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Bibliotheksdienst 44. Jg. (2010), H. 5 379
Die Bibliothek
Mit dem Einzug in das ehemalige College du Plessis im Jahre 1810 begann for-
mal auch die Existenz der Bibliothek, die in den frühen Jahren aber nur ein be-
scheidenes Dasein fristete. Zu Beginn der Juli-Monarchie (1830) zählte sie gerade
21.000 Bände, und ihre räumliche Ausstattung war dürftig. Erst im Neubau in der
Rue d’Ulm erhielt sie ein angemessenes Domizil zugeteilt. Der langgestreckte und
holzgetäfelte Lesesaal (41 x 6 Meter) war mit hohen Bücherregalen und langen
Tischen ausgestattet. Einen wahren Aufschwung erlebte die Bibliothek in den
Jahrzehnten nach 1885, als Lucien Herr (1864–1926) für fast vier Jahrzehnte die
Leitung innehatte. Der aus dem Elsass (ab 1871 zu Deutschland gehörig) stam-
mende Gelehrte, selber Normalien sowie aktiver Gewerkschafter und Mitglied
der sozialistischen Partei (er zählte 1904 zu den Gründern der Parteizeitung “L’Hu-
manité”), verstand sich als Mittler zwischen den beiden Nationen. Als Kenner des
deutschen Wissenschaftsbetriebs führte er viele Neuerungen des hiesigen Biblio-
thekswesens an der ENS ein. Für ihn stand die Bibliothek im Zentrum der Hoch-
schule und er erachtete sie als unverzichtbar für einen gelungenen edukativen
Prozess. Deswegen ließ er den gesamten Bestand, ausgenommen die wenigen
wertvollen und alten Schriften, frei zugänglich aufstellen, damals eine in Frank-
reich wenig verbreitete bibliothekarische Praxis. Lucien Herr erwies sich als be-
geisterter Förderer der Lesekultur, und viele ENS-Absolventen haben attestiert,
dass er ihnen mit seiner Gelehrsamkeit und seinem Enthusiasmus den Weg zu den
Schatzkammern des Geistes gewiesen hat.
Während des Ersten Weltkriegs waren die Tauschbeziehungen mit deutschen wis-
senschaftlichen Bibliotheken unterbrochen, und nach 1919 wurden sie nur teil-
weise wieder aufgenommen. Der Erwerbungsetat stagnierte in den 1920er Jahren
auf geringem Niveau, und mit Beginn der Wirtschaftskrise in den 1930er Jahren
verschärften sich die Finanzprobleme zusätzlich und noch gravierender in den
folgenden Kriegsjahren. Erst nach 1950 nahmen die jährlichen Ankäufe wieder zu,
Geschenke gingen in größerer Zahl ein, die Tauschbeziehungen wurden ausge-
baut und das Personal aufgestockt. Im Gegensatz zu den meisten Hochschulen
Frankreichs nahm man an der ENS vermehrt englischsprachige Publikationen in
den Bestand auf, gefolgt von italienischen und spanischen Titeln. Mit dem ste-
tigen Bestandszugang musste notwendigerweise eine räumliche Ausweitung
der Sammlungen einhergehen, denn den Benutzern sollte der freie Zugang zu
den Regalen nicht verstellt werden. Allerdings musste man hinnehmen, dass die
naturwissenschaftlichen Bestände nacheinander in die Nähe der Laboratorien
abwanderten und nur die geistes- und sozialwissenschaftlichen Kollektionen in
der Rue d’Ulm verblieben. Zu einem erheblichen Bestandszuwachs kam es 1985
nach der Fusion der ENS mit ihrer in der Nähe gelegenen Schwesterinstitution
für Studentinnen, der 1881 eingerichteten „École Normale Supérieure des Jeunes