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Centralblatt der Bauverwaltung*
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IHHALT: Harmonie in der Banfennet (ScJünfs). - Brdtfufsschiene oder StuhlscMsne? (Schlnfs). — Ans dem preufsischen Staatshaushalt für 1891/92 (Schlüte). - ‘Ver
mischtet: Preisansschreiben. des Vereins deutscher Maschinen-Ingenieure in Berlin. — Baron Haufsmann t. — Bücbersehau,
[Alle Hechte Vorbehalten.]
Die Harmonie in der Baukunst.
(Schlnfs.)
Um der» Standpunkt des Verfassers zu kennzeichnen, haben wir
so lange bei den „einleitenden Bemerkungen“ verweilt. Diesem folgt
als erster der beiden Hauptabschnitte des Buches die Darlegung
des „Proportionirtuiga-Systems der griechischen Baukunst“. Als
Grundfigur sieht Schultz ein Rechteck (aus den beiden gröfsesten
Mafsen des Bauwerks) an und »war stellt er den Satz auf: „Das
als Grundlage für die proportionale Gestaltung dienende
Rechteck mufs ein harmonisches Rechteck sein“. Demnach
kommt es darauf an, ähnlich wie in der Musik, diejenigen Werthe
festzustellen, welche der Forderung einer gesetzlichen Beziehung
zwischen G, der gröfseren, und K t der kleineren Rechtecksseite, ent
sprechen. Natürlich können Bölche Werthe sehr verschieden sein;
die Harmonie in einem griechischen Tempel und in einer gothischen
Kathedrale beruht lediglich auf der verschiedenartigen Anwendung
desselben Grundsatzes* Zur Bildung von Proportionen gehören nun
aber wenigstens drei Glieder; das dritte Glied ergiebt sich aus der
Beziehung der beiden ersten G — K als Reststück. Werden die
zehn griechischen Proportionen auf das Seitenverhältnifs des Recht
ecks sowohl für K> (G—K) als auch für £< {G — K) angewandt,
$o ergeben sich einschliefslicb des Quadrats neun verschiedene har
monische Rechtecke. Hierzu kommt noch D, die Diagonale des
Rechtecks, durch welche zwei Dreiecke entstehen. Aus der An
wendung der zehn griechischen Proportionen auf Seiten und
Diagonalen des Rechtecks ergeben sich wiederum harmonische
Recktecke, von denen aber nur drei einer Betrachtung unterzogen
werden (für die arithmetische, geometrische und harmonische Pro
portion). Weitere Figuren werden durch Halbirung und Verdoppe
lung des ursprünglichen Rechtecks gewonnen; ein Rückblick auf die
dabei behandelten Beispiele zeigt, dafs die fraglichen Rechtecke
nicht nur in sehr verschiedener Weise proportioniert sind, sondern
auch bezüglich ihrer gesetzlichen Verhältnisse sich von einander wesent
lich unterscheiden. Aehnlich bei anderen harmonischen Rechtecken,
von denen diejenigen bei der Gestaltung der Bauwerke bevorzugt
sein werden, welche zugleich mehrere und dabei möglichst einfache
gesetzliche Beziehungen ihrer einzelnen Theile unter einander haben.
