praxis nicht zutreffen. Diesen Ausflug
in den kommunalwirtschaftlichen Alltag
leiten Sie mit folgenden Sätzen ein: „Deshalb
haben wir aus einer vier- vermutlich sogar
fünfstelligen Zahl kommunaler Betriebe
25
Kommunalpublizistik
und Verbände (es gibt darüber leider keine
genauen statistischen Angaben) eine Handvoll
Unternehmen ausgewählt, die wir mit gutem
Gewissen als typisch und repräsentativ für alle
bezeichnen können. Dass wir uns dabei auf
Stadtwerke konzentriert haben, liegt ganz ein-
Eine prononcierte Auseinandersetzung mit Vorurteilen, Unterstellungen und böswilligen Kolportagen.
fach daran, dass diese Unternehmen quasi als
Prototypen der Kommunalwirtschaft gelten.
Das zeigt schon der Name: Das „Stadt“-Werk
kann nur kommunal sein. Mit dem Begriff
Stadtwerk verbinden die Bürgerinnen und
Bürger positiv besetzte Werte wie Versorgungssicherheit, Zuverlässigkeit, Nähe sowie lokale
Verwurzelung und Verantwortung.“ Warum
haben Sie diese Beispiel-Stadtwerke aus Nordrhein-Westfalen und dem Osten Deutschlands
ausgewählt?
Dr. Otto:
Diese Beispiele bilden bezüglich Struktur,
Größe, Umsatz, Produktportfolio, Bevölkerungsstruktur und dem kommunalen Umfeld einen
Querschnitt ab. Sie stehen für die Mehrzahl der
fast 1.000 deutschen Stadtwerke in Deutschland. Selbstredend hat auch diese Gattung der
Kommunalwirtschaft ihre Flaggschiffe. Das sind
die ganz Großen – die Stadtwerke in Ballungsräumen wie München, Leipzig oder Frankfurt am
Main. Diese Unternehmen in prosperierenden
Metropolen sind ebenso tüchtig und ebenso
kommunal wie ihre von der Dimension her eher
„normalen“ Schwestern. Typisch für die Kategorie Stadtwerk ist eine eher mittelständische
Dimension.
Zu Recht werden diese Unternehmen auch als
„Mittelstand der deutschen Energiewirtschaft“
26
bezeichnet. Und genau unter solchen haben wir
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
uns umgeschaut. Ganz bewusst haben wir zum
Sie schreiben, dass die von Ihnen vorgestellten
einen nach Nordrhein-Westfalen geschaut. Das
Unternehmen durchaus den Anspruch an
bevölkerungsreichste Bundesland ist mit seinem
Repräsentativität erfüllen. Woran machen Sie
extrem komplizierten Umbauprozess von Kohle
das fest, und was ist unter diesem Aspekt das
und Stahl hin zu Dienstleistung und HochGemeinsame an einem großen Stadtwerk in
technologie durchaus erfolgreich, aber noch lange
einer westdeutschen Metropole und einem
nicht am Ende. Das wird besonders deutlich an
Trinkwasserzweckverband auf dem „flachen
den Kommunen, die mit hoher Verschuldung
Lande“?
und einem ebenso hohen Sanierungsbedarf bei
ihren Infrastrukturen konfrontiert sind. Genau
Dr. Otto:
dort, in Aachen, Essen, Köln, Neuss, Remscheid
Im Rahmen meiner Beratungstätigkeit bei
und Solingen haben wir unsere Beispiel-StadtPricewaterhouseCoopers habe ich viele Unterwerke gefunden.
nehmen kennengelernt, die sich ähnlichen
Stadtwerke können keine „SchönwetterFragestellungen und Herausforderungen ausökonomie“ betreiben. Sie müssen auch und
gesetzt sahen. Die Vorwürfe, die Vorurteile,
gerade unter ungünstigen Rahmenbedingungen
die Diskussionen in der Geschäftsführung, im
Daseinsvorsorge auf hohem Niveau gewährAufsichtsrat oder im Stadtrat waren nahezu
deckungsgleich – zumindest in den grundleisten. Deshalb haben wir neben NRW eine
zweite Beispielgruppe im Osten Deutschlands
legenden Argumentationslinien. Richtige „Ausgesucht und gefunden. Unter der Überschrift
reißer“ habe ich nicht wahrgenommen.
„strukturschwach“ firmieren, abgesehen von
Allen kommunalen Unternehmen ist
wenigen Ausnahmen, fast alle Kommunen der
gemeinsam, dass sie auch in privatwirtschaftNeuen Länder. Der Abstand im Bruttoinlandslicher Gesellschaftsform Teil der Verwaltung
produkt pro Kopf der Bevölkerung ist im Versind, mit spezifischen Anforderungen, denen
gleich zu prosperierenden Regionen sichtbar.
nur kommunale Unternehmen genügen
Der Anteil der neuen Bundesländer am Bruttomüssen. Hierzu gehören ein besonderes Selbstinlandsprodukt der Bundesrepublik liegt bei
verständnis und eine besondere Zielsetzung,
lediglich zwölf Prozent. Die Arbeitslosigkeit ist
aber auch die Verortung in sowohl öffentlichen
mancherorten fast doppelt so hoch wie in den
als auch privaten Rechtsnormen. Auch die
alten Bundesländern, die Betriebsdichte bei 50
Nähe zur Kommunalpolitik setzt bestimmte
Prozent des Westniveaus.
Impulse, die im Sinne einer guten UnterAber auch in Gegenden, wo uns die Strukturnehmensführung beachtet werden müssen.
schwäche in vielen Kommunen quasi ins
Auge fällt, wo die Bevölkerung viel schneller
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
schrumpft als anderswo und teure Infrastruktur
Das Buch endet mit einem Fazit unter
für immer weniger Menschen vorgehalten muss,
dem Titel „Was man lieb hat, darf man
nicht bereden“. Es ist ja in der Tat
funktioniert die Kommunalwirtschaft. Und genau
ein bemerkenswertes Phänomen, dass
an solchen Beispielen haben wir den Mehrwert
und die Effekte der
Kommunalwirtschaft
illustriert. Genannt
werden die Stadtwerke
in Neubrandenburg,
Schwedt (Oder) und
Lutherstadt Wittenberg. Wir haben aber
auch Projekte vorgestellt, die durch
kommunale Unternehmen tolle Beiträge zum regionalen
kulturellen Angebot
leisten. Von Ausstellungen in Ahrenshoop, über Konzerte
in Brandenburg bis
hin zu Projekten zur
Oberbürgermeister Stefan Wolf (l.) und Thüringens Ministerpräsident
Verkehrssicherheit in Weimars
Bodo Ramelow bei der Vorstellung des Buches und der Präsentation der Weimarer
Sachsen-Anhalt.
Erklärung vom 27. April 2016.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
KOMMUNALWIRTSCHAFT AKTUELL
Kommunalpublizistik
Erste Reaktionen und die
„Weimarer Erklärung“
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Das „Kommunale Nagelstudio“ wurde – wir
haben es eingangs angemerkt – am 27. April der
Öffentlichkeit vorgestellt. Dass sich dazu mit Bodo
Ramelow der erste linke Ministerpräsident eines
deutschen Landes und der Oberbürgermeister der
ehemaligen europäischen Kulturhauptstadt Weimar
die Ehre gaben, ist schon bemerkenswert. Was
bedeutet den beiden Autoren diese Mitwirkung?
Dr. Otto:
Es zeigt, dass Kommunalwirtschaft Chefsache ist.
Kommunalwirtschaft ist eine Konstante in den
Kommunen, in der Wirtschaft und in der Politik.
Sie sollte in allen drei Dimensionen gedacht und
fortentwickelt werden. Nur so kann sie nachhaltig
gelingen und Mehrwert schaffen.
Der Sitz von PwC in Düsseldorf
die inzwischen fast überwältigende
Zustimmung zur Kommunalwirtschaft
damit einher geht, dass deren angebliche
und real nie bewiesene Gebrechen selbst
von jenen immer mal wieder kolportiert
werden, die bei Meinungsumfragen stabil
ihre Sympathie bekunden. Haben Sie eine
plausible Erklärung für dieses widersprüchliche Verhalten?
Dr. Otto:
Ich glaube, dass man bei dieser Fragestellung
einen anderen Zusammenhang beleuchten sollte.
Die überwältigende Zustimmung kommt aus der
Bürgerschaft, die über Jahrzehnte auf gleichbleibend
hohem und zuverlässigem Niveau versorgt wurde.
Die Vorwürfe kommen vielmehr von Akteuren, die
berufliche oder politische Anknüpfungspunkte mit
der Kommunalwirtschaft haben. Diese sollten aber
einen höheren Grad an Vorwissen, Vorbereitung
und Kenntnis über den Einzelfall aufweisen. Und
genau daran fehlt es oftmals. Wenn ein Bürger
seine Meinung äußert und diese salopp formuliert,
kann man darüber hinweg sehen. Wenn aber ein
Mandatsträger in einer politischen Diskussion
pauschale Vorwürfe adressiert und Irrtümer verbreitet ist das etwas Anderes. Das Amt gebietet eine
gewisse Sorgfaltspflicht.
In den deutschen Parlamenten, Räten und
Verwaltungen werden Entscheidungen von erheblicher Tragweite getroffen. Hier verbietet sich jegliches „Argumentieren im Blindflug“. An dieser
Stelle zeigt sich, wer Ideologie verbreitet und wer
fundiert diskutieren möchte.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Bodo Ramelow und Stefan Wolf haben im
zeitlichen und inhaltlichen Kontext mit der
Allen kommunalen Unternehmen ist gemeinsam, dass
sie auch in privatwirtschaftlicher Gesellschaftsform Teil
der Verwaltung sind, mit spezifischen Anforderungen, denen
nur kommunale Unternehmen
genügen müssen.
„
______________________
Dr. Sven-Joachim Otto
“
Wir stecken überall
unsere Nase rein.
Die Innovationskraft ist zentral für die Zukunftsfähigkeit eines Unternehmens. Deshalb arbeiten wir als nachhaltig ausgerichtetes
Energieunternehmen an Lösungen zukunftsfähiger Energieversorgung, insbesondere im Bereich erneuerbare Energien.
Mehr unter www.mvv-energie.de/nachhaltigkeit
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
27
Kommunalpublizistik
Buchvorstellung ihre „Weimarer Erklärung
zur Daseinsvorsorge“ vorgestellt. Beide
Autoren, der Ministerpräsident und der
Oberbürgermeister, haben erwähnt, dass auch
das „Irrtümerbuch“ als Impulsgeber für die
„Weimarer Erklärung“ wirkte. Wie bewerten
Sie diesen Zusammenhang?
nutzen und brauchen. Uns sollte klar werden,
dass die Leistungen der Daseinsvorsorge nicht
vom Himmel fallen. Sie haben einen Preis, der
mit dem gesellschaftlichen Nutzen abgewogen
werden muss. Wir brauchen eine Aufgabenkritik,
eine Priorisierung von Leistungen und grundsätzlich mehr regulatorische Klarheit.
Dr. Otto:
Es freut mich. Die Arbeit rund um die
Irrtümer-Serie war nicht immer leicht. Tritt
man den behandelten Irrtümern mit Argumenten, Statistiken und Begriffsklärungen entgegen, sind sehr schnell die eklatanten Mängel
in der Diskussion offengelegt und die Irrtümer
entlarvt. Um deren Wirkungsmacht nachvollziehen zu können, muss man die Irrtümer
aber auch in ihrem spezifischen Kontext interpretieren und ganzheitlich bewerten. Dabei
helfen Fakten und Zahlen, aber auch Logik
und ein Verständnis vom Geflecht der verschiedenen Partikularinteressen.
Dass ähnliche Gedanken in die „Weimarer
Erklärung“ einflossen, bestätigt mich darin, dass
meine in Teilen subjektive Interpretation auch
von anderen Akteuren nachvollzogen wird.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Zum Schluss noch einmal zurück zum
„Kommunalen Nagelstudio“. Haben
Sie bei der Arbeit am Buch Erkenntnisse
gewonnen, die Sie in Ihrer praktischen
Arbeit als Berater, Hochschullehrer und
in ihren vielen kommunalen Ehrenämtern
nutzen können?
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Welche Aussagen aus der „Weimarer Erklärung“
halten Sie für besonders wichtig?
Dr. Otto:
Dass wir einen gesellschaftlichen Diskurs
brauchen, was Daseinsvorsorge leisten soll.
Daseinsvorsorge und Kommunalwirtschaft sind
untrennbar miteinander verbunden. Daseinsvorsorge entspringt aus der Mitte der Gesellschaft. Dies garantiert schon das sogenannte
„Aufgabenfindungsrecht“ des Artikels 28
Grundgesetz.
Sie muss in der Wahrnehmung aber auch
konturierter werden. Nicht Behörde, nicht reine
Privatwirtschaft, aber etwas, das wir täglich
Dr. Otto:
Ja, die habe ich. Wenn ich berate, sind Diskussionen schon in vollem Gang. Die uns vorgelegten Probleme haben eine Vorgeschichte
und schon deren Schilderung ist vielfach
Gegenstand eines internen Diskussionsprozesses. Ich habe aus der Arbeit an dem
Buch folgende Lehre gezogen: Begrifflichkeiten verbindlich klären, alles hinterfragen,
Interpretationsspielräume überprüfen, nach
Möglichkeit objektivieren und die Spezifika
des Einzelfalls betrachten.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Es gibt sicher erste Leserreaktionen. Können Sie
bitte kurz zusammenfassen, was Fachleute, aber
auch solche Leser sagen, die mit der Kommunalwirtschaft in erster Linie als Nutzer der Daseinsvorsorgeleistungen zu tun haben?
Dr. Otto:
Die Leser erkennen in dem Buch das, was
es sein soll – eine populärwissenschaftliche
Untersuchung und trennscharfe Beleuchtung
pauschal vorgebrachter Irrtümer. Vielen Lesern
hilft das Buch, Vorurteile einzuordnen und die
Die beiden Autoren haben einen Nerv getroffen. Das
zeigt nicht zuletzt die Resonanz in diesem Blatt. Die vielen Anregungen und Bestätigungen als Reaktion auf die
Irrtümer-Serie gaben den entscheidenden Anstoß für ein
nunmehr ebenfalls kontrovers diskutiertes Fachbuch, das
mit sachlich-logischer Klarheit und in verständlichen Worten die Kolportagen zur Kommunalwirtschaft unter die Lupe nimmt. Mit der „Weimarer Erklärung“
wurde ein weiterer Stein ins Rollen gebracht. Zu hoffen ist, dass in Zukunft noch breiter und vielstimmiger über Sinn und Unsinn, Wohl und Wehe kommunalwirtschaftlichen Handelns debattiert
wird. Denn das Licht der Öffentlichkeit wird jenen schaden, die aus eigenen Partikularinteressen
heraus mutwillig diskreditierende Falschbehauptungen in Umlauf bringen.
Falk Schäfer
28
UNSERE Gesprächspartner
Dr. Sven-Joachim Otto, Rechtsanwalt
und Dipl. Kaufmann, verantwortet seit 2006
bei der PricewaterhouseCoopers AG WPG
(PwC) in Düsseldorf den Bereich Tax & Legal
Public Services.
PwC bietet branchenspezifische Dienstleistungen in den Bereichen Wirtschaftsprüfung,
Steuer- und Unternehmensberatung mit mehr
als 220.000 Mitarbeitern in 157 Ländern.
Dr. Otto leitet die Arbeit von über 120 Rechtsanwälten und Steuerberatern in den Bereichen Energie-, Umwelt-, Vergabe- und ÖPNV-,
Arbeits-, Kommunal-, Steuer- und Regulierungsrecht an acht Standorten in West- und
Norddeutschland.
Mit seinem Team berät er Energieversorgungsunternehmen, Kommunen, Organmitglieder
sowie kommunale und öffentliche Unternehmen und Institutionen. Neben steuerlichen und
rechtlichen Fragestellungen begleitet Dr. Otto
seine Mandanten mit exzellenter Branchenkenntnis über den gesamten Managementprozess bei der Realisierung einer strategischen
Neuausrichtung, Gesellschaftsgründung oder
Umsetzung von Kooperationen.
Dabei verfolgt PwC einen umfassenden
und integrierten Beratungsansatz mit
maßgeschneiderten Teams für jede Fragestellung. Diese setzen sich unter anderem
aus Rechtsanwälten, Steuerberatern, Wirtschaftsprüfern, Ingenieuren und Betriebswirten zusammen, um eine optimale und
ganzheitliche Lösung für den jeweiligen
Mandanten zu entwickeln.
Dr. Otto ist ehrenamtliches Mitglied im Council
of the CEEP – European Centre of Employers
and Enterprises providing Public Services, im
Kuratorium des Instituts für Berg- und Energierecht der Ruhr-Universität Bochum, im Vorstand
des Institutes für Energie- und Regulierungsrecht
Berlin e.V. Ferner gehört Dr. Otto als ständiger
Gast dem Rechtsausschuss des Verbandes
kommunaler Unternehmen e.V. (VKU) und dem
Präsidium des Bundesverbandes öffentliche
Dienstleistungen (bvöd) an.
Dr. Otto ist Autor zahlreicher Fachbeiträge in Zeitschriften und Büchern der Kommunalwirtschaft
und widmet sich als Dozent an verschiedenen
Hochschulen seit 1996 der Wissenschaft.
Gedankenwelt der Kritiker zu beleuchten. Wer
sich einmal damit auseinandergesetzt hat, lässt
sich nicht mehr hinters Licht führen.
n
Das Interview führte Falk Schäfer
i
infos
www.pwc.de
www.springer.com
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
KOMMUNALWIRTSCHAFT AKTUELL
Gesellschaft
STIFTUNG JOBFÜHRERSCHEIN gGMBH
GASAG und PwC starten
Jobführerschein für Flüchtlinge
Ein Projekt zur frühzeitigen beruflichen Integration von Flüchtlingen
A
llein im vergangenen Jahr wurden über eine Million Asylsuchende gezählt. Die meisten kamen aus den Ländern des Balkans, des
Mittleren Ostens und aus Afrika. Insbesondere der Krieg in Syrien und die instabilen Regime von Afghanistan bis nach Somalia sorgten
für eine nie dagewesene Einwanderungswelle. Spätestens seit Mitte des vergangenen Jahres diskutieren Gesellschaft, Medien, Politik
und Wirtschaft intensiv zu den Implikationen dieser massenhaften Migration. Die Debatte hat sich spürbar polarisiert zwischen denen, die Hilfe
unbedingt und in jedem Fall für angezeigt halten, und denen, die Deutschland überfordert und mitunter auch ausgenutzt sehen. Dieser Dissens
wird sich nur mit dem Mut zur Differenzierung und zum Perspektivenwechsel auflösen lassen. Doch egal, zu welchen Weichenstellungen die
Berliner und Brüsseler Politik gelangt, es gilt die Genfer Flüchtlingskonvention. Und diese vermittelt einem wesentlichen Teil der Flüchtlinge
eine zumindest mittelfristige Bleibeperspektive. Die deutsche Wirtschaft hat sich in verschiedenen Statements immer wieder für eine liberale
Flüchtlingspolitik eingesetzt. Betont werden die Potentiale der Einwanderung im Hinblick auf den demografiebedingten Fachkräftemangel. Eine
Initiative der GASAG zusammen mit PricewaterhouseCoopers (PwC) zeigt, wie sich ein Engagement für Flüchtlinge darstellen lässt.
Es liegt in der Natur der Sache, dass Verwaltungen und
Helfer an ihre Grenzen stoßen, wenn sich innerhalb
von wenigen Monaten die Registrierungen von Flüchtlingen mehr als verzehnfachen. Schwierig also, die
beengte Situation in den Flüchtlingsunterkünften und
die quälend langen Bearbeitungszeiten bei Asyl-Anträgen sinnvoll zu nutzen. Statt eines Lamentos haben
sich die GASAG und PwC dafür entschieden, das Beste
aus den schwierigen Rahmenbedingungen zu machen
und dort anzusetzen, wo die Menschen am ehesten
Perspektive und Willkommenskultur benötigen.
Nach der Registrierung in Deutschland erhalten
Asylbewerber regelmäßig eine Aufenthaltsgestattung.
Dieser Status ist ausdrücklich kein Aufenthaltstitel
und soll lediglich dazu dienen, die Zeit bis zu einer
Entscheidung über die Asylgewährung zu überbrücken. Er ist in der Regel mit einem mindestens
dreimonatigen Arbeitsverbot sowie mit einer Residenzpflicht verbunden. Den Asylbewerbern bleibt also
keine andere Möglichkeit, als in den Unterkünften
bzw. in der betreffenden Stadt die Zeit bis zu einer Entscheidung abzuwarten. Schließlich sind Sprachkurse
und andere Integrationsmaßnahmen in der Regel an
die Gewährung eines Asylstatus gebunden. Das Projekt
von GASAG und PwC setzt genau hier an. Der „Jobführerschein“ soll erste Sprachkenntnisse vermitteln,
auf die Anforderungen des Arbeitsmarktes vorbereiten
und individuell qualifizieren. Die Angebote gehen
deutlich über die Bereitstellung von Praktika hinaus
und sind eng mit staatlichen Integrationsmaßnahmen
verzahnt. Um das Programm nachhaltig gestalten zu
können und offen zu sein für weitere privatwirtschaftliche Förderer, ist von PwC eigens eine gemeinnützige Gesellschaft gegründet worden. Die GASAG
wird als Projektpartner der Gründungsphase für den
Programmstart und in den ersten zwei Jahren insgesamt 200.000 Euro zur Verfügung stellen.
Erste Grundlagen für den Beruf
Kern des Jobführerscheins ist ein achtwöchiger Kurs,
der einsetzen soll, bevor turnusmäßig die Weiterbildungsangebote der Bundesagentur für Arbeit
greifen. Die Initiative von GASAG und PwC zielt
insbesondere auf jene Flüchtlinge, die eine realistische
Chance auf einen Aufenthaltstitel haben. Dies betrifft
in erster Linie die Krisen- und Bürgerkriegsländer
Afghanistan, Syrien, Eritrea, Iran, Irak und Libyen.
Weitere Zugangsvoraussetzungen sind ein Alter
zwischen 18 und 45 Jahren, maximal rudimentäre
Deutschkenntnisse und das Beherrschen einer Schriftsprache. Im ersten Kontakt mit der Bundesagentur für
Arbeit sollen die in Frage kommenden Asylbewerber
gezielt angesprochen und auf das Angebot aufmerksam gemacht werden. Ziel des Jobführerscheins ist es
zunächst, eine erste sprachliche Befähigung für den
Arbeitsmarkt zu schaffen. Darüber hinaus werden
berufliche Qualifikationen und Neigungen identifiziert, Informationen zu Rechten und Pflichten
von Arbeitnehmern in Deutschland vermittelt,
erste Bewerbungsübungen absolviert und Einblicke
in Unternehmen ermöglicht. Nach Bestehen des
Die Initiative beweist die enge Bindung der GASAG zur Stadt
Berlin. Stabilität, Arbeit und gesellschaftlicher Frieden sind
wichtige Voraussetzungen für das Geschäft eines Infrastrukturdienstleisters. Und Teil seiner Verantwortung.
Falk Schäfer
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
Vera Gäde-Butzlaff, die Vorstandsvorsitzende der Gasag,
sieht ihr Unternehmen in der Verantwortung, aktiv dazu
beizutragen, dass Berlin lebendig, kulturell vielfältig und
offen gegenüber Jedermann bleibt. Der Jobführerschein
werde vor allem deshalb erfolgreich sein, weil er in einer
sehr frühen Phase der Integration ansetzt. Gäde-Butzlaff
wünscht sich, dass das Engagement der GASAG Schule
macht und sich weitere Berliner Unternehmen finanziell
am Jobführerschein beteiligen.
Kurses erhalten die Teilnehmer mit dem Jobführerschein einen ersten Qualifikationsnachweis für eine
berufliche Karriere in Deutschland. Die Qualität der
Ausbildung sichert die Handwerkskammer Berlin.
Sie wurde beauftragt, in der Pilotphase 16 Kurse á
240 Unterrichtsstunden für jeweils 16 Teilnehmer
auszurichten. In Bernau bei Berlin stehen für eine Vielzahl von Berufsgruppen passende Ausbildungsräume
zur Verfügung. Zusätzlich zum für die Teilnehmer
kostenlosen Kursprogramm stellt die Jobführerschein
gGmbH Kursmaterialien, einen Shuttle-Service zum
Ausbildungsort und die Verpflegung vor Ort.
n
i
infos
www.gasag.de
29
FORUM NEUE LÄNDER
nachgeschlagen
Die 1996 gegründete Ostdeutsche Sparkassenstiftung ist eine Kulturstiftung und
Gemeinschaftswerk aller Mitgliedsparkassen des Ostdeutschen Sparkassenverbandes
(OSV) in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Sachsen-Anhalt.
Sie wird bis Ende 2016 etwa 1.900 Projekte gefördert, begleitet und selbst realisiert
haben. Dafür standen ihr etwa 80 Millionen Euro aus den Vermögenserträgen, dem
überörtlichen Zweckertrag des PS-Lotteriesparens sowie den projektbezogenen Zusatzspenden
der Sparkassen und ihrer Verbundunternehmen zur Verfügung.
20 Jahre Ostdeutsche Sparkassenstiftung
Bewahren. Stärken. Begeistern.
Die ostdeutschen Sparkassen und ihr Engagement für Kunst und Kultur
D
ie Ostdeutsche Sparkassenstiftung ist die Kulturstiftung der 45 Sparkassen im OSV. In den 20 Jahren ihres Bestehens hat
sie es sich zur Aufgabe gemacht, das kulturelle Leben in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und SachsenAnhalt zu bereichern. UNTERNEHMERIN KOMMUNE nahm das Jubiläum zum Anlass, den Wirkungskreis der Stiftung zu
umreißen, herausragende Projekte vorzustellen und mit dem Vorstandsvorsitzenden Dr. Michael Ermrich Entwicklung, zwei Jahrzehnte der
Kulturförderung und ihre Zukunft zu erörtern.
Die Sparkassen-Finanzgruppe ist finanziell, personell
und ideell die mit Abstand engagierteste Unternehmensgruppe, wenn es darum geht, Kultur,
Sport, Wissenschaft, Bildung, Umwelt sowie
soziale Belange zu unterstützen und Menschen
näher zusammenzubringen. Bundesweit betrug das
Gesamtkapital der Sparkassenstiftungen zum Jahresende 2015 über 2,45 Milliarden Euro. Unterschiedliche Projekte konnten auf diese Weise mit rund
70 Millionen Euro im Jahr 2015 gefördert werden.
In Ostdeutschland ist die Ostdeutsche Sparkassenstiftung einer der wichtigsten und zugleich
größten nicht-staatlichen Förderer des kulturellen
Lebens in der Region. Fünf Jahre nach Gründung
des Ostdeutschen Sparkassenverbandes (OSV) ist
1996 eine gemeinsame Kulturstiftung der dort vereinigten Sparkassen ins Leben gerufen worden. In
20 Jahren wurden fast 1.900 Projekte gefördert.
Dafür standen rund 80 Millionen Euro aus den
Erträgen des Stiftungskapitals, Mittel aus dem PSLotterie-Sparen und beachtliche Spenden der 45
OSV-Sparkassen und in Einzelfällen ihrer Verbundunternehmen zur Verfügung.
Allein oder gemeinsam mit öffentlichen, vor
allem ehrenamtlichen Kulturinitiativen setzt sich die
Ostdeutsche Sparkassenstiftung dafür ein, Maßstäbliches und Meisterhaftes in Stadt und Region sichtbar
zu machen. Das Spektrum reicht von Kunst und
Musik über Literatur und Theater bis hin zur Kulturgeschichte und Denkmalpflege. Im Fokus steht dabei
die jüngere Generation. Die Förderung von Talenten
30
und die kulturelle Bildung sollen Anknüpfungspunkte an den reichen Traditionsschatz in einer der
ältesten Kulturlandschaften Europas vermitteln.
Eine besondere Bedeutung misst die Ostdeutsche Sparkassenstiftung der Aufgabe bei,
mittlere und kleinere Städte und vor allem den
ländlichen Raum als Kulturstandort zu stärken.
In vielen Fällen werden Kooperationen mit
ehrenamtlichen Initiativen gepflegt, ohne deren
beherzten Einsatz viele Vorhaben nicht zustande
kämen. Zu ihrem 20. Jubiläum hat sich die
Stiftung daher entschlossen, einmalig einen
Ehrenamtspreis in jedem der vier Bundesländer
im Wirkungsbereich der Stiftung zu vergeben.
Wiederbelebtes Erbe
Interview mit Dr. Michael Ermrich, Vorsitzender des Vorstandes der
Ostdeutschen Sparkassenstiftung
Dr. Michael Ermrich ist seit nunmehr drei Jahren Geschäftsführender Präsident des Ostdeutschen
Sparkassenverbandes und Vorstandsvorsitzender der Ostdeutschen Sparkassenstiftung. Deren
20. Jahrestag ist Anlass für eine erste Bilanz, aber auch für einen Blick in die Zukunft.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Die Ostdeutsche Sparkassenstiftung ist vor nunmehr 20 Jahren ins Leben gerufen worden. Welche
Überlegungen standen hinter dieser Gründung?
Dr. Michael Ermrich:
Über Jahrzehnte war das reiche kulturelle Erbe
unserer Städte und Regionen zwischen Ostsee und
Erzgebirge, zwischen Oder und Harz sehr vernachlässigt worden. An einzelnen Stellen lag es quasi
brach. So drohten nach 40 Jahren DDR an vielen
dezentralen, eher versteckten Orten Schätze ganz zu
verschwinden oder waren nur noch Erinnerungen
geblieben. Es gab kaum privates Engagement
zu dieser Zeit, weil die wirtschaftlichen Voraussetzungen dazu fehlten. Die Sparkassen sahen und
sehen sich in einer besonderen Verantwortung.
Ganz im Sinne der Sparkassenphilosophie „nah bei
den Menschen“ zu sein, wollten wir eine lebendige
Kultur in kleinen Orten wie großen Städten wiederaufleben lassen und befördern.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Die Ostdeutschen Sparkassen haben sich mit
den Rostocker Leitsätzen ein klares unternehmerisches Profil gegeben. Öffentliche Verantwortung und regionale Bindung genießen
einen zentralen Stellenwert. Welchen Anteil
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
FORUM NEUE LÄNDER
Sparkassen
kann die Ostdeutsche Sparkassenstiftung bei der
Bewältigung der enormen strukturellen Herausforderungen leisten, die sich insbesondere in den
ländlichen Regionen Ostdeutschlands stellen?
Dr. Michael Ermrich
Dr. Ermrich:
Unsere Stiftung kann nicht alles ausgleichen oder bei
allem dabei sein. Wir können helfen, den kulturellen
Reichtum in Ost- und Mitteldeutschland zu
bewahren und zu stärken und dafür begeistern. Die
Festspiele Mecklenburg-Vorpommern sind ein gutes
Beispiel. Den ganzen Sommer lang spielen Spitzenmusiker und Ensembles aus aller Welt und aus
Mecklenburg-Vorpommern zusammen in Städten
sowie an eher versteckten Orten. Das Festival gab
den Anschub für viele regionale Entwicklungen
und ist heute ein Magnet für Besucher aus ganz
Deutschland. Oder blicken wir auf 500 Jahre
Reformation, die wir im nächsten Jahr begehen
werden. Es gibt viele bedeutende historische Orte
wie Mühlberg ganz im Süden Brandenburgs, wo
in diesem Kontext ein neues Museum entstanden
ist, dass an die Schlacht bei Mühlberg im Jahre
1547 erinnert. Hier und nicht in Bayern oder Köln
wurde die Schlacht geschlagen, die für die weitere
Entwicklung Deutschlands und Europas eine entscheidende Bedeutung hatte. Für viele Menschen
sind diese Kulturerlebnisse noch immer lebendig
und geben ihnen ein Heimatgefühl. Kultur verbindet Menschen und belebt ganze Regionen. Das
schafft wichtige Voraussetzungen, um die schnellen
und tiefgreifenden Veränderungen bewältigen zu
können.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Mit 748 gemeinnützigen Stiftungen ist die Sparkassen-Finanzgruppe die stifterisch engagierteste
Unternehmensgruppe in Deutschland. Welche
Lesen Sie im Folgenden eine kleine Auswahl aus den annähernd
1.900 Projekten, die seit 1996 durch die Ostdeutsche Sparkassenstiftung gefördert wurden. Viele davon wären ohne das Engagement
der ostdeutschen Sparkassen nicht realisiert worden.
