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Centralblatt der Bauverwaltung.
30. Sovember 1889.
"Wenigstens sind solche Befürchtungen! in der englischen Presse laut
geworden. 5 6 )
Ebenso laut spricht eine andere Besorgnifs, nämlich die bekannte
Furcht vor einem fremden Einfallheere, dessen Eindringen nach der
Ansicht bedeutender englischer militärischer und politischer Fach
männer durch jede feste Verkehrsverbindung zwischen englischem
und festländischem Boden, wenn nicht herbeigeführt, so doch er
leichtert wird, sodafs die politische Sicherheit und Unabhängigkeit
Grofsbritanniens dadurch gefährdet erscheint. Fast möchte man
glauben, dafs die von den Engländern so sehr in den Vordergrund
geschobene, vom gesamten Ausland wohl einstimmig als wenigstens
übertrieben bezeichnete Furcht vor einer plötzlichen Ueberrumpelung
durch eine feindliche Militärmacht nur ein Deckmantel sei für die
tiefergehende, etwas begründetere Sorge um dauernde Aufrecht
erhaltung ihrer maßgebenden Stellung zur See.
Solche und ähnliche politische Seiten der Canalfragc kamen be
kanntlich in den Jahren 1881—1882 zum ersten Male in der leb
haftesten Weise zur Erörterung, als die genannten beiden Gesell
schaften, jede für sich, beim Parlamente voTgingen. Damals ver-
anlafste das Parlament die Herausgabe eines Blaubuchs über die
Tunnelfrage, in welchem u. a. ein Gutachten des eigens hierfür ein
gesetzten Canaltunnel-Vertheidigungs-Aueschusses enthalten war, auf
Grund dessen die Gesellschaften, wenn auch widerwillig, ihr Unter
nehmen fallen lassen mufsten.' 5 ) Dessenungeachtet aber scheint man
in England 1 und Frankreich den Gedanken an eine Verwirklichung
ähnlicher Pläne noch nicht aufgegeben zu haben, was umsomehr zu
bewundern ist, als zwingende Verkehrsbedürfnisse, die ein derartiges
Unternehmen unterstützen könnten, nicht vorliegen und auch die Er-
tragsfähigkeit sehr fragwürdig erscheinen mufs. Man darf aber wohl
annehmen, dafs gerade die Schwierigkeit der Aufgabe unternehmende
Köpfe reizt, Dazu mögen auch noch Sonderinteressen einzelner Per
sonen und Körperschaften treten, um die Canalfrage nicht ruhen zu
lassen.
Sehr bald nach dem Fall der Tunnelentwürfe (1884) bildete sich
ein neues englisches Unternehmen, vertreten durch die Canalbrücken-
Eiseubahn-Gesellscbaft (Channel-Bridge and Railway Company) mit
einem Capital von 4 Millionen Mark. Diese Gesellschaft übernahm
nach unserer Quelle 7 ) vom französischen Ingenieur Henrv-d’Aulnois
einen Brückenentwurf, dessen Vorgeschichte bis auf das Jahr 1849
zurückreicht und aus welchem schliefslich durch Umarbeitung der
neueste Plan einer festen Eisenbahnbrücke hervorgegangen ist, von
welchem weiterhin die Rede sein wird. Um den ersten im Jahre 1849
entstandenen Entwurf hat sich der französische Ingenieur Verard
de Sainte-Anne hoch verdient gemacht. Derselbe widmete, ähn
lich wie Thom^ de Gamond, einen grofsen Theil seines Lebens (von
1849 bis 1884), und zwar auf Kosten seiner Gesundheit, der Aufgabe,
seinen Plan der Verwirklichung entgegenzuführen und starb im
Jahre 1884, ohne seine Bemühungen von Erfolg gekrönt zu sehen.
