Europäische Union ------------------------------------------------ THEMEN
schiede erforderlich wäre, vielmehr die Gefahr entsteht, daß die Fortschrittli-
chen noch fortschrittlicher und die Rückständigen noch rückständiger wer-
den.
Es Ist wohl nicht sehr gewagt zu behaupten, daß in viel zu vielen europäi-
schen Ländern den Bibliothekaren in öffentlichen Bibliotheken noch das Ge-
fühl fehlt für das internationale fachliche Umfeld, in dem sie sich bewegen,
sobald sie daran gehen über europäische Telematics-Projektvorschläge nach-
zudenken. Diese Orientierung ist aber die Grundbedingung für die oben er-
wähnte ,,Projektsprache", für die Fähigkeit, die Desiderate zu identifizieren,
den Kompromiß zwischen eigenem Nutzen und europäischer Perspektive zu
finden und dem Ganzen dann den europäischen Rahmen in Organisation und
Partnerschaften zu geben, der Erfolg verspricht. Wer aber kann von sich sa-
gen, daß er hinsichtlich bereits in den Konturen sichtbarer künftiger Konzepte
und gegenwärtig durchgeführter Projekte zum Thema ,,öffentliche Bibliothek
der Zukunft" informiert wäre? Während man in den USA und Großbritannien
doch zunehmend beginnt, die seit Jahrzehnten bestehenden konventionellen
Netze trotz vielfältiger finanzieller Probleme mit modemer Informationstechno-
logie umzugestalten, und in den USA FreeNets und viele andere Kooperatio-
nen entstehen, an denen die public libraries sich beteiligen, weiß man im
allgemeinen bei uns wenig über Projekte wie GAIN, P.A.T.H., CLIP, IT-POINT
oder EARL, und andere Kürzel wie STÜMPERS oder BUBL werden den mei-
sten Kollegen auch nicht sehr vertraut sein. Stattdessen lesen wir in unserer
Zeitschrift BuB, daß öffentliche Bibliotheken bei ihrem Leisten, dem Gedruck-
ten, bleiben sollten. Das dürfte aber kein typisch deutsches Problem sein,
sondern ein allgemeines, durchschnittlich europäisches, fällt nichtsdestowe-
niger nicht unter die Rubrik Zukunftsperspektiven und Visionen.
Wen nimmt es da wunder, daß die Europäische Kommission als einen Haupt-
beweggrund zur Einrichtung von PubliCA die deutlich artikulierte Unzufrie-
denheit mit dem Ergebnis des 3. Call for Proposals nennt; sie spricht in die-
sem Zusammenhang wörtlich von ,,enttäuschend" und führt als vermutete
Gründe an:
· der zur Teilnahme erforderliche technische Entwicklungsstand sei offen-
sichtlich für viele öffentliche Bibliotheken zu hoch;
· öffentliche Bibliotheken sind mehr auf die praktische Arbeit ausgerichtet
als auf Forschung;
· die immense Unterschiedlichkeit der öffentlichen Bibliotheken in den
Mitgliedsstaaten, die häufig Entwicklungen vor Ort nötiger erscheinen las-
se als europäische Aktivitäten;
· das Fehlen eines kollegialen europäischen Netzwerkes, über das die wis-
senschaftlichen Bibliotheken zu verfügen scheinen;
BIBLIOTHEKSDIENST 30. Jg. (1996), H. 1 67