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Centralblatt der Bauverwaltung,
31. Oftober 1811.
Eine wesentliche Anregung zur Erörterung der Frage über das
Einlassen fruchtbaren Hochwassers in die eingedeichten Folder hat
die Ton Georg H. Gerson verfafste Schrift „Wie cs hinter unseren
Deichen aussehen müfste“ gegeben.
Gerson schlägt darin vor, die gröfseren eingedeichten Niederungen
durch Querdeiche zu theilen, am oberen Ende dieser Theilpolder das
fette Hochwasser eintreten und am unteren Ende wieder austreten
zu lassen. Die innerhalb der Deiche liegenden Wohnstätten und
Gehöfte müfsten mit ßingdeicben umgeben und die hierdurch ein-
geschlossenen Flächen durch Pumpwerke von dem eindringeuden
Qualmwasser befreit werden.
Da das Frühjahrshochwasfier in die eingedeichten Niederungen
nur eingelassen werden könne, wenn daselbst auBschliefslich Gras-
nutzung stattfindet, und deshalb die vorhandene Ackerwirthschaft in
WieBen- und Weiden wirthschaft umgewandelt werden müsse, so sei
dafür zu sorgen, dafs zu trockener Jahreszeit eine Anfeuchtung der
Niederung stattfinden könne. Es seien deshalb Parallelcanäle anzu
legen, die von dem oberen Flufslaufe ausgehend und demselben ihr
Wasser entnehmend, dem Flusse parallel folgen, die Niederung auf
Dämmen durch schneiden, oder in die angrenzenden Höhen ein
schneiden, und in einer gewissen Entfernung an zweckentsprechenden
Punkten bei einer Stadt oder einem Nebenflufs wieder in den Strom
einmünden.
Diese Canäle, in denen durch Schleusen ein gleicher Wasserstand
gehalten werden soll, würden nicht nur die nöthige Anfeuchtung der
Wiesen ermöglichen, sondern auch fiir den Schiffsverkehr von dem
allergröfsten Nutzen sein und jede Schwierigkeit für die Schiffahrt
beseitigen, während nach der Angabe von Gerson gegenwärtig die
Schiffahrt auf den gröfseren deutschen Strömen kaum drei Monat im
Jahr ungehindert betrieben werde könne.
In der Begründung der Anträge, welche von den landwirtschaft
lichen Vereinen gestellt Bind, sowie in den Verhandlungen des Landes-
ökonomiecollegiums, namentlich in den von den Technikern des land
wirtschaftlichen Ministeriums abgegebenen Gutachten, deren Aus
führungen die Akademie im allgemeinen für zutreffend hält, sind die
Nachtheile, welche die bestehende Deichwirthschaft zur Folge hat,
näher dargelegt, und daran Vorschläge zu den wünschenswerten
Aenderungen geknüpft.
Als die wesentlichsten Nachtheile werden angeführt:
1. Das Strombett und die Aufsendeiche höhen sich auf. Hier
durch wird das Hochwasser gehoben und damit eine fortgesetzte Er
höhung und Verstärkung der Deiche notwendig gemacht.
Die Gefahr der Deichbrüche sowie der durch dieselben veran-
lafsten Zerstörungen nimmt demnach stetig zu.
2. Bei höheren Wasscrständen des Stromes dringt in die ein
gedeichten Niederungen Qualmwasser, welches den Boden auslaugt
und ihn unfruchtbar macht.
3. Der grofste Theil der werthvollen Dungstoffe, welche das
Hochwasser enthält, geht der Landwirtschaft verloren und wird un
genutzt dem Meere zugeführt.
Abgesehen von der behaupteten Erhöhung der Hochwasser, welche
in den regulirten Strömen auf Grund der Pegelbeobachtungen als unzu
treffend zu bezeichnen ist, müssen die vorgenannten Nachteile als tat
sächliche anerkannt werden, und verdient die Frage, wie diesen Uebel-
ständen abzuhelfen ist, gewifs eine ernste und eingehende Erwägung.