Brandenburg
„Belcantare”
Belcantare ist eine Fortbildungsreihe des Landesmusikrates Brandenburg für
musikunterrichtende Grund- und Förderschullehrkräfte im Landkreis Elbe-Elster.
Die Lehrer erhalten neue Impulse, Materialien und vertiefende praktische und
theoretische Kenntnisse rund um das Singen mit Kindern. Die Seminare werden
von Fachdozenten geleitet und orientieren sich am Rahmenplan des Grundschulunterrichts. Sie richten sich ausdrücklich auch an fachfremd unterrichtende
Musiklehrer und sind vom Landesministerium für Bildung, Jugend und Sport des
Landes Brandenburg anerkannt. Das Projekt ist eine Kooperation zwischen dem
Landesmusikrat Brandenburg e.V. und dem Lehrstuhl für Musikpädagogik und
Musikdidaktik der Universität Potsdam. Finanziell gefördert wird es seit 2012
von der Ostdeutschen Sparkassenstiftung sowie dem Land Brandenburg. Das
Projekt war bereits in den Landkreisen Uckermark, Prignitz und Ostprignitz-Ruppin, ganz aktuell im Landkreis Elbe-Elster erfolgreich und wird demnächst in den
beiden Landkreisen Spree-Neiße und Oberspreewald-Lausitz fortgesetzt.
Der Goldschmuck von Hiddensee kann nun im STRALSUND MUSEUM bewundert werden.
© STRALSUND MUSEUM
Mecklenburg-Vorpommern
„Goldschmuck von Hiddensee”
Belcantare vermittelt vertiefende praktische und theoretische Kenntnisse rund
um das Singen mit Kindern.
Foto: Uwe Tölle
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
Die Insel Hiddensee war vor mehr als einem Jahrtausend ein beliebter Zufluchtsort der Wikinger und wurde während langer Handelsreisen oft als Zwischenstation genutzt. 900 Jahre später – nach der verheerenden Sturmflut des
Jahres 1872 – fanden Fischer einen Schatz aus kunstfertig gearbeitetem Goldschmuck am Strand der Ostseeinsel. Zwei Jahre später sollen nach einer neuerlichen Flut wieder hochwertige Schmuckstücke angespült worden sein. Das
Hiddenseer Gold stammt vermutlich aus dem zehnten Jahrhundert und ist als
Schmuckensemble weltweit ohne Vergleich. Die Wikinger verarbeiteten 22karatiges Gold, also fast Reingold, in einer für die Entstehungszeit herausragenden
Schmiedekunst. Ein solcher Fund ist nirgendwo wieder aufgetaucht.
Lange Jahre konnte der Schatz nicht gezeigt werden, weil das STRALSUND MUSEUM
nicht über die nötige Sicherheitstechnik verfügte. Deshalb unterstützte die Ostdeutsche Sparkassenstiftung zunächst eine Wanderausstellung im Land, die großes
Interesse weckte und dazu führte, dass die Kostbarkeiten auch in Kopenhagen,
London und Berlin gezeigt wurden. Jüngst wurde die Neugestaltung der Dauerausstellung des STRALSUND MUSEUMs gefördert, sodass der Hiddenseer Goldschatz
nun wieder im Original und nah der Hiddenseer Heimat bewundert werden kann.
31
Sparkassen
Vorteile verbinden sich aus Ihrer Sicht mit dieser
Form der Kulturförderung?
Dr. Ermrich:
Sparkassenstiftungen und Sparkassen sind
dezentral und nachhaltig engagiert. Wir ermöglichen einerseits Blockbuster-Ausstellungen in
den größeren Städten und andererseits stärken wir
bürgerschaftliche Initiativen, die es sich auf die
Fahne geschrieben haben, herausragendes Kulturgut gerade auch in den kleineren Kommunen
zu erhalten. So wie die Wiederherstellung und
Restaurierung ihrer uralten Kirchenglocken –
wie in Meseberg – und die Dauerausstellung mit
angekauften Werken im Sparkassenhaus Erich
Heckel, der aus Döbeln stammt. Die Sparkassen
sind ein regional verwurzelter Partner. Wir verbinden die unternehmerische Perspektive mit
der Nutzenorientierung und so werden unsere
Erfahrungen, die Kundennähe und Multiplikatorfunktion zu einem Erfolgsfaktor für das Gelingen
der Stiftungsprojekte. Kultureinrichtungen und
Initiativen vor Orten schätzen uns als stabilen
Förderer und verlässlichen Partner an ihrer Seite.
Würdigung des ehrenamtlichen
Engagements
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Wie ist die Stiftungsarbeit konkret in der
Ostdeutschen Sparkassenstiftung organisiert?
Wie gelingt es, verschiedene Förderinteressen
unter einen Hut zu bringen und eine fundierte
Projektauswahl zu gewährleisten?
Dr. Ermrich:
Dreh- und Angelpunkt sind die regionalen
Sparkassen. Dort gehen die Förderanträge zuerst
Kultur verbindet Menschen und
belebt ganze Regionen. Das schafft
wichtige Voraussetzungen, um die
schnellen und tiefgreifenden Veränderungen bewältigen zu können.
„
______________________
Dr. Michael Ermrich
“
ein. Bereits hier kommt uns das Know-how
der Sparkassen zugute, denn über die meisten
Antragsteller und Projekte wissen die Sparkassen
schon Bescheid. Und da sich die örtliche Sparkasse auch an jeder Stiftungsförderung finanziell
beteiligt, ist uns ihr Votum doppelt wichtig.
Auf dieser Basis entscheiden unsere Vertreter
des jeweiligen Landeskuratoriums zweimal im
Jahr. Die dort anwesenden Kulturschaffenden
(Fortsetzung aus vorheriger Seite)
Sachsen
„Arnold. Fischer. Richter – Gehaltene Zeit”
Erstmals werden in einer Museumsausstellung die drei Fotografen
Ursula Arnold (1929-2012), Arno Fischer (1927-2011) und Evelyn
Richter (*1930) gemeinsam präsentiert. Gezeigt wird unter anderem
ein bedeutender Neuankauf der Ostdeutschen Sparkassenstiftung für
ihr Evelyn Richter Archiv.
Zu entdecken sind drei Lebensläufe und Lebenswerke einflussreicher
Fotografen, die jeweils einen eigenen Weg wählten, um sich den offiziellen Bildvorstellungen in der DDR zu entziehen. Alle drei Fotografen
haben als kritische Beobachter gewirkt. Sie haben die Öffentlichkeit
ebenso gesucht wie den Rückzug ins Private.
Die Ausstellung ist eine Kooperation des Evelyn Richter Archivs der
Ostdeutschen Sparkassenstiftung und des in diesem Jahr neu errichteten
Ursula
Arnold
Archivs
der Ostdeutschen
Sparkassenstiftung gemeinsam
mit der Sparkasse Leipzig und
dem
Museum
der
bildenden
Künste
Leipzig.
Parallel dazu ist
Die Ausstellung „URSULA ARNOLD. ARNO FISCHER. EVELYN
RICHTER. Gehaltene Zeit“ vereint erstmalig die drei wichtigsten Fotografen der DDR und wird vom 3. Juli bis zum 3. Oktober in Leipzig zu sehen sein.
© Ursula Arnold Archiv der
Ostdeutschen Sparkassenstiftung, Reproduktionsfoto: Harald Richter
32
Kirchenglocke aus dem Dorf Kirchsteitz im Burgenlandkreis. Foto: Thomas Trutschel
Sachsen-Anhalt
„Glockenförderprogramm” – Ein Land lässt von sich hören.
Mitteldeutschland verfügt über die reichste Glockenlandschaft Deutschlands. Was 1997 mit der Restaurierung der „Maria“ in Stendals Bürgerkirche seinen Anfang nahm, reifte bald zum selbstgewählten Auftrag. In
allen Teilen Sachsen-Anhalts wurden Bürger und Fördervereine unterstützt, die sich mit Fantasie und Geduld, für das Wiedererklingen „ihrer“
Glocken engagierten. So konnte beispielsweise 1999 durch eine gemein-
in der Kunsthal-
same Aktion von Bürgern, der Stadt, der Stiftung und der Harzsparkasse
le der Sparkas-
der Neuguss der „Domina“ für den Halberstädter Dom unterstützt wer-
se Leipzig eine
den. Das kulturgeschichtlich besonders wertvolle Domgeläut der mittel-
Ausstellung
mit
alterlichen Stadt am Tor zum Harz ist nun wieder vollständig.
Schülern
von
Durch eine gemeinsame Spendenaktion von Gemeinde, Kirche, Stif-
Arno Fischer und
tung und der Bördesparkasse hat die Meseberger Dorfkirche Sankt
Evelyn
Richter
Laurentius ihre Glocken zurück erhalten. Die 500 Jahre alte Bronzeglo-
geplant. Zu bei-
cke wurde restauriert und das Dreiergeläut mit einer neu gegossenen
den Werkschau-
Bronzeglocke komplettiert.
en erscheint ein
Über 70 Geläute können sich bis heute wieder hören und sehen lassen.
gemeinsamer
Mit diesem Engagement setzt die Ostdeutsche Sparkassenstiftung einen
Katalog.
weiteren Förderschwerpunkt im dezentralen Raum.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
FORUM NEUE LÄNDER
Sparkassen
und Repräsentanten der Kommunen, einzelner
Landesministerien und Sparkassen bewerten die
Anträge nach Wichtigkeit, prüfen, in welcher
Weise wir in der Region schon tätig geworden
sind und wie sich die Bürger vor Ort engagieren.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Was waren die Prämissen, nach denen die
Ostdeutsche Sparkassenstiftung in der Vergangenheit Projekte gefördert hat und welche
Schwerpunkte sollen in den kommenden
Jahren gesetzt werden?
Dr. Ermrich:
Erstens wollen wir helfen, gefährdetes Kulturgut zu retten, zu erhalten und auch wiederzubeleben. Zweitens unterstützen wir einzelne,
überregional bedeutende Festivals, damit sie für
möglichst viele erschwinglich bleiben und an
Orten durchgeführt werden können, die nicht
unbedingt zu den großen Kulturzentren gehören.
Drittens kümmern wir uns um kleine Initiativen,
die sich durch ihr besonderes bürgerschaftliches
Engagement auszeichnen.
Bei den künftigen Schwerpunkten zeichnen
sich bereits einige ab: Das Reformationsjubiläum
hatte ich schon erwähnt. 2019 begehen wir 100
Jahre Bauhaus und den 200. Geburtstag Theodor
Fontanes. Uns gehen die Anknüpfungspunkte, wie
Sie sehen, nicht aus. Nachdem in den 20 Jahren
bisher zunächst vorrangig wiederaufgebaut wurde,
kommen wir nun an einen Punkt, wo wir vermehrt
neue, eigene Entwicklungen entstehen sehen. Wir
beobachten die Kulturszene aufmerksam, und
ich denke, dass wir tolle neue Projekte sehen
werden. Eine älter werdende Gesellschaft, die
in vielen Regionen schrumpft, stellt auch uns in
der Stiftungsarbeit vor neue Herausforderungen.
Frische Ideen, wie die Kultur innerhalb wie außerhalb der städtischen Zentren ihren Stellenwert
behält, interessieren uns. Das alles miteinander
zu verbinden und zu stärken, sehen wir als Kern
unseres Auftrages für die kommenden 20 Jahre.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Die Ostdeutsche Sparkassenstiftung will ihr
20jähriges Jubiläum mit einem Ehrenamtspreis
begehen, der in jedem der vier OSV-Bundesländer
einmalig vergeben werden soll. Welche Überlegungen standen hinter dieser Entscheidung?
Wann, wo, wie und nach welchen Prämissen
werden die Preise ihre Adressaten erreichen?
Dr. Ermrich:
Wir nutzen die Aufmerksamkeit anlässlich
unseres Stiftungsjubiläums, um die Menschen
in den Mittelpunkt zu stellen, durch die die
beschriebenen Erfolge erst möglich wurden:
die ehrenamtlich Engagierten. In den 20 Jahren
lernten wir in den städtischen Zentren wie im
ländlichen Raum Menschen kennen, die mit
Herzblut und vollem Einsatz dabei sind. Sie sind
Vorbild und zeigen, welche Freude das Ehrenamt bedeuten kann. Es geht der Stiftung um
eine kulturaktive Bürgergesellschaft, die sich das
kulturelle Erbe, junge Kunst aller Genres und
die kulturelle Bildung junger Menschen auf die
Fahnen schreibt. In jedem Bundesland wird
Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und
Sachsen-Anhalt bieten einzigartige Kulturlandschaften.
Von den ehrwürdigen Hansestädten an der Ostsee über
die preußischen Schlösser und Gärten oder die romanischen Schätze Sachsen-Anhalts bis hin zur Gloria des
sächsischen Königtums und zur erzgebirgischen Handwerkskunst vermitteln Baudenkmäler, Landschaften und Künste einen Eindruck von den vielfältigen Traditionslinien durch ganze Epochen. Nach der Deutschen Einheit ist Vieles revitalisiert
worden, was in der DDR keine hohe Priorität genoss oder schlichtweg nicht zu finanzieren war.
Dieses Aufbauwerk zeigt sich nicht zuletzt in den alten Städten der Region, aber auch in einem
vitalen Vereinsleben und in hochwertigen Sammlungen.
Kultur stiftet Mitmenschlichkeit, regionale Identität und vor allem Lebensqualität. Sie ist ein nicht
zu unterschätzender Standortfaktor im Tourismus- und Ansiedlungsmarketing. Insbesondere für
die vor erhebliche strukturelle Herausforderungen gestellten ostdeutschen Regionen verbinden
sich mit kulturellen Leuchttürmen zentrale Entwicklungsperspektiven.
Seit ihrer Gründung vor nunmehr 20 Jahren folgt die Ostdeutsche Sparkassenstiftung den sich daraus ergebenden Prämissen. Schwerpunkte werden im ländlichen Raum und in der Talenteförderung
gesetzt. Das Engagement ist auch dem Volumen nach umfassend und einzigartig. Die ostdeutschen
Sparkassen entsprechen mit ihrer Förderung ihren Rostocker Leitsätzen aus dem Jahre 1999 und beweisen eine enge und äußerst verantwortliche Verbundenheit mit der Region.
Falk Schäfer
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
UNSERE Gesprächspartner
Dr. Michael Ermrich wurde 1953 in
Halberstadt geboren. 1976 beendete er sein
Diplom-Studium an der TU Ilmenau und promovierte anschließend auf dem Gebiet der
elektronischen Schaltungstechnik. Seine kommunalpolitische Laufbahn begann er 1990 als
Oberkreisdirektor. Kurz darauf folgte die Wahl
zum Landrat des Landkreises Wernigerode.
1994 und 2001 wurde Ermrich in dieser Funktion bestätigt, 2007 zum Landrat des neu gebildeten Landkreises Harz gewählt. Seit 1994
war Dr. Ermrich Präsident des Landkreistages
Sachsen-Anhalt und seit 2005 einer von vier
Vizepräsidenten des Deutschen Landkreistages.
Am 1. Juni 2013 wurde Dr. Ermrich zum Geschäftsführenden Präsidenten des Ostdeutschen
Sparkassenverbandes berufen. In Personalunion ist er seitdem auch Vorstandsvorsitzender
der Ostdeutschen Sparkassenstiftung.
jeweils ein Ehrenamtspreis vergeben, um damit
außergewöhnlichen Einsatz und Engagement zu
prämieren. Am 11. Juli werden wir im Rahmen
einer festlichen Veranstaltung im Museum der
bildenden Künste Leipzig das Geheimnis lüften
und die Preisträger und ihre Projekte vorstellen.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE:
Zuletzt noch eine persönliche Frage. Nach
mehr als zwei Jahrzehnten als Landrat im
Harz und nunmehr drei Jahren als Geschäftsführender OSV-Präsident sind sie der ostdeutschen Sparkassenfamilie eng verbunden.
Welches Kulturprojekt hat sie in dieser Zeit
am stärksten beeindruckt?
Dr. Ermrich:
Es gibt so vieles, das einen beeindruckt. Wenn
sie durch das Verbandsgebiet reisen, gehen ihnen
regelmäßig die Augen auf, was sie alles noch nicht
kennen und welche spannenden Geschichten
noch darauf warten, erzählt zu werden, welche
versteckten Orte noch zu entdecken sind. Es freut
mich besonders, wenn es mit den Menschen vor
Ort und der Unterstützung unserer Stiftung
und der Sparkassen gelingt, aus einer guten
Idee ein langfristig erfolgreiches Kulturprojekt
entstehen zu lassen. Dazu gehören für mich
z.B. die Brandenburgischen Sommerkonzerte
und die noch laufende Spendenaktion für die
künstlerische Neugestaltung der Fenster der
Magdeburger Johanniskirche, für die der international renommierte und beinahe 80jährige
Maler Max Uhlig gewonnen werden konnte. n
i
infos
www.ostdeutsche-sparkassenstiftung.de
33
Rekommunalisierung
Das Ob, Warum, Wann und Wie von Rekommunalisierungen
Gebot der Stunde?
Gesprächsrunde vom 2. Mai in Potsdam
N
ach langen Jahren, in denen Kommunen ihre Unternehmen an private Interessenten verkauften, die Verantwortung für
elementare Leistungen des täglichen Lebens auslagerten und das Risiko eigenen wirtschaftlichen Engagements scheuten,
zeigt sich nun seit fast einem Jahrzehnt ein gegenläufiger Trend. Selbst viele Experten weissagten insbesondere den
Stadtwerken, dass sie in liberalisierten Märkten kaum gegen privatwirtschaftliches Know-how und Kapitalkraft standhalten werden.
Doch kommunale Unternehmen konnten sich nicht nur behaupten, sie stiegen kontinuierlich in der Gunst von Bürgern und Kunden,
trieben die Energiewende nach vorn und weiteten ihren Aktionskreis sukzessive aus. In diesem Zusammenhang hat sich der Terminus
Rekommunalisierung zu einem politischen Modewort entwickelt. In etlichen Kommunen wurde abgestimmt, ob die Verantwortung für
Netze oder für den Betrieb elementarer Leistungen wie Gas, Strom, Wärme oder Wasser wieder zurück in kommunale Hände gehen
soll. Die Plebiszite zeigten in der Regel eine deutliche Präferenz für kommunalwirtschaftliche Strukturen. In vielen anderen Kommunen
wurde auch ohne solche Urnengänge ein Mehr an kommunaler Verantwortung beschlossen. Begleitend zu diesen Prozessen ist mit
kommunalrechtlichen Novellen in einigen Landesverfassungen auch der regulatorische Handlungsrahmen kommunalfreundlicher
gestaltet worden. Soweit die Fakten.
Diskutiert werden darf, wie weit das Pendel noch in Richtung Kommunalwirtschaft ausschlagen soll, inwiefern gewachsene Strukturen
beeinträchtigt werden und wie sich der tatsächliche Nutzwert einer Rekommunalisierung beziffern lässt. Angesichts der rasanten
Entwicklung will UNTERNEHMERIN KOMMUNE in dieser und den kommenden Ausgaben kontrovers und mit engem Bezug zur Praxis
über Sinn, Wohl und Wehe von Rekommunalisierungen streiten. Den Auftakt dazu machte eine Gesprächsrunde in Potsdam. Am 2. Mai
trafen sich Vertreter von Kommunen, Kommunalwirtschaft sowie mehrheitlich privaten Regionalversorgern mit signifikanten kommunalen
Beteiligungen, um zu den Auslösern, Implikationen und Folgen der Rekommunalisierung zu debattieren.
Der Begriff der Rekommunalisierung werde oftmals
etwas pauschal gebraucht, sagt Sebastian Kunze.
Der Moderator der Gesprächsrunde fragt, welche
konkreten Zielstellungen die Anwesenden damit
verbinden. Karl-Ludwig Böttcher, Geschäftsführer
des Städte- und Gemeindebundes Brandenburg,
erinnert an die Wurzeln der energiewirtschaftlichen
Versorgungsstrukturen in den Neuen Bundesländern.
Die Kommunalisierung der Versorgungswirtschaft sei letztlich einigen Aktivisten der ersten
frei gewählten Volkskammer nach der politischen
Wende in der DDR zu verdanken. Sie hätten mit
dem Kommunalvermögensgesetz den Hebel gesetzt,
an dem die Kommunen im Stromstreit vor dem
Bundesverfassungsgericht ansetzen konnten. Die
derzeitigen Strukturen aus mehrheitlich privaten
Regionalversorgern mit Anteilen vieler kleinerer
Kommunen auf der einen, sowie Stadtwerken auf
der anderen Seite fußten in dem 1992 gefundenen
Kompromiss. Die kommunale Seite hätte sich auch
bei den Regionalversorgern ein signifikantes Mitspracherecht erkämpfen können. Als vor drei, vier
Jahren eine ganze Reihe von Konzessionen für die
Nutzungsrechte an und in öffentlichen Verkehrswegen
Die Runde traf sich in Potsdam-Babelsberg am Sitz des Städte- und Gemeindebundes Brandenburg.
34
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
FORUM NEUE LÄNDER
Rekommunalisierung
ausliefen, habe man versucht, die kommunale Familie
zusammenzuhalten und den Wert der Beteiligungen
an den Regionalversorgern zu betonen, so Böttcher.
Nun würde eine ganze Generation der unmittelbar Nach-Wende-geprägten Verantwortungsträger
in den ostdeutschen Kommunen zunehmend
ihre Ämter abgeben. Daher sei es gerade aktuell
angeraten, für eine gemeinsame Verantwortung
und für das Solidaritätsprinzip in der Versorgungswirtschaft zu sensibilisieren, so der Geschäftsführer
der Städte- und Gemeindebundes Brandenburg. Tim Hartmann ist Vorstandsvorsitzender
der EnviaM, einem der größten Regionalversorger in den Neuen Bundesländern. Er soll
beantworten, worin die gängigsten Argumente
für eine Rekommunalisierung liegen und wie sich
enviaM dazu positioniert. „Ich weiß nicht, ob der
Begriff der Rekommunalisierung geeignet ist, die
aktuelle Entwicklung treffend zu beschreiben.
Was wir derzeit erleben, hat im Kern nichts mit
Rekommunalisierung zu tun“, so Hartmann.
Die zu hundert Prozent kommunale Thüringer
Energie AG hätte die gleichen Probleme wie
die enviaM. Stadtwerke aus dichter besiedelten
Gebieten würden ihre Kostenvorteile nutzen und
zunehmend in neue Konzessionen drängen. Dabei
picke man sich die Rosinen heraus und so würde
auch die enviaM ihre Konzessionen fast ausschließlich in dichter besiedelten Gebieten verlieren. Die
aktuellen Entwicklungen zeigen eher eine Entsolidarisierung zwischen Stadt und Land als eine
Stärkung kommunaler Verantwortung.
Bernd Dubberstein knüpft an diese Ausführungen an. Als Vorstandsvorsitzender der E.DIS
Der aktuelle Kommunalisierungsboom wird von den derzeit extrem
niedrigen Zinsen angeheizt. Doch
betriebswirtschaftlich, regulatorisch
und technologisch haben sich die
Anforderungen und damit auch die
Risiken deutlich erhöht.
„
______________________
Karl-Ludwig Böttcher
gesorgt. Wettbewerbliche und ökologische Arguund Geschäftsführer der Stadtwerke Schwedt. Nun
mente würden damit ausscheiden, wenn es darum
stehe die Suche nach neuen Einnahmequellen mit im
ginge, die Rekommunalisierung von Netzen,
Vordergrund. Mögliche Netzübernahmen würden insUnternehmen oder Leistungen zu begründen. Im
besondere unter dem Stichwort „Wachstumskonzepte“
Regelfall seien es ökonomische Eigeninteressen, die
diskutiert. Die strukturelle Unterfinanzierung vieler
Kommunen dazu bewegen, ihren wirtschaftlichen
Kommunen würde insbesondere in entlegenen
Handlungskreis zu erweitern. Dies sei angesichts
Regionen dazu zwingen, die eigenen Finanzquellen
der Haushaltssituation
vieler
Kommunen
durchaus verständlich,
sollte aber nicht hinter
vorgeschobenen Scheinargumenten verbrämt
werden. Zudem dürfe
gefragt werden, ob tatsächlich neue Ertragsquellen
erschlossen
werden, wenn Fremdkapital aufgenommen
werde, um Leistungen
einzukaufen.
„Wir
wollen uns einem fairen
Wettbewerb stellen“, Prof. Dr. Michael Schäfer, Helmut Preuße und Bernd Dubberstein (v.l.n.r.)
so Dubberstein. Dieser
dürfe aber nicht zu einer Entsolidarisierung mit den
möglichst vollständig zu optimieren. Jede Kommune
Kunden und Bürgern auf dem Land führen.
sollte im Vorlauf aber genauestens rechnen, ob sich die
„Es spielt aus meiner Sicht keine Rolle, ob ein
Risiken einer Fremdfinanzierung oder eines Betriebes
Unternehmen mehrheitlich von kommunalen
in Eigenregie tatsächlich lohnen. Grundsätzlich seien
oder privaten Eigentümern geführt wird. Keine
die Kommunen aber die geborenen Player, um die drei
Eigentümerstruktur ist per se besser als die
D’s „digital“, „dezentral“ und „dekarbonisiert“ mögandere. Das reicht als Begründung für eine
lichst optimal in Einklang zu bringen, so Preuße. Auch
Rekommunalisierung folglich nicht aus. Die
die Stadtwerke Schwedt müssten sich fragen, wie in
Motivation ist hier vielmehr, neue Einnahmeeiner schrumpfenden Stadt nachhaltige Wachstumsquellen zu erschließen“, stimmt Tim Hartmann
konzepte realisiert werden können. „Wenn wir in
seinem Kollegen zu. Aus Sicht der Kommunen sei
den Kernstädten Kunden und Geschäfte verlieren,
dies durchaus nachvollziehbar, allerdings müssten
müssen wir dies über ein Wachstum in der Fläche
auch die damit verbundenen Kosten für die Verwieder ausgleichen.“
braucher und die Wettbewerbsfähigkeit des StandBernd Dubberstein folgert, dass sich die
Notwendigkeit einer Solidarisierung im Markt
orts Deutschland diskutiert werden. Hartmann
notwendigerweise aus den energierechtlichen
bedauert, dass es für die Energiewirtschaft keine
geeinte Interessenvertretung gebe. Zudem seien
Rahmensetzungen ergibt. „Es war stets ein Element
die Energiemärkte sehr stark reguliert.
der Energieversorgung, dass an einem Ort mehr
produziert und an einem anderen mehr verbraucht
wird.“ Die Eigeninteressen der Kommunen seien
Was wir derzeit erleben,
sicherlich subjektiv nachvollziehbar, doch „wir
hat im Kern nichts mit
brauchen auch die Solidargemeinschaft.“ Kommunale
Rekommunalisierung zu tun.
Wertschöpfung müsse nicht unbedingt über den
______________________
eigenen Betrieb von Anlagen und Netzen organisiert
werden. Es seien auch andere Modelle vorstellbar.
Tim Hartmann
Tim Hartmann konstatiert, dass grundsätzlich
alle Unternehmen der Energiebranche wirtschaftAus der Not geboren?
lich arbeiten müssten. Die Regulierungsbehörden in
Bund und Ländern behandelten diese allerdings auf
Helmut Preuße bezeichnet den Stromstreit von 1992
unterschiedliche Weise. So gelte für Unternehmen
als „echte Rekommunalisierung“. Hier sei es tatsächmit weniger als 100.000 Kunden eine vereinfachte
lich um kommunale Verantwortung und HandlungsRegulierung. „Große Verteilnetzbetreiber, zu denen
freiheit gegangen. „Ich gestehe gerne ein, dass sich
auch wir gehören, fallen nicht unter diese Regelung.
die Motivlage bis heute etwas geändert hat“, sagt der
Dabei findet in ihren Netzgebieten die EnergieVorsitzende der Landesgruppe Berlin-Brandenburg
wende statt. 90 Prozent der Erneuerbaren Energien
sind hier angeschlossen“, so Hartmann. „Durch die
im Verband kommunaler Unternehmen (VKU)
“ „
AG vertritt auch er einen großen ostdeutschen
Regionalversorger. Unmittelbar nach der Wende
sei es darum gegangen, die Infrastruktur auf ein
angemessenes Level zu heben. Dies sei in der
gemeinsamen Anstrengung aus Kommunen und Versorgern gut gelungen. Nunmehr herrsche seit Ende
der 1990er Jahre ein funktionierender Wettbewerb,
innerhalb dessen die ökologische Komponente
durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz besondere
Betonung findet. Die Gesetzgebung sei sicherlich verbesserungsfähig, hätte in den vergangenen
Jahren jedoch für eine klare Zielorientierung
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
“
35
Rekommunalisierung
Kehrtwende auch in der
Regulierung vollzogen.
Noch vor einigen Jahren
seien die Ertragsabsichten
von
kommunalen
Unternehmen noch als
„Teufelszeug“ abgetan
worden,
nunmehr
würden die Kommunalaufsichten aktiv zu einer
Steigerung der Erträge
aufrufen. „Ich würde
viel lieber darüber
diskutieren, wie die
Kommunen das für die
Tim Hartmann, Karl-Ludwig Böttcher und Sebastian Kunze (v.l.n.r.)
Erbringung ihrer Aufhohe dezentrale Einspeisung entstehen für die Vergaben notwendige Geld auch erhalten, anstatt den
teilnetzbetreiber umfangreiche zusätzliche Aufgaben
zu weiten Teilen aus der Not geborenen Trend der
und Kosten. Diese werden von den RegulierungsRekommunalisierung bewerten zu müssen.“ Mit den
behörden jedoch nicht ausreichend anerkannt.“
Regionalversorgern und den kommunalen StadtZurückkommend auf das Solidarprinzip merkt Hartwerken würden die aktuell vorhandenen Strukturen
mann an, dass dieses durch das Herauslösen attraktiver
den Vorgaben von Energiewende und dezentraler
Netzgebiete mit hohen Einwohnerzahlen außer Kraft
Erzeugung bereits entsprechen. Grundsätzlich dürfe
gesetzt werde. In der Folge stiegen in ländlichen
die Debatte aber nicht auf den Energiebereich verRäumen mit geringer Bevölkerungsdichte die Netzkürzt werden, sondern müsste die verschiedenen
entgelte weiter an. In den Netzentgelten der enviaM
kommunalen Verantwortlichkeiten in einer Gesamtsei das Solidarprinzip zwischen dem urbanen und
schau würdigen, so der Professor für Kommunalwirtdem ländlichen Raum bereits eingepreist. Je mehr
schaft an der Hochschule für Nachhaltige Entwicklung
Konzessionen aus dichter besiedelten Regionen verin Eberswalde.
lorengingen, desto weniger ließe sich dieser Umlagemechanismus anwenden, so Hartmann.
Das gute Recht der Kommunen?