Henry d’Aulnois führte Sainte-Annes Gedanken weiter aus, und wesent
lich seinen Bestrebungen ist die Gründung der vorgenannten engli
schen Gesellschaft zu danken, auf deren Veranlassung neuerdings
zwei andere französische Ingenieure, Henry Schneider, Director
der grofsen Eisenwerke von Creusot, und der vom Panama-Canal-
Unternehmen her bekannte Ingenieur H. Hersent,^früher Vorsitzender
des Vereins der französischen Civilingenieure, einen neuen Brückenent
wurf ausarbeiteten. Der Entwurf gelangte am 24. September d. J. an
die Oeffentlichkeit und zwar dadurch, dafs Henry Schneider der in
Paris tagenden Versammlung der bedeutenden englischen Vereinigung
von Eisenindustriellen (Iron and Steel Institute) einen längeren Vor
trag darüber hielt. Bei dieser ersten Kundgabe ihres Entwurfs im
Schofse einer Versammlung von hervorragenden englischen Eisen
hüttenleuten beabsichtigten die beiden Verfasser augenscheinlich fÜT
ihren Plan vorweg Stimmung zu machen. Denn da der Brückenbau
die lockende Aussicht auf den Verbrauch von etwa 1 Milliarde
Kilogramm Eisen und Stahl bietet, würde man es den anwesenden
grofsen Hüttenbesitzern des Vereins Dicht verdenken können, wenn
sie dafür sich erwärmt und über die gegen den Entwurf vorliegenden
schweren Bedenken leichter hinweggetäuseht hätten. Aber obwohl
der Vorsitzende des Vereins die Mitglieder bat, bei der auf den Vor
trag folgenden Erörterung nur die technische Seite des Entwurfs zu
berühren und politische Fragen und die Rücksichten auf die Schiffahrt
b ) Engineering 1882, I, S. 163.
6 ) Vcrgl. Centralblatt der Bauverwaltung 1882, S. 811, 384 u, 436,
’) Genie civil 1885—86, S. 76.
dabei aufser acht zu lassen, so konnte er doch nicht ganz verhindern »■
dafs mehrere Mitglieder in kurzen dürren Worten den Plan einer
Canal-Brücke verwarfen und sich entschieden zu Gunsten einer Tunnel
anlage aussprachcn.
Es ist eigentlich auch nicht recht erklärlich, warum man auf
den Entwurf einer Brücke gefallen ist. Vielleicht weil man meint,
dafs eine solche gegen die Möglichkeit eines feindlichen Einfalls
gröfsere Sicherheit bietet als ein Tunnel? Das wäre richtig. Eine
offene Brückenbahn kann ja beständig unter Augen gehalten werden,
und es wäre auch ein Leichtes, eine oder mehrere Oeffnungen der
Brücke auf jeder Uferseite im gegebenen Falle militärisch ganz un
zugänglich zu machen. Aber man bedenke, welche bedeutenden
Nachtheile im übrigen ein Brückenbau gegenüber einer Tunnelanlage
im Gefolge hätte.
Die Vorzüge einer Tunnelanlage — das sind namentlich: Nicht-
behitiderung der Canalschiffahrt, bedeutend geringere Kosten (etwa
300 Millionen Franken gegen 860 Millionen), wesentlich kürzere Bau
zeit (etwa 3 Jahre gegen 10) und etwas kürzere Betriebslänge (32 bis
34 km gegen 38) — sind in die Augen fallend. Gegen die Anlage eines
Tunnels — von der sicherlich übertriebenen Furcht vor einen durch
denselben etwa herbeizuführenden feindlichen Einfall abgesehen —
spräche eigentlich nur die Befürchtung, es möchte bei der grofsen
Länge des Tunnels nicht gelingen, seinen Betrieb derart zu gestalten,
dafs überall im Innern des Tunnels eine ausreichende Lüftung zu er
warten steht. Nach dem heutigen Stande der Technik aber, wo
nötigenfalls eigenartige Locomotiven oder andere Hülfsmittel zur
Verfügung stehen, dürfte auch letztere Befürchtung keinen Grund
mehr abgeben, die geplante Tunnelanlage zu unterlassen.