Ohne Zweifel würde das von Gerson vorgeschlagene Einlassen
des fruchtbaren Hochwassers in die eingedeichten Niederungen sehr
vortheihaft wirken. Läfst man dasselbe am oberen Ende des Polders
ein-, und am unteren Ende wieder austreten, wobei das Wasser in
so mäfsiger Strömung erhalten werden müfste, dafs es den gröfsten
Theil der in ihm enthaltenen Sinkstoffe absetzen kann, dann würde
ein allmähliches Aufwachsen der eingedeichten Ländereien stattfinden,
durch den Gegendruck des in den Poldern befindlichen Wassers das
Eindringen des Qualmwassers vollständig oder doch zum allergröfsten
Theil verhindert, und auch die Gefahr vor Deichbrüchen und nament
lich vor den Zerstörungen, welche Deichbrüche jetzt immer im Ge
folge haben, wesentlich vermindert werden.
Bei hohen Sommerwasserständen würden die Verhältnisse sich
allerdings nicht ändern, die Deiche vielmehr nach wie vor den An
griffen des Hochwassers ausgesetzt sein und in der bisherigen Art
vertheidigt werden müssen. Da die gröfsten Hochwasser im Früh
jahr durch Eisversetzungen veranlagt werden, zu welcher Zeit die
Niederung gefüllt sein soll, durch das eingelassene Wasser aber die
Gefahr von Deichbrüchen und von Zerstörungen nach erfolgtem
Deichbruche ermäfsigt wird, so sind die durch das Einlassen zu
erreichenden Vortheile immerhin als sehr .werthvolle zu bezeichnen.
W enn nun in der Frage 1 ein Urtheil über die Minderung
der Ueberschwemmungsgefahr verlangt wird, so ist darauf zu be
merken, dafs das Füllen der Polder in den meisten Fällen nur einen
verhältnifsmäfsig geringen Theil der im Frühjahr herabkommenden
Hochwassermassen in Anspruch nehmen, der Hochwasserstand im
Strome deshalb auch nur unter günstigen Umständen und bei erheb
licher Ausdehnung der fiir die Aufnahme der Frühjahrshochwasser
bestimmten Anlagen eine wahrnehmbare Ennäfsigung erfahren wird.
Dagegen werden diejenigen Gefahren, welche Ueberschwemmungen
herbeiführen, die infolge eines Deichbruches entstehen, welche Zer
störungen und Versandungen von Grundstücken veranlassen und die
Niederungsbewohner unvorbereitet überraschen, bei gefüllten Poldern
ganz aufserordentlich ermäfsigt werden.
Wenn sich hiernach die Frage 1 auch nicht einfach mit „ja“
oder „nein“ beantworten läfst, so ist die Akademie auf Grund der
vorstehenden Erörterungen der Ansicht, dafs es sich empfiehlt,
gröfsere Versuche mit dem Einlassen fruchtbaren Hochwassers in
die eingedeichten Polder anzustellen, da erhebliche Vortheile hier
durch unzweifelhaft erreicht und Erfahrungen gesammelt werden
können, in welcher Weise gegenüber den bei der jetzigen Deich
wirthschaft unstreitig bestehenden Mifsständen Abhülfe geschaffen
werden kann.
Was die zweite Frage anbetrifft, welche Niederungen sich für
die geplante Ausführung eignen, so ist die Akademie, da technische
Unterlagen fehlen, ebensowenig in der Lage, bestimmte Niederungen
zu bezeichnen, wie auch die unter 8 und 4 gestellten Fragen, wie
hoch sich die Kosten belaufen und ob dieselben im Verhältnifs zu
den zu erwartenden Vortheilen stehen werden, zu beantworten.
Die Akademie mufs sich deshalb zur Beantwortung der Frage 2
darauf beschränken, die Bedingungen zu bezeichnen, welchen die zu
den Versuchen auszuwählenden Niederungen genügen müssen.