Prof. Dr. Michael Schäfer stimmt zu, dass die
energiepolitische Regulierung teilweise widersprüchlich
„Ist das Kaufen von Netzen mit geliehenem Geld
und inkonsistent ist. Über die Rekommunalisierung
tatsächlich ein Beitrag zur Ertragssicherung?“, fragt
ließe sich auch deshalb trefflich streiten, weil bisher
Bernd Dubberstein. „Ist es sinnvoll, wenn unterfinanzierte Kommunen ohne nennenswerte Rücklagen Netze erwerben und dies bei einer gleichzeitigen
Ist das Kaufen von Netzen mit
Zersplitterung gewachsener Regionalstrukturen? Für
geliehenem Geld tatsächlich ein
den Erfolg der Energiewende brauchen wir auch in
den ländlichen Regionen leistungsfähige RegionalnetzBeitrag zur Ertragssicherung? Ist
betreiber.“ All die politischen Begründungen im Hines sinnvoll, wenn unterfinanzierte
blick auf unzureichenden Wettbewerb, unzureichende
Kommunen ohne nennenswerte
Zuverlässigkeit oder Behinderung des EEG-Ausbaus
Rücklagen Netze erwerben und dies
bei einer gleichzeitigen Zersplitterung seien bei näherem Hinsehen nicht zutreffend und
waren nie der Grund für eine Netzvergabe an neue
leistungsfähiger Regionalstrukturen?
bzw. kommunale Bewerber, so der Vorstandschef der
______________________
E.DIS AG. Prof. Dr. Schäfer stimmt zu, dass das Gros
der Zielorientierungen keine Rekommunalisierung
Bernd Dubberstein
erfordere. Zudem werde das Ausmaß der über eine
„
“
noch keine eindeutige Begriffsdefinition vorläge. Den
stärksten Treiber für eine Stärkung der kommunalen
Komponente in der Daseinsvorsorge identifiziert der
Professor für Kommunalwirtschaft in der strukturellen
kommunalen Unterfinanzierung. Es sei mehr als verständlich, wenn sich ein Bürgermeister in erster Linie
für die Einwohner seiner Kommune zuständig fühle
und Wege ersinnt, wie sich die Defizite zumindest
partiell kompensieren lassen. Grundsätzlich hätte
sich in den vergangenen Jahren eine erstaunliche
36
Der unternehmerische Zweck lässt
sich auch bei kommunalen Unternehmen in Euro beziffern. Da
spielen Aspekte der Solidarität auch
mal eine untergeordnete Rolle.
„
______________________
Helmut Preuße
“
Rekommunalisierung möglich werdenden Veränderungen nicht selten maßlos überschätzt bzw.
überbetont. In Berlin hätte der Energietisch eine neue
Energiewelt versprochen, doch tatsächlich sei es im
Volksbegehren nur um die Eigentümerschaft an den
Netzen und mitnichten um den Betrieb gegangen.
„Die Kommunen besitzen die Konzessionen und
es ist ihr gutes Recht, diese möglichst gewinnbringend
zu vermarkten“, so Tim Hartmann. „Allerdings
sollten wir darauf achten, dass die Schere zwischen
Stadt und Land nicht immer weiter auseinander geht
und die Bewohner ländlicher Räume immer stärker
belastet werden. Dies widerspricht dem Grundsatz gleichwertiger Lebensbedingungen.“ Helmut
Preuße äußert die Ansicht, dass das Solidarprinzip
schon lange nicht mehr gilt. Letztlich entscheide ein
mittelfristiger Businessplan über eine Übernahme von
Leistungen. Wenn sich mögliche Erträge abzeichnen,
Ich würde viel lieber darüber diskutieren, wie die Kommunen das
für die Erbringung ihrer Aufgaben
notwendige Geld auch erhalten,
anstatt den zu weiten Teilen aus
der Not geborenen Trend der
Rekommunalisierung bewerten zu
müssen.
„
______________________
Prof. Dr. Michael Schäfer
“
ist eine Kommune fast schon gezwungen, sich diesbezüglich zu engagieren. Tim Hartmann bewertet die
Motivationslage in den Kommunen ganz ähnlich.
Allerdings sei dies zum großen Teil die Folge gesetzlicher Regelungen.
Sebastian Kunze fragt in die Runde, ob die aktuelle
Debatte der Rekommunalisierung tatsächlich nur der
finanziellen Notlage in den Kommunen geschuldet
sei. „Das Generieren eigener Einnahmen ist ganz
sicher einer der zentralen Treiber hinter der derzeitigen
Entwicklung, doch diese eindeutige Zuordnung ist
ihm zu pauschal“, antwortet Böttcher. Gegen die
These würde sprechen, dass der Ausbau kommunaler
Verantwortung vor allem in solchen Kommunen vollzogen werde, denen es noch vergleichsweise gutgehe.
Als Geschäftsführer des Städte- und Gemeindebundes
Brandenburg beklagt Böttcher die fehlende Konsistenz
in der Industriepolitik. Und auch aktuell werde kein
Rechtsrahmen geschaffen, der mit dem Ziel der
Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen die Wertschöpfung im ländlichen Raum unterstützen hilft.
„Der unternehmerische Zweck lässt sich auch bei
kommunalen Unternehmen in Euro beziffern. Da
spielen Aspekte der Solidarität auch mal eine untergeordnete Rolle“, sagt Helmut Preuße. Der Geschäftsführer der Stadtwerke Schwedt erkennt aktuell eine
wachsende Nüchternheit bei den kommunalen
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
FORUM NEUE LÄNDER
Rekommunalisierung
Unternehmen. Mittlerweile werde vorsichtiger
gerechnet, als noch vor ein paar Jahren. Dazu würde
nicht zuletzt die verstärkte Rechtsunsicherheit beitragen. „Die Bäume wachsen auch bei einer Netzübernahme regelmäßig nicht in den Himmel“, so Prof. Dr.
Schäfer. Kleineren Kommunen fehlten generell die
personellen, finanziellen und sachlichen Kompetenzen
für einen Netzbetrieb. Nicht-monetäre Ziele seien
nur schwer zu umreißen und könnten hinsichtlich
ihres Erreichungsgrades kaum eindeutig bewertet
werden. Dies hätte sich nicht zuletzt bei der Debatte
um die Rekommunalisierung der Berliner Energienetze gezeigt. Helmut Preuße fordert mit Bezug auf
Berlin eine sachliche Debatte. Wenn die Stadt Berlin
die Energieversorgung wieder in die eigenen Hände
nimmt, so ist es ihr gutes Recht. Aber es muss dennoch
gerechnet werden. Termini wie Euphorie oder Traum
hätten hier nichts zu suchen. „Komplexität und
Regelungsdichte sind in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen“, so Preuße. Vor diesem Hintergrund
müssten sich die Kommunen dreimal überlegen, ob
sie ihr Portfolio erweitern wollen.
Solidarität gesetzlich normieren?
„Ich habe noch nie gehört, dass einem Unternehmen
eine Konzession genommen wurde, weil es nicht
imstande war, den Betrieb von Netzen angemessen zu
leisten“, so Dubberstein. Wenn dann noch der unklare
Terminus der gemeindlichen Ziele in den Kriterienkatalog des Konzessionsvergaberechts aufgenommen
würde, sei die Folge nicht weniger, sondern mehr
Rechtsunsicherheit. Karl-Ludwig Böttcher fügt
hinzu, dass der aktuelle Kommunalisierungsboom
auch von den derzeit extrem niedrigen Zinsen
angeheizt werde. Doch nicht nur betriebswirtschaftlich, sondern auch regulatorisch und technologisch
hätten sich die Anforderungen und damit auch die
Risiken deutlich erhöht. Helmut Preuße thematisiert
die aktuellen Herausforderungen sowie die enorme
Rechtsunsicherheit. Beim Erneuerbare EnergienGesetz seien zentrale Parameter noch unklar. Bei der
Digitalisierung müssten enorme Vorinvestitionen
getätigt werden, ehe eine Refinanzierung gelingen
Die Teilnehmer der Gesprächsrunde
(in namensalphabetischer Reihenfolge)
Böttcher, Karl-Ludwig, Geschäftsführer Städte- und Gemeindebund Brandenburg,
Dubberstein, Bernd, Vorstandsvorsitzender, E.dis AG, Fürstenwalde
Hartmann, Tim, Vorstandsvorsitzender envia Mitteldeutsche Energie AG (enviaM)
Preuße, Helmut, Vorsitzender Landesgruppe Berlin-Brandenburg des Verbandes Kommunaler
Unternehmen (VKU)
Schäfer, Prof. Dr., Michael, Professor für Kommunalwirtschaft, Hochschule für nachhaltige
Entwicklung Eberswalde (FH), Herausgeber UNTERNEHMERIN KOMMUNE
Es moderierte Sebastian Kunze, Referatsleiter beim Städte- und Gemeindebund Brandenburg.
könne. In einigen dünn besiedelten und strukturschwachen Regionen werde man in einigen Jahren
vielleicht eher über eine Konsolidierung und nicht
über eine weitere Aufspaltung von Strukturen reden,
so der Geschäftsführer der Stadtwerke Schwedt.
Sebastian Kunze stellt zwei Entwicklungen
nebeneinander. Auf der einen Seite wären im Zuge
der Verwaltungsreformen in den Neuen Bundesländern immer größere Einheiten entstanden, auf der
anderen komme es im Zuge der Rekommunalisierung
zu einer zunehmenden Zersplitterung gewachsener
Strukturen in der Versorgungswirtschaft. Daran
schließt er die Frage an, ob sich aus diesen gegenläufigen Entwicklungen Widersprüche ergeben und
wie zukunftsfähig die gewachsenen Versorgungsstrukturen im Land Brandenburg sind. Prof. Dr.
Schäfer bedauert, dass bei der Optimierung von
Strukturen immer zuerst über Gebietsgrenzen und
kaum über Funktionalitäten gesprochen werde. Alle
Vorzeichen deuteten darauf hin, dass dieser Fehler
bei der anstehenden Verwaltungsreform im Land
Brandenburg wiederholt werde. Das schlichte Motto
„Aus Zwei mach Eins“ hätte in Mecklenburg-Vorpommern schon nicht funktioniert. Grundsätzlich
sei die gesellschaftliche Vernunft nicht der stärkste
Impuls menschlichen Handelns. Schlichte Appelle
an die Solidarität zwischen Menschen, Einheiten oder
Unternehmen würden regelmäßig nicht fruchten.
Wenn ein bestimmtes Agieren im Markt als erwünscht
erachtet werde, dann müsse dies eben ordnungspolitisch normiert werden. Zur Debatte um mögliche
Wenn aus verschiedenen Perspektiven heraus einhellige Kritik
geäußert wird, dann sollte man das Gesagte umso ernster
nehmen. Die fehlende Konsistenz in der Energiewirtschaftspolitik ist ein solcher Punkt. Daneben erscheint es notwendig,
den Begriff der Rekommunalisierung genauer zu umreißen.
Gefragt werden muss, welche Ziele erreicht werden sollen und
wie realistisch sie sind. Netzübernahmen sind nicht immer aus der Not geboren. In der Mehrzahl der
Fälle passieren sie dort, wo die Siedlungsstruktur dichter und die Kommunen finanziell vergleichsweise
gut ausgestattet sind. Bei sinkenden Margen und steigendem Wettbewerbsdruck wird sich der Energiemarkt in Zukunft eher konsolidieren. Kommunen sollten sich daher genau überlegen, ob sie sich engagieren und wachsende Risiken in Kauf nehmen wollen. Falk Schäfer
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
Neustrukturierungen im Nordosten Brandenburgs
heißt es: „Aktuell gibt es im Barnim und in der Uckermark vier Stadtwerke und einen Regionalversorger.“
Diese gewachsenen und erwiesenermaßen tragfähigen Strukturen der Chimäre eines Kreiswerkes zu
opfern, wäre notwendigerweise mit der Vernichtung
kommunalen Eigentums verbunden.
Bernd Dubberstein entgegnet, dass es am Ende auf
Überzeugungen ankäme. Wenn ausreichende Mehrheiten hinter einer Forderung vereint werden könnten,
würden die entsprechenden Entscheidungen folgen.
In Berlin und anderswo habe sich gezeigt, dass sich
die Stimmung durchaus wandeln kann. „Die optimale
Größe für einen Energieversorger gibt es nicht“, sagt
Tim Hartmann. Die Wettbewerbsfähigkeit hänge
davon ab, wie schnell und wie gut es möglich sei,
bei den großen Themen der Energieversorgung der
Zukunft miteinander zu kooperieren. Ich denke hier
zum Beispiel an die Einführung intelligenter Zähler
und Messsysteme oder die Entwicklung neuer Dienstleistungen, die nichts mit dem Verkauf von Strom und
Gas zu tun haben. enviaM biete schon heute 70 solcher
Produkte an und habe damit 2015 15 Prozent des
Vertriebsergebnisses erwirtschaftet. Der Druck hin zu
einer weiteren Diversifizierung im Angebotsportfolio
und hin zu einer stärkeren Kooperation werde weiter
zunehmen. Helmut Preuße ist der Ansicht, dass
der zunehmende Leidensdruck solche Integrationsprozesse im Markt automatisch befördern werde. Ihm
seien Kooperationen grundsätzlich lieber als politisch
motivierte Neugründungen mit zweifelhaften Erfolgsaussichten. Schließlich könnten neue Strukturen auch
aus intensivierten Kooperationen heraus erwachsen.
Prof. Dr. Schäfer stimmt zu, dass im Kernbereich der
Kommunalwirtschaft der Kooperationsgrad deutlich
ausbaufähig sei. Die Debatte dürfe sich nicht auf den
Energiemarkt verengen, da gerade die Stadtwerke in
vielen Fällen mehrere Sparten bedienen würden. Neue
Gebietsstrukturen würden bei den Sparkassen nahezu automatisch eine Fusion der beteiligten Institute
bedingen. Ähnliches sei auch bei Wasser, Abwasser
und anderen kommunalen Kernaufgaben denkbar. n
Die Veranstaltung dokumentierte Falk Schäfer
i
infos
www.stgb-brandenburg.de
37
AUS FORSCHUNG UND LEHRE
zitiert
„Selbstverständlich müssen kommunale Unternehmen auch
Geld verdienen dürfen. Einzige Prämisse ist, dass sie dieses
anschließend wieder zum Wohle der Bürger verantwortlich in die
örtliche Infrastruktur investieren.“
Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow anlässlich der Vorstellung des
Buches „Das kommunale Nagelstudio – Irrtümer zur Kommunalwirtschaft“ von
Dr. Sven-Joachim Otto und Prof. Dr. Michael Schäfer
Das Buch zur Irrtümer-Serie / Weimarer Erklärung
Plädoyer für potente
kommunale Unternehmen
Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow und Weimars Oberbürgermeister Stefan Wolf fordern
eine Stärkung der kommunalen Daseinsvorsorge
V
or ziemlich genau fünf Jahren wurde in diesem Medium der Auftakt gesetzt zu einer prononcierten Auseinandersetzung mit all den
Unterstellungen, Anwürfen und Missverständnissen, denen sich die kommunale Wirtschaft seit Jahrzehnten gegenübersieht. Ausgangspunkt
dieser Idee war die Verwunderung über das eklatante Missverhältnis zwischen der großen Wertschätzung, die öffentliche Unternehmen bei
Bürgern und Kunden genießen, sowie der enormen Bandbreite an böswilligen Klischees, die zur kommunalen Wirtschaft kolportiert werden. Dass
daraus ein Buch werden würde, war zunächst überhaupt nicht abzusehen. Erst das rege Interesse unserer Leser gab den Anlass, die zu Beginn
noch recht lockere Serie zu systematisieren und zu einer wissenschaftlich fundierten Befassung auszubauen.
Wir berichten an dieser Stelle nicht nur über uns selbst, sondern auch über erste Impulse, die aus der Serie und später dem Sachbuch
erwachsen sind. Die äußerst prominent besetzte Präsentation und die daran anschließende „Weimarer Erklärung“ zeigen, dass ein
Nerv getroffen wurde und dass öffentliche Träger allgemein und die Kommunen im Besonderen wieder selbstbewusst für ein extrem
erfolgreiches Wirtschaftsmodell zwischen gesellschaftlicher Verantwortung und betriebswirtschaftlicher Effizienz werben wollen. Lesen
Sie im Folgenden eine Zusammenfassung der Buchpräsentation und der anschließenden Verkündung der „Weimarer Erklärung“ durch
Thüringens Ministerpräsident, Bodo Ramelow, und den Oberbürgermeister von Weimar, Stefan Wolf.
Weimars Oberbürgermeister Stefan Wolf, Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow, der Autor des Buches, Prof. Dr. Michael Schäfer, und Stefanie Brich, die als Leiterin
des Fachbereiches Wirtschaft beim Springer Fachmedien Verlag durch die Veranstaltung führte (v.l.n.r.).
38
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
AUS FORSCHUNG UND LEHRE
Daseinsvorsorge
Die sachlich-kritische, manchmal aber auch bewusst
süffisante Auseinandersetzung mit all den Vorurteilen und Unterstellungen zur Kommunalwirtschaft gab den Impuls zur Weimarer Erklärung, einem
offensiven Bekenntnis zur Wirtschaftsform an sich
und zu ihren Akteuren. Und so hielt sich auch die
Choreographie des Nachmittags an diese Reihenfolge.
Zunächst ging Prof. Dr. Michael Schäfer als
einer der beiden Autoren auf die Beweggründe
ein, die ihn und Dr. Sven-Joachim Otto zu diesem
Buch veranlassten. Prof. Dr. Schäfer verweist auf
das Demoskopie-Institut Forsa, welches seit Jahren
regelmäßig nach der Beliebtheit verschiedener
Institutionen und der Wertschätzung für öffentliche
Unternehmen fragen würde. Stadtwerke und Sparkassen kämen hier regelmäßig auf den ersten beiden
Plätzen ein. Und auch insgesamt hätte sich die Einstellung zu kommunaler Verantwortung in der Versorgungswirtschaft deutlich gewandelt. 2007 seien
die Präferenzen für Kommunalisierungen und für
Privatisierungen noch ausgeglichen gewesen.
Nach der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise sowie der Kehrtwende in der Energiepolitik
würde nun eine klare Mehrheit von 80 Prozent eine
stärkere kommunale Verantwortung befürworten.
Dennoch würden sich in einigen, mitunter durchaus einflussreichen, Teilöffentlichkeiten noch immer
unsachgemäße Anwürfe, stupide Klischees und
dreiste Unterstellungen gegenüber der Kommunalwirtschaft halten. Diese seien nicht selten interessengeleitet und fußten zu einem nennenswerten Anteil in
bewussten Falschbehauptungen und Halbwahrheiten,
die gestreut würden, um jegliches wirtschaftliches
Agieren außerhalb privatwirtschaftlicher Eigentumsformen gezielt zu diskreditieren. Daher sei es ihm um
mehr als nur um Aufklärung gegangen, als er dieses
Die Weimarer Erklärung zur Daseinsvorsorge – DenkanstöSSe für eine notwendige Debatte
Bodo Ramelow, Ministerpräsident des Freistaates Thüringen und
Stefan Wolf, Oberbürgermeister der Stadt Weimar
1) Warum es diese Erklärung jetzt, hier und heute gibt.
In Deutschland wächst seit der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise 2007/2008 ein neues Bewusstsein für die Bedeutung der Kommunen, der Daseinsvorsorge und mithin auch der Kommunalwirtschaft.
Dafür gibt es viele Belege.
Stellvertretend dafür stehen nach unserer Einschätzung folgende:
(1) Von 2007 bis 2015 haben weit über 200 deutsche Kommunen
die Energienetze aus privater Hand wieder in eigene Verantwortung übernommen. Im gleichen Zeitraum wurden rund 100 neue
Stadtwerke gegründet.
(2) In Thüringen gab es mit der Thüringer Energie AG (TEAG) eine
der größten Rekommunalisierungen deutschlandweit. Im Zusammenhang mit den Stadtwerkebeteiligungen der TEAG verzeichnet
die Thüringer Energiewirtschaft den höchsten Kommunalisierungsgrad in ganz Deutschland.
(3) Vertrauen und Zufriedenheit in und mit kommunalen Unternehmen waren noch nie so groß wie heute. 75 Prozent der Bundesbürger haben zur Kommunalwirtschaft „großes Vertrauen“. 93
Prozent sind mit kommunalen Unternehmen zufrieden und sehr
zufrieden (Forsa 2016).
Die Entwicklung ist sehr deutlich. Zugleich aber gibt es zu den Themen
Daseinsvorsorge und Kommunalwirtschaft noch immer Vorurteile, ja
sogar Stigmatisierungen, die nur im Rahmen eines gesellschaftspolitischen Diskurses aufgearbeitet werden können.
2) Wie wir diese Entwicklung interpretieren.
Im Bewusstsein der meisten Menschen ist fest verankert, dass die
existenziellen Leistungen der Daseinsvorsorge – in erster Linie Trinkwasser, Energie, Entsorgung, Gesundheit, Bildung, Kultur und die
dazugehörigen Infrastrukturen – hohen Effizienzanforderungen genügen und auch im Wettbewerb bestehen müssen. Zugleich will die
übergroße Mehrheit, dass diese Leistungen in öffentlicher Verantwortung erbracht werden. 2007 waren 50 Prozent der Deutschen gegen
Privatisierungen. 2015 wuchs dieser Anteil auf 81 Prozent. Das ist in
demoskopischen Dimensionen ein gewaltiger Zuwachs von 31 Prozent (Forsa).
Aus unserer Sicht ein eindeutiges Plädoyer für:
(1) Daseinsvorsorge vor Ort mit Zuständigen, die ein Gesicht haben
und nicht „Hotline“ heißen
(2) nachhaltige kommunale Wertschöpfung, bei der Gewinne und
soziales Engagement den Bürgern direkt zu Gute kommen
(3) demokratische Mitwirkung und Kontrolle in einem Bereich, der die
Lebensbedingungen der Menschen unmittelbar betrifft
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
3) Welche Schlussfolgerungen wir ziehen
Die Stärkung der kommunalen Daseinsvorsorge sollte wieder Gegenstand des politischen Diskurses werden und zwar unter folgenden
Aspekten:
(1) Es bedarf einer Diskussion, welchen Rang die Daseinsvorsorge
unter tausenden von staatlichen und kommunalen Aufgaben hat.
(2) Daseinsvorsorge muss deutlicher von einem allgemeinen Dienstleistungsbegriff abgegrenzt werden.
(3) Dieser so abgegrenzte Bereich der kommunalen Daseinsvorsorge sollte wegen seiner existentiellen Dimension nicht den Kräften
eines ungezügelten Marktes überlassen werden.
(4) Eine einseitige Konzentration auf Monetarisierung und Verbetriebswirtschaftlichung der Daseinsvorsorge ist für ihre Entwicklung
hinderlich.
(5) Daseinsvorsorge wird zwar in erster Linie kommunal erbracht, sie
muss aber gesamtstaatlich gewährleistet werden.
4) Welche praktischen Dimensionen hat dieser Diskurs?
Die öffentliche Verantwortung für die Daseinsvorsorge ist mit der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert entstanden. Am Prinzip hat
sich bis heute nichts geändert. Dynamisch aber ist der Kanon der zu
erbringenden Leistungen. Zu dessen Elementen ist ein permanenter
Austausch zwingend geboten.
Wir zeigen dies an folgenden Beispielen:
(1) Die flächendeckende Breitbandversorgung gilt heute unstrittig als
Teil der Daseinsvorsorge, also als staatliche Aufgabe. Wer dies
vor 20 Jahren gefordert hätte, wäre mitleidig belächelt worden.
Breitbandversorgung heißt aber nicht nur technische Infrastruktur.
Im Kern geht es um Partizipation für alle. Das ist der Lebensnerv
unseres demokratischen Gesellschaftsmodells.
(2) Mit diesem Ansatz muss auch das Thema ÖPNV diskutiert werden. Gerade in strukturschwachen Regionen und in einer älter
werdenden Gesellschaft ist der Individualverkehr nicht in der
Lage, die lebenswichtige Mobilität zu gewährleisten.
5) Fazit
Unser christlich-abendländisch geprägtes Menschen- und Gesellschaftsverständnis nimmt die materiellen Grundbedürfnisse des
menschlichen Lebens ernst, isoliert sie aber nicht. „Der Mensch lebt
nicht von Brot allein“ (Matthäus 4,4; vgl. Mose 8,3). Wir müssen deshalb auch unser Verständnis von freiwilligen und pflichtigen Leistungen auf den Prüfstand stellen und deshalb noch konsequenter fragen,
was wir unter den Stichworten Daseinsvorsorge und Partizipation für
alle finanzieren wollen?
39
Daseinsvorsorge
Das altehrwürdige Weimar – Hort vieler historischer Ereignisse und nun auch Namensgeber für ein kräftiges Plädoyer pro kommunale Daseinsvorsorge.
Buch verfasste. Sondern auch um ein Bekenntnis zu
einer Wirtschaftsform, die grundlegenden ethischen
Prinzipien verbunden ist. Die kommunale Familie
ruft er auf: „Wir müssen in die Offensive gehen. Wir
vertreten die Interessen und das Eigentum der Bürger.
Es gibt überhaupt keinen Anlass, sich für den verantwortungsvollen und nachhaltigen Umgang mit
diesen Werten rechtfertigen zu müssen.“
Klares Bekenntnis
Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow
verweist auf die vielen Volksentscheide der vergangenen Jahre, die nahezu sämtlich die kommunale
Verantwortung gestärkt hatten. Auch er bewertet die
Rolle der kommunalen Wirtschaft ausgesprochen
hoch. Aktuell würde sich der Freistaat Thüringen in
einem Umbauprozess befinden. „Wir wollen auch
mittelfristig leistungsfähige Strukturen erhalten und
brauchen dazu eine gewisse kommunale Schlagkraft.“ Kommunale Unternehmen seien nicht nur
ein Nischenprodukt, sondern stellten einen Wert
an sich dar. Zu den Vorurteilen gegenüber der
Kommunalwirtschaft erinnert sich der Ministerpräsident, dass sie durchaus mal eine Basis hatten.
In den 1980er Jahren, zu Zeiten der co op- und
Neue Heimat-Skandale hätten öffentliche Unternehmen deutlich anders funktioniert als dies heute
Kommunale Unternehmen leisten Erstaunliches. Ihnen gelingt fast immer der schwierige Balanceakt zwischen ökonomischer Vernunft und gesellschaftlicher Verantwortung.
Der einzige Fehler mag darin liegen, dass kommunale Verantwortungsträger oftmals viel zu verdruckst mit dem Erreichten umgehen. Dass sie mit dem gerade erschienenen
Sachbuch fundierte Argumentationslinien gegen pauschale Unterstellungen an die Hand bekommen, soll helfen, noch offensiver für die eigenen Interessen werben zu können. Denn diese Interessen sind die Interessen der Bürger und der gewachsenen Gemeinschaften vor Ort. Die „Weimarer
Erklärung“ ist direkt aus diesen Impulsen gewachsen. Sie streitet für eine Wirtschaftsform, die sich
seit Jahrzehnten erfolgreich an den Märkten behauptet und angesichts der drängenden demografischen, ökologischen und sozialen Herausforderungen am ehesten geeignet ist, jedem Bürger
einen angemessenen Zugang zu den essentiellen Leistungen des täglichen Lebens zu ermöglichen
und damit die gesellschaftliche Stabilität zu erhöhen.
Falk Schäfer
40
der Fall sei. In den mehr als 30 Jahren seitdem sei
eine enorme Professionalisierung gelungen, die nicht
zuletzt dazu geführt hatte, dass sich kommunale
Unternehmen nunmehr im Wettbewerb bestens
behaupten. „Wir müssen dafür sorgen, dass das so
bleibt.“ Dazu gehöre auch, dass Kommunen und ihre
Unternehmen die eigenen Möglichkeiten realistisch
einschätzen. Selbstverständlich müssten kommunale
Unternehmen auch Geld verdienen dürfen. Einzige Prämisse sei, dass sie dieses anschließend
wieder zum Wohle der Bürger verantwortlich in
die örtliche Infrastruktur investieren. Stefan Wolf,
Oberbürgermeister von Weimar, thematisiert die
Entwicklung seiner Stadt. Dass sich Weimar seit
der Wende derart gut entwickeln konnte, sei nicht
zuletzt den kommunalen Unternehmen zu verdanken. Glücklicherweise hätte der Verkauf der
kommunalen Wohnungsgesellschaft verhindert
werden können, sodass die Stadt auch heute noch
proaktiv ihren Gebäude- und Wohnungsbestand
zum Wohle der Gemeinschaft gestalten könne. Bei
der Breitbandversorgung hätte sich gezeigt, dass
sich die großen Konzerne nur für hohe Renditen
interessieren. Vor einigen Jahren habe sich kein
privater Anbieter für die Breitbandversorgung in
der Stadt gefunden. Nun hätte sich Weimar auch
dank des kommunalen Engagements zu einem
prosperierenden Wachstumskern gemausert. „Und
nun interessieren sich auch die Konzerne…“
n
i
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UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
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nehmen die schweizerischen Parlamentarier auf Bundes- oder
auf Kantonsebene ihr Mandat grundsätzlich nebenberuflich wahr.
Für ihren Aufwand beziehen sie eine Entschädigung, die in etwa
der Höhe eines Facharbeiterlohns entspricht. Pensionsansprüche
werden nicht gewährt.
Demografische Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland
Weniger, bunter und ungleicher
Aus unserer Serie: Statistik kommunal
I
m vergangenen Heft hatte sich diese Rubrik den demografischen Entwicklungen innerhalb der Europäischen Union gewidmet.
Dabei zeigte sich, dass die Bundesrepublik im EU-weiten Vergleich ein deutlich unterdurchschnittliches Wachstum bzw. eine
überdurchschnittliche Schrumpfung aufweist. Trotz der aktuell guten und im europäischen Vergleich außerordentlichen Konjunktur
weist Deutschland zusammen mit einigen ost- und südeuropäischen Staaten die niedrigste Fertilitätsrate auf. Insbesondere dieser
Umstand wird dazu führen, dass der derzeit unangefochtene Rang als bevölkerungsreichstes Land der EU in Bälde eingebüßt werden
wird. Aller Voraussicht nach wird im Jahr 2050 das Vereinigte Königreich die meisten Einwohner innerhalb der EU haben. Schon 2080
wird Deutschland mit dann vermutlich 65 Millionen Menschen hinter dem Vereinigten Königreich und Frankreich deutlich auf den
dritten Rang zurückgefallen und auch von Italien eingeholt worden sein.
Aufgrund der Schwerfälligkeit demografischer Prozesse kann die Einwohnerentwicklung mittelfristig mit großer Treffgenauigkeit
prognostiziert werden. Und selbst wenn die Politik mit mutigen familienpolitischen Programmen reagieren sollte, ließen sich die
Effekte erst nach zwei Generationen ablesen. Kurz- bis mittelfristig bleibt kaum eine andere Alternative als sich sukzessive an die
vorhergesagten Entwicklungen anzupassen. Lesen Sie im Folgenden einen Überblick über die demografischen Trends innerhalb der
Bundesrepublik.
Die Schrumpfung begann in Deutschland schon
lange bevor der demografische Wandel überhaupt
zum Thema wurde. Seit 1972 werden deutlich
weniger Kinder geboren als für eine ausgeglichene
Entwicklung nötig wäre. In den kommenden
Jahren und Jahrzehnten werden die in der BabyBoom-Generation geborenen Menschen diese
Welt nach und nach verlassen. Das bereits seit
den 1970er Jahren bestehenden Delta zwischen
Sterbefällen und Geburten wird sich in diesem
Zusammenhang noch deutlich weiter ausprägen.
