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Wie sehr diese Veränderung den Urboden der Kultur betrifft,
wie sehr sie alle Disziplinen des Geistes erfaßt, wie sehr sie die
Totalität unseres Geisteslebens angeht, dafür noch ein Beispiel.
In der Mathematik unternahm Albert Einstein den Angriff
auf das Prinzip des Absoluten, um es auch im Bereiche der
Wissenschaft zu entthronen. Der Idee des Absoluten im Alter
tum folgt in der Gegenwart die Idee des Relativen. (Hierbei
möchte ich nicht unterlassen, darauf hinzuweisen, daß diese
Entthronung der Herrschaft des Absoluten von einem Ver
treter jenes Volkes geführt wurde, das sich bereits im Altertum
zur Zeit der Blüte dieser Strukturen als einzige Macht mit
äußerster Heftigkeit gegen diese Herrschaft auflehnte und sich
auf dem Boden eines organhaften Strukturbegriffes behauptete.
Die Besonderheiten und das Schicksal dieser Struktur inmitten
geometrischer Strukturen sind bis in Einzelheiten nachzu
weisen. Auch mögen Sie hierin erkennen, welch ungeheuere
lebenschaffende Kraft in dem struktiven Begriffe enthalten
ist, von dem eine Rasse und eine Kultur genährt wird.)
Wenn wir also die Geschichte der Kulturen auf eine Ge
schichte der Strukturen zurückführen, so wird dadurch u. a.
eines gewiß, daß diese Entwicklung nicht wieder umkehrbar
ist. Die Idee, Schöpfungen verbrauchter Strukturbegriffe zum
Ausgangspunkt neuer Kultivierung machen zu wollen, ist
grotesk. Man handelt gegen den Geist der Natur, wenn man
die Form erschöpfter Kulturbegriffe in dem technischen Milieu
der Gegenwart wieder zum Leben zu erwecken sucht. Man
kann nicht Teile aus einer Welt herausschälen, die über einem
bestimmten Strukturbegriff entfaltet wurden. Zur Pyramiden
struktur gehört die Technik der Pyramide, und zur Technik
der Gegenwart gehört die organhafte Struktur.
Es wäre fatsch anzunehmen, die Prinzipien des neuen
Bauens seien ohne Tradition. Das Gegenteil ist der Fall, Die
Tradition des neuen Bauens, die Tradition des Bauens auf
organhafter Struktur, ist älter als die Architektur. Die struk
tiven Grundlagen eines organhaften Bauens sind ursprünglich,
in der Natur vorhanden, dem Menschen sozusagen zugeboren,
während die geometrische Struktur erst erworben wurde und
eine hohe geistige Kultur voraussetzt. In den Gebieten der
geometrischen Kultur wurde die ursprüngliche Welt der organ
haften Struktur zurückgedrängt, jedoch hat sie sich auch in
der Zeit der geistigen Herrschaft der geometrischen Struktur
überall da behauptet, wo die Ansprüche des Lebens an Lei
stungen stärker waren als die Ansprüche der Geometrie, also
in Geräten, Werkzeugen, Waffen, in technischen Bauten,
Schiffen usw. Doch sei nicht verkannt, daß die Geometrie
für die Entwicklung der Technik und damit auch der Schöpfung
organhafter Struktur große Dienste geleistet hat, indem sie
die Mittel an die Hand gab, durch die Mathematik die Me
thoden des technischen Arbeitens zu entwickeln. Anderseits
soll auch nicht übersehen werden, daß die Herrschaft der
Geometrie die Entwicklung des technischen Erfindungsgeistes
sehr unterdrückte, einen Erfindungsgeist, der sich auf das
lebhafteste bereits bei Tieren in ihren Bauten dokumentiert
und der bei primitiven Menschen schon zu geistvollen Kon
struktionen von Bauwerken, Werkzeugen und Waffen geführt
hat. Erst mit dem allmählichen Verfall der kosmologischen
Macht der Geometrie beginnt der Siegeszug der Technik,
beginnt die Ausbreitung einer Idee der organhaften Struktur
bildung in einem durchaus kosmologischen Sinne, Denn hierin
liegt das Entscheidende, daß die Idee der organhaften Struktur
in kosmologischem Sinne hingenommen wird.
