Digitale Bibliothek Themen
Bibliotheksdienst 46. Jg. (2012), H. 7 571
Einen fast konträren Weg geht das Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum der Uni-
versitätsbibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin, als dessen architektoni-
sches Grundmuster und Leitmotiv das „Büchergestell“ zu erkennen ist. Der Cha-
rakter dieses „Gestells“ setzt sich nicht nur in den streng symmetrischen Rastern
des Gebäudes um, sondern wirkt bis in die Anlage und Ausstattung des terras-
sierten Lesesaals fort. Auf den ersten Blick wird im Grimm-Zentrum der Beweis
angetreten, dass „Bibliotheken“ unabhängig von allem Medienwandel weiterhin
„Bibliotheken“ sind. Der zweite Blick in das architektonische Herz des Gebäudes
zeigt, dass die Leseterrassen zwar von Buchbeständen umgeben, dort selbst kei-
ne Buchbestände zu finden sind, sondern Lesende, Forschende, Lernende gleich-
sam als Akteure auf die Regale des Wissens stellen. Mit einer solchen „Living Lib-
rary“ gehen Form und Funktion eine Symbiose ein, die vor dem Hintergrund ihrer
traditionellen Verbindung auch zur Metapher wird, in dem wir – PC- und iPhone-
bewehrt – anstelle von Büchern in den „Büchergestellen“ sitzen: IT-gestützte,
vernetzte Wissensgesellschaft im Rahmen des bibliophilen Paradigmas – nicht
zuletzt wird diese Metapher mit der Benennung des Zentrums nach den Uni-
versalgelehrten des buchintensiven 19. Jahrhunderts Jacob und Wilhelm Grimm
deutlich verstärkt.
Wandel der Kulturtechniken
Die aktuelle Bibliotheksarchitektur adressiert Bibliotheken in deutlich stärkerem
Maße als je zuvor als soziale Räume für Information und Wissen. An solchen transi-
torischen Orten, die das Zusammenspiel unterschiedlicher Kommunikations- und
Medienformate ermöglichen, erleben sich Leser, Surfer und Talker als Flaneure
des Wissens. Ein besonderer Anreiz ist dabei das Spannungsfeld von Individuali-
tät, Sozialität, Ubiquität und Vereinsamung. Allerdings repräsentiert Bibliotheks-
architektur auch Wissensverständnis und Wissenskultur, so dass sich gerade im
Wandel von den gedruckten zu den digitalen Medien die Frage nach Auftrag und
Funktion von Bibliotheken stellt. Die Fragestellung hat einerseits mit Kulturtech-
niken und andererseits mit dem darauf aufsetzenden Wissensverständnis zu tun –
vor folgendem Hintergrund: Schon immer haben Menschen sich darum bemüht,
große Herausforderungen an Technik auszulagern. Ein sehr gutes Beispiel dafür
ist das Automobil, an das vor allem körperliche Bewegung von A nach B ausge-
lagert wird. Seit einigen Jahrtausenden lagern wir unser Gedächtnis zunächst an
die Technik der Schrift, dann an beschriftete Trägermedien (Papyrus, Pergament,
Papier) und nun an Computer, Netze und Software aus. Indem wir Verarbeitung
(Processing), Verbreitung (Distribution) und Speicher (Memory) auf Server und
Netze auslagern, sind wir in der Situation, in einem Umfang auszulagern, der uns
bisher nicht zur Verfügung stand: Wir konnten noch nie so viel an Gedächtnis, Ver-
arbeitung und Verbreitung auslagern wie es uns heute möglich ist. Aber wir laufen