In den Neuen Bundesländern konnte man
bereits nachvollziehen, wie Schrumpfung eine
Gesellschaft verändern kann. Zwischen 1990
und heute ist die Einwohnerzahl der Neuen
Bundesländer um mehr als zwei Millionen oder
15 Prozent zurückgegangen. Angeführt wird diese
eher unangenehme Statistik vom Land SachsenAnhalt. Hier hat sich mit dem Geburteneinbruch
nach der Wende und bei einer kontinuierlichen Abwanderung eine ganze Generation
42
mehr als halbiert. Abseits von Berlin-Potsdam,
Dresden, Leipzig und den mittleren Gliedern der
Thüringer Städtekette grassiert in allen Teilen der
Neuen Bundesländer eine radikale Schrumpfung.
Besonders hart getroffen wurden jene Städte, die
in der DDR gezielt zu industriellen Zentren der
sozialistischen Produktion ausgebaut wurden.
Hoyerswerda, Schwedt, Eisenhüttenstadt, Suhl,
Altenburg und Frankfurt an der Oder mussten
nach der Deutschen Einheit allesamt Rückgänge
von mehr als einem Drittel verkraften.
Noch verheerender ist die Situation in den
weiten ländlich geprägten Regionen von Vorpommern bis nach Südthüringen. Hier sind die
Amts- und Mandatsträger vor Ort praktisch seit
der Deutschen Einheit gefragt, sich aktiv und
kreativ an einen schnellen und tiefgreifenden
Wandel anzupassen. Von den dort gemachten
Erfahrungen können im Sinne eines Demografielabors Ost auch Regionen aus den Alten Bundesländern profitieren. Denn auch dort wird man
sich in den kommenden Jahren zunehmend mit
den Themen Schrumpfung und Alterung auseinandersetzen müssen.
Da mittlerweile alle deutschen Bundesländer
außer Berlin einen Sterbeüberschuss verzeichnen,
kann nur noch hinzugewinnen, wer den Verlust
durch Zuwanderer ausgleicht. Während bis 2005
im Westen nur das Saarland an Bevölkerung verlor, schrumpfen jetzt auch Hessen, Niedersachsen,
Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz.
Die Hauptwanderungsziele haben sich in der
jüngeren Vergangenheit auf wenige Regionen verengt. Mit Abstand am beliebtesten ist Bayern,
gefolgt von Baden-Württemberg. Außerhalb
Süddeutschlands konnten lediglich die Stadtstaaten Berlin und Hamburg einen signifikanten
Wanderungsüberschuss generieren. Auch einige
Teile Schleswig-Holsteins, das westliche Niedersachsen oder die nordrhein-westfälische Rheinschiene bis hin zur belgischen Grenze konnten
Zuwächse verzeichnen.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
INSPIRATIONEN/INFORMATIONEN
Statistik
Verlassen werden im Westen die Gebiete entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze. Dies
gilt für das südöstliche Niedersachsen, Nordhessen sowie Nordbayern. Auch im Ruhrgebiet,
in der Südwestpfalz oder auf der Schwäbischen
Alb zeigen sich Abwanderungsprozesse. Ursachen
sind fast immer eine wirtschaftliche Strukturschwäche oder die abgelegene Lage jenseits von
urbanen Ballungsräumen.
Durchschnitt angeglichen. Das nach wie vor
ausgeprägte Delta zum Reproduktionsniveau
von 2,1 sowie die anhaltende Abwanderung
sorgen aber weiterhin für einen kontinuierlichen
Bevölkerungsverlust.
Während sich die Schrumpfung in den
Neuen Bundesländern flächendeckend auswirkt, gibt es im Alt-Bundesgebiet noch immer
größere Wachstumsregionen. So hat sich die Ein-
Bevölkerungszahl von 1950 bis 2060
Ab 2014 Ergebnisse der 13. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung
Unterdurchschnittliche Fertilität
Mitte der 1960er Jahre stellte sich sowohl in Ost
als auch in West der sogenannte Babyboom ein.
Allein im Jahr 1964 kamen grenzüberschreitend
knapp 1,4 Millionen Kinder zur Welt. Dies entsprach einer Fertilität von annähernd 2,5 Kindern
pro Frau. Die bei gleichbleibender Lebenserwartung und ausgeglichenem Wanderungssaldo
für eine stabile Bevölkerungsentwicklung notwendige Marge von 2,1 Kindern pro Frau wurde
damit deutlich übertroffen. Mit der massenweisen
Einführung und Nutzung der Antibabypille ist
die durchschnittliche Fertilität allerdings schnell
wieder gesunken und pendelte sich ab Mitte der
1970er Jahre bei einem Wert von 1,4 Kindern
pro Frau ein – ziemlich genau ein Drittel unter
dem Reproduktionsniveau von 2,1. Seitdem gilt,
dass jede neue Generation um ein Drittel kleiner
ist als die vorherige.
In den vergangenen 20 Jahren war eine leichte
Erholung vom historischen Tiefstwert (1,21
Kinder pro Frau) aus dem Jahre 1994 zu verzeichnen, an den grundlegenden Entwicklungen
wird sich damit allerdings nichts ändern. In Ostdeutschland ist 1994 mit 0,77 Kindern pro Frau
ein Wert ermittelt worden, der weltweit und
historisch ohne Beispiel ist. Bis heute hat er sich
fast verdoppelt und damit an den bundesweiten
wohnerzahl Bayerns zwischen 1995 und 2014 um
etwa 700.000 auf nun 12,7 Millionen erhöht.
Baden-Württemberg konnte im gleichen Zeitraum einen Zuwachs von 400.000 auf nun 10,7
Millionen Einwohner verzeichnen. In NordrheinWestfalen hingegen zeigt sich schon heute ein
Rückgang der Bevölkerungszahlen. Dieser fällt
zwar nicht ansatzweise so gravierend aus wie im
Osten der Bundesrepublik, wird sich aber in den
kommenden Jahren noch weiter verstärken. 2011
ist die Einwohnerzahl des Saarlandes erstmals seit
Wiedereingliederung in die Bundesrepublik im
Jahre 1956 unter die Marke von einer Million
gerutscht – ein Einbruch von fast zehn Prozent
zwischen 1995 und heute. Das Saarland ist die
demografisch problematischste Region der Alten
Bundesländer.
Wirkten sich die soziostrukturellen Unterschiede zumindest in der Ost-West-Relation
in den 1990er Jahren noch erheblich auf die
Fertilitätsrate aus, haben sich die Werte bis heute
weitgehend angeglichen. Viele westdeutsche
Landkreise mit ehemals hohen Kinderzahlen
haben sich dem Durchschnitt angepasst oder
liegen sogar darunter.
Dagegen haben die meisten ostdeutschen
Regionen aufgeholt. Vor allem in urbanen
Gebieten mit vielen gut qualifizierten und
erwerbstätigen Frauen ist die Fertilität gestiegen.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
Die Zahl der Neugeborenen hängt aber nicht
nur von der Fertilität ab, sondern auch von
der Zahl der potentiellen Mütter. Letztere
ist seit 35 Jahren kontinuierlich gesunken.
In den kommenden Jahren wird dieser Trend
ungebrochen weiter laufen, sodass auch im
äußerst unwahrscheinlichen Fall einer stark bis
an das Reproduktionsniveau heranwachsenden
Fertilitätsrate weiter weniger Kinder geboren
werden als in der Generation zuvor. Familienpolitische Maßnahmen können realistisch nur
eine leichte Verlangsamung der demografischen
Entwicklungen bewirken. Immerhin jedoch
haben sich die regionalen Verwerfungen etwas
eingeebnet.
Aktuell werden vor allem in ruralen und
agrarisch geprägten Regionen die meisten Kinder
geboren. So finden sich das vorpommersche
Demmin, die niedersächsischen Landkreise
Cloppenburg und Osnabrück, der nordrheinwestfälische Landkreis Lippe und der badenwürttembergische Landkreis Tuttlingen an der
Spitze der Statistik. Die vier deutschen Millionenstädte, Berlin, Hamburg, München und Köln,
liegen sämtlich unter dem Wert von 1,3.
Der Run auf die Städte ist allerdings
ungebrochen und hat sich in den zurückliegenden
Jahren nochmals verstärkt. Trotz der etwas
höheren Fertilität zeigt sich daher eine deutlich
überdurchschnittliche Schrumpfung im ländlichen Raum. Lediglich Schleswig-Holstein und
Bayern können aufgrund der landschaftlichen
Attraktivität und der Nähe zu den Metropolen
Hamburg und München auch im ländlichen
Raum noch ihre Bevölkerung relativ stabil halten.
In den Bundesländern mit stark rückläufiger Einwohnerzahl blutet der ländliche Raum regelrecht
aus. Während Leipzig und Dresden wachsen,
verlieren die Regionen dazwischen massiv an
Einwohnern.
Ein ähnliches Muster lässt sich in Thüringen,
Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg
und Sachsen- Anhalt beobachten. Aufgrund
der bundesweit rückläufigen Bevölkerungszahlen wird sich der Wettbewerb um Einwohner, insbesondere um Familien und gut
verdienende Steuerzahler, verschärfen. Die
Zahl der Gewinner wird zurückgehen, die der
Verlierer zunehmen. Tendenziell dürften sich
nur die größeren Städte stabilisieren. Für die
kommunalen Finanzen bedeutet Schrumpfung
einen Rückgang der Steuer- und Gebühreneinnahmen bei kaum geringeren Infrastrukturkosten. Aus finanziellen aber auch aus
ökologischen Gründen ist es nicht sinnvoll,
in stark schrumpfenden, dünn besiedelten
Regionen weiterhin flächendeckend die heute
übliche Infrastruktur zu erhalten und den
Glauben zu vermitteln, man könne die demografische Entwicklung umkehren.
43
Statistik
Fertilitätsrate (Kinder pro Frau) nach Bundesländern im Jahr 2014
Migration und Integration
Seit dem ersten Anwerbeabkommen, welches die
Bundesrepublik im Jahre 1955 mit Italien schloss,
sind per Saldo mehr als neun Millionen Ausländer nach Deutschland gekommen. In deutlich geringerem Maße kooperierte auch die DDR
mit ihren Partnerstaaten und warb um Arbeitskräfte. 1973 zählten die Gastarbeiter und deren
Angehörige allein in der Bundesrepublik bereits
vier Millionen Menschen. Im selben Jahr einigte
man sich auf einen Anwerbestopp. Doch im Zuge
der Familienzusammenführung kamen auch in
den folgenden Jahrzehnten Millionen Menschen
aus dem Süden Europas und vor allem aus der
Türkei. Heute leben circa 17 Millionen Menschen
mit Migrationshintergrund in Deutschland.
Darunter fallen per Definition alle Menschen, die
selbst nach Deutschland zugewandert sind oder
bei denen dies mindestens für ein Elternteil gilt.
Migranten machen heute ein Viertel der
Wohnbevölkerung aus. Dies ist schon heute
mehr als die Einwohnerzahl aller fünf Neuen
Bundesländer und Berlins zusammengenommen.
2060 werden zwischen 35 und 50 Prozent der
Menschen in Deutschland ihre Wurzeln im
Ausland haben. Ohne Einwanderung würde
die Bevölkerung Deutschlands schon heute bei
lediglich 70 Millionen liegen; 2060 würden es 50
Millionen statt der zu erwartenden 70 Millionen
sein. Trotz dieser recht eindrucksvollen Zahlen ist
Zuwanderung jedoch kaum geeignet, den demografischen Wandel zu kontern. Zu hoch sind die
Integrationskosten und zu stark wirkt der gegenläufige Trend einer niedrigen Geburtenrate.
44
Gegen Ende der 1990er Jahre nach der Verschärfung des Asylrechts und dem Abebben des
kriegsbedingten Flüchtlingsstroms aus dem ehemaligen Jugoslawien konnte die Bundesrepublik
für einige Jahre deutlich weniger Zuwanderung
generieren, als noch in den Jahrzehnten zuvor.
2008 gab es erstmals seit 1984 mehr Emigranten
als Immigranten. Auslöser waren die wirtschaftlichen Krisen der 1990er und 00er Jahre sowie der
Umstand, dass es viele gut ausgebildete Deutschtürken in die boomende Heimat ihrer Eltern zog.
Selbst viele autochthon deutsche Staatsbürger
wanderten vermehrt in wirtschaftlich attraktivere
Länder aus – in die Schweiz, nach Österreich,
ins Vereinigte Königreich, in die USA oder nach
Kanada.
Unter den Zugewanderten und deren Nachkommen sind vergleichsweise viele jüngere
Menschen. Das liegt zum einen daran, dass
tendenziell im jungen Erwerbsalter eingewandert
wird, und zum anderen an einer höheren durchschnittlichen Kinderzahl. So stellen Migranten
bei nur 20 Prozent Bevölkerungsanteil mehr als
ein Drittel des Nachwuchses in Deutschland.
Menschen mit Migrationshintergrund
konnten von der seit 2005 deutlich sinkenden
Arbeitslosenrate zwar überdurchschnittlich
profitieren, dennoch bleiben Zugewanderte und
deren Nachkommen etwa doppelt so häufig auf
Transferleistungen des Staates angewiesen wie
Alteingesessene.
Seit 2008 haben sich die Einwanderzahlen in
die Bundesrepublik deutlich verstärkt. Zunächst
war dies eine Folge der Öffnung des Arbeitsmarktes innerhalb der Europäischen Union. In
den vergangenen fünf Jahren haben insbesondere
die wirtschaftlichen Krisen in den Staaten Südund Südosteuropas zu einer verstärkten Migration
in die Bundesrepublik beigetragen. Zum ersten
Mal in der Nachkriegsgeschichte wanderten
vermehrt überdurchschnittlich qualifizierte
Menschen nach Deutschland ein.
Seit mittlerweile zweieinhalb Jahren steigen
die Zahlen der in Deutschland gestellten AsylErstanträge. 2015 ersuchten mehr als eine Million
Menschen in der Bundesrepublik um Asyl. Sämtliche Einwanderungsquellen – EU-Binnenmigration, qualifizierte Zuwanderung über
Arbeitsvisa, Familiennachzug und Asylanträge
– zusammengenommen, war 2015 das Jahr mit
der höchsten Einwanderung in der Geschichte
der Bundesrepublik.
Welchen Einfluss diese Prozesse auf die
deutsche Gesellschaft haben werden, wird sich
vermutlich erst mittelfristig beantworten lassen.
Grundsätzlich ist der Integrationserfolg einzelner Migrantengruppen recht unterschiedlich.
Zuwanderer aus EU-Ländern sowie aus Ostund Südostasien sind ökonomisch gut integriert.
Hier lassen sich hinsichtlich der Erwerbstätigenquote kaum Unterschiede zu den autochthonen
Deutschen erkennen. Bei Spätaussiedlern insbesondere aus der ehemaligen Sowjetunion ist
Migrantenanteil nach Bundesländern – in Prozent
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
INSPIRATIONEN/INFORMATIONEN
Statistik
die Erwerbslosenquote doppelt, bei Türkischstämmigen dreimal und bei Menschen aus dem
arabischen Sprachraum (Naher und Mittlerer
Osten / Maghreb) gar viermal so hoch. Diese
schlechten Werte setzen sich bei einigen
Zuwanderergruppen bis in die zweite und dritte
Generation fort. Je attraktiver eine Region in der
Vergangenheit für Zuwanderer war – etwa weil
die dortige Industrie viele Arbeitskräfte brauchte
– umso größer ist heute der Anteil unqualifizierter
Migranten. So ist in den früheren Schwerindustrie-Metropolen Essen und Duisburg der
Anteil von Personen ohne Schulabschluss unter
Migranten etwa elfmal so hoch wie unter Alteingesessenen, in einigen Industriestädten zwischen
Rhein, Main und Neckar werden gar Quoten von
1 zu 17 erreicht.
Grundsätzlich besteht eine ausgeprägte
Proportionalität zwischen dem Migrantenanteil
und der wirtschaftlichen Stärke. So leben in den
prosperierenden drei südlichen Bundesländern
Baden-Württemberg, Bayern und Hessen
durchweg mehr als 20 Prozent Migranten.
Die wirtschaftlich nicht ganz so erfolgreichen
westdeutschen Bundesländer Saarland, Niedersachsen und Schleswig-Holstein erreichen
Werte zwischen 17,6 und 12,7 Prozent. Ostdeutschland rangiert nicht nur im Hinblick
auf zentrale wirtschaftliche Kennziffern wie
Industriedichte, Produktivität, Arbeitslosenrate und Steuerkraft ganz hinten, sondern mit
Quoten zwischen 4,3 und 5,2 Prozent auch beim
Migrantenanteil. Eine weitere Wechselwirkung
lässt sich zwischen der Größe einer Kommune
und dem Migrantenanteil formulieren. Auch
hier weisen die prosperierenden Zentren des
Südens die höchsten Werte auf. Ganz vorn
rangiert Frankfurt am Main mit etwa 43 Prozent.
Danach folgen in dieser Reihenfolge: Stuttgart,
Nürnberg, München, Düsseldorf, Hannover,
Bremen, Dortmund, Duisburg, Hamburg und
Berlin. In den beiden größten Städten der Neuen
Bundesländer, Leipzig und Dresden, leben lediglich acht bzw. sieben Prozent Migranten – deutlich mehr als im ostdeutschen Schnitt, deutlich
weniger als in den anderen deutschen Städten
dieser Größenordnung.
Arbeitslosigkeit und
Fachkräftemangel
Die weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise
war der erste Lackmus-Test für die Robustheit
der unter der rot-grünen Schröder-Regierung
geschaffenen Strukturen. Zwischen 2008 und
2010 stieg die Erwerbslosenquote nur geringfügig an und lag im Juni 2010 bei lediglich 7,4
Prozent. Im Gegensatz zu den meisten anderen
EU-Staaten hat sich der Arbeitsmarkt in der Folge
wieder entspannt. Die Erwerbslosenquote liegt
Bevölkerungsentwicklung der deutschen Bundesländer zwischen 1990 und 2015 –
in Prozent
Schleswig-Holstein
bei deutlich unterdurchschnittlichen 4,5 Prozent. Aktuell stellt sich eher das entgegengesetzte
Problem eines gravierenden Fachkräftemangels.
Die Zahl der 15- bis 18jährigen ist zwischen 2005
und 2008 um 360.000 Personen geschrumpft.
Während bis 2006 noch 40.000 bis 50.000
Anwärter keine Lehrstelle bekamen, waren es
2009 nur 9.600. Ostdeutschland, wo derzeit
die halbierte Nachwendegeneration ins Ausbildungsalter kommt, konnte 2009 erstmals ein
ausgeglichenes Verhältnis zwischen angebotenen
Lehrstellen und Nachfragern registrieren.1
Die geburtenstarken Jahrgänge der BabyBoomer scheiden zunehmend aus dem Erwerbsleben aus. Nach Vorausberechnungen des
Statistischen Bundesamtes dürfte die Bevölkerung
im Erwerbsalter von 20 bis 64 Jahren bis 2050
um elf bis 14 Millionen Menschen schrumpfen.
Im gleichen Zeitraum wird die Gruppe der
über 64jährigen um sechs bis sieben Millionen
Menschen anwachsen und sich der Anteil der
Über80jährigen verdreifachen.2 Das heißt, die
Deutschen müssen künftig länger arbeiten,
sich aber dennoch mit bescheideneren Renten
abfinden. Besonders betroffen sind dabei die
Gebiete, aus denen viele junge Menschen
abgewandert sind – also vor allem die Neuen
Bundesländer.
Während die Neuen Bundesländer hinsichtlich des Altenanteils bis 2040 noch deutlich an der
Spitze rangieren, wird sich in den darauffolgenden
Jahrzehnten eine Entspannung ergeben. Grund
ist die zahlenmäßig sehr kleine Generation,
die nach 1990 in den Neuen Bundesländern
geboren wurde. In den westdeutschen Bundesländern wird die Alterung auch nach 2040 weiter
anhalten, sodass sich Alt- und Neu-Bundesgebiet
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
bis voraussichtlich 2070 aneinander angeglichen
haben werden.
Beim verfügbaren Einkommen lagen die allermeisten Regionen der Neuen Bundesländer im
Jahr 1995 noch bei unterhalb von 80 Prozent
des durchschnittlich verfügbaren Einkommens je
Einwohner. Bis heute haben sich einige Regionen
Ostdeutschlands etwas regenerieren können. Die
wohlhabendsten ostdeutschen Landkreise sind
der thüringische Wartburgkreis und PotsdamMittelmark – mit 89 bzw. 95 Prozent des gesamtdeutschen Mittelwertes. Weite strukturschwache
Regionen bleiben aber weiterhin von wirtschaftlicher Dynamik abgekoppelt und dürften
angesichts stark alternder und schrumpfender
Bevölkerungen kaum noch aufholen. Die vorpommersche Grenzregion zu Polen bleibt mit
73 Prozent des durchschnittlich verfügbaren Einkommens das Armenhaus der Republik. Am deutlichsten zurückgefallen ist die Hauptstadt Berlin
– von 98 Prozent im Jahr 1995 auf nur noch 83
Prozent 2008. Auch im Westen Deutschlands
haben sich die regionalen Disparitäten weiter
ausdifferenziert. Einige der reichsten Regionen
wie Starnberg oder das Münchner Umland sind
noch reicher geworden. Im Saarland oder auch im
Ruhrgebiet stellen sich hingegen stetig dringlicher
werdende Herausforderungen.
Baden-Württemberg
Im Ländle erwirtschaftet
das produzierende Gewerbe
ein Drittel der gesamten
Wirtschaftsleistung – im
bundesweiten Vergleich ein deutlich überdurchschnittlicher Anteil. Baden-württembergische
45
Statistik
Produkte können sich in der Regel sehr gut auf
den Weltmärkten behaupten. Die damit verbundene Exportabhängigkeit macht das Land
aber auch anfällig für internationale Krisen.
Baden-Württemberg zeichnet sich aus durch einen
hohen Anteil von Investitionen in Forschung
und Entwicklung. Es ist das Flächenland mit
der geringsten Jugendarbeitslosigkeit und dem
zweithöchsten Migrantenanteil bundesweit. Als
einziges Bundesland hat Baden-Württemberg
in den kommenden Jahren keine wesentlichen
Bevölkerungsverluste zu befürchten. Weil in fast
allen Landkreisen genügend Arbeitsplätze verfügbar sind, wird das Land auch künftig junge
Menschen aus dem In- und Ausland anziehen.
Einwohner 2014 – 10,717 Mio.
Einwohner 2025 – 11,112 Mio
Fertilitätsrate – 1,46 Kinder pro Frau
Bevölkerungsdichte – 300 Einwohner / km²
Migrantenanteil – 27,1 Prozent
Durchschnittsalter – 43,3 Jahre
Haushaltsnettoeinkommen – 2.989 Euro / Monat
Bayern
Mit mehr als 70.000
Quadratkilometern
ist
Bayern das flächenmäßig
größte Bundesland. Hinsichtlich der Einwohnerzahl liegt es mit 12,5 Millionen auf Rang zwei.
Wirtschaftlich erzielt Bayern nach Hamburg,
Bremen und Hessen das vierthöchste Bruttoinlandsprodukt pro Kopf. Bayern hat die
höchste Beschäftigungs- und mit 4,8 Prozent die
niedrigste Arbeitslosenquote. Das hohe Bruttoinlandsprodukt wird von einem breit gestreuten
Spektrum an Branchen erwirtschaftet. Diese
Struktur aus Großunternehmen und starken
Mittelständlern macht die bayerische Wirtschaft vergleichsweise krisenresistent. Doch im
Gegensatz zum fast flächendeckend wirtschaftsstarken Baden-Württemberg zeigen sich in Bayern
neben Spitzenwerten in Sachen Arbeitsmarkt
und Wohlstand regional auch echte Tiefpunkte.
Dies gilt insbesondere für die Grenzregionen zu
Thüringen, Sachsen und Tschechien. So weist
Oberfranken ein unterdurchschnittliches Haushaltseinkommen, eine starke Überalterung und
eine insgesamt schrumpfende Bevölkerung
auf. Bei der Fertilitätsrate liegt Bayern zwar
im unteren Mittelfeld, gleich dies aber durch
überdurchschnittliche Zuwanderung aus. Das
Kraftzentrum des Landes liegt eindeutig in und
rund um die Landeshauptstadt München. Dort
ist auch der Migrantenanteil besonders hoch.
Nürnberg und München sind nach Frankfurt am
Main und Stuttgart die deutschen Großstädte mit
den meisten Migranten.
46
Einwohner 2015 – 12,744 Mio.
Einwohner 2025 – 12.838 Mio.
Fertilitätsrate – 1,45 Kinder pro Frau
Bevölkerungsdichte – 181 Einwohner / km²
Migrantenanteil – 20,4 Prozent
Durchschnittsalter – 43,4 Jahre
Haushaltsnettoeinkommen – 3.009 Euro / Monat
Berlin
Die allzu positiven Wachstumsszenarien haben sich in den 1990er
Jahren nicht nur in den Neuen
Bundesländern nicht bewahrheitet,
sie haben auch in der Hauptstadt
Erwartungen geweckt, die nicht
erfüllt wurden. Seit 2005 hat sich
eine Trendwende vollzogen. Berlin wächst wieder,
zieht vermehrt Zuwanderer aus dem In- und Ausland und immer mehr Touristen an. Die Stadt
ist dennoch weiterhin auf Transferzahlungen des
Bundes und der finanzstarken Länder angewiesen,
was insbesondere an der nahezu vollständig
fehlenden Produktivwirtschaft liegt. Berlin, das
sich so gern mit Paris oder London vergleicht,
erreicht gerade einmal das wirtschaftliche Niveau
von Warschau oder Budapest.3 Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf liegt bei der Hälfte Hamburgs.
Als einziges Bundesland verzeichnete Berlin in
den vergangenen Jahren gleichzeitig Wanderungsgewinne und einen leichten Geburtenüberschuss.
Damit hat die demografische Entwicklung eine
überraschende Wendung genommen. Mittelfristig ist mit einem leichten Wachstum zu
rechnen. Der Migrantenanteil in Berlin liegt
im Durchschnitt der deutschen Großstädte.
Hinsichtlich der Integration stellen sich jedoch
besondere Herausforderungen. Derzeit fangen
in Berlin nur halb so viele Migrantenkinder eine
Lehre an wie im bundesweiten Schnitt. Zudem
sind die Migranten in der Hauptstadt stärker
von öffentlichen Hilfen abhängig als in anderen
Städten. Dies gilt allerdings gelichermaßen für
die deutschstämmigen Berliner.
aktuell recht positiven Entwicklung in der Hauptstadt. Vier der 20 deutschen Landkreise mit den
höchsten Wanderungsgewinnen haben einen
Anteil am Speckgürtel Berlins. Doch auch sechs
der 20 Landkreise mit den stärksten Wanderungsverlusten liegen in Brandenburg. Je weiter man
sich von Berlin entfernt, desto mehr ähnelt die
demografische Struktur den umliegenden ostdeutschen Bundesländern. In den peripheren
Gebieten Brandenburgs sind Jugendarbeitslosigkeit und Schulabbrüche besonders stark
ausgeprägt. Auch beim Migrantenanteil zeigt
sich eine starke Verschiebung vom vergleichsweise bunten Berliner Umland hin zu peripheren Regionen mit einer nahezu ausschließlich
deutschstämmigen Bevölkerung.
Einwohner 2015 – 2,465 Mio.
Einwohner 2025 – 2,339 Mio.
Fertilitätsrate – 1,55 Kinder pro Frau
Bevölkerungsdichte – 83 Einwohner / km²
Migrantenanteil – 5,2 Prozent
Durchschnittsalter – 47,9 Jahre
Haushaltsnettoeinkommen – 2.298 Euro / Monat
Bremen
Die Doppelstadt steht unter
den
Metropolregionen
Deutschlands nicht sonderlich gut da. Jeder fünfte
Bremer unter 65 Jahren
bekommt Hilfe zum Lebensunterhalt oder lebt
von Hartz IV. Und nicht nur die Bewohner sind
arm – auch das Bundesland selbst ist finanziell
am Ende. Bremen und Bremerhaven haben mit
dem Niedergang der Werftindustrie zu kämpfen.
Verschärft wird die prekäre Finanzlage durch den
Umstand, dass viele Menschen zwar in der Freien
Hansestadt arbeiten, aber im niedersächsischen
Umland wohnen und dort ihre Steuern zahlen.
Bremen weist den höchsten Migrantenanteil aller
Bundesländer auf, im Vergleich der deutschen
Metropolen liegt die Stadt aber eher im Mittelfeld.
Einwohner 2015 – 3,490 Mio.
Einwohner 2025 – 3,810 Mio.
Fertilitätsrate – 1,46 Kinder pro Frau
Bevölkerungsdichte – 3.914 Einwohner / km²
Migrantenanteil – 27,8 Prozent
Durchschnittsalter – 42,9 Jahre
Haushaltsnettoeinkommen – 2.421 Euro / Monat
Einwohner 2015 – 0,664 Mio.
Einwohner 2025 – 0,658 Mio.
Fertilitätsrate – 1,46 Kinder pro Frau
Bevölkerungsdichte – 1.582 Einwohner / km²
Migrantenanteil – 28,6 Prozent
Durchschnittsalter – 44 Jahre
Haushaltsnettoeinkommen – 2.341 Euro / Monat
Brandenburg
Hamburg
Das Land an Elbe, Havel, Spree
und Oder zeigt eine äußerst
disparate Entwicklung. Die
Gemeinden rund um Berlin
profitieren enorm von der
Der Stadtstaat Hamburg
wird als einer der großen
urbanen Räume weiter vom
demografischen Wandel
profitieren. Die Gewinne
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
INSPIRATIONEN/INFORMATIONEN
Statistik
sind jedoch ausschließlich der Zuwanderung
zuzurechnen, denn in Hamburg werden mit
1,41 Kindern pro Frau mit die wenigsten Kinder
geboren.
Wirtschaftsleistung, Arbeitsplätze und
Kaufkraft sind deutlich überdurchschnittlich.
Hinsichtlich Pro- Kopf-Einkommen und Bruttoinlandsprodukt liegt Hamburg mit an der Spitze
der deutschen Metropolen. Sozial ist Hamburg
gespalten. Die Spreizung zwischen arm und
reich ist größer als in jedem anderen Bundesland. In der Stadt wohnen überdurchschnittlich
viele sozial Abgehängte und schlecht integrierte
Migranten.
Einwohner 2015 – 1,770 Mio.
Einwohner 2025 – 1,823 Mio.
Fertilitätsrate – 1,41 Kinder pro Frau
Bevölkerungsdichte – 2.331 Einwohner / km²
Migrantenanteil – 28,2 Prozent
Durchschnittsalter – 42,4 Jahre
Haushaltsnettoeinkommen – 2.677 Euro / Monat
Hessen
Hessen ist nicht nur geographisch, sondern auch
wirtschaftlich und logistisch
das Zentrum Deutschlands.
In und um Frankfurt am Main
liegen Deutschlands wichtigste
Börse, das Bankenzentrum und der größte Flughafen. Unter anderem deshalb wird in Hessen
nach den Stadtstaaten Hamburg und Bremen
das höchste Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro
Kopf erwirtschaftet. Doch diese Zahlen gelten
nicht für das gesamte Bundesland. Hessen teilt
sich wirtschaftlich und demografisch in drei
sehr unterschiedliche Zonen – den boomenden
Süden, die einigermaßen stabile Mitte und den
schwächelnden Norden. Kein westdeutsches
Flächenland ist derart eindeutig in unterschiedlich
prosperierende Regionen geteilt.