Ich fürchte, Sie werden nicht ohne weiteres bereit sein,
für die Gegenwart das Vorhandensein einer Kosmologie zuzu
geben. Ich kann aber zur Verdeutlichung der Gedankengänge
nicht darauf verzichten, von einer solchen zu sprechen. Es
sind Kosmologien, in denen die Völker der Geschichte ihre
Vorstellung von der Ordnung des Weltganzen, von der Grup
pierung der sichtbaren und unsichtbaren Mächte als Erlebnis-
und Erfahrungsinhalt niedergelegt haben. Freilich kennt die
Gegenwart bildhafte Darstellungen solcher Kosmologien, wie
sie die Vergangenheit schuf, nicht mehr. Aber auch sie hat
Vorstellungen von einer Ordnung des Weltganzen und ihrer
sichtbaren und unsichtbaren Mächte, die ebenfalls als ein Er
gebnis ihrer Erlebnisse und Erfahrungsinbalte entstanden sind.
Aus diesem Grund können wir auch heute noch von der Existenz
kosmologisch zu deutender Vorstellungen sprechen und die
Idee einer weltlichen und geistigen Ordnung annehmen; denn
niemand wird bestreiten, daß in allen Vorgängen unserer Zeit,
wenigstens in den Gebieten bestimmter Völkerschaften und
Landschaften Erlebnisse und Erfahrungsinhalte sich geltend
machen, die die Behauptung rechtfertigen, daß ein Uebergang
zu organhaften Strukturideen in einem durchaus kosmo
logischen Sinne sich vollzieht und daß unsere Energie darauf
konzentriert ist, auch unsere Umwelt diesem Wandel ent
sprechend umzugestaften. Für uns im Bauen bedeutet dies,
daß es keine Architektur mehr geben wird; denn die Archi
tektur setzt einen geometrischen Strukturbegriff als kos mo
logische Idee voraus: auf dem Boden der organhaften Struktur
kann aber nur „gebaut“ werden.
Alles, was wir in der Architektur als auch in den Bau
werken der organhaften Struktur eben als die Wirkung eines
struktiven Prinzips erkennen, hat nun mit Kunst durchaus
nichts zu tun. Alle diese Gestaltungen aus der Struktur heraus
sind geworden und erformt nicht um eines Ausdrucks willen,
sondern entweder eines geistigen Prinzips oder eines Leistungs
anspruches wegen. Aber lediglich da, wo wir Formen schaffen
um eines besonderen Ausdrucks willen, können wir von Kunst
sprechen. Kunst ist ihrer Natur nach expressiv; daß aber die
Figur der Pyramide nicht ihrer expressiven Wirkung wegen
erfunden worden sein kann, habe ich versucht glaubhaft zu
machen. Die Pyramide hatte so lange nichts mit Kunst zu tun,
als sie nicht um einer besonderen Wirkungsabsicht willen in
besonderer Weise errichtet wird. Wo aber beginnt der Angriff
auf das atruktive Gebilde aus Gründen einer Wirkung auf die
Sinne ? Er beginnt da, wo ein struktives Gebilde so verkörpert
wird, daß es eine bestimmte sinnliche Wirkung erzielt.