Der Briickenentwurf wird demnach bei der vergleichenden Be
urteilung einen schweren Stand haben. Gegen ihn fallt namentlich
ins Gewicht der Umstand, dafs seine Pfeilerbauten, wenn die einzelnen
Pfeiler auch noch so günstig belegen sind, und wenn auch die
gröfseren und kleineren Spannweiten noch so zweckmäfsig über den
geeignetsten Mecresstellen gruppirt werden, immerhin als bedenkliche
Hindernisse für die Schiffahrt angesehen werden müssen. Die
Entwurfsverfasser sind zwar der Ansicht, dafs die Pfeiler bei der
von ihnen gewählten Lage und Entfernung nennenswerte Hindernisse
nicht bilden, sie scheinen aber doch zur Erleichterung der Zurecht
findung für den Schiffer, eine Ausrüstung mehrerer Pfeiler mit Leucht
feuern zum Geben der gebräuchlichen Signale für notwendig zu
halten. Wie aber, wenn die im Canal so häufigen dichten Nebel
jedes Signal für den Schiffer unsichtbar machen oder wenn starke
Stürme die sichere Führung der Schiffe erschweren? Wird in solchen
Fällen die auf dem vielbefahrenen Canal an und für sich schon bo
gefährliche Schiffahrt wegen der zahlreichen Klippen, welche die
Pfeiler bilden, nicht noch um ein Bedeutendes gefährlicher? Un
zweifelhaft. Den gerechtfertigten Bedenken in dieser Hinsicht geht
man bei der Tunnelanlage völlig aus dem Wege.
Die bedeutend höheren Kosten der festen Brücke sprechen eben
falls gegen deren Anlage. Man hatte zur Zeit, als die Tunnel-
Angelegenheit im Schwange war (1882), in England ausgerechnet,
dafs der gewöhnliche Handelsverkehr, der den Canal kreuzt, etwa
um das Siebenfache steigen müsse, damit eine einigermafsen befriedi
gende Verzinsung der Tunnel-Anlagekosten gesichert erscheine. Wenn
nun auch eine solche Berechnung Lücken hat, weil dabei die infolge
der neuen Verbindung zu erwartenden Verkehrssteigerungen nicht
berücksichtigt sind, so wäre doch leicht nachzuweisen, dafs die Ver
zinsung der Anlagekosten beim Brückenbau schwieriger als bei der
Tunnelanlage wird, selbst wenn* man dabei in Rechnung zöge, dafs
bezüglich der Bewältigung und der Kosten eines grofsen Verkehrs
der einfache offene Brückenbetrieb dem Tunnelbetrieb vorzu
ziehen ist.
Wie man danach aber über den Plan einer festen Canal-Brücke
sonst denken mag, unzweifelhaft trägt der Entwurf der beiden ge
nannten französischen Verfasser — vom rein technischen Standpunkte
aus betrachtet — den Stempel der Reife und Tüchtigkeit in sich und
er ist für die technische Welt so sehr bemerkenswerth, dafs wir uns,
an der Hand der in englischer und französischer Sprache erschienenen
ausführlichen Beschreibung, fi ) ein näheres Eingehen auf seine Einzel
heiten nicht versagen mögen. (Fortsetzung folgt.)
®) Pont sur la Manche. Avant-Projets de MMr. Schneider
et Cie. (Deines de Creusot) et H, Hersent, entrepreneur des travaux
publicB, expresident de la Sociötö des Ingenieurs civils etc. Paris
und London 1889.
Vermischtes.
Ein Denkmal für Robert Mayer ist am 24. November d. J, —
einen Tag vor der fünfundsiebzigsten Wiederkehr des Geburtstages
dieses hervorragenden Forschers — in der schwäbischen Hauptstadt
vor dem Polytechnicum enthüllt worden. Es ist vielleicht unseren
Lesern willkommen, wenn wir bei dieser Gelegenheit das Urtheii in
gedrängter Kürze an fuhren, welches ein anderer Gelehrter, Professor
Dr. W. Preyer, über den anfänglich vielfach verkannten Heilbronner
Arzt gefällt hat. Robert Mayer hat, so lautet dasselbe, vollkommen