Besonders stark ist der Einwohnerrückgang im
Norden des Bundeslandes. Das liegt zum einen an
der geringen Geburtenrate und zum anderen an
einer signifikanten Abwanderung. Unterm Strich
erweist sich Hessen nur deshalb als demografisch
stabil, weil der Süden die Gesamtwerte nach
oben zieht. Hessen ist das Flächenland mit dem
höchsten Migrantenanteil. Die Stadt Frankfurt
am Main liegt bei den deutschen Metropolen
ganz vorn. Die Integrationswerte sind sehr
unterschiedlich. Während Frankfurt am Main
überdurchschnittlich stark von Qualifikation und
Erwerbstätigkeit profitieren kann, finden sich im
benachbarten Offenbach am Main überdurchschnittliche viele Migranten mit geringer oder
gar keiner Qualifikation. Die Erwerbsquote ist
entsprechend gering.
Einwohner 2015 – 6,094 Mio.
Einwohner 2025 – 5,946 Mio.
Fertilitätsrate – 1,46 Kinder pro Frau
Bevölkerungsdichte – 289 Einwohner / km²
Migrantenanteil – 27,6 Prozent
Durchschnittsalter – 43,9 Jahre
Haushaltsnettoeinkommen – 2.942 Euro / Monat
Einwohner 2015 – 7,861 Mio.
Einwohner 2025 – 7,648 Mio.
Fertilitätsrate – 1,53 Kinder pro Frau
Bevölkerungsdichte – 165 Einwohner / km²
Migrantenanteil – 17,4 Prozent
Durchschnittsalter – 43,4 Jahre
Haushaltsnettoeinkommen – 2.606 Euro / Monat
Mecklenburg-Vorpommern
Nordrhein-Westfalen
Mecklenburg-Vorpommern ist
das Land mit der geringsten
Bevölkerungsdichte. Auch
die Industriedichte ist außerordentlich gering und die
Wirtschaftsstruktur
vor
allem agrarisch oder touristisch geprägt. Die
Abwanderung nach der Deutschen Einheit wirkte
sich demografisch auch deshalb so verheerend aus,
weil vor allem junge Frauen das Land verließen.
Nach der Wende lebte in Mecklenburg-Vorpommern die jüngste Bevölkerung Deutschlands.
Dies hat sich bis heute grundlegend gewandelt.
Vor allem in den Regionen jenseits der Küste und
abseits der Universitätsstädte sind die Aussichten
trübe. Beim Pro-Kopf-Einkommen liegt Mecklenburg-Vorpommern auf dem letzten Rang. Das
Bildungsniveau ist schlechter als in den anderen
ostdeutschen Bundesländern und die Quote der
Transferempfänger entsprechend hoch. Die Ostseeküste weist nahezu bei allen Parametern deutlich bessere Werte auf als das Binnenland.
Das hinsichtlich der Einwohnerzahl mit deutlichem
Abstand größte Bundesland steckt seit Jahrzehnten
in einem tiefgreifenden
Strukturwandel. Vor allem
den Städten und Gemeinden des Ruhrgebietes
gelingt es immer weniger, ausgeglichene
Finanzierungskonzepte aufzustellen. Im
Rheinland oder rund um die Universitätsstadt
Münster sind die Rahmenbedingungen weniger
herausfordernd.
Auch demografisch ist die Lage im Bundesland sehr unterschiedlich. Im Ruhrgebiet
zeigt sich eine grassierende Abwanderung,
während es den meisten anderen Regionen
deutlich besser geht. Köln-Bonn-Düsseldorf, die Städteregion Aachen sowie das
überwiegend katholische Ostwestfalen mit
seinen vergleichsweise hohen Geburtenraten konnten in den vergangenen Jahren
mit ihren Zuwächsen die Bevölkerung des
Landes gerade noch stabil halten. Doch in
naher Zukunft wird auch Nordrhein-Westfalen deutlich schrumpfen.
Für die Rheinschiene zwischen Bonn und
Düsseldorf lassen sich recht positive Entwicklungen erwarten. Hier finden sich die
höchste Unternehmensdichte und ein vergleichsweise hohes Pro-Kopf-Einkommen.
Der wirtschaftliche Schwerpunkt des Landes
hat sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten vom Ruhrgebiet hierher verlagert.
Hinsichtlich des Migrantenanteils liegt
Nordrhein-Westfalen im Schnitt der westdeutschen Flächenländer. Insbesondere
im Ruhrgebiet zeigen sich erhebliche
Integrationsprobleme. Die Erwerbsquote, die
Bildungsabschlüsse und auch die Kriminalitätsraten von Migranten sind deutlich
schlechter als in anderen Regionen des Landes
und bundesweit.
Einwohner 2015 – 1,601 Mio.
Einwohner 2025 – 1,490 Mio.
Fertilitätsrate – 1,49 Kinder pro Frau
Bevölkerungsdichte – 69 Einwohner / km²
Migrantenanteil – 4,3 Prozent
Durchschnittsalter – 45 Jahre
Haushaltsnettoeinkommen – 2.140 Euro / Monat
Niedersachsen
Niedersachsen ist demografisch
und wirtschaftlich gespalten.
Während sich im Westen eine
wirtschaftlich
erfolgreiche
Agrarindustrie entwickelt hat,
sieht es im Osten düster aus.
Von den 20 deutschen Kreisen mit den höchsten
Geburtenraten liegen acht in Niedersachsen,
und zwar vor allem im westlichen Teil. Auch das
Umland von Hamburg prosperiert – in Landkreisen wie Stade, Lüneburg und Harburg findet
sich das landesweit höchste Haushaltseinkommen.
Im Südosten Niedersachsens hingegen ist die
Bevölkerung stark gealtert. In der Summe gleichen
sich diese beiden Extreme aus. Ob bei Demografie-, Bildungs- oder Wirtschaftsindikatoren –
Niedersachsen ist fast überall Durchschnitt.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
Einwohner 2015 – 17,683 Mio.
Einwohner 2025 – 17,030 Mio.
Fertilitätsrate – 1,49 Kinder pro Frau
Bevölkerungsdichte – 518 Einwohner / km²
Migrantenanteil – 24,8 Prozent
Durchschnittsalter – 43,2 Jahre
Haushaltsnettoeinkommen – 2.704 Euro / Monat
47
Statistik
Zahl der Unter20jährigen dürfte sich im Saarland
binnen 50 Jahren fast halbieren.
Einwohner 2015 – 0,989 Mio.
Einwohner 2025 – 0,932 Mio.
Fertilitätsrate – 1,35 Kinder pro Frau
Bevölkerungsdichte – 385 Einwohner / km²
Migrantenanteil – 17,6 Prozent
Durchschnittsalter – 44,8 Jahre
Haushaltsnettoeinkommen – 2.548 Euro / Monat
Sachsen
Hoyerswerda im Freistaat Sachsen hat seit 1990 mehr als die Hälfte seiner Einwohnerzahl verloren.
Rheinland-Pfalz
Rheinland-Pfalz wird mittelfristig Einwohner verlieren. Insbesondere die ländlichen Regionen
am Rande des Saarlandes und
an der luxemburgischen Grenze
sind überdurchschnittlich von
Abwanderung und Geburtenrückgang betroffen.
Die Wachstumsregionen liegen entlang des Rheins.
Die besten Aussichten haben die Landeshauptstadt
Mainz bzw. deren Umland.
Rheinland-Pfalz hat eine der niedrigsten Arbeitslosenraten bundesweit. Doch dies liegt insbesondere
an den hohen Pendlerquoten vor allem in Richtung
Frankfurt am Main, aber auch nach Luxemburg.
Hinsichtlich der Fertilität gruppiert sich
Rheinland-Pfalz im Mittelfeld der Bundesländer.
Der Migrantenanteil ist ebenfalls durchschnittlich.
Ähnlich wie in anderen Ländern zeigt sich eine
heterogene Verteilung mit einer Konzentration
in den Großstädten entlang des Rheins und einer
eher homogen deutschstämmigen Bevölkerung in
den ländlich geprägten Regionen des Westens.
Motor des Wirtschaftswunders, hat sich in
den vergangenen Jahrzehnten ein massiver
Strukturwandel vollzogen. Das Saarland leidet
unter einer niedrigen Beschäftigungsquote und
geringer Wirtschaftsleistung. Die Region ist mit
dem nahen Luxemburg und Rhein-Main zudem
von wirtschaftlich prosperierenden Nachbarn
umgeben. Seit den 1990er Jahren geht die Einwohnerzahl des Saarlandes kontinuierlich zurück.
Die Abwanderung hält an und neben Hamburg
weist das Saarland die niedrigste Fertilitätsrate
bundesweit auf. Nach aktuellen Prognosen
verliert das Saarland bis zum Jahr 2030 rund
ein Zehntel seiner Einwohner. Der Rückgang
betrifft vor allem die Jüngeren und die Gruppe
im Erwerbsalter zwischen 20 und 64 Jahren. Die
Zusammen mit SachsenAnhalt ist Sachsen das Land
mit dem höchsten Durchschnittsalter. Insbesondere
in den ehemaligen Industrieregionen im Erzgebirgsvorland
und in der Oberlausitz haben die wirtschaftlichen
Krisen der 1990er Jahre zu einer grassierenden
Abwanderung und zu einer außerordentlich
geringen Geburtenrate geführt. Allein Leipzig und
Dresden zeigen einen stabilen Bevölkerungstrend,
können sich aber nur auf Kosten ihres Umlands
von der Schrumpfung ausnehmen. Die ehemals
kreisfreie Stadt Hoyerswerda weist unter allen
deutschen Städten den stärksten Bevölkerungsrückgang auf. Hier hat sich seit der Deutschen
Einheit die Einwohnerzahl mehr als halbiert.
Sachsenweit ist mittel- und langfristig mit einer
weiter anhaltenden Schrumpfung zu rechnen.
Daran wird auch die derzeit überdurchschnittliche Geburtenrate nichts ändern. Der Rückgang
wird in Sachsen jedoch weniger gravierend ausfallen, als in den anderen Neuen Bundesländern.
Einwohner 2015 – 4,018 Mio.
Einwohner 2025 – 3,883 Mio.
Fertilitätsrate – 1,47 Kinder pro Frau
Bevölkerungsdichte – 202 Einwohner / km²
Migrantenanteil – 20,3 Prozent
Durchschnittsalter – 43,6 Jahre
Haushaltsnettoeinkommen – 2.765 Euro / Monat
Saarland
Das kleine Saarland ist die
demografisch problematischste
Region der Alten Bundesländer. Mit Bergbau und
Schwerindustrie einst ein
48
Die Landeshauptstadt München hat im gleichen Zeitraum mehr als 200.000 Einwohner hinzugewonnen.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
INSPIRATIONEN/INFORMATIONEN
Statistik
Der Migrantenanteil liegt leicht über dem
ostdeutschen Schnitt bei 5,1 Prozent. Dresden
ist unter den 20 größten deutschen Metropolen
diejenige mit dem geringsten Migrantenanteil.
Einwohner 2015 – 4,056 Mio.
Einwohner 2025 – 3,857 Mio.
Fertilitätsrate – 1,58 Kinder pro Frau
Bevölkerungsdichte – 220 Einwohner / km²
Migrantenanteil – 5,1 Prozent
Durchschnittsalter – 46,3 Jahre
Haushaltsnettoeinkommen – 2.177 Euro / Monat
Sachsen-Anhalt
Sachsen- Anhalt hat zwischen
1990 und heute fast ein
Viertel seiner Einwohner
verloren. In keinem anderen
Bundesland und keiner
anderen europäischen Region
war der Schwund größer. Insbesondere die
ehemaligen Industrieregionen im Süden des
Landes haben unter einem gravierenden
Strukturwandel zu leiden. Jedes Jahr gibt es in
Sachsen-Anhalt etwa 13.000 mehr Sterbefälle
als Kinder neu geboren werden. Da SachsenAnhalt noch immer ein Abwanderungsland
ist und trotz der aktuellen Flüchtlingskrise
kaum mit Zuwanderern gerechnet werden
kann, werden sich die dramatischen Zahlen in
die Zukunft fortschreiben. Im Vergleich zum
Wendejahr 1989wird sich Sachsen-Anhalt
bis 2050 – also in nur 60 Jahren – mehr als
halbiert haben. Das vollständige Fehlen von
Wachstumsregionen ist selbst für Ostdeutschland ungewöhnlich. Einzig die Landeshauptstadt Magdeburg hat den massiven Rückgang
der 1990er Jahre nach Beginn des neuen
Jahrtausends zumindest aufhalten können.
Wenig Hoffnung machen die allgemeinen
Strukturdaten. Hinsichtlich Produktivität,
Erwerbsquote, Kaufkraft oder Bruttowertschöpfung liegt Sachsen-Anhalt jeweils auf
einem der beiden letzten Plätze.
Einwohner 2015 – 2,231 Mio.
Einwohner 2025 – 2,008 Mio.
Fertilitätsrate – 1,5 Kinder pro Frau
Bevölkerungsdichte – 109 Einwohner / km²
Migrantenanteil – 4,4 Prozent
Durchschnittsalter – 46,9 Jahre
Haushaltsnettoeinkommen – 2.190 Euro / Monat
Schleswig-Holstein
Während das Hamburger
Umland von der Anziehungskraft der Hansestadt profitiert
und auch künftig demografisch
wachsen dürfte, verlieren
Städte wie Kiel, Neumünster
oder Lübeck Einwohner. Die Hafen- und Militärstandorte haben nach wie vor Probleme mit dem
Strukturwandel. Touristisch reizvolle Gebiete an
den Küsten können stabile Bevölkerungszahlen
erwarten.
Insgesamt gehört das Land zwischen zwei
Meeren zu den strukturschwächeren im AltBundesgebiet. Im Hinblick auf wichtige Strukturdaten wie Wertschöpfung, Industriedichte und
Kaufkraft liegt Schleswig-Holstein zusammen
mit dem Saarland auf den letzten Rängen.
Daher kann das Land auch keine nennenswerte
Attraktivität für Migranten entfalten. Mit einem
Anteil von lediglich 12,7 Prozent ist SchleswigHolstein das Alt-Bundesland mit dem niedrigsten
Migrantenanteil.
Der demografische Wandel in Deutschland hat bereits
im 19. Jahrhundert begonnen. Zwischen 1870 und 1905
sank die Geburtenrate von annähernd fünf auf lediglich
zwei Kinder pro Frau und damit unter das Reproduktionsniveau. Auf diesem langfristigen Pfad befinden wir uns
noch heute. Und nicht nur wir, sondern auch viele unserer
Nachbarn. Angesichts auch international sinkender Geburtenraten verschmälert sich zunehmend das Potential, Defizite bei der Fertilität durch Zuwanderung ausgleichen zu können. Die
Wirksamkeit familienpolitischer Maßnahmen lässt sich nur schwer nachweisen, in jedem Fall
werden Erhöhungen des Kindergeldes oder die Intensivierung der öffentlichen Kinderbetreuung
nicht ausreichen, um die demografische Trendwende einzuleiten. Es bleibt also nichts anderes
übrig, als sich auf eine kontinuierliche Schrumpfung einzustellen, sich daran anzupassen und
ansonsten ein familienfreundliches Umfeld zu kreieren. Regionale Unterschiede werden sich
vertiefen. Die Politik ist gefragt, die Mitte zu finden zwischen dem Erhalt des ländlichen Raums
und der Stärkung urbaner Zentren.
Falk Schäfer
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
Einwohner 2015 – 2,841 Mio.
Einwohner 2025 – 2,789 Mio.
Fertilitätsrate – 1,48 Kinder pro Frau
Bevölkerungsdichte – 180 Einwohner / km²
Migrantenanteil – 12,7 Prozent
Durchschnittsalter – 43,8 Jahre
Haushaltsnettoeinkommen – 2.732 Euro / Monat
Thüringen
Wie alle ostdeutschen Bundesländer hatte auch Thüringen
nach der Wende mit einem
enormen Strukturwandel zu
kämpfen. Dass die Erwerbsquote im Freistaat etwas höher
ist, als in den anderen Neuen Bundesländern
liegt eher an der zentralen Lage und der hohen
Zahl von Pendlern in Richtung Bayern, Hessen
und Niedersachsen. Für ihre Arbeit werden
die Thüringer unterdurchschnittlich bezahlt.
Nirgendwo sonst werden derart niedrige Einkommen erzielt.
Demografisch zeigen sich innerhalb
Thüringens sehr unterschiedliche Entwicklungen. Die zentralen Glieder der
Thüringer Städtekette – Erfurt, Weimar und
Jena – können sogar Zuwächse vorweisen. Ein
ganz anderes Bild bietet sich in den östlichen
Gliedern Gera und Altenburg. Diese Städte
und ihr Umland gehören zu den deutschlandweit am stärksten schrumpfenden Regionen.
Gleiches gilt für die ehemalige Bezirksstadt
Suhl und das umgebende Südthüringen. Eine
in Bezug auf Thüringen durchschnittliche Entwicklung zeigt sich im Westen und im Norden
des Freistaates. Mittelfristig wird auch die derzeit über dem bundesweiten Mittel liegende
Geburtenrate nichts daran ändern können, dass
der Freistaat auch weiterhin zu den am stärksten
schrumpfenden Regionen der Bundesrepublik
gehören wird.
Einwohner 2015 – 2,155 Mio.
Einwohner 2025 – 1,942 Mio.
Fertilitätsrate – 1,55 Kinder pro Frau
Bevölkerungsdichte – 133 Einwohner / km²
Migrantenanteil – 4,3 Prozent
Durchschnittsalter – 46,4 Jahre
Haushaltsnettoeinkommen – 2.204 Euro / Monat
n
i
infos
www.berlin-institut.org
www.ifad-berlin.de
www.bpb.de
www.destatis.de
1 Bundesministerium für Bildung und Forschung: Berufsbildungsbericht 2010. Bonn 2010.
2 ebd.
3 Europäische Kommission: Eurostat Datenbank. Luxemburg 2010.
49
Blick über den Gartenzaun
Politik, Verwaltung und kommunale Kompetenzen in der Schweizerischen Eidgenossenschaft
Ein ganz normaler Staat
inmitten Europas?
Aus unserer Serie „Blick über den Gartenzaun“
U
nser südwestlicher Nachbar gilt in fast jeder Hinsicht als Sonderfall. Wir teilen zwar eine lange Grenze und mit annähernd drei
Vierteln der Schweizer auch dieselbe Sprache, doch kulturell und politisch muten uns einige Gepflogenheiten geradezu exotisch
an. Die Schweiz ist eine Insel inmitten der Europäischen Union. Als solche pflegt sie eine Vielzahl von politischen Traditionen, die
manchmal Bewunderung, manchmal Verärgerung hervorrufen, in jedem Fall jedoch prägnante Identifikationsmerkmale darstellen.
Da wurde die immerwährende Neutralität derart strikt ausgelegt, dass die Schweiz erst nach der Jahrtausendwende den Vereinten
Nationen beigetreten ist und bis heute keinen Interessengemeinschaften von Staaten angehört. Da lockt das Bankgeheimnis Milliarden
unversteuerter deutscher Euros in die kleine Alpenrepublik zwischen Genfer und Bodensee. Da werden die Bürger zu jeder wesentlichen
Kontroverse befragt und können auch aus eigener Initiative heraus – siehe Minarettverbot – Aufsehen erregende gesellschaftliche
Weichenstellungen herbeiführen. Da wird in einem äußerst komplexen politischen Ausgleichsystem selbst gebildeten Europäern kaum
klar, wer welche Einflüsse geltend machen kann. Da existiert auf engstem Raum eine europaweit einzigartige Mischung aus Konfessionen,
Sprachen, Traditionen und Kulturen. Und da verfügen selbst kleinste politische Einheiten über derart weitreichende Kompetenzen, dass sie
als souveräne Völkerrechtssubjekte angesehen werden können.
Trotz dieser Besonderheiten zeigen sich aber auch in der Schweiz die gleichen kulturellen Leitlinien, die gleichen Zwänge und ähnliche
Herausforderungen, wie auch in anderen Ländern Mitteleuropas. Lesen Sie im Folgenden einen Beitrag aus unserer Rubrik „Blick über
den Gartenzaun“ – zum komplexen politischen System der Schweiz, zum Kompetenzverhältnis zwischen Zentrale, föderalen Gliedstaaten
und den Kommunen und zu der Frage, ob die Schweiz tatsächlich solch ein Exot innerhalb der europäischen Staatenfamilie ist, wie es
auf den ersten Blick scheinen mag.
Das Territorium der heutigen Schweiz war seit
der Ausformung der europäischen Zivilisationen
ein Bindeglied zwischen den zentraleuropäischen
Ebenen und den Regionen der Mittelmeerküste.
Im 1. Jahrhundert wurde das Gebiet durch die
Truppen Julius Cäsars unterworfen und somit
integraler Bestandteil des Römischen Reiches.
Nach dem Einfall der Goten ins Weströmische
Reich zogen sich alle römischen Truppen zum
Schutz Italiens aus den Gebieten nördlich der
Alpen zurück. Die Herrschaft über die Westschweiz ging an das Reich der Burgunder,
die Zentral- und Ostschweiz wurde von den
Alemannen kontrolliert und besiedelt.
Während sich in der Westschweiz weiter
lateinische Dialekte hielten, übernahm die
romanische Bevölkerung der Ost- und der
Zentralschweiz die alemannische Sprache.
Nach kurzer Unabhängigkeit wurden die
Reiche der Burgunder und der Alemannen
im 6. Jahrhundert in das Fränkische Reich
Gemäß der Legende schlossen Vertreter der Landstädte Uri, Schwyz und Unterwalden auf dem Rütli, einer Wiese am Vierwaldstättersee, per Eid einen Bund gegen die
tyrannischen Vögte der Habsburger. Dies mündete in einen offenen Aufstand und führte mittelbar zur Entstehung der Alten Eidgenossenschaft.
50
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
INSPIRATIONEN/INFORMATIONEN
Blick über den Gartenzaun
eingegliedert. In dieser Zeit ist das gesamte
Gebiet der heutigen Schweiz vollständig
christianisiert worden.
Mit der Teilung des Frankenreiches unter den drei
Enkeln Karls des Großen kam die Westschweiz zuerst
zu Lotharingen und später zum Königreich Burgund.
Die Ostschweiz gehörte von Beginn an zum Ostfrankenreich. Mit der Übernahme Burgunds durch
die Ottonen kam schließlich das gesamte Gebiet der
heutigen Schweiz zum Ostfrankenreich bzw. zum
Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Für die
deutschen Kaiser waren die Alpenpässe von zentraler
Bedeutung – für die Kontrolle Italiens und speziell
für die Romzüge anlässlich der Kaiserkrönungen.
Daher wurden umfangreiche Gebiete im Alpenraum
zu Reichsgütern deklariert, die unmittelbar von der
Kaiserkrone verwaltet wurden.
Das Aussterben mächtiger Adelsgeschlechter
sowie die Auseinandersetzungen zwischen Kaiser
und Papst begünstigten im 13. Jahrhundert die
Verselbstständigung der wichtigeren Städte und
Talschaften der Schweiz. 1218 wurden Zürich,
Bern, Freiburg und Schaffhausen zu Reichsstädten.
Auch Uri (1231) und Schwyz (1240) erhielten das
Privileg der Reichsunmittelbarkeit. Diese Städte
und Landschaften unterstanden unmittelbar dem
Kaiser und waren von der lokalen Herrschaftsgewalt
ausgenommen. Die drei Waldstädte Uri, Schwyz
und Unterwalden bilden den Kern der Alten Eidgenossenschaft. 1291 erneuerten sie ein älteres
Bündnis. Dieser sogenannte Bundesbrief wird heute
mythologisch als Gründung der Alten Eidgenossenschaft verstanden. 1309 bestätigte König Heinrich
VII. die Reichsunmittelbarkeit von Uri und Schwyz
und bezog nun auch Unterwalden ein.
Das Kernbündnis in der heutigen Innerschweiz
erweiterte sich schrittweise um weitere Partner; insbesondere die Einbeziehung der Reichsstädte Zürich
und Bern trug wesentlich zur machtpolitischen
Festigung und territorialen Erweiterung bei. Die
expansionistische Politik der Stadt Bern führte die
nur lose zusammengefügte Eidgenossenschaft 1315
in eine erste Konfrontation auf europäischer Ebene.
Die Burgunderkriege endeten mit einem aufsehenerregenden Sieg und begründeten den guten Ruf
der Schweizer Söldner. Die Eidgenossenschaft
konsolidierte sich und wurde zur vorherrschenden
Macht im süddeutschen Raum. Im Frieden zu
Basel musste der deutsche König Maximilian I.
die faktische Selbständigkeit anerkennen. De jure
blieb die Zugehörigkeit der Eidgenossen zum Reich
aber bis 1648 bestehen.
Durch die Reformation wurde die Eidgenossenschaft langfristig stark geschwächt. Die konfessionelle
und politische Spaltung wurde 1586 durch den
Goldenen Bund der sieben katholischen Kantone
besiegelt. In den Hugenottenkriegen in Frankreich
kämpften die Eidgenossen je nach Konfession in
unterschiedlichen Lagern. Während des Dreißigjährigen Krieges jedoch blieb die Schweiz als Ganzes
Graubünden – hier eine Ansicht aus dem Engadin – ist der flächenmäßig größte Kanton der Schweiz.
neutral. Jede Parteinahme hätte den Bürgerkrieg und
damit das Ende des Bundes bedeutet.
Im Westfälischen Frieden von 1648 erreichten
die Schweizer Kantone ihre Exemtion, waren
damit nicht mehr Kaiser und Reich unterstellt.
Diese Entscheidung wurde allgemein als Ausgliederung aus dem Heiligen Römischen Reich
Deutscher Nation verstanden und überwiegend
als Anerkennung der völkerrechtlichen Souveränität. Seither verkehrten die eidgenössischen Orte
als souveräne Subjekte auf Augenhöhe mit
anderen europäischen Staaten.
Konsolidierung und Staatswerdung
Im 18. Jahrhundert brachen sich auch in der
Schweiz starke absolutistische Tendenzen Bahn.
Die Macht übten in der Regel alteingesessene
Familien oder die Zünfte aus. 1798 wurde die
Alte Eidgenossenschaft von napoleonischen
Truppen besetzt. Unter deren Hoheit und nach
französischem Vorbild sind die bisher selbstständigen Kantone zu simplen Verwaltungseinheiten degradiert worden. Mit der Helvetischen
Republik entstand also ein zentralistischer Einheitsstaat. 1802 kam es nach dem Abzug der
französischen Truppen zu einem kurzen Bürgerkrieg zwischen Zentralisten und Föderalisten,
der unter Mediation Napoleons in einem
Kompromissfrieden endete. Die Schweizerische
Eidgenossenschaft zählte nunmehr 18 Kantone.
Zu den 13 alten kamen die fünf neuen Kantone
St. Gallen, Aargau, Thurgau, Tessin und Waadt.
Im Dezember 1813 löste sich das von Napoleon
geschaffene schweizerische Staatswesen unter dem
Druck der innenpolitischen Gegenrevolution und
der anrückenden Truppen der sechsten Koalition
wieder auf. Die Schweiz stand zur Zeit des Wiener
Kongresses kurz vor einem Bürgerkrieg und erst
unter äußerem Druck rückten die nur noch lose
im Bundesverein von 1813 organisierten Kantone
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
enger zusammen. Mit den neu dazu stoßenden
Kantonen Genf, Wallis und Neuchatel waren nunmehr 22 Kantone im eidgenössischen Staatenbund miteinander verschmolzen.
Die bis heute bestehenden inneren und
äußeren Grenzen der Schweiz sind seit den Entscheidungen des Wiener Kongresses weitgehend
unverändert geblieben. Um das strategisch
wichtige Alpengebiet aus dem Einflussbereich
Frankreichs zu lösen, verordneten die Großmächte im Zweiten Pariser Frieden der Schweiz
die „immerwährende bewaffnete Neutralität“.
Im Innern wurde 1815 der Bundesvertrag
geschlossen und die Wehr-, Münz- sowie Zollhoheit wieder den Kantonen übertragen. Mit der
liberalen „Regeneration“ von 1830/31 mussten
die aristokratischen Vorherrschaften endgültig
weichen und wurden durch demokratische
Systeme ersetzt. Die fortwährende Polarisierung
zwischen liberalen und konservativen Kantonen
führte 1847 in den Sonderbundskrieg, der nach
dem Sieg der Liberalen die Verfassungsstruktur
der Schweiz wesentlich veränderte.
So wurde der Weg frei für eine Zentralisierung
und Liberalisierung des bisherigen lockeren
Staatenbundes zu einem einheitlicheren und
strafferen parlamentarischen Bundesstaat mit
föderaler Grundstruktur. Die neue schweizerische
Bundesverfassung trat im September 1848 in
Kraft. Die Vereinheitlichung von Maß- und
Münzwesen sowie die Abschaffung der Binnenzölle kreierten einen zusammenhängenden
Wirtschaftsraum. Ab 1863 kämpfte eine „Demokratische Bewegung“ für den Übergang von der
repräsentativen zur direkten Demokratie und für
wirtschaftlich-soziale Reformen.
Schrittweise erstritten die Demokraten Verfassungsrevisionen in den Kantonen. Diese hatten
etwa in Zürich die Einführung der Volksinitiative,
des obligatorischen Gesetzesreferendums sowie die
Volkswahl der Regierung zum Inhalt. 1874 wurde
51
Blick über den Gartenzaun
auch die Bundesverfassung im Sinne der Demokraten revidiert. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts
weichten sich die traditionellen Konfliktlinien
zwischen Liberalen und Konservativen durch das
Aufkommen der Arbeiterbewegung zunehmend
auf. 1888 schlossen sich kantonale Arbeiterparteien
zur Sozialistischen Partei (SP), der heutigen Sozialdemokratischen Partei, zusammen. Nur wenige
Jahre später vereinigten sich auch die konservativen
und liberal-demokratischen Bewegungen auf
nationaler Ebene in Parteien.
Neutrale Insel im Weltenbrand
Während des Ersten Weltkriegs bewahrte die
Schweiz die bewaffnete Neutralität. Obwohl
französische und italienische Pläne bestanden,
die Mittelmächte mittels Durchmarsch durch
die Schweiz zu attackieren, blieb das Land von
militärischen Übergriffen verschont. Noch
gefährlicher für das Fortbestehen der Schweiz war
die politische und kulturelle Spaltung entlang der
Konfliktlinien zwischen deutsch und welsch bzw.
bürgerlich und sozialistisch. Teile der deutschschweizer Bevölkerung sympathisierten mit den
Mittelmächten, während in der Westschweiz
Frankreich unterstützt wurde.
Nach dem Ende des Krieges versuchte das
österreichische Vorarlberg, einen Anschluss
an die Schweiz zu erreichen. In den Pariser
Vorortverträgen wurde die Neutralität der
Schweiz erneut bestätigt, Vorarlberg aber
definitiv Österreich zugeteilt. 1920 trat die
Schweiz nach einer Volksabstimmung dem
Völkerbund bei, der seinen Sitz in Genf hatte.
Damit begann eine Phase der differenzierten
Neutralität, die zwar an wirtschaftlichen, nicht
aber an militärischen Sanktionen des Völkerbundes teilnahm.
Im Oktober 1919 wurde der Nationalrat erstmals im Proporzwahlrecht bestimmt,
was ein Ende der Dominanz der Liberalen
und einen starken Aufschwung für die
Sozialisten bedeutete. Grundsätzlich war die
Zwischenkriegszeit gekennzeichnet durch
einen Antagonismus zwischen Sozialisten und
bürgerlichen Parteien. Auch die Schweiz geriet
in den frühen 1930er in den Sog der Weltwirtschaftskrise, was erheblich zur Entstehung
einer rechtsbürgerlichen antimarxistischen
nationalen Bewegung beitrug. Angesichts
dieser
faschistisch-nationalsozialistischen
Bedrohung kamen sich Sozialisten und bürgerliche Parteien wieder näher.