Das stärkste Wirkungselement, über das die Kunst zur
Erreichung einer augenhaften Wirkung verfügt, ist die Maß-
setzung. Der struktive Begriff selbst ist unabhängig von der
Größe, in der er vorgestellt wird; er ist auch noch in einer
Pyramide von 10 cm Höhe vorhanden. Wenn die Aegypter
die Pyramide in größtem Maßstabe ausführten, der ihnen
technisch erreichbar war und in härtestem Stein, so geschah
dies in Rücksicht auf eine Wirkung, in Rücksicht auf einen
Ausdruck von Mächtigkeit, Größe und Erhabenheit, der den
struktiven Begriffen zugelegt wird. Nicht in der Erfindung
der Form steckt die künstlerische Schöpfung, sondern in der
Darbietung dieser Form. Die struktiv gesetzte Form wird
Objekt einer künstlerischen Darbietung.
Das will heißen, daß die Kunst nicht aus sich heraus
leben kann, sondern daß sie eine Aufgabe hat, daß sie sozusagen
einen Auftrag hat. Sie kann keine eigenen Wege gehen, sie ist
an den Inhalt der struktiven Form gebunden und ihm ver
pflichtet. Da wo sie diesen Boden verläßt, ihren Auftrag
ignoriert, sinkt sie zum dekorativen Spiel.
In der Auswertung und Erforschung des Rechtecks als
struktive Figur entwickelte sich die Kultur der Griechen. Die
Auswertung des Rechtecks, das ist u. a. dies: die beiden Seiten
des Rechtecks haben verschiedene Längen. Wie setzt man die
Längen dieser Seiten fest ? Dies führt zu einer Untersuchung
der Beziehungen der beiden Längen, dies führt zum Begriff
der Proportion, führt zum Begriff von Gesetzmäßigkeit und
führt zur Entdeckung einer Gesetzhaftigkeit überhaupt. Die
Figur des kosmologisch begriffenen Rechtecks, des Quaders
im Raume, ist die Grundfigur des griechischen Kultbaues, des
griechischen Tempels. Auf die Proportionierung dieses Baues
konzentriert sich vor allem die ganze geistige Leistung. Maß
bestimmung wird zur Gesetzfindung. Maßbestimmung und
Gesetzfindung bleiben auf dem Boden einer Durchforschung
der struktiven Prinzipien des Rechtecks, doch vollzieht sich
in der griechischen Architektur, wie in keiner anderen, die
innere Verschmelzung eines struktiven Problems mit einem
künstlerischen Auftrag, denn die Darbietung der struktiven
Figur ist nur eine Entfaltung derselben. In der Struktur ist
bereits die expressive Kraft der Proportionen enthalten, es
ist Sache der Kunst, sie zu erwecken und zu verwenden.
Die Erforschung der Gesetzhaftigkeit, des Abstrakten, die
Erforschung der Beziehungen der Dinge untereinander bilden
den Inhalt der griechischen Kultur, bilden sozusagen den Auf
trag dieser Kultur. Die Griechen haben u. a. eine bestimmte
Fassung für die Begriffe der Geometrie geschaffen und sie haben
zweifellos als erste zu der Vorstellung eines Raumes an sich
gefunden, wobei ich mich auf Einstein berufen kann, der erst
vor kurzem darauf hinwies. Auch der Staatsbegriff der Griechen
ist undenkbar ohne die in der Erforschung der Struktur
probleme des Rechtecks gefundenen Erkenntnisse. Die Idee
der Demokratie ist das Geschöpf der Struktur des Rechtecks,
so wie die Idee des Imperiums ein Geschöpf der Kreisstruktur
ist. Wie ganz anders liegt demgegenüber der Fall der Ägypter.
Weder im Dreieck noch im Quadrat liegt das Problem der
Proportionierung. Wenn man dem Kubus gegenüber von
einem expressiven Gehalt sprechen kann, so ist es lediglich
der der Masse, der Schwere, der Schichtung, der Last.
Ich hatte einleitend gesagt, daß ein Volk sich jeweils in
einem Strukturbegriff erschöpfe. Unsere heutige Situation
betreffend, könnte sich nun leicht ein Widerspruch erheben
lassen, wenn wir annehmen wollten, daß der Strukturauftrag
der Völkerschaften der nordischen Landschaft bereits im Laufe