Für die Gewinnung proportionaler Abmessungen und zugehöriger
Figuren aus dem Grundrechtecke gilt als Satz: „Das besondere Ge
staltungsgesetz des benutzten Grundrechtecks mufs bei Gewinnung
bedeutungsvoller Werthe aus demselben klar zum Ausdruck ge
langen.“ Ist die Richtigkeit und Maßgeblicbkeit dieses Grundsatzes
für die griechischen Baumeister zu erweisen, so widerlegt sich im
Einzelfalle die für den Zweifler naheliegende Annahme eines blofs
zufälligen Uebereinstimmens der vorhandenen Figur mit dem auf
gestellten gesetzlichen Rechtecksverhältnisse, und der Beweis eines
zielbewufsten Verfahrens ist erbracht. Zu dem Zwecke schickt
Schultz voraus die Darlegung der Anfänge einer Zahl von Wegen
für aus dem Rechtecke abgeleitete Werthe, z. B. Abtragung von
G auf D, von K auf D usw. Die praktische Anwendung des Pro-
portionirungsverfahrens durch das Rechteck erörternd stellt der Ver
fasser den Satz auf: „Bei der proportionalen Gliederung des Bau
werks wird immer von den größten Abmessungen desselben aus
gegangen,“ und weiter kommt er zu folgendem: „Auch diejenigen
Rechtecke, welche einzelne in sich abgeschlossene Theile des Bau
werks umfassen und zur proportionalen Gliederung dieser Theile
dienen, müssen harmonische Rechtecke sein “ Indessen, da nicht
immer die abgeleiteten Abmessungen zu Rechtecken mit einfachen,
klaren, für die Weiterentwicklung der Verhältnisse nutzbaren Ge
setzen sich vereinigen, so wird der Baumeister häufig ein geeigneteres
Rechteck verwenden müssen, welches mit dem nnmittelbar ge
wonnenen in den Seitenverhältnissen nahezu übereinstimmt. Als
Beispiel solcher kleiner Abweichungen oder Doppelmafse für den
selben Gegenstand, auf die bereits Vitruv als nothwendig hinweist,
diene folgendes: „Ist aus den beiden gröfsten Abmessungen das
harmonische Grundrifsrechteck bestimmt, so kann die Gesamthöhe
des Bauwerks noch frei gewählt und also etwa für den Seltenaufrifs
ein harmonisches Rechteck gebildet werden. Für den anderen Auf
rifs sind dann aber bereits Länge und Höbe festgestellt und werden
dieselben nicht in jedem Falle direct wieder zu einem harmonischen
Rechtecke sich zusammenfügen.“ Durch die Forderung, dafs die
Hauptmaße des Bauwerks, wie S&ulenhöhen, Achsenweiten, aus mög
lichst vielen Rechtecken verschiedener Ordnung im Grundrisse und
Aufrisse bestimmt werden sollten, entstehen weitere kleine Berich-
tigungen, Mittelwerthe oder Doppelmafse. „In zwanglosester Weise,
ja recht eigentlich infolge des ganzen ProportionirungsverfabTens,
gelangt mar» so zu den kleinen Mafsunterscbieden, welche — zugleich
zur Beseitigung optischer Täuschungen dienend — in der Schräg
stellung der Säulenachsen, der Curvatur der Horizontalen und dem
Ueberhängen oder Zurückspringen gegen die Lothlinie an Architraven,
Friesen, Deckplatten nsw. Vorkommen.“ Es folgt ein Abschnitt über
Nähemngswerthe für irrationale Zahlenverhältnisse sowie über
Genauigkeit der Bauausführungen und Aufimessongen und zuletzt
ein solcher über die griechischen Werkmafse. Bezüglich dieser stellt
Schnitz den Satz auf: „Die gröfste Abmessung des ganzen Bauwerks
ist (daher) das Grundmafs für alle übrigen Abmessungen“, und
kommt dann im Gegensätze zu den neueren Forschern (Lepsius,
Dörpfeld) wieder auf das schon von Hultsch zu 0,3083 m angegebene
Mafs für den attischen Fufs. Auf S. 92 und 93 wird der Beweis
völlig erbracht.