Nach dem Anschluss Österreichs an das
Deutsche Reich kehrte die Schweiz zurück zur
integralen Neutralität. Unter dem Eindruck der
deutschen Expansion bekräftigten Schweizer
Politiker, Gelehrte und Militärs den geistigen
und militärischen Widerstands- und Selbstbehauptungswillen. Mit Ausbruch des Zweiten
Weltkriegs berief sich die Schweiz erneut auf die
bewaffnete Neutralität und ordnete die allgemeine
Mobilmachung an. Das Parlament gewährte dem
Bundesrat unter Berufung auf den Staatsnotstand
umfassende Vollmachten, die erst nachträglich von
der Legislative bewilligt werden mussten.
Nach der völligen Einkreisung der Schweiz
durch die Achsenmächte schloss der Bundesrat
notgedrungen mit Deutschland ein Wirtschaftsabkommen. Die Schweiz musste dem Deutschen
Reich Kredite im Umfang von einer Milliarde
Franken gewähren. Im März 1945 einigten sich die
Schweiz und die Alliierten im Currie-Abkommen
auf ein Ende der Ausfuhren nach Deutschland und
eine teilweise Auslieferung deutscher Vermögenswerte. Von kriegerischen Aktivitäten blieb die
Schweiz weitgehend verschont.
Doch während des Krieges suchten etwa
300.000 Flüchtlinge Schutz in der Schweiz. Angesichts der prekären Versorgungslage war deren
Die Kantone der Schweiz
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UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
INSPIRATIONEN/INFORMATIONEN
Blick über den Gartenzaun
Liste der Kantone der Schweizerischen Eidgenossenschaft
Kanton
StandesBeitritt
stimme
Hauptort
Einwohner
Fläche
in km²
Bev.-dichte
Einw./km²
Amtssprache
Zürich
1
1351
Zürich
1.446.354
1.729
837
Deutsch
Bern
1
1353
Bern
1.009.418
5.959
169
Deutsch
Waadt
1
1803
Lausanne
761.446
3.212
237
Französisch
Aargau
1
1803
Aarau
653.317
1.404
465
Deutsch
St. Gallen
1
1803
St. Gallen
495.824
2.026
245
Deutsch
Genf
1
1815
Genf
477.385
282
1.693
Luzern
1
1332
Luzern
394.604
1.493
264
Tessin
1
1803
Bellinzona
350.363
2.812
125
Wallis
1
1815
Sitten
331.763
5.224
64
Französisch, Deutsch
Fribourg
1
1481
Fribourg
303.377
1.671
182
Französisch, Deutsch
Basel Landschaft
½
1501
Liestal
281.301
518
543
Deutsch
Thurgau
1
1803
Frauenfeld
263.733
991
266
Deutsch
Deutsch
Solothurn
1
1481
Solothurn
263.719
791
333
Basel-Stadt
½
1401
Basel
196.668
37
5.315
Graubünden
1
1803
Chur
195.886
7.105
28
Französisch
Deutsch
Italienisch
Deutsch
Deutsch, Rätoromanisch, Italienisch
Neuchatel
1
1815
Neuchatel
177.327
803
221
Französisch
Schwyz
1
1291
Schwyz
152.759
908
168
Deutsch
Zug
1
1352
Zug
120.089
239
502
Deutsch
Schaffhausen
1
1501
Schaffhausen
79.417
298
267
Jura
1
1979
Delemont
72.410
838
86
Appenzell Ausserrhoden
½
1513
Herisau, Trogen
54.064
243
222
Nidwalden
½
1291
Stans
42.080
276
152
Deutsch
Glarus
1
1352
Glarus
39.794
685
58
Deutsch
Obwalden
½
1291
Sarnen
36.834
491
75
Deutsch
Deutsch
Französisch
Deutsch
Uri
1
1291
Altdorf
36.008
1.077
33
Deutsch
Appenzell Innerrhoden
½
1513
Appenzell
15.854
173
92
Deutsch
Schweiz
23
1291
Bern
8.039.060
41.285
195
Aufnahme in der Bevölkerung umstritten. Da das
schweizerische Asylrecht nur politische Fluchtgründe anerkannte, wurde deutschen Juden, die
„aus Rassegründen“ verfolgt wurden, die Einreise verweigert. Erst im Juli 1944 sind Juden als
politische Flüchtlinge anerkannt worden.
Die moderne Schweiz
Die Schweiz verhielt sich im Kalten Krieg
politisch und militärisch neutral, gehörte aber
ideologisch klar zum westlichen Lager. Aus
Neutralitätsgründen wurde weder der UNO
noch der NATO beigetreten. Vor allem in der
unmittelbaren Nachkriegszeit war die unzerstörte
Schweiz sowohl wirtschaftlich als auch militärisch
ein wichtiger Faktor in Mitteleuropa. Bis 1967
wurden erste Schritte zu einer atomaren Aufrüstung unternommen. Mit der Unterzeichnung
des Atomsperrvertrages 1969 gab die Schweiz
diese Option freiwillig auf.
1970 unternahm der Bundesrat erste
Schritte in Hinblick auf eine europäische
Integration. Diese mündeten 1972 in ein
Freihandelsabkommen mit der EWG und 1973
in den Beitritt zur Organisation für Sicherheit
und Zusammenarbeit in Europa (OSZE).
Wirtschaftlich erlebte die Schweiz nach dem
Ende des Zweiten Weltkrieges eine nie gesehene
Hochkonjunktur, die bis in die 1970er Jahre
anhielt. Der Ausbau des Wohlfahrtsstaates und
die Reduktion der Arbeitszeiten bei gleichzeitigem starkem wirtschaftlichen Wachstum
sorgten bis in die 1990er Jahre hinein für einen
ausgeprägten sozialen Frieden.
Das Wirtschaftswachstum machte seit den
1960er Jahren den Import von „billigen“ Arbeitskräften nötig. Der Anteil der ausländischen
Wohnbevölkerung stieg zwischen 1960 und
1970 von zehn auf 17,5 Prozent an. Mehrere Versuche, die Zahl der Ausländer durch sogenannte
„Überfremdungsinitiativen“ zu beschränken,
scheiterten in einer Volksabstimmung. Der
Bundesrat versuchte zwar, mit der Schaffung des
Saisonnierstatutes die dauerhafte Niederlassung
von Arbeitsmigranten zu verhindern, schuf damit
jedoch nur soziale Härtefälle und behinderte eine
rasche Integration.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
Deutsch, Französisch, Italienisch, Rätoromanisch
Erst 1971 stimmten die Schweizer Männer
für die Einführung des Frauenstimmrechts. Auf
kantonaler Ebene ließ zuletzt der Kanton Appenzell Innerrhoden 1991 das passive und aktive
Frauenstimmrecht zu. Frauen erhielten nach der
politischen Gleichberechtigung erst 1981 auch jene
auf gesellschaftlicher Ebene juristisch zugesprochen.
Innenpolitisch wurde die Schweiz durch
die seit 1959 geltende Konkordanz unter den
führenden Parteien geprägt, die sich in der
sogenannten Zauberformel bei der Verteilung
der Bundesratssitze manifestierte. Mit dem Aufstieg der rechtskonservativen Schweizerischen
Volkspartei unter Christoph Blocher wurde
dieses Verteilsystem jedoch teilweise in Frage
gestellt.
Der Bundesrat scheiterte wiederholt bei
dem Versuch, die politische Selbstisolation der
Schweiz zu beenden. 1986 lehnte das Stimmvolk
die Integration in die UNO und 1992 auch die
in den Europäischen Wirtschaftsraum ab. Doch
auch ohne formellen Beitritt vollzog die Schweiz
autonom EU-Recht nach und einigte sich auf eine
Teilintegration in den EU-Binnenmarkt.
53
Blick über den Gartenzaun
Appenzell Innerrhoden – hier eine Luftansicht der Hauptstadt Appenzell – ist der Fläche nach der zweitkleinste und mit lediglich knapp 15.000 Einwohnern der bevölkerungsärmste
Kanton der Schweiz. Appenzell Innerrhoden ist zugleich auch der Kanton, der als letztes und erst nach Entscheid eines Bundesgerichtes im Jahr 1990 das Frauenstimmrecht einführte.
Die 1990er Jahre waren geprägt durch eine
langjährige Wirtschaftskrise bzw. durch geringes
Wirtschaftswachstum. Der Niedergang der
schweizerischen Maschinen- und Textilindustrie
führte besonders in der Ostschweiz zu einer
nachhaltigen Deindustrialisierung. In dieser Zeit
wurden zahlreiche Flüchtlinge aus verschiedenen
internationalen Konfliktregionen aufgenommen,
insbesondere aus Sri Lanka, der Türkei und dem
ehemaligen Jugoslawien.
Als einer der letzten international anerkannten
Staaten trat die Schweiz nach einer Volksabstimmung am 10. September 2002 den Vereinten Nationen bei. Dies war zuletzt nur noch
von den rechtskonservativen Kräften um die SVP
bekämpft worden.
Komplexer Staatsaufbau
Das schweizerische Verfassungs- und Regierungssystem gilt wegen seiner zahlreichen Spezifika –
der direkten Demokratie, der Kollegialregierung,
des Fehlens eines besonderen Staatsoberhaupts,
des ausgeprägten Föderalismus und einer eigenständigen Staats- und Demokratietradition als
Sonderfall schlechthin. Ungeschriebene Elemente
54
der politischen Kultur wie die Konkordanz oder
die allgegenwärtige Proportionalisierung des
öffentlichen Lebens erschweren dem Beobachter
den Zugang zum Verständnis von Strukturen.
Dennoch bestehen vielfältigen Parallelen zu
anderen Regierungssystemen.
Der föderalistische Staatsaufbau ist neben
der direkten Demokratie eines der wichtigsten
Strukturelemente der schweizerischen Staatsverfassung. Nicht nur der Bund, sondern auch die
26 Kantone verfügen über eine eigene Verfassung.
Den rund 3.000 Gemeinden wird im Rahmen der
kantonalen Ordnung eine weitgehende Selbstorganisation und Autonomie in der Wahrung
ihrer Aufgaben eingeräumt. Bund, Kantone und
Gemeinden erheben eigene Einkommen- und
Vermögensteuern. Die Steuerhoheit der Kantone
umfasst das Recht, nicht nur die Ausgaben,
sondern auch die Einnahmen selbst festzulegen.
Legislative, Exekutive und richterliche Gewalten
sind auf allen drei Ebenen vorzufinden.
Der Verzicht auf zentrale Strukturen und die
Gewährung lokaler Autonomie haben historisch
das friedliche Zusammenleben der Sprachund Konfessionsgruppen erleichtert sowie das
Weiterbestehen kultureller Vielfalt begünstigt.
Gleichzeitig war der Bund seit dem 19. Jahrhundert das wichtigste Element für die Entfaltung
einer schweizerischen, multikulturellen Identität.
Der Umstand, dass alle drei politischen Ebenen
über eine volle Gewaltenteilung verfügen, macht
es möglich, den Grundsatz der Subsidiarität
konsequent umzusetzen. Neue Aufgaben werden
üblicherweise zunächst von den Gemeinden übernommen, kantonale Lösungen erst gesucht, wenn
örtliche Autoritäten oder zwischengemeindliche
Zusammenschlüsse überfordert sind. Für übergeordnete Aufgaben sind wiederum zunächst die
Kantone zuständig. Die Übertragung von Aufgaben
auf den Bund setzt die Zustimmung des Volkes
und der Kantone voraus. Dies macht die Schweiz
zu einem der dezentralisiertesten Länder der Welt.
Die Zentralregierung kontrolliert nur knapp
30 Prozent der öffentlichen Einnahmen und
Ausgaben. 40 Prozent entfallen auf die Kantone
und 30 Prozent auf die Gemeinden. Dem Bund
kamen ursprünglich nur Zölle, Gebühren und
Verbrauchssteuern zu. Die seit den 1930er Jahren
erhobenen Bundessteuern auf Einkommen und
Vermögen beruhen bis heute auf befristeten
Erlassen. Die hohen politischen Konsenshürden
führen allerdings auch dazu, dass ökonomisch
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
INSPIRATIONEN/INFORMATIONEN
Blick über den Gartenzaun
oder staatspolitisch sinnvolle Zentralisierungsschritte nicht oder nur sehr spät erfolgen und
dass der Bund nicht überall über ausreichende
Kontrollmöglichkeiten verfügt.
Kollegial, konsensorientiert und
überparteilich
Das schweizerische System verzichtet auf die
Institution eines herausgehobenen Staatsoberhaupts und weist dessen Funktion dem jährlich wechselnden Bundespräsidenten oder dem
Bundesrat als Ganzem zu. Der Bundesrat als quasiRegierung wird von der gemeinsamen Sitzung von
National- und Ständerat, der Vereinigten Bundesversammlung, für eine Amtsdauer von vier Jahren
gewählt. Die Wahl jedes der sieben Mitglieder
erfolgt einzeln. Gewählt ist ein Kandidat, wenn er
die absolute Mehrheit der Stimmen erreicht. Sind
mehrere Wahlgänge erforderlich, fällt jeweils der
Kandidat mit der geringsten Stimmenzahl aus der
folgenden Wahl. Es gibt keine Abwahl und auch
kein Misstrauensvotum, mit dem das Parlament
die Gesamtregierung oder einzelne Bundesräte zum
Rücktritt zwingen könnte. Auch die Nicht-Wiederwahl eines erneut kandidierenden Bundesrats kam
bis 2003 nicht vor.
Bei den Parlamentswahlen 2003 erzielte die
Schweizerische Volkspartei (SVP) große Gewinne
vor allem auf Kosten der Christlich-Demokratischen Volkspartei (CVP). Die SVP machte
daraufhin ihren Anspruch auf einen der beiden
CVP-Sitze im Bundesrat geltend und erreichte
dieses Ziel dank der Unterstützung der FreisinnigDemokratischen Fraktion. Mit diesem Wechsel in
der Zusammensetzung des Bundesrats blieb die
Konkordanz im Sinne der Regierungsbeteiligung
der vier größten Parteien zwar bestehen; die zahlenmäßige Vertretung wurde jedoch den veränderten
Wählerstärken angepasst.
Wie schon 2003 erfolgte 2007 die Abwahl eines
amtierenden Bundesrates. Die davon betroffene
SVP wollte die Ersetzung eines ihrer Bundesratsmitglieder durch eine andere Person aus ihren Reihen
nicht akzeptieren und kündigte die Mitarbeit in
der Konkordanz auf. Ob und wie lange die grundsätzliche Opposition anhalten und die seit 1959
bestehende Konkordanz der vier Regierungsparteien
schwächen wird, ist offen. Von diesem Einzelfall
abgesehen, bestimmen Bundesräte den Zeitpunkt
ihres Rücktritts faktisch selbst. Häufig treten einzelne Mitglieder der Regierung vor Ablauf der ordentlichen Wahlperiode zurück, worauf eine Ersatzwahl
in der Reihenfolge der Rücktritte vorgenommen
wird. Obwohl die Bundesversammlung die Möglichkeit hätte, zu Beginn jeder Legislaturperiode eine
personell oder parteipolitisch völlig veränderte
Regierung zu bestellen, entspricht die faktische
Stellung der Regierung eher einem Präsidialsystem.
Dass die nach Artikel 175.2 Bundesverfassung
gegebenen Möglichkeiten eines parlamentarischen
Regierungssystems nicht ausgeschöpft werden, hängt
einzig mit der politischen Tradition zusammen.
Der schweizerische Bundesrat ist eine sogenannte
Kollegialbehörde. Der Präsident des Kollegiums
leitet die Sitzungen, hat aber kein Weisungsrecht.
Jeder Bundesrat ist damit gleichberechtigtes Mitglied des Kollegiums und zugleich Vorsteher eines
der sieben Departemente der Bundesverwaltung
– 1. Inneres; 2. Äußeres; 3. Justiz und Polizei;
4. Volkswirtschaft; 5. Umwelt, Verkehr, Energie
und Kommunikation; 6. Finanzen sowie 7. Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport.
Alle wichtigeren Entscheidungen werden
vom Gesamtbundesrat mit einfacher Mehrheit
getroffen und nach außen verantwortet. Das
System der siebenköpfigen Kollegialregierung ist
seit Gründung des Bundesstaates in seinen Grundzügen nicht verändert worden. Die einzigen nachhaltigen Neuerungen waren die Schaffung von
Staatssekretären zur Vertretung im Ausland sowie
der Ausbau der Bundeskanzlei. Bundeskanzler und
zwei Vizekanzler bilden den Kopf einer leistungsfähigen Stabsstelle der Regierung. Sie entsprechen
damit funktional dem Bundeskanzleramt bzw. dem
Kanzleramtsminister in Deutschland.
Parlamentsarbeit im Ehrenamt
Das schweizerische Parlament besteht analog zu
den USA oder zu Deutschland aus zwei Kammern
und fungiert eher als Arbeits- denn als Redeparlament. Das Wahlverfahren für die Volksvertretung
(Nationalrat) und die Kantonsvertretung (Ständerat)
ist unterschiedlich. Die 200 Sitze des Nationalrats
werden für jede Wahl den Kantonen nach ihrer
Bevölkerungszahl zugeteilt. In diesen Wahlkreisen
erhält jede Partei so viele Sitze, wie es ihrem Anteil
an den Wahlberechtigten entspricht.
Der Nationalrat wird in den Kantonen mit mehr
als einem Sitz durch Verhältniswahl gewählt.
Die Nationalräte der sechs kleinsten Kantone
Appenzell Ausserrhoden, Appenzell Innerrhoden,
Glarus, Nidwalden, Obwalden und Uri hingegen
werden durch Mehrheitswahlrecht bestimmt. Der
Präsident des Nationalrates ist protokollarisch der
höchste Repräsentant des Schweizer Volkes.
Der Ständerat (46 Sitze, zwei für jeden der
20 Vollkantone und je einen für die sechs Halbkantone) wird nach kantonalem Recht gewählt.
In den meisten Kantonen wird nach dem Mehrheitswahlrecht und zeitgleich mit den Nationalratswahlen abgestimmt. Im Ergebnis findet sich
im Nationalrat tendenziell eine proportionale Verteilung der Sitze, im Ständerat dagegen dominieren
die drei bürgerlichen Parteien FDP, CVP und SVP.
Die schweizerischen Parlamentarier nehmen ihr
Mandat nebenberuflich wahr. Für ihren Aufwand
beziehen sie eine Entschädigung in etwa in Höhe eines
Facharbeiterlohns. Entsprechend dem Prinzip der
Gleichwertigkeit beider Kammern werden alle Vorlagen sowohl im National- als auch im Ständerat vollständig behandelt. Die beiden Ratsbüros verständigen
sich in der sogenannten Koordinationskonferenz. Jede
Vorlage bedarf der Zustimmung beider Kammern.
Ergeben sich im Verlauf der Beratungen unterschiedliche Vorschläge, findet ein Differenzbereinigungsverfahren statt. Einigen sich National- und Ständerat
auch dort nicht auf eine übereinstimmende Fassung,
ist die Vorlage gescheitert.
Konkordanz
Die Konkordanz der Schweiz ist nicht von der Verfassung aufgetragen, sondern entwickelte sich
langsam aus der politischen Kultur der Schweiz mit ihrem ausgeprägten Minderheitenschutz.
Schon 1943, als mit Ernst Nobs der erste sozialdemokratische Bundesrat gewählt worden war,
waren alle wesentlichen Parteien in die Regierung eingebunden. 1959 kam es nach dem Rücktritt von vier Bundesräten zur so genannten Zauberformel, in der die wichtigsten Parteien nach
ihrem damaligen Gewicht im siebenköpfigen Bundesrat vertreten waren: je zwei Sitze erhielten
FDP (Liberale), CVP (Konservative), und SP (Sozialdemokraten), einen die BGB, die Vorgängerin
der rechtspopulistischen SVP. Diese Parteizusammensetzung blieb bis 2003 unverändert. Die vier
Bundesratsparteien erreichten bei den Wahlen 2003 einen Anteil von zusammen 81,6 Prozent
und besetzen zusammen 217 der 246 Sitze in der Vereinigten Bundesversammlung.
Wenn die Konkordanz nach Proporz durchgeführt wird, sind alle Parteien wähleranteilsmäßig in
der Regierung vertreten und können sich auf Augenhöhe sachlich miteinander auseinandersetzen,
anstatt sich im Koalition–Opposition-Schema laufend gegeneinander abgrenzen zu müssen.
Die schweizerische Konkordanzdemokratie zielt auf Stabilität und kontinuierliche Entwicklung. Eine
eigentliche Opposition im Parlament gibt es seit längerem nicht mehr. Auch ist es in der Schweiz
auf keiner Ebene möglich, die Regierung durch einen Misstrauensantrag aus dem Amt zu stürzen.
Da der Bundesrat wie auch die kantonalen und kommunalen Regierungen eine Kollegialbehörde ist, kann sich eine Regierungspartei zeitweise gegen die Regierung stellen. Doch nach einer
Abstimmung müssen sich die unterlegenen Kräfte dem Gremium, beziehungsweise dem Volk,
unterordnen und ihre weitere Regierungsarbeit durch die gefassten Beschlüsse bestimmen lassen.
Die Konkordanz verlangt von allen Mitgliedern eine starke Konsensfähigkeit, da ansonsten die
Regierungstätigkeit blockiert würde.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
55
Blick über den Gartenzaun
Der formelle Handlungsspielraum des
Parlaments ist groß: Es kann auch gegen
den Willen der Regierung ganze Vorlagen
ohne weitere inhaltliche Diskussion zurückweisen oder in der Detailberatung beliebige
Änderungen beschließen. Das Instrument
der parlamentarischen Initiative erlaubt es
beiden Räten, selbständig Gesetzes- oder Verfassungsänderungen unter Umgehung des
Vorverfahrens von Regierung und Verwaltung
auszuarbeiten.
Direkte Demokratie
Die Idee der schweizerischen Volksrechte stellt
Verfassungs- und wichtige Gesetzesentscheide
einer Volksabstimmung durch Referendum
anheim. Der Stimmbürgerschaft wird zudem
Gelegenheit gegeben, eigene Vorschläge durch
Volksinitiative zur Abstimmung zu bringen. Die
Volksrechte entwickelten sich auf der kantonalen
Ebene noch vor Gründung des Bundesstaates.
Sie entstanden aus einer basisdemokratischen
Bewegung, die dem Repräsentativsystem misstrauisch gegenüberstand und der es um die
Begrenzung parlamentarischer Macht ging.
Daraus ist ein Regierungssystem gewachsen,
in welchem die drei Organe der Regierung,
des Parlaments und der Stimmbürgerschaft
folgendermaßen zusammenarbeiten. Das Volk
trifft die zentralen Letztentscheide, das Parlament
die wichtigen und die Regierung jene von zweitrangiger Bedeutung.
Das theoretische Dilemma zwischen einer
unbefriedigenden Repräsentativität und der
unmöglichen Utopie direkter Demokratie
wird auf pragmatische Weise gelöst: Die direkte
Der Ständerat vertritt die Kantone auf der Ebene des Bundes.
Mitsprache des Volkes soll nicht in allen, aber
in den wichtigsten Fragen möglich sein. Damit
wird verständlich, warum die Gegenstände der
Volksabstimmungen nicht ad hoc bestimmt
werden, sondern von Verfassung und Gesetz
vorgeschrieben sind. Während auf Kantonsebene auch Finanz- und wichtige Verwaltungsentscheide dem Vorbehalt der Volksrechte
unterstehen, beschränken sich die Volksrechte
beim Bund auf Verfassungs- und Gesetzesentscheide sowie auf die Genehmigung wichtiger
internationaler Verträge. Dabei ist zu unterscheiden zwischen
Der Nationalrat in Bern ist das Parlament des Schweizer Volkes.
56
a. dem obligatorischen oder (Verfassungs-)
Referendum
Der obligatorischen Nachentscheidung durch
Volk und Stände (Kantone) unterliegen
alle Änderungen der Verfassung sowie die
Genehmigung von Staatsverträgen, welche den
Beitritt zu Organisationen für kollektive Sicherheit oder zu supranationalen Gemeinschaften
zum Gegenstand haben. Das obligatorische
Referendum verlangt die doppelte Zustimmung
von Volk und Kantonen. Für das sogenannte
Ständemehr zählt jeder Vollkanton mit einer und
jeder Halbkanton mit einer halben Stimme.
b. dem fakultativen oder (Gesetzes-)
Referendum
Gesetze, allgemeinverbindliche Bundesbeschlüsse sowie völkerrechtliche Verträge,
welche unbefristet und unkündbar sind, den
Beitritt zu einer internationalen Organisation
vorsehen oder eine multilaterale Rechtsvereinheitlichung herbeiführen, sind vom Parlament
mit einer Referendumsklausel zu versehen. Verlangen mindestens 50.000 Stimmbürger innerhalb von drei Monaten ein Referendum, so wird
der Parlamentsbeschluss der Volksabstimmung
unterstellt. Das Gesetz tritt nur dann in Kraft,
wenn die Mehrheit der Abstimmenden die Vorlage annimmt. Mit dem sogenannten Dringlichkeitsrecht kann das ordentliche Referendum
aufgeschoben werden. Derartige Beschlüsse
bedürfen der absoluten Mehrheit in beiden
Kammern. Das Dringlichkeitsrecht ist zeitlich
befristet. Beschlüsse ohne zureichende Verfassungsgrundlage müssen innerhalb Jahresfrist
von Volk und Kantonen genehmigt werden;
andernfalls treten sie außer Kraft.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
INSPIRATIONEN/INFORMATIONEN
Blick über den Gartenzaun
c. der Volksinitiative
Ein Quorum von mindestens 100.000 Bürgern
ist erforderlich, um beim Bund die Aufhebung, Änderung oder Neuschaffung eines
Verfassungsartikels zu verlangen. Kommt
eine Volksinitiative zustande, so wird sie vom
Bundesrat und vom Parlament beraten und den
Stimmbürgern mit einer meist ablehnenden
Empfehlung vorgelegt. Das Parlament kann
den Stimmbürgern gleichzeitig einen Gegenvorschlag unterbreiten. Zur Annahme einer
Verfassungsinitiative braucht es analog zum
Verfassungsreferendum eine doppelte Mehrheit
im Volk und den Kantonen. Werden in einer
Abstimmung sowohl die Volksinitiative wie
der Gegenvorschlag angenommen, entscheidet
die Stimmbürgerschaft über eine angefügte
Eventualfrage, welcher der beiden Vorschläge
angenommen ist.
Kantone und Gemeinden kennen vergleichbare
Volksrechte. In den Kantonen gibt es im Gegensatz zum Bund auch das Recht einer vom Volk
ausgehenden Gesetzesinitiative. Zudem kommt
das Referendum bei wichtigen Verwaltungsentscheidungen zum Zuge. In den Gemeinden
sind die Volksrechte unterschiedlich ausgebaut.
Generell spielen Referendum und Initiative in
den deutschschweizerischen Gemeinden eine
größere Rolle als in der Westschweiz.
Ausgeprägter Föderalismus
Der Föderalismus ist eines der wesentlichen
Strukturmerkmale der Schweizerischen Eidgenossenschaft – ideengeschichtlich, politisch
und kulturell. Ähnlich wie die Vereinigten
Staaten hat sich auch die Schweiz sukzessive
von einem lockeren Staatenbund zu einem
modernen Bundesstaat entwickelt. Die ehemals faktisch souveränen Kantone genießen
auch heute ausgeprägte Hoheitsrechte. Sie sind
über den Ständerat eng an der Politikfindung
auf Bundesebene beteiligt. Zudem können sie
nach dem Grundsatz der Subsidiarität innerhalb ihrer Möglichkeiten vollständig autark
agieren.
Jeder Kanton hat eine eigene Verfassung und
eigene legislative, exekutive und rechtsprechende
Gewalten. Alle Kantone besitzen ein Einkammerparlament. Dieses hat je nach Kanton 49 bis
180 Sitze. Die Regierungen bestehen entweder
aus fünf oder aus sieben Mitgliedern. In jedem
Kanton existiert ein zweistufiges Gerichtssystem,
dem eine Schlichtungsbehörde vorangestellt ist.
Alle staatlichen Bereiche, die nicht von der
schweizerischen Bundesverfassung dem Bund
zugewiesen bzw. von einem Bundesgesetz
geregelt werden, gehören in die Kompetenz
der Kantone. Dies sind etwa die kantonale
Staats- und Verwaltungsorganisation, Strafvollzug, Schulwesen, Sozialhilfe, Baurecht, Polizei,
Notariatswesen, kantonales und kommunales
Steuerrecht, zu großen Teilen auch Gesundheitswesen, Planungsrecht, Gerichtsverfassung,
lokale/regionale Verkehrsinfrastruktur, Regionalplanung und weiteres mehr. In vielen Bereichen
verfügen sowohl der Bund als auch die Kantone
über Kompetenzen. Oft kommt es vor, dass der
Bund allgemeine Regeln aufstellt, für deren Ausgestaltung die Kantone zuständig sind. Dies gilt
beispielsweise für die Raumplanung oder das
Forstrecht. Eine andere Möglichkeit ist, dass
Bund und Kantone verschiedene Aspekte einer
Aufgabe ordnen. Insbesondere im Kulturbereich
gibt es auch parallele Kompetenzen, bei denen
Bund, Kantone und Gemeinden selbständig Entscheidungen treffen können. Selbst dort, wo der
Bund das materielle Recht regelt, sind oft die
Kantone für die konkrete Umsetzung zuständig
und erlassen die nötigen Organisations- und
Verfahrensbestimmungen.
Kantone sind wie die deutschen Länder
derivative Völkerrechtssubjekte und können
innerhalb ihrer Kompetenzen Staatsverträge untereinander oder mit fremden Staaten
schließen. Die Kantone können auch ihren
Gemeinden eine gewisse Autonomie gewähren.
Das Ausmaß der Gemeindekompetenzen ist von
Kanton zu Kanton verschieden.
In zwei Kantonen – Glarus sowie Appenzell
Innerrhoden – bestimmt das Volk während einer
Versammlung aller Bürger – der sogenannten
Landsgemeinde – seine Kantonsvertreter und
entscheidet über Sachfragen. In allen anderen
Kantonen finden Wahlen und Abstimmungen
an der Urne statt.
Die Kantone können unabhängig direkte
Steuern erheben, stehen damit aber untereinander
in einer erheblichen Steuer- und Ansiedlungskonkurrenz. Neben dem Bund können auch die
Kantone einen eigenen Einkommensteuersatz
festsetzen. Die Gemeinden dürfen relativ zu den
kantonalen Steuersätzen ebenfalls an der Einkommensteuer partizipieren. Zusätzlich können
die Kantone eigene Sätze bei der Gewinn- und
Kapitalsteuer, der Erbschaft- und Schenkungsteuer, der Liegenschaftsteuer, der Grunderwerbsteuer, der Grundstückgewinnsteuer und der
Motorfahrzeugsteuer definieren.
Reform der föderativen
Ausgleichsmechanismen
Der Föderalismus als konstitutives Merkmal
des politischen Systems der Schweiz steht
unter dem Druck, von Zeit zu Zeit an die
gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen angepasst zu werden. Schon in den
1960er Jahren gab es Überlegungen zu einer
umfassenden Staats- und Verfassungsreform.
1998 wurde eine neue Bundesverfassung von
beiden Kammern des Parlamentes und 1999
auch vom Volk angenommen. Dies bildete die
Grundlage für eine weitreichende Föderalismusreform, die sich zwei Schwerpunkten widmete:
zum Ersten der Revision des Finanzausgleiches
und zum Zweiten der Entflechtung kantonaler
und bundesstaatlicher Zuständigkeiten und
Kompetenzen.
Äußerer Anlass der Reform war der in den
1990er Jahren weiter gestiegene finanzielle
Abstand zwischen den Kantonen, der durch
das bestehende System nicht mehr ausgeglichen
Der Kanton Zürich rund um die namensgebende größte Stadt der Schweiz ist mit Abstand der einwohnerreichste
Kanton der Schweiz.
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
57
Blick über den Gartenzaun
werden konnte. Der 2003 von der Vereinigten
Bundesversammlung und 2004 vom Volk
bestätigte „Neue Finanzausgleich und Aufgabenneuordnung zwischen Bund und Kantonen“
(NFA) trat 2008 in Kraft. Die kantonale Finanzautonomie sollte gestärkt sowie die unterschiedlichen Leistungsfähigkeiten und Steuerbelastungen
zwischen den Kantonen verringert werden.
Durch den Ressourcenausgleich, der sowohl
eine Umverteilung zwischen den Kantonen
wie auch eine Zuschusskomponente durch den
Bund enthielt, sollten die maßgebenden eigenen
Ressourcen jedes Kantons pro Einwohner
mindestens 85 Prozent des schweizweiten Durchschnitts erreichen. Nach Absatz 4 des Gesetzes
ermittelt der Bundesrat jährlich zusammen mit
den Kantonen das Ressourcenpotential der
Kantone pro Kopf. Über die Hälfte der Ausgleichsmittel muss vom Bund kommen. Der
Beitrag der ressourcenstarken Kantone beträgt
mindestens zwei Drittel und höchstens 80 Prozent der Leistungen des Bundes.
Der zweite Topf ist der Lastenausgleich für
topografisch oder demografisch benachteiligte
Kantone. In Deutschland entspricht dies in etwa
den Bundesergänzungszuweisungen. Im Unterschied zu Deutschland und Österreich gibt es
aber die Möglichkeit, die Kantone in bestimmten
Aufgabenbereichen zu Zusammenarbeit und
Lastenausgleich zu verpflichten. Auch kann die
Bundesversammlung interkantonale Rahmenvereinbarungen für allgemeinverbindlich erklären
oder einzelne Kantone zur Beteiligung an interkantonalen Verträgen verpflichten.
Einen dritten Ausgleichstopf bildet der
Härteausgleich, aus dem für eine Übergangszeit von maximal 28 Jahren die durch den NFA
schlechter gestellten Kantone eine Kompensation
erhalten können. Der Härteausgleich wird zu zwei
Dritteln vom Bund und zu einem Drittel von den
Kantonen gespeist. Insgesamt hatte der NFA bei
seinem Inkrafttreten ein Volumen von über vier
Milliarden Franken, wovon mehr als drei Viertel
auf den Ressourcenausgleich entfielen.
Der NFA umfasst aber nicht nur eine
Reorganisation des Finanzausgleiches, sondern
auch eine Entflechtung der Aufgaben. Von den
insgesamt 33 Kompetenzen, für die Bund und
Kantone bis 2007 gemeinsam zuständig waren,
wurden sieben alleinig dem Bund und zehn alleinig
den Kantonen zugesprochen. Damit halbierte sich
die Zahl der Verbundaufgaben von 33 auf 16.
Kommunale Selbstverwaltung
Die politischen Gemeinden bilden die dritte Stufe
im Verwaltungsaufbau der Schweiz. Sie gehen als
historisch gewachsene Gebilde bis ins Mittelalter
zurück. Auch die sich als Stadt bezeichnenden
Orte haben als Gebietskörperschaften die Rechtsform der politischen Gemeinde.
Die politische Gemeinde verfügt über die allgemeine Kompetenz in kommunalen Angelegenheiten und nimmt alle kommunalen Aufgaben
wahr, die durch übergeordnetes Recht nicht
zum Wirkungskreis eines anderen Gemeindetyps erklärt werden.
Der Umfang der Gemeindeautonomie wird
durch kantonales Recht nach dem Subsidiaritätsprinzip geregelt. Das Aufgabengebiet der
politischen Gemeinden umfasst somit alle Bereiche,
die nicht durch Bund und Kantone abschließend
geregelt sind. Die Kompetenzen unterscheiden sich
innerhalb der Schweiz beträchtlich. Allgemein lässt
Manches trägt in der Schweiz einen anderen Namen. Dies
ist ein Umstand, der vor allem aufgrund der gemeinsamen Sprache auffällt. Erwähnung finden muss natürlich
auch die deutlich längere Demokratietradition. Doch auf
den zweiten Blick sind sich die Bundesstaaten Schweiz
und Deutschland eher ähnlich als fremd – hinsichtlich ihrer politischen Strukturen, in Bezug
auf das Kompetenzgeflecht zwischen den verschiedenen Ebenen und auch bei den zentralen
Problemstellungen. Hier wie dort wird das Hohelied der kommunalen Selbstverwaltung zwar
gesungen, steht dieser politische Grundsatz in der Praxis jedoch vor einem erheblichen Finanzierungsvorbehalt. Hier wie dort passen sich die Kommunen in Zuschnitt und Aufgabenerledigung
kontinuierlich an demografische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen an. Hier wie
dort besteht eine mächtige Zwischenebene, die die Fähigkeit zur selbsttätigen Erneuerung erst
noch unter Beweis stellen muss. Trotz einer noch höheren strukturellen Komplexität ist es in der
Schweiz gelungen, die föderativen Strukturen zumindest im Ansatz zu optimieren. Daraus lässt
sich für die Bundesrepublik lernen, dass man nicht zwangsläufig vor einer größtenteils selbst geschaffenen Komplexität kapitulieren muss.
Falk Schäfer
58
sich sagen, dass der Grad der Autonomie von Ost
nach West abnimmt. Über den größten Spielraum
verfügen traditionell die Gemeinden im Kanton
Graubünden, der bis Mitte des 19. Jahrhunderts
eine Föderation aus unabhängigen Gemeinden
bildete.
Trotz des seitens der Kantone ausgeübten
Fusionsdrucks bestehen heute noch mehr als
2.200 politische Gemeinden.
Die größten Gemeinden sind die Großstädte Zürich, Genf, Basel, Bern, Lausanne und
Winterthur. St. Gallen, Luzern, Lugano und Biel
haben mehr als 50.000 Einwohner. Insgesamt
129 Gemeinden weisen mehr als 10.000 Einwohner auf und gelten damit statistisch als Stadt.
Etwa die Hälfte aller politischen Gemeinden
hat weniger als 1.000 Einwohner. Die durchschnittliche Einwohnerzahl der schweizerischen
Gemeinden liegt bei unter 3.000.
Rund ein Fünftel der Gemeinden hat ein
eigenes Parlament. Dies gilt vor allem für
die Städte. Die anderen vier Fünftel treffen
gemeindliche Entscheidungen in der Gemeindeversammlung, an der alle stimmberechtigten Einwohner teilnehmen können. Neben den vom
Bund und von den Kantonen übertragenen
Aufgaben – bspw. Einwohnerregister oder Zivilschutz – obliegen den Gemeinden auch eigene
Zuständigkeiten, etwa:
im Schul- und Sozialwesen
in der Energieversorgung
im Straßenbau
bei der Ortsplanung und
bei den Steuern
Der Wirkungskreis der schweizerischen
Gemeinden lässt sich mit dem der deutschen
Gemeinden vergleichen, allerdings verfügen
die Gemeinden in der Schweiz über eine
größere Eigenständigkeit hinsichtlich ihrer
Steuereinnahmen.
Als direkte Steuern werden erhoben:
Einkommen- und Vermögensteuer (hier in
Abhängigkeit vom kantonalen Steuersatz)
Gewinn- und Kapitalsteuer
Erbschaft- und Schenkungsteuer
Liegenschaftsteuer (nur in einigen Kantonen)
Grunderwerbsteuer
Grundstücksgewinnsteuer
Lotteriesteuer
Indirekte Steuern sind die Hundesteuer oder
die in einigen Kantonen noch erhobene Vergnügungssteuer.
n
i
infos
www.admin.ch/gov/de/start.html
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
Personalien / Veranstaltungen / Bücher
Personalien
Katherina Reiche zur Präsidentin
des Europäischen Dachverbandes
CEEP gewählt
Katherina Reiche, Hauptgeschäftsführerin des
Verbandes kommunaler Unternehmen (VKU)
und Präsidentin des Bundesverbands öffentliche
Dienstleistungen (bvöd) ist neue Präsidentin des
Europäischen Verbandes der öffentlichen Arbeitgeber
und Unternehmen (CEEP). Sie wurde am 8. Juni in
Brüssel einstimmig von der Generalversammlung in
dieses Ehrenamt zunächst bis Ende 2017 gewählt.
In ihrem Statement auf der Mitgliederversammlung
sagte Reiche, dass es „gerade jetzt, wo die Europäische
Union vor zahlreichen Herausforderungen steht, starke
öffentliche Dienstleister braucht. Sie sind der Garant
eines stabilen Wirtschaftsstandorts und genießen
das Vertrauen der Bürger. Zudem ermöglichen die
öffentlichen Dienste erst die globale Wettbewerbsfähigkeit der EU.“
Der öffentliche Dienstleistungssektor gehört zu den
größten Branchen in der EU. Dort arbeiten 30 Prozent
aller Beschäftigten, etwa 64 Millionen Arbeitnehmer,
Veranstaltungen
VKU-Stadtwerkekongress 2016
in Leipzig
„Stadtwerke als Motor für Wettbewerb und
Innovation“ – so lautet das Motto des VKUStadtwerkekongresses 2016, dem Branchentreff
der deutschen Energiewirtschaft. Die kommunalen
Energieversorger stehen für Wettbewerb im
europäischen und nationalen Energiebinnenmarkt.
Sie sind Sinnbild eines diversifizierten Marktes, treiben
die Energiewende in der Fläche voran und können vor
Ort mit den Bürgern direkt kommunizieren. Lokale
und regionale Lösungen bedürfen immer wieder
der Anpassung; insoweit mangelt es kommunalen
Energieversorgern auch nicht an Ideenreichtum,
Innovationskraft und neuen Geschäftsmodellen.
Katherina Reiche
und mehr als 500.000 Dienstleistungsanbieter versorgen rund 500 Millionen Europäer. Reiche: „Ich freue
mich sehr über die Wahl und das damit einhergehende
Vertrauen. Mein Ziel ist es, der europäischen Politik den
Mehrwert öffentlicher Arbeitgeber und Unternehmen
näher zu bringen. Wir sind ein Schlüsselelement der
europäischen Wirtschaft. Gemeinsam mit der Politik
Damit Stadtwerke den Energiebinnenmarkt
weiter vorantreiben können, brauchen sie verlässliche politische, rechtliche und wirtschaftliche
Rahmenbedingungen. Dies gilt insbesondere für
die Verteilnetze. Nur smarte Verteilnetze können
weiterhin die steigende Zahl der ErneuerbareEnergien-Anlagen integrieren und für Systemstabilität sorgen.
Gleichzeitig bietet die Digitalisierung völlig
neue Herausforderungen: Datenhoheit, Datensicherheit und Datenmanagement sind Schlagwörter, die im Zentrum dieser Entwicklung
stehen. In diesem Zusammenhang wächst auch
die Bedeutung von Kooperationen aller Art. Gerade
beim Thema Digitalisierung bieten sich den Stadtwerken nicht nur Chancen in der Optimierung
und Automatisierung ihrer Prozesse, sondern insbesondere in der Gestaltung ihre Dienstleistungsportfolios. Gerade sie haben die Möglichkeit, die
Modernisierung der Infrastruktur ihrer Städte
müssen wir daran arbeiten, die aktuellen, gravierenden
Herausforderungen bestmöglich zu bewältigen: Es
gibt zahlreiche Bürger, die den Mehrwert der EU in
Frage stellen, die Mitgliedstaaten sind uneins, wie sie
mit den Folgen der Flüchtlingswelle umgehen sollen,
und internationale Handelsabkommen werden mit
größter Skepsis und Misstrauen beäugt. Ich danke auch
meinem Vorgänger Hans-Joachim Reck, der sich mit
viel Energie immer wieder um die europäische Sache
verdient gemacht hat.“
Der Europäische Verband der öffentlichen
Arbeitgeber und Unternehmen (CEEP) ist der
europäische Interessenverband der Unternehmen und
Organisationen mit öffentlicher Beteiligung. Er vertritt zudem die Unternehmen und Organisationen, die
Dienstleistungen im Allgemeininteresse erbringen, und
das unabhängig von ihrer Trägerschaft. Als Verband der
öffentlichen Arbeitgeber ist der CEEP einer der drei
von der EU-Kommission anerkannten europäischen
Sozialpartner. Zu seinen Mitgliedern gehören Unternehmen und Organisationen aus den Sektoren Verkehr, Energie- und Wasserversorgung, Entsorgung,
Wohnungswirtschaft, Post und Telekommunikation
sowie weitere öffentliche Dienstleistungsbereiche.
i
infos
www.vku.de
wesentlich mitzugestalten und vor Ort mit
neuen Geschäftsmodellen für Bürger, Gewerbe
und Industrie in zukünftige Wachstumsmärkte
einzusteigen – kurz: sich als kommunale Stütze
und Treiber der Digitalisierung zu positionieren.
All diese Themen werden in Leipzig diskutiert –
sowohl national als auch in einem europäischen
Kontext – denn für 2016 werden umfangreiche
Vorlagen zum europäischen Strommarkt von der
Europäischen Kommission erwartet.
Auf dem VKU-Stadtwerkekongress am 13.
und 14. September 2016 in Leipzig werden Entscheider und Experten aus Politik und Wirtschaft
die aktuellen Themen auf den Punkt bringen. Dort
haben Sie die Möglichkeit, sich mit Ihren Kollegen
zu vernetzen und Lösungen für die anstehenden
Herausforderungen zu diskutieren.
i
infos
www.stadtwerkekongress.de
einrichtung deutschlandweit auf kommunale Themen
spezialisiert hat. Deren Leiterin, Marion Hecker-Voß,
zugleich auch Chefin der Landesbibliothek in der
Stiftung Zentral und Landesbibliothek, und Martha
Ganter, Fachlektorin für kommunalwissenschaftliche
Veröffentlichungen, haben für das Juni-Heft folgende
Auswahl getroffen.
Bücher
Kommunalwissenschaft
aktuell:
In dieser Rubrik stellen wir Ihnen seit Juni 2015 Publikationen zu kommunalen Themen vor, die neu auf
dem Markt sind, und die wir Ihnen aus inhaltlich-
INSPIRATIONEN/INFORMATIONEN
thematischen Gründen ganz besonders an Herz legen wollen. „Aufgespürt“ werden diese Titel von der
Senatsbibliothek Berlin, die sich als einzige Spezial-
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
i
infos
Senatsbibliothek Berlin in der Stiftung
Zentral- und Landesbibliothek Berlin,
Breite Straße 30-36, 10178 Berlin
www.senatsbibliothek.de
59
Personalien / Veranstaltungen / Bücher
Cronauge, Ulrich; Pieck, Stefanie:
tung, die sich aus dem demografischen Wandel, den
Auswirkungen der Finanzkrise, der Energiewende und
dem geplanten TTIP-Abkommen ergeben. (Verlag)
Geisz, Johannes:
ISBN 978-3-503-13658-2, Senatsbibliothek: R 641/2
Bolsenkötter, Heinz:
Berlin: Wissenschaftlicher Verlag Berlin, 2015.
Kommunale Unternehmen und damit die Ausgliederung kommunaler Aufgaben aus der „Rathaus”Verwaltung haben in der kommunalen Praxis an
Bedeutung gewonnen. Diese sogenannte mittelbare
Kommunalverwaltung mit ihren vielfältigen Aufgabenfeldern steht ständig im Spannungsfeld von effizienter Aufgabenerfüllung und notwendiger Steuerung
und Kontrolle durch die Trägerkommune. Der Autor
schreibt aus kommunalem Blickwinkel, unter dem
die Vor- und Nachteile der jeweiligen Rechtsform
eines Unternehmens verdeutlicht werden. Entstanden
ist ein Handbuch, das sich an Entscheidungsträger in
den Gemeindevertretungen und Gemeindeverwaltungen richtet, denen es als Entscheidungshilfe dient und
Möglichkeiten und Grenzen der Ausgliederung kommunaler Aufgaben zeigt. Die erweiterte Neuauflage
bezieht politische und gesellschaftliche Entwicklungen
mit ein. Der Autor erläutert auch vertiefend die aktuellen Herausforderungen der kommunalen Selbstverwal-
Öffentlich-Rechtliche
Unternehmen der Gemeinden:
länderübergreifende Darstellung.
ISBN 978-3-86573-876-9, Senatsbibliothek: R 641/1
Kommunale Unternehmen.
Berlin: Erich Schmidt Verlag, 2016.
Stuttgart: Kohlhammer, 2015.
ISBN 978-3-17-019872-2, Senatsbibliothek: R 641/3
Dieses länderübergreifende Handbuch erläutert sowohl die einschlägigen kommunalrechtlichen Vorschriften als auch relevantes anderes Recht, insbesondere Handels- und Steuerrecht. Den Hauptteil
des Buches bildet – auch in der vorliegenden Auflage
– die Kommentierung der Vorschriften über Wirtschaftsführung und Rechnungswesen einschließlich
Bilanzierung und Abschlussprüfung. Die aktuellen
Entwicklungen in den Ländern seit der Vorauflage
werden anschaulich dargestellt. Ausführlich behandelt
wird außerdem die Anstalt des öffentlichen Rechts
(Kommunalunternehmen) mit ihren Gemeinsamkeiten und Unterschieden zum Eigenbetrieb. (Verlag)
Unsere Gastrezension:
Von Prof. Dr. Thomas Edeling
Das kommunale
Nagelstudio. Die populärsten
Irrtümer zu Stadtwerke & Co.
Nun hat der Herausgeber dieser Zeitschrift
wieder ein Buch geschrieben. Nach seinem
2014 beim renommierten Verlag SpringerGabler erschienenen ersten Standardwerk
„Kommunalwirtschaft. Eine gesellschaftspolitische und volkswirtschaftliche Analyse“ folgt
nun das im gleichen Hause verlegte Buch
„Das kommunale Nagelstudio. Die populärsten Irrtümer zu Stadtwerke & Co.“. Mit diesem
Titel startete Springer eine neue Sachbuchreihe. Viel Ehre für eine Schrift zum
Thema Kommunalwirtschaft, das im Regelfall eher ein Nischendasein führt.
Dass der Autor, Michael Schäfer (Co-Autor ist Sven-Joachim Otto) diese Edition in seiner Zeitschrift nicht vorstellen kann, liegt auf der Hand. Andererseits
wäre es töricht, es in UNTERNEHMERIN KOMMUNE mit ihrer fachlich wahrlich „passenden“ Leserschaft quasi unter den Tisch fallen zu lassen. Bücher
werden ja doch bitte schön – jetzt folgt eine Binsenwahrheit – geschrieben,
um gelesen zu werden!!! Wie raus aus diesem kleinen Dilemma? Die „Prob-
Eine Lanze für die
Kommunalwirtschaft!
Die kommunale Wirtschaft in Deutschland ist seit
ihrem Entstehen im 19. Jahrhundert umstritten
und in ihrer Existenzberechtigung neben der
Privatwirtschaft ideologisch und politisch
umkämpft. Öffentliches Eigentum generell wie
kommunales Eigentum im besonderen werden
60
Die Grenzen der Privatisierung
kommunaler öffentlicher Einrichtungen.
Die Kommunen der Bundesrepublik Deutschland
stellen ihren Einwohnern verschiedene öffentliche
Einrichtungen zur Nutzung bereit. Die vorliegende Arbeit untersucht, ob und wie diese im Rahmen kommunaler Daseinsvorsorge vorgehaltenen
kommunalen öffentlichen Einrichtungen nach
der geltenden Rechtslage privatisiert werden dürfen, welche Vorgaben bei der Umsetzung der verschiedenen Privatisierungsarten zu beachten sind
und welche kommunalen Pflichten in der Privatisierungsfolgephase fortbestehen. Exemplarisch
werden einzelne Einrichtungen aus dem Bereich
der freiwilligen Selbstverwaltungsaufgaben sowie
der kommunalen Pflichtaufgaben einer näheren
Betrachtung unterzogen. So untersucht der Autor die Privatisierungsmöglichkeiten kommunaler
Volksfeste und Märkte, der Wasserversorgung sowie der Abwasserbeseitigung. (Verlag)
lemlösung“ ist eine Gastrezension. Dass ich Prof. Dr. Thomas Edeling darum
gebeten habe, liegt daran, dass er als Wissenschaftler über die anerkannte
Sachkunde verfügt. Mindestens ebenso wichtig war mir bei der Auswahl sein
Ruf als kritischer und unbestechlicher Geist. Ich wusste, er wird das aufschreiben, was er denkt. Eine Jubelbotschaft konnte ich also nicht per se erwarten.
Insofern war meine Neugier auf das Fazit aus seiner Feder ebenso groß wie
der Respekt vor notwendigen kritischen Anmerkungen.
Üblicherweise stellen wir unsere Gastrezensenten den Lesern kurz vor: Thomas Edeling wurde 1948 in Halle/Saale geboren. Nach kaufmännischer
Lehre im Maschinenbauhandel, dem Studium von Wirtschaftswissenschaften und Soziologie und einer Assistenzzeit an der Humboldt-Universität zu
Berlin wurde Edeling 1993 zum Professor für Organisations- und Verwaltungssoziologie an der Universität Potsdam berufen. Einschlägige Publikationen aus seiner Feder zur Kommunalwirtschaft sind unter anderem:
Öffentliche Unternehmen zwischen Privatwirtschaft und öffentlicher Verwaltung (zusammen mit Stölting und Wagner), Wiesbaden 2004; Brüchige
Grenzen: Delegitimierung kommunalen Wirtschaftens durch Angleichung
an die Privatwirtschaft? In: Haug/Rosenfeld (Hg.): Neue Grenzen städtischer Wirtschaftstätigkeit, Baden-Baden 2009. Kommunalwirtschaftlich
ausgewiesen ist er auch durch die Studie „Kommunalwirtschaft im gesamtwirtschaftlichen Kontext“, die er 2006 im Rahmen eines Lehrforschungsprojekts am Kommunalwissenschaftlichen Institut der Universität Potsdam
als einer der wissenschaftlichen Leiter verantwortete. Thomas Edeling ist
nach seiner Emeritierung im Jahr 2013 weiter wissenschaftlich engagiert.
mit „organisierter Verantwortungslosigkeit“
gleichgesetzt, die auf wirtschaftliche Anreize des
Marktes nicht reagiere und Risiken und Kosten
wirtschaftlicher Entscheidungen kollektiv so
umverteile, dass weder die Aussicht auf Gewinn
noch die Furcht vor Verlusten öffentliche Eigentümer zu rationalem Handeln veranlasse.
Aus einer solchen von der Figur des „homo
oeconomicus“ bestimmten Perspektive scheinen
sich Effizienz und Effektivität, Unternehmertum
und Innovation für öffentliche wie kommunale
Betriebe per se auszuschließen, während Trägheit und Schlendrian quasi von Natur zum
Erscheinungsbild dieser Betriebe gehörten. Genau
diesem Zerrbild kommunaler Unternehmen, das
bis heute viele öffentliche Diskurse prägt, ruft
Michael Schäfer und Sven-Joachim Otto auf
den Plan, in einer zugegebenermaßen „etwas
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
Personalien / Veranstaltungen / Bücher
parteiischen Auseinandersetzung“ eine Lanze
für die kommunale Wirtschaft zu brechen und
auf der Grundlage langjähriger und umfassender
Kenntnis des Feldes gegen die „populären
Irrtümer“ über die kommunale Wirtschaft zu
Felde zu ziehen.
Das bei Springer in diesem Jahr herausgekommene Buch von Schäfer und Otto gliedert
sich in fünf Kapitel, von denen die ersten drei in
den Gegenstand der Untersuchung einführen (S.
1 – 47), indem sie „Kommunalwirtschaft“ als die
„Gesamtheit der wirtschaftlichen Betätigung der
Kommunen im Rahmen von Strukturen, die vollständig oder mehrheitlich in kommunalem Eigentum sind“ (S. 5), vom Umfang her definieren
und inhaltlich durch das für kommunale Betriebe
handlungsleitende Prinzip „Nutzenstiftung vor
Gewinnmaximierung“ (S. 15) von der Privatwirtschaft abgrenzen.
In privater Rechtsform auftretende Unternehmen zählen damit zur Kommunalwirtschaft,
sofern sie sich mehrheitlich im Eigentum von
Gemeinden, Städten oder Landkreisen befinden
und – das bleibt natürlich immer die Krux – sich
in der Art ihres Wirtschaftens von Privatunternehmen unterscheiden. Den Kern des Buches
bildet das 4. Kapitel (S. 49 – 181), das landläufige
Irrtümer, Unterstellungen und Fehldarstellungen
kommunalen Wirtschaftens aufspießt, um sie
zunächst argumentativ zu zerlegen und dann
im abschließenden 5. Kapitel (S. 183 – 233) zu
widerlegen.
Da ist zunächst das kommunale Nagelstudio,
das dem Buch zum Titel verholfen hat. Es steht
– gleich Weinbergen oder Stadtgärtnereien – für
die angeblich immense Zahl kommunaler Unternehmen, die der mittelständischen Wirtschaft den
Atem nehmen und Privatbetriebe verdrängen.
Direkt beleidigt fühlen könnten sich
kommunale Unternehmen, wenn sie als
„Beamtenladen“ diffamiert und bar jeglicher Unternehmungslust hingestellt werden.
Abgesehen davon, dass Beamte besser sind als
ihr Ruf, fragen Schäfer und Otto zurecht, wie
auf diese Weise geschmähte Stadtwerke seit
zwanzig Jahren in offenen Märkten unter Wettbewerbsbedingungen erfolgreich – und ohne Subventionen – überlebt haben und als Auftraggeber
für die Privatwirtschaft lokal eine große Rolle
spielen, und das erst recht in strukturschwachen
Regionen.
Ein nicht minder beliebtes, aber trotzdem
falsches Bild zeigt kommunale Unternehmen
als „Versorgungsstation für verkrachte Politiker“.
Verkracht allerdings sind solche Leute durchaus nicht, vielmehr bilden sie – politisch
erfahren und mit Führungsqualitäten ausgestattet – die nötige Scharnierstelle zwischen
Kommunalpolitik und Kommunalwirtschaft,
über die politische Steuerung ausgeübt wird.
Personalpolitik dient hier (als „Herrschaftspatronage“ im Verständnis Theodor Eschenburgs) der für alle kommunalen Unternehmen
unerlässlichen Sicherung politischen Einflusses auf das wirtschaftliche Handeln des
Managements im Sinne politisch definierter
öffentlicher Interessen. „Gewinnmaximierung
vor Nutzenstiftung“ bleibt in Markt und Wettbewerb immer eine Versuchung!
Die Liste der „populären Irrtümer“ über
die kommunale Wirtschaft ist länger als bisher
angesprochen und endet auch bei Schäfer und
Otto an dieser Stelle noch längst nicht. Erwähnt
werden soll aber immerhin noch ein erster Versuch, auf Grund einer empirischen Erhebung
im Rahmen einer Masterthesis an der Hochschule für nachhaltige Entwicklung (betreut
von Michael Schäfer, der dort eine Professur
für Kommunalwirtschaft innehat) dem Vorwurf entgegenzutreten, Korruptionsfälle seien
in der Kommunalwirtschaft häufiger als in der
Privatwirtschaft.
Die umfassenden empirischen Daten zur
relativen Häufigkeit von diesbezüglichen
Ermittlungsverfahren in der öffentlichen und
privaten Wirtschaft sprechen eine andere Sprache
und entlasten die kommunale Wirtschaft vom
Verdacht, anfälliger für Korruption zu sein als
die Privatwirtschaft. Ansatz und Methode der
Erhebung von Korruptionsfällen versprechen
mehr Licht in diesem Dunkelfeld und sollten zur
Fortsetzung und Vertiefung ermutigen.
Interessant schließlich ist auch die Auseinandersetzung, die die Autoren nicht nur mit
den Kritikern kommunalen Wirtschaftens führen,
sondern auch mit manchen ihrer gutwilligen
und zuweilen naiven Befürworter: Dürfen
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
INSPIRATIONEN/INFORMATIONEN
kommunale Unternehmen in das Gewand einer
privaten Rechtsform schlüpfen, und dürfen sie
überhaupt Gewinne machen? Schäfer und Otto
betonen zurecht, dass kein Unternehmen ohne
Gewinne investieren und überleben könnte. Das
gilt auch für kommunale Unternehmen.
Gewinne sind also nichts Anrüchiges, sofern
sie dazu beitragen, diese Unternehmen als
Instrumente zur Verwirklichung öffentlicher
Interessen zu erhalten und zu stärken. Über die
Übernahme einer privaten Rechtsform ließe sich
länger diskutieren. Realistisch muss man sehen,
dass die Mehrzahl der kommunalen Unternehmen heute in der Rechtsform der GmbH
existiert. Eben dies gibt ihnen größeren Handlungsspielraum und beschränkt die Haftung
der Kommunen, wie die Autoren erläutern.
Unbestritten ist aber auf der anderen Seite auch,
dass die Übernahme einer privaten Rechtsform,
erst recht wenn sie mit Teilprivatisierungen einhergeht, zu politischen Steuerungsverlusten führt.
Wer am Ende der Lektüre dieser flüssig
geschriebenen Streitschrift das Buch zuklappt, hat
sich nicht nur einen Lesegenuss gegönnt, sondern
ist auch besser gewappnet, Irrtümern über die
kommunale Wirtschaft entgegenzutreten. Das
Buch immer mal wieder aufzuschlagen, ist
dennoch nicht verkehrt, denn Vorurteile und
Legenden leben lange und tauchen in veränderter
Gestalt immer wieder auf. Angesichts von Zeitgeist und Ideologien, wechselnden Theoriewellen,
Organisationsmythen und Managementmoden,
mit deren Brille wir die Welt beobachten, wird
die Vorstellung irrig, nur glauben zu wollen, was
man sieht.
Wäre es so einfach, hätten sich all die Irrtümer
auch und gerade über die kommunale Wirtschaft
längst erledigen müssen. „Ich werde es sehen,
wenn ich es glaube“, provoziert der amerikanische
Organisationsforscher Karl Weick, und macht so
darauf aufmerksam, wie unsere Vorstellungen von
Vorurteilen bestimmt werden.
Wer glaubt, dass ein kommunales Unternehmen ein „Beamtenladen“ oder „politischer
Zirkus“ ist, wird diesen Laden oder Zirkus auch
überall sehen. Den Glauben aber an Trugbilder
dieser Art gründlich und hoffentlich andauernd
erschüttert zu haben, ist das Verdienst des
Buches von Schäfer und Otto. Wer es gelesen
hat, sieht besser!
Michael Schäfer /
Sven-Joachim Otto
infos Das Kommunale Nagelstudio.
Die populärsten Irrtümer zu
Stadtwerke & Co.
Springer-Verlag, Heidelberg
1. Auflage 2016
ISBN 978-3658098711
www.springer.com
i
61
Personalien / Veranstaltungen / Bücher
Abweichend von der sonstigen strengen
Struktur dieses Rezensionsteils möchte ich an
dieser Stelle eine kurze Vorbemerkung machen. Ich gebe zu, dass ich die Bücher, die ich
nachfolgend kurz vorstelle, alle (noch) nicht
so gründlich zur Kenntnis genommen habe,
dass eine wirklich fundierte Rezension verantwortbar wäre. Das liegt einfach daran, dass
ich mich mit meinem Pensum vor meinem
Urlaub – wie seit vielen Jahren bin ich auch
2016 in den ersten beiden Juniwochen an
der dänischen Nordseeküste in Jütland – hoffnungslos übernommen habe. Dass die Zeit
nicht reichte, liegt vor allem an ein paar persönlichen Umständen, auf die ich hier nicht
eingehen will. Wer mich kennt, weiß, dass ich
Preuße durch und durch bin, und weiß auch,
es müssen schon besondere Dinge sein, die
dazu führen, dass ich einmal nicht ganz so
gründlich bin. Im nunmehr 42. Arbeitsjahr darf
ich bitte auch mal „schwächeln“. Es wird also
auch im unmittelbaren Wortsinn „nur“ eine
Vorstellung.