Diese Bedingungen sind im wesentlichen folgende:
1. In den mitgetheilten Gutachten und Verhandlungen ist es all
seitig als selbstverständlich angenommen, dafs in den Poldern, welche
im Frühjahr unter Wasser gesetzt werden, der Ackerbau aufgegeben
und Wiesen- und Weidenwirthschaft eingeführt werden mufs. Die
erste Bedingung ist demnach die, dafs in den Poldern nur Gras-
wirthschaft betrieben wird und dafs die Besitzer der für den Versuch
auszuwählenden Polder sich mit dieser Aenderung der Bewirtschaf
tung einverstanden erklären.
2. Die Polder müssen so gelegen sein, dafs das Fluthwasser am
oberen Ende ein-, und am unteren Ende ausgelassen werden kann.
Bei gröfserer Länge der Polder müssen dieselben durch Querdeiche
geteilt werden. Hierdurch wird es ermöglicht, das Wasser bei dem
Durchfliefsen der ganzen bezw. der geteilten Polder in mäfsiger
Bewegung zu erhalten, die durch Vergrößerung und Verminderung
der Oeffhungen in den Ein- und Auslafsarchen regulirt werden kann,
und auf diese Weise ein möglichst gleichmäfsiges Niederschlagen der
Sinkstoffe, sowie ein gleichmäßiges Aufwachsen des Bodens herbei
zuführen.
3. Vor Eintritt der Vegetationsperiode mufs das in die Niederung
eingelassene Wasser beseitigt werden. Kann dies nicht auf natür
lichem Wege geschehen, so ist die Anlage von Schöpfwerken unver
meidlich.
4. Es mufs die Möglichkeit vorhanden sein, während der trockenen
Jahreszeit die eingedeichten Ländereien anzufeuchten. Am leichtesten
wird dies durch Abfangen von Quellen und Wasserläufen geschehen,
die von den seitlich gelegenen Höben herabkommen. An den unteren
Stromläufen wird diese Bewässerungsfrage bisweilen Schwierigkeiten
verursachen; man wird unter Umständen gezwungen sein, das für
die Anfeuehtung erforderliche Wasser durch Pumpwerke aus dem
Flusse zu heben.
5. Für etwa anzustellende Versuche empfiehlt es sich, solche
Polder zu wählen, in denen sich entweder gar keine oder nur so un
bedeutende Gehöfte befinden, dafs die letzteren ohne übermäßigen
Kostenaufwand bis zu wasserfreier Höhe gehoben oder aus der
Niederung nach wasserfreiem Terrain versetzt werden können. Die
Herstellung der von Gerson empfohlenen Ringdeiche dürfte wegen der
zur Anlage dieser Deiche und der Pumpwerke erforderlichen hohen
Kosten, wegen der damit verbundenen Wirthscbaftserschwerungen,
vielleicht auch wegen der dadurch veranlafsten gesundheitsschädlichen
Wirkungen bei den ersten Versuchsanlagen zu vermeiden sein.
6. Mit Rücksicht auf die starke Wellenbewegung, die auf den
ausgedehnten Wasserflächen inerhalb der eingedeichten Niederungen
eintreten kann, müssen die Deiche auch auf der Landseite eine an
gemessen flache Do8sirung erhalten.
Polder, welche den vorstehenden Bedingungen entsprechen,
würden von den Provincialbehörden auszusuehen, von den letzteren
auch die Kosten für die Ausführung der erforderlichen Anlagen zu
berechnen, und zugleich zu ermitteln sein, ob die zu erzielenden
landwirtschaftlichen Vortheile mit den veranschlagten Kosten in
einem angemessenen Verhältnifs stehen.
Wie bereits oben erwähnt, ist die Akademie deß Bauwesens
aufser Stande, diese Fragen zu beantworten.
Königliche Akademie des Bauwesens:
Schneider.