In dem zweiten Hauptabschnitte des Buches wird die Propor
tionalität und das zu ihrer Erlangung angewandte Verfahren an den
Bauwerken nachgewiesen. Dazu will Schultz aber nicht ein einzelnes
Bauwerk bis in seine kleinsten Einzelheiten besprechen, sondern zu
nächst an einigen Beispielen die ersten Schritte zur harmonischen
Gestaltung, „also das Verhältniß des gesetzmäßigen Grandrechtecks
aus den beiden gröfsten Abmessungen, sowie aus diesem die Ab
leitung der dritten Gesamtabmessung und der beiden nächsten har
monischen Rechtecke darlegen, welche durch die Verbindung der
ersten und dritten wie aueb der zweiten und dritten Gesamtabmessnng
entstehen.“ Der Zergliederung ganzer Bauwerke gedenkt er sich
erst zuzuwenden, wenn der Leser durch das inzwischen gebotene
Material Gelegenheit gehabt hat, sich mit dem ganzen Proportio-
nirungs-Systeme der Griechen einigermaßen vertraut zu machen,
weil die Darlegung alsdann einfacher sein wird. Für die Beziehungen
der drei gröfsten Abmessungen des Bauwerks (Länge, Breite, Höhe)
unter einander betrachtet der Verfasser fünf Beispiele, den Stadt
tempel in Selinus, den Theseustempel in Athen, den Concordiatempel
in Agrigent, den kleinen Tempel in Paestum und den Burgtempel in
Selinus. Es würde zu weit fuhren, im einzelnen auf die Ergebnisse
und deren Gewinnung einzugehen; es kann nur bemerkt werden,
dafs die Grundfignren aller Tempel harmonische Rechtecke sind, und
dafs bei jedem dieser Rechtecke sein Gesetz sich auch in der Ab
leitung besonders wichtiger Abmessungen ausspricht.
Des weiteren findet Schultz, dafs die fünf Tempel sieh außerdem
auf mehr oder minder einfache Vieleck-Constructionen zurückfiihren
lassen. Merkwürdigerweise treten an dem ältesten aller erhaltenen
griechischen Tempel, dem Burgtempel in Selinus (6. Jahrhundert
vor Chr.), diese Vieleck-Functionen (Zehn- bezw. Fünfeck) unmittelbar
in den Verhältnissen aller drei Hauptabmessungen und also auch
der ans ihnen gebildeten Rechtecke hervor und sind zugleich selbst
harmonische Rechtecke, sodafs seine Verhältnifsbestimmungen be
sonders einheitlich und als Ergebnifs eines fast noch klarer durch
gebildeten Proportionirungs-Systems erscheinen, als bei den übrigen.
Das veranlaßt die Frage, ob hier ein nenes oder sehr altes System
der Proportioninmg in der Baukunst vorliegt. Schultz verbreitet
sich zur Beantwortung über die Anfänge der wissenschaftlichen Be
handlung der Mathematik bei den Griechen und deren Beziehungen
zu Aegypten, sowie über Thaies, welcher, um 640 v. Cbr. geboren,
zuerst die Mathematik (Geometrie) von Aegypten mit nach Griechen
land zurückgebracht haben soll. „Sehr wohl,“ schliefst Schultz,
„kann man der ägyptischen Priesterschaft zur Zeit des Thaies die
nothigen Kenntnisse zur Durchführung des in der Proportioninmg des
Burgtempels zu Selinus sich zeigenden Verfahrens Zutrauen, von
welchem ich bisher freilich nur die ersten Anfänge habe darlegen
können, welches aber das ganze Bauwerk bis in seine kleinsten
Einzelheiten durchdringt.“ Daher wird im folgenden Abschnitte die
Ueheremstimmnng der Gesamtverhältnisse griechischer Tempel mit
denen ägyptischer Pyramiden nachgewiesen und vermuthet, „dafs die
Griechen, welche nach unbestreitbaren, geschichtlichen Zeugnissen
ihre ersten geometrischen Kenntnisse den Aegyptem verdanken,
ebenso auch das in der Gestaltung ihrer Bauwerke zum Ausdruck
gelangende System jenem alten Culturvolke entlehnten.“ In Pytha
goras, dem Nachfolger des Thaies, sieht Schultz den Begründer des
in der griechischen Baukunst nachweislichen mathematischen Pto-
portioninrags-Syatems und der eigentlich wissenschaftlichen Behand
lung der Mathematik in Griechenland. Sein Einfluß auf die Pro
portioninmg in der Baukunst liegt nahe, weil er auch der Erfinder
der griechischen Tonleiter und überhaupt der Gesetze der musica-
liechen Harmonie ist; seiner Philosophie gehört ferner die Lehre von