Deshalb verzichte ich auch auf eine Bewertung, sondern urteile für alle Bücher
summarisch:
- Sehr lesenswert (alle)
- Originelle Gedanken und Informationen, gottlob nicht mit der „political
correctness“-Schere im Kopf zu Papier
gebracht (Sarrazin, Wagenknecht, Gysi/
Schorlemmer)
- Brillante Populärwissenschaft (Dawkins)
Also haben Sie bitte Nachsicht. Dass manche
Kollegen eh nur die Klappentexte abschreiben, ist natürlich kein Maßstab. Mir ging es
nur darum, Ihnen diese ganz druckfrischen
Werke (außer Dawkins) zeitnah ans Herz zu
legen. Der Weg in die Buchhandlung lohnt
sich.
Das, was Sie gerade lasen, war der Stand der
Dinge am 26. Mai, dem Tag unserer Abreise
ins Dänenland. Eine Tasche mit Arbeit – Dinge, die einfach noch erledigt werden müssen,
weil Termine drücken, und solche, die mir
Spaß machen – ist im Urlaub immer dabei.
Die Termin“-fälle“ waren schneller abgearbeitet als vermutet. Also war Lesezeit angesagt.
Start mit Belletristik: „Der Überläufer“ von
Siegfried Lenz.
Dieser Anfang der 50er Jahre entstandene
Roman wurde als Manuskript erst im Nachlass
des großartigen, 2014 verstorbenen Erzählers
gefunden. Ein wunderbares, ein aufrüttelndes
Buch. Kaum vorstellbar, dass ein 25jähriger
das so zu Papier bringen konnte. Vermutlich
nur dadurch erklärbar, dass Lenz wie andere Literaten seiner Generation so durch das
62
unvorstellbare Grausen des Kriegs geprägt
wurden, dass sie quasi noch im Jünglingsalter
diese unglaublich Reife hatten.
Kaum vorstellbar auch, dass Hoffmann und
Campe, diesem Verlag hielt Lenz bis an sein
Lebensende die Treue, das Manuskript verwarf – Lenz akzeptierte das, und so landete es
im Nachlass – und zwar mit der Begründung,
dass man einen solchen Text im Jahr 1946
hätte eventuell noch vertreten können. Nicht
aber in der Bundesrepublik des Jahres 1952.
Zu dieser Zeit sei ein Wehrmachtssoldat, der
zur Roten Armee übergelaufen war, als positiver Held eines Romans einer Mehrheit der
Menschen nicht mehr zu vermitteln. Das war
der „neue Zeitgeist“ der Restauration, und das
Lesen darüber ließ mich ähnlich erschauern
wie die Lektüre von Ursula Krechels „Landgericht“, das ich im Dezemberheft 2012 vorgestellt habe.
Die damalige Empfehlung will ich hier ausdrücklich wiederholen: die alte Bundesrepublik hat mindestens genauso viele Gründe,
mit Scham auf ihre Nachkriegsgeschichte, in
der Hundertausende Nazis weißgewaschen in
die Schulzimmer und Gerichtssäle als Lehrer
und Richter zurückkehrten und fröhlich weitermachten, zu schauen, wie der Osten auf die
demokratiefeindliche Pervertierung der per se
doch guten Idee, die Menschheit von Ausbeutung zu befreien.
Nachdem Lenz gelesen war, schaute ich auf
den verbliebenen Stapel (nach wie vor schleppe ich die Bücher kiloweise ins Dänenreich
und verschmähe die neumodischen Lesegeräte), und es regte sich eine Mischung aus
Preußentum – siehe oben – und Neugier. In
dieser Melange war Sarrazin der Nächste, und
deshalb bekommen Sie zu einem der in dieser Ausgabe „nur“ vorgestellten Bücher eine
richtige Rezension.
Wunschdenken
Werden wir gut regiert? Oder bleibt die Politik
hinter ihren Möglichkeiten zurück? Und wenn
das so ist – woran liegt das? Wie kommen
politische Fehlentwicklungen zustande
und wie kann man sie vermeiden? Thilo
Sarrazin beschreibt die Bedingungen und
Möglichkeiten guten Regierens und untersucht typische Formen politischen Versagens.
Daraus generiert er die fünf Erbsünden der
Politik: Unwissenheit, Anmaßung, Bedenkenlosigkeit, Opportunismus und Betrug, Selbstbetrug. Diese Typologie ist schon auf dieser
abstrakten Ebene schockierend. Sarrazin hat
sie aber auch konkret für Politikfelder belegt,
die für unser Gemeinwesen existentielle
Dimensionen haben. Ob Flüchtlinge oder
die Energiewende, um dafür nur zwei Beispiele zu nennen. Überall treffen wir auf
diese Entscheidungen, die als Sündenfälle
gelten müssen. Thilo Sarrazin hat Recht: Wir
werden überwiegend schlecht regiert. Es ist
nicht tröstlich, dass sich Deutschland dabei
in „guter Gesellschaft“ befindet. Im Gegenteil. Es muss uns noch mehr Angst machen.
Wie wir aus dieser bestandsgefährdenden Lage
herauskommen, habe ich bei Sarrazin nicht
gefunden. Aber vielleicht gibt’s ja gar keine
Lösung?!
Diesen knappen Vorstellungstext hatte ich
noch in Berlin geschrieben. Nachdem ich nunmehr die 570 Seiten komplett gelesen habe, also
sogar den umfangreichen Anhang, kann ich
diese Zusammenfassung mit gutem Gewissen
stehen lassen. Es bleibt dabei: Sarrazin hat
wieder ein Buch geschrieben, das ich für gut,
wichtig, mithin also für lesenswert halte.
Allein die Tatsache, dass meine intellektuelle
und emotionale Lage bei der Lektüre die Skala
von großer Begeisterung und Zustimmung
über kritische Skepsis zu den Thesen und
Argumenten Sarrazins bis hin zu Wut über
die Ignoranz großer Teile des uns regierenden
politischen Personals umfasste, dürfen Sie als
rundum positives Votum werten. Welches
Sachbuch auf den Bestsellerlisten mit so welterschütternden Themen wie unseren Gedärmen
oder den Befindlichkeiten unserer Bäume hat
ein solches Potenzial?
Was im Einzelnen lohnt es, den neuen
Sarrazin zu lesen? Erstens ist der inhaltlich-methodische Ansatz, Politikversagen an
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
Personalien / Veranstaltungen / Bücher
Gegenständen zu zeigen, die für den Bestand
unseres deutschen Heimat- und Vaterlandes
eine existenzielle Dimension haben. Der Autor
hat folgende Felder ausgewählt:
(1) Der souveräne Staat und seine Grenzen
(2) Staat und Währung
(3) Wohlstand mit den Unterkapiteln Bildung
sowie Demografie und Einwanderung
(4) Gerechtigkeit
(5) Klima und Umwelt
Wer die Vita Sarrazins kennt und zudem
seine bisherigen Bücher gelesen hat, der weiß,
dass er sich zu den Themen Staat, Währung,
Finanzen, Migration und Bildung bestens auskennt. Es ist also nur folgerichtig, dass unter
den gerade genannten fünf Feldern die Punkte
1 – 3 herausragen. Dort brilliert Sarrazin
mit Argumentationskraft, die sich auf eine
sorgfältige und durch viele seriöse Quellen
gestützte Analyse stützt. Wer die Passagen zur
deutschen Flüchtlingspolitik liest, kann sich
beim besten Willen nicht vorstellen, dass die in
Verantwortung stehenden deutschen Politiker
dazu ernsthafte Gegenargumente vorbringen
könnten. Sie tun’s ja auch nicht! Weil – so
die These von Sarrazin – fünf „Erbsünden“
prägend für die deutsche Politik sind:
(1) Unwissenheit – Täuschungen über die
Wirklichkeit
(2) Anmaßung – Täuschungen über die
eigenen Handlungsmöglichkeiten
(3) Bedenkenlosigkeit – Kollateralschaden
politischen Handelns
(4) Egoismus und Betrug
(5) Selbstbetrug
Diese von Sarrazin strukturierte Typologie
(S. 194f ) wendet er auf die gerade genannten
Politikfelder an. Nach einer jeweils umfassenden
Sachdarstellung endet der Autor, dass er für
diese Bereiche konkret zeigt, dass sein Erbsündenmodell auch praktisch funktioniert.
Das ist sehr überzeugend bei den Themen, bei
denen sich Sarrazin bis ins Detail auskennt.
Das ist auch noch plausibel bei Überschriften
wie Gerechtigkeit, Klima und Umwelt. Dass
Sarrazin diese Segmente ausgewählt hat,
leuchtet mir ein. Was mir nicht schlüssig ist,
dass sich der bekanntlich sehr fleißige und
bestens strukturierte Autor hier nicht gründlicher eingearbeitet hat (das ist eine Zeitfrage,
und ob man die hat oder sich nimmt, das ist
schon eine komplizierte Entscheidung, wenn
Autor und Verlag auf der Erfolgsspur sind und
verständlicherweise diesen guten Lauf nicht
durch allzu lange Pausen unterbrechen wollen).
Wenn der Rezensent auch der Lektor gewesen
wäre, hätte er ersatzweise die Themen Rentenpolitik und Staatsfinanzen empfohlen. Da steht
Sarrazin im Stoff, existentiell sind sie alle Male,
und bezogen auf die Intention, Politikversagen
nachzuweisen wäre die Analyse profunder und
weniger angreifbar gewesen.
Apropos Intention: dazu passt der Buchtitel
– siehe die von Sarrazin identifizierten fünf Erbsünden – überhaupt nicht. Wunschdenken ist
ja per se etwas allzu Menschliches und grundsätzlich auch nichts Unanständiges. Sarrazin
prangert aber den Vorsatz an, und die Bereitschaft
inklusive dem Vollzug zu Lüge und Täuschung.
Was ich am Titel kritisiere, das führt hin
zu einer grundsätzlich kritischen Anmerkung:
Anders als bei „Deutschland schafft sich ab“
und „Europa braucht den Euro nicht“, wo
Sarrazin einen zentralen Gegenstand definiert
und ihn ebenso komplex und hervorragend
strukturiert bearbeitet, habe ich bei „Wunschdenken“ das Gefühl, der Autor sei seltsam
unentschlossen, was die durchgängige Hauptaussage dieses Buches betrifft. Das beginnt
schon bei den drei Eingangskapiteln, mit denen
der Autor in einer Mischung aus Geschichtsund Politikwissenschaft sowie Philosophie zum
Kernthema, dem Politikversagen hinleiten will.
Natürlich ist es richtig, heutige Politik aus der
historischen Perspektive zu betrachten. Sarrazin
zeigt auf diesen ersten 166 Seiten, dass das
aktuelle Dilemma vieltausendjährige Wurzeln
hat, und bestätigt einmal mehr, dass sich
Geschichte zwar nicht einfach wiederholt, aber
doch immer wieder bestimmten elementaren
Regeln und Abläufen folgt. Ja, das Bedürfnis
nach Gerechtigkeit, nach Transparenz, nach
Demokratie ist so alt wie die Menschheit.
Doch selbst in utopischen Phantasien gelingt
dies nicht einmal ansatzweise, erinnert sich der
Rezensent, wenn er Sarrazins knappes Fazit zum
Land „Utopia“ von Thomas Morus liest.
Aber dort und erst recht bei dem Versuch,
den philosophisch-ökonomischen Welterklärungsversuch von Karl Marx auf knapp
zwei Buchseiten auszubreiten, muss Sarrazin
scheitern. In dieser Reduktion bleibt von
Hegel als genialem „Erfinder“ des dialektischen
Prinzips nicht mal ein Torso übrig. Ganz sicher
ist Thilo Sarrazin ein herausragender Volkswirt,
aber gerade deshalb sollte er in aller Bescheidenheit würdigen, dass Marx der bis heute beste
und theoretisch fundierteste Erklärer jenes
Wirtschaftssystems ist, das wir – wenn es
denn gepaart ist mit einer wehrhaften und
tatsächlich vom Volke ausgehenden Demokratie – mit einiger Berechtigung für das Beste
halten, was wir bis dato auf unserem Erdenrund als gesellschaftliche Existenzform hatten.
Und natürlich – hier irrt Sarrazin – hat Marx
seine gesellschaftliche Entwicklungstheorie in
Korrelation zum Menschen entwickelt, und
ebenso können wir bei ihm nachlesen, dass
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
INSPIRATIONEN/INFORMATIONEN
Demokratie im Grundsatz den Status eines
zwingenden Postulats hat.
Heftiger Widerspruch auch zur Aussage, dass
„Utopien gefährlich sind“ (S. 73): Wie arm,
lieber Thilo Sarrazin, wäre unsere Welt, und auf
welch noch viel desaströserem Niveau stünde
sie heute, wenn es diese Menschen nicht geben
würde, die sich nicht nur eine bessere Erde
wünschen, sondern auch darüber nachdenken,
wie sie aussehen könnte, und auf welchen
Wegen man sie erreicht!!! Und damit meine
ich ausdrücklich nicht jene, die uns als deren
Karikatur, als sogenannte Gutmenschen daher
kommen, indem sie solitäres individuelles Tun
von Minoritäten als Universalformel zur Lösung
der Menschheitsprobleme erheben.
Statt der bruchstückhaften und damit auch
unzulässig groben und oft auch einseitigen Darstellung der politischen Menschheitsgeschichte
hätte Sarrazin besser damit getan, sich noch
viel intensiver auf die Linien jener Denker
zu konzentrieren, aus denen er seine eigenen
Positionen ableitet: Immanuel Kant und Max
Weber. Bei Kant nimmt er in erster Linie den
kategorischen Imperativ als Maxime, bei Weber
ist es die Unterscheidung zwischen Gesinnungsund Verantwortungsphilosophie. Beide Kernaussagen begegnen uns im Buch immer wieder.
Sarrazin wendet sie einleuchtend an, wenn er
Vorschläge für ein modernes Gesetzes- und
Regelwerk von Kant herleitet oder Absurditäten der Flüchtlingspolitik unter Hinweis auf
Weber beleuchtet. Aus einer nationalen Verantwortungsethik leitet der Autor zu Recht
ab, dass wir selbstverständlich die Frage stellen
müssen, wieviele Flüchtlinge wir tatsächlich
integrieren können. Und selbstverständlich
sind hier die vorwiegend fehlgeschlagenen Eingliederungsbemühungen der Vergangenheit zu
berücksichtigen.
Ebenso richtig ist es, in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass die in Deutschland gewachsenen moralischen, ethischen,
kulturellen, politischen und juristischen Regeln
und Strukturen das Primat haben. Logische
Konsequenz aus dieser Prämisse ist dann
wiederum die Frage, ab welcher Dimension
von Ein- und Zuwanderung dieser Wertekanon dahingehend gefährdet ist, dass er einfach nicht zur Kenntnis genommen wird, und
im zweiten Schritt ein anderer Kanon mit der
Überzeugungskraft einer großen Zahl einfach dagegen gesetzt wird? Diese Fragen darf
man nicht nur stellen, man muss es. Sarrazins
leidenschaftliches Plädoyer für unsere offene
Gesellschaft, der ich mich ebenso leidenschaftlich anschließe, schließt doch ausdrücklich ein,
dass wir solche Prozesse im Diskurs, und mit
Blick auf das staatliche Gewaltmonopol auch
nur recht ohnmächtig steuern können. Gottlob
63
Personalien / Veranstaltungen / Bücher
ist es doch für uns – im Gegensatz zu etlichen
arabischen und afrikanischen Despotien –
völlig unvorstellbar, dass die Bundeswehr
einen Migrationskiez mit automatischen Waffen
stürmen könnte, weil die dort mehrheitlich
Lebenden der Meinung sind, dass fortan ihre
Regeln gelten……
Ich stelle gerade fest, dass ich die vielen
handschriftlichen Notizen, die ich auf meinem
Block und über 50 gelben Zetteln im Buch
selbst verewigt habe, nicht einmal ansatzweise
in dieser Rezension verarbeiten kann. Vielleicht
besteht ja demnächst die Möglichkeit, darüber
mit Thilo Sarrazin persönlich und unter Mitwirkung eines interessierten Auditoriums zu
diskutieren. Für hier und heute nur noch drei
kurzen Anmerkungen:
(1) Ich habe mich gefreut, dass – nachdem offenbar einige Sozialdemokraten in den dafür
zuständigen Gremien „Deutschland schafft
sich ab“ tatsächlich auch gelesen haben –
Sarrazins SPD-Rausschmiss sehr schnell vom
Tisch war. Das war ihm ja offenbar wichtig.
Deshalb verstehe ich erst recht nicht, warum
ein so analytischer Denker so pauschal gegen
„Linke“ (wer das auch immer sein mag) austeilt. Hier bitte viel mehr Differenzierung
und auch inhaltliche Präzision. Es ist doch
bitte wahr, dass sich die durch Ausbeutung
„produzierte“ Ungleichverteilung der
irdischen Reichtümer ständig vergrößert,
also mitnichten nur gleich bleibt, wie Sarrazin
behauptet. Wenn er sich mit Thomas Piketty
inhaltlich auseinandergesetzt hätte, wäre ihm
das aufgegangen.
(2) Es ist mir völlig unklar, warum Sarrazin in
seinem Buch über Politikversagen in Deutschland die Legislative komplett ausgeblendet
hat. Zynisch und ein wenig boshaft ist meine
Vermutung, dass er das deshalb getan hat,
weil er mit Blick auf die „Abstimmungsorganisation“ in unseren Parlamenten davon
ausgeht, dass er diesen wichtigsten Teil unserer
demokratischen Willensbildung zunehmend
vernachlässigen kann? Zudem: die Genesis des
Versagens ist ja ein sehr komplexer Prozess:
Legislative, Exekutive, Judikative, die Medien,
die Lobbyisten und am Ende die These (wieder
Marx), dass sich die ökonomisch herrschende
Klasse den Staat schafft (das ist natürlich sehr
vereinfacht, im Grundsatz aber richtig und
auch beweisbar), der seine ökonomischen
Interessen optimal durchsetzt. Wenn dies im
Kräfteparallelogramm der „Sozialen Marktwirtschaft“ Ehrhardscher Prägung – lang, lang
ist’s her – gesteuert und gebändigt wird, kann
ich übrigens gut damit leben.
(3) Mit großem Interesse habe ich Sarrazins
Ausführungen zu den wirtschaftlichen
Betätigungen des Landes und der Kommune
64
Berlin – vor allem natürlich im Bereich der
Daseinsvorsorge – gelesen. Die Maxime, die
er zur Führung der Beteiligungen (S. 185) aufgestellt hat, finde ich klug und überzeugend.
Ein Buch nur zu diesem Thema, das würde
ich mir von Sarrazin als Nächstes wünschen.
i
infos
Thilo Sarrazin: Wunschdenken
Deutsche Verlagsanstalt, München
1. Auflage 2016
ISBN 978-3-421-04693-2
www.dva.de
Kurz vorgestellt:
Was bleiben wird
dass dieses Prokrustebett einer bolschewistischtschekistischen Partei auf den Sperrmüll geworfen
wurde. Wir haben Kommunisten denunziert.
Wir haben nicht respektiert, dass Menschen
sich ändern können. Wir erstarren in der Pose
der Dauerschuldzuweisung. Sie ist noch nach so
vielen Jahren Mauerdurchbruch öde Praxis, und
sie ist unwürdig.“
Was bleibt? Es gab mit der DDR den ernsthaften Versuch vieler Menschen, eine Alternative
zum Kapitalismus zu schaffen. Dass dies ehrliche
Absicht war, ist ebenso wahr, wie die Pervertierung
dieser Idee durch eine intellektuell dürftige,
bornierte und machtversessene Funktionärskaste.
Geduldet von der Mehrheit des Staatsvolkes, das
sich in den Nischen des Systems etabliert hatte. Wer
hier mangelnden Mut geißelt, der muss sich die
Frage gefallen, was wir heute, ausgestattet mit allen
bürgerlich-demokratischen Grundrechten, den
vielen Ungerechtigkeiten unserer kapitalistischen
Welt an Worten und Taten entgegensetzen.
i
Gregor Gysi / Friedrich Schorlemmer:
Was bleiben wird
Aufbau Verlag GmbH & Co. KG
Berlin
1. Auflage 2015
ISBN 978-3-351-03599-0
www.aufbau-verlag.de
infos
Das egoistische Gen
Das Gespräch, das Hans-Dieter Schütt für dieses
Buch mit Friedrich Schorlemmer und Gregor
Gysi führte, ist nicht sein erstes dieser Art. Ich
finde, er beherrscht diese Art von Literatur – und
darum handelt es sich zweifelsfrei – inzwischen
meisterhaft. Das Thema ist – das schmerzt, denn
seit der Wende sind inzwischen fast 27 Jahre vergangen, genug Zeit also für kritische, dabei aber
differenzierte Reflektionen – die DDR und die
immer noch mehrheitlich unter Verdikt stehende
Frage, ob es neben dem Ampelmännchen auch
Dinge von Bedeutung gab, die wir als bedenkenswert zur Kenntnis nehmen dürfen. Eine Kostprobe
aus dem Munde von Friedrich Schorlemmer: „Ja,
wir haben nach dem Ende der DDR, aus historisch
begründbarer Berührungsangst, auf viel geistiggestaltungswillige Kompetenz verzichtet – auf
Linke, die doch mit uns gemeinsam froh waren,
Das ist – kurz gefasst – die These von Richard
Dawkins: Wir werden von unseren, von Generation
zu Generation weitergegebenen Genen gesteuert,
und dies passiert aus einem einzigen Grund. Nämlich dem, dass sich diese damit selbst erhalten.
Denn ohne uns sind wir nichts. Nur wir vergehen,
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
Personalien / Veranstaltungen / Bücher
sie bleiben. Die Position hat aber, wie immer im
richtigen Leben, auch eine andere, die bessere Seite.
Denn so hilflos wie es auf den ersten Blick
erscheint, sind wir unserem Schicksal gar nicht
ausgeliefert. Dawkins meint nämlich, dass wir die
einzige Spezies seien, die in der Lage sei, gegen ihr
genetisches Schicksal anzukämpfen.
Dawkins ist Evolutionsbiologe, ein sehr
anerkannter dazu. Und er hat – vermutlich wegen
guter Spezialgene – die ganz seltene Gabe, eine
hochkomplexe und ebenso komplizierte Materie
so vor uns auszubreiten, dass wir sie mit den Rudimenten unseres schulbiologischen Wissens auch gut
verstehen. Ich bin per Zufall auf diesen Klassiker
gestoßen, der in den 90er Jahren zum ersten Mal
in Deutschland erschienen ist. Die zweite Auflage
stammt aus dem Jahr 2007, ist gottlob noch lieferbar, und hätte viele neue Leser verdient.
i
Richard Dawkins:
Das egoistische Gen
Springer Spektrum Heidelberg
2. Auflage, 2007
ISBN 978-3-642-55390-5
www.springer-spektrum.de
infos
Reichtum ohne Gier
Dass der derzeitige Kapitalismus nur sehr wenig
mit dem vernünftigen Konzept der sozialen Marktwirtschaft eines Ludwig Ehrhard gemeinsam hat,
davon ist die Mehrheit der Menschen auf unserem
Planeten kraft eigener Anschauung überzeugt.
Sahra Wagenknecht hat dazu in ihrem 2011
erschienenen Buch „Freiheit statt Kapitalismus“
auch eine überzeugende Argumentation geliefert
und viele mit ihrem Lob für Ludwig Ehrhards
Konzept verblüfft. Das nun erschienene „Reichtum
ohne Gier“ kann man mit gutem Gewissen als
Fortsetzung bezeichnen. Sehr gelungen ist diesmal
die Mischung aus ökonomischen, soziologischen
und gesellschaftspolitischen Perspektiven. Denn
in der Tat kann man den Kapitalismus nicht auf
seine rein ökonomische Funktionalität reduzieren.
Sahra Wagenknecht räumt radikal mit den Lebenslügen dieses Systems auf. Denn natürlich ist die
Geschichte „vom Tellerwäscher zum Millionär“
ein Unikat. Die Realität ist eine ständig wachsende
Disparität von arm und reich und eine ebenso
zunehmende Chancen-Ungerechtigkeit.
Natürlich war der Manchester-Kapitalismus des Beginns gnadenlose Ausbeutung. Aber
er war auch ungeheuer innovativ und mit dem
Wettbewerb produzierte er nicht nur Profit,
sondern auch technischen und wissenschaftlichen Fortschritt. Der Raubtierkapitalismus
hat sich mit seinen gnadenlosen, menschverachtenden Praktiken aus Europa verzogen. In
Bangladesh beispielsweise aber kann man ihn
weiterhin besichtigen. Aber das Pendant, nämlich
Motor des Fortschritts zu sein, das hat erhebliche
Blessuren erlitten. So hatte ich die „Wegwerfgesellschaft“ noch nicht gesehen. Was ist daran
innovativ, Produkte zu „erfinden“, die nach
genau geplanten Szenarien ihr Leben aushauchen,
nicht mehr repariert werden können, und deshalb einem Neuen weichen müssen? Ähnlich
schlecht geht’s dem Wettbewerb: Pseudomärkte,
mächtige Monopole, die die Welt unter sich aufgeteilt haben, und die ihre Risiken regelmäßig an
tüchtige und innovative Mittelständler delegieren.
Denn die sind leider von ihnen abhängig.
Aus fundierten und brillant geschriebenen Analysen entwickelt Wagenknecht ihr Modell eines
unabhängigen Wirtschaftseigentums und fordert:
„Wenn wir wirklich besser leben wollen, geht
es daher nicht bescheidener und kleiner: Dann
müssen wir unsere Demokratie und die Marktwirtschaft vor dem Kapitalismus retten, und die
Gestaltung einer neuen Wirtschaftsordnung in
Angriff nehmen.“ (S. 28). Ich bin dafür, dass die
Oberschicht, das Finanzkapital, für ihre gesellschaftsschädigenden Sünden endlich zahlen
muss, und nicht wir Steuerzahler. Nur, wer überzeugt davon die Milliardäre? Und mit welchen
Methoden? Vielleicht finden wir die Antworten
im nächsten Buch von Sahra Wagenknecht. Lesen
Sie aber erst mal dieses. Es lohnt sich.
i
Sahra Wagenknecht:
infos Reichtum ohne Gier
Campus Verlag,
Frankfurt am Main
1. Auflage 2016
ISBN 978-3-593-50516-9
www.campus.de
UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
INSPIRATIONEN/INFORMATIONEN
Kommunale
Unternehmen
Es ist ein,
nein es ist d e r Klassiker.
Der „Cronauge“ – wieviel Studenten,
Wissenschaftler, Entscheider in den
Kommunen und kommunalen Unternehmen
hat er begleitet?! Wenn der Autorenname den
Titel ersetzt, dann ist der Olymp im Fachbuchgenre erreicht. Endlich – zu Beginn
dieses Literaturteils haben Sie es bereits in den
Empfehlungen der Berliner Senatsbibliothek
gelesen – gibt’s vom „Cronauge“ eine neue
Auflage.
Es ist die sechste.
Der Autor hat Nr. 5 völlig neu bearbeitet,
erweitert, aber auch entschlackt. Er ist wieder
allein auf dem Titel, und das hat er sich auch
verdient.
Zum Inhalt haben Sie in der Annotation
der Senatsbibliothek alles gelesen. Ich sage
an dieser Stelle, dass das Buch auf den Tisch
jedes Menschen gehört, der sich ernsthaft
mit Kommunalwirtschaft befasst. So wie ein
aufrechter Christenmensch ohne Bibel nicht
vorstellbar ist.
i
infos
Cronauge:
Kommunale
Unternehmen
Erich Schmidt Verlag
Berlin
6. Auflage 2016
ISBN 9783503 13658 2
www.esv.info
65
Epilog / Impressum
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
die Flüchtlingskrise scheint medial und politisch beendet. Deutschlands Leitmedien sprechen von einer deutlichen Entspannung, doch die nackten Zahlen lassen
sich auch anders interpretieren. Allein zwischen Januar
und April dieses Jahres sind knapp 250.000 Asylanträge gestellt worden. Dies ist bereits deutlich mehr als
im gesamten Jahr 2014; übersteigt im Übrigen auch die Zahlen für denselben Zeitraum des Vorjahres.
Und der Sommer steht erst bevor. Hochgerechnet auf das ganze Jahr 2016 würden bis zum Dezember
750.000 Asylanträge eingehen. Dies wäre der zweithöchste Wert in der bundesdeutschen Geschichte.
Und angesichts der Tatsache, dass in Nordgriechenland, entlang der türkischen Ägäis und zunehmend
wieder an den Küsten Nordafrikas Hunderttausende Durchlass nach Mitteleuropa begehren, scheint die
Flüchtlings- und Migrationskrise mitnichten gelöst. Sicher ist, dass dieses Land wirtschaftlich in der Lage ist,
die aktuellen Aufwände zu stemmen. Schließlich geht die Steuerschätzung von weiter und noch stärker
sprudelnden Einnahmen aus. Damit wird Deutschland auch in aktuell bewegten Zeiten die Schwarze Null
verteidigen. Bei der Beantwortung der Frage, ob wir das schaffen oder eher nicht, sind jedoch nicht nur
pekuniäre Aspekte von Bedeutung. Das Mantra „refugees are welcome“ wird durch ständige Wiederholung
nicht wahrer, sondern changiert als Zustandsbeschreibung vor den sozialen und politischen Hintergründen.
Man kann und sollte den Aufstieg einer rechtspopulistischen Partei oder das Aufkommen offen rassistischer
Bewegungen bedauern, muss sich aber eingestehen, dass sie ein Ergebnis der bundesdeutschen Migrationspolitik sind, von der sich nennenswerte Teile der Gesellschaft überfordert sehen.
Nach Erdoğans Sieg bei den Präsidentschaftswahlen 2014 verfolgt er und seine Partei, die AKP,
aktiv das Ziel, die Türkei zu einem islamistischen Präsidialsystem umzugestalten. Das „Gesetz zur
Bekämpfung des Terrorismus“ ermöglicht das Verbot von Zeitungen und anderer Medien. Hunderte von Journalisten sitzen in Haft. Vor wenigen Wochen ist die Immunität fast aller kurdischen
Abgeordneten aufgehoben worden. Deren politischer Verfolgung ist damit Tür und Tor geöffnet.
Die Beziehungen zu den Nachbarn Iran, Armenien und Russland sind genauso vergiftet, wie jene zu Israel. Der Integrationsprozess in die EU wurde abgebrochen. Im Land
tobt ein grausamer Bürgerkrieg und in Syrien ist die Türkei aktive Kriegspartei mit fehlender Abgrenzung zu den Terroristen des Islamischen Staates. Dies ist der Partner,
auf den die Bundespolitik die Lösung der Flüchtlingskrise stützt. Unter den bestehenden Voraussetzungen wird es nicht möglich sein, gleichzeitig für Menschen-, Freiheitsund Minderheitenrechte einzutreten und zu erwarten, dass die AKP-Regierung unter Präsident Erdoğan als Puffer zwischen Millionen migrationswilliger Bürger und deren
Traumzielen in Europa wirkt. Der Sommer wird neue Entwicklungen bringen. UNTERNEHMERIN KOMMUNE wird weiter versuchen, angemessen und neutral zu bewerten,
welche Konsequenzen sich damit für die deutschen Kommunen verbinden.
Ihr Falk Schäfer
IMPRESSUM
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UNTERNEHMERIN KOMMUNE • AUSGABE 02 / JUNI